Über das Buch

Mit dem Diplom einer Stockholmer Eliteschule in der Hand sucht Richard Swartz Anfang der siebziger Jahre nach einem Weg, sich dem väterlichen Willen und dem Eintritt in die Welt der Erwachsenen zu entziehen. Ein Prager unter Pragern will er sein, den Alltag mit ihnen teilen. Der Mangel regiert — vom Toilettenpapier bis zur Moral; und die verlorene Utopie wird mit Bier heruntergespült. Anders als viele seiner Generation hält er den Sozialismus nicht für reformierbar. Er trifft auf Menschen, Gastgeber, die Austernlöffel auslegen, obwohl es seit Jahrzehnten keine Austern gibt in Prag, einer Stadt, von der seine Freundin Jarka behauptet, dass in ihr nur Hunde gut und anständig leben könnten. Richard Swartz erzählt von menschlicher Nähe und großer Zuneigung, aber ebenso von Not und Lüge in einer Diktatur.

signet zs.png

Richard Swartz

Austern in Prag

Leben nach dem Frühling

Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer

Paul Zsolnay Verlag

Eines späten und sonnigen Nachmittags im Mai 1968 ging ich mit einem Diplom in der Hand die breite Steintreppe der Handelshochschule hinab, unter dem dunklen Tor hindurch und hinaus auf den Sveavägen, eine der längsten und meistbefahrenen Straßen in Stockholm.

Beinahe drei Jahre lang war ich fast jeden Tag diese Steintreppe emporgestiegen, um mich höheren Studien zu unterwerfen, bis an diesem Frühlingstag der Augenblick gekommen war, ihnen ein für alle Mal den Rücken zu kehren und den Schritt in die sogenannte Erwachsenenwelt zu tun. Einen Schritt, der eine Art Beförderung meinte, mir aber wie eine Bedrohung erschien. Und doch auch als eine Art Befreiung. Ich hatte mich von den höheren Studien ja befreit und zugleich nicht die geringste Absicht, mich als reif genug zu erweisen, um den Schritt in die Erwachsenenwelt zu machen. Gerade diese Unreife war das Beste, was ich vorweisen konnte. Was ich während der drei Jahre gelernt hatte, falls da überhaupt irgendetwas war, hatte ich zum allergrößten Teil bereits wieder vergessen. Kaum mehr als das Banale und Selbstverständliche war in meinem Kopf geblieben, wo es sich diesseits der Schwelle zum Vergessen und zum Verdrängten noch eine Weile hielt, wenn auch unklar war, wie lange noch. Trotzdem stand ich hier auf dem Sveavägen, bereit für das Erwachsenenleben, mit einer Bescheinigung dessen, was ich so erfolgreich vergessen hatte, ein Diplom aus steifem Papier von bester Qualität und mit Stempel versehen, sogar mit einem Siegel aus rotem Lack und, unten am Blatt, verschiedenen Signaturen in schwarzer Tinte, allesamt unleserlich, und in der Zeile darunter die gedruckten Namen inklusive Titeln, die ihrerseits viel Platz einnahmen.

Dieses Diplom war der Beweis, dass die höheren Studien hinter mir lagen. Schwarz auf weiß ließ sich darauf entnehmen, wie ich mich drei Jahre lang dem Willen anderer unterworfen hatte, welche Gewalt ich mir selbst zugefügt hatte, indem ich so lange andere darüber bestimmen ließ, was immerhin mein Leben war und nicht das irgendeines anderen. Mein Vater sagte, dass jede Familie ihren eigenen Arzt, Anwalt und Bankier haben müsse. Das sei notwendig, um die Verbindungen der Familie zur Welt aufrechtzuerhalten. Er wiederholte es so häufig, dass ich allmählich begriff, dass er es wirklich ernst meinte, dass es sich um eine unabdingbare Voraussetzung handelte. Für einen jungen Mann klang es aber viel zu praktisch und engstirnig, wie eine sehr düstere Vorstellung vom Leben, und was ich darüber dachte, muss er geahnt haben, er verlieh daher seiner Überzeugung umso hartnäckiger Ausdruck, je stärker er meine Skepsis spürte.

Letztlich aber hatte ich mich dem Willen meines Vaters gebeugt, wählte auf sein Anraten eine, wie er es mehr flehend als auffordernd nannte, ordentliche Ausbildung, statt Literatur und Philosophie zu studieren. Nach väterlicher Auffassung würden sie mich im Leben nicht weiterbringen, jedenfalls nicht besonders weit und bestimmt zu keinem Beruf, der Einkommen und Ansehen brächte, und in diesen väterlichen Willen hatte ich mich gefügt, anstatt meinen eigenen Weg zu gehen. Jahrelang war ich also die Steintreppe hinauf zu Vorlesungen, Seminaren und Lesesälen gegangen, in denen ich über Büchern und Papieren sitzend an meiner eigenen demütigenden Unterwerfung arbeitete, während verschiedene Professoren, einige davon weltberühmt, meinem Vater folgend versuchten, meinen Kopf mit nützlichem und brauchbarem Wissen vollzustopfen. Dafür gab es dort auch Platz. Da ich aber nicht die Absicht hatte, dieses Wissen zu behalten, war mein Diplom, das ich da auf dem Sveavägen in der Hand hielt, nichts als eine schmerzvolle Erinnerung an diese Unterwerfung und die vergeudeten Jahre meines Lebens: eine offizielle Bestätigung meiner ersten großen Niederlage.

Ich war immer noch sehr jung. Beinahe gänzlich unerfahren, lediglich mit starken und unreflektierten Überzeugungen ausgestattet, ebenso leicht zu widerlegen wie zu verwerfen, während sich hinter dem Willen meines Vaters alle Erfahrungen und Einsichten des Erwachsenenlebens auftürmten. Mit denen wollte er in allerbester Absicht und mithilfe der Professoren auch mich versorgen, was mehr einer Bürde gleichkam, die mir den Rücken krümmte, ja, mich taumeln ließ, auch wenn mir gerade diese Bürde alles leichter machen sollte. Viel später erst würde ich begreifen, dass mein Vater sie als etwas sah, das mir in Not oder Bedrängnis behilflich sein könnte, eine Art Lebensversicherung eines jungen und unvernünftigen Menschen. Womöglich reichte sein Zweifel so tief, dass er meinem Wirklichkeitssinn an sich misstraute, dass er befürchtete, die Beschäftigung mit Nutzlosigkeiten wie Literatur oder Philosophie über einen längeren Zeitraum könnte ihn vollständig einstürzen lassen, ein existenzieller Zusammenbruch, ehe mein Leben überhaupt begonnen hatte.

Um diese menschliche Katastrophe zu vermeiden, musste er einschreiten, solange noch Zeit blieb.

Die Urkunde in meiner Hand berechtigte mich, den Titel eines Diplomkaufmanns zu tragen, ein Titel freilich, den ich nie verwenden, und ein Beruf, dem ich mich nie widmen würde. Aus Pflicht heraus, in der jedoch eher Feigheit, vor allem aber Unterwerfung steckte, hatte ich durchgehalten. Ich hatte bestanden, sodass jenes Papier bescheinigte, was ich während dieser drei Jahre getan hatte. Was ich in der Hand hielt, war der Beweis, dass ich ab sofort ein sogenannter reifer Mensch war. Ein Erwachsener. Diese Vorstellung ängstigte mich mehr, als sie mich beruhigte, weil ich mich weder benehmen wollte noch konnte, wie es von einem sogenannten Erwachsenen erwartet wurde. Mit meinen 22 Jahren war ich viel zu jung und viel zu unreif für die Erwachsenenwelt, weshalb ich sie noch eine Weile vermeiden wollte.

Für wie lange?

Darüber machte ich mir keine Gedanken. Weder hatte ich den Wunsch noch die Absicht, regelmäßig für meinen Unterhalt zu sorgen, tagtäglich außer an Sonn- und Feiertagen um neun Uhr zur Arbeit zu gehen und bis fünf Uhr zu bleiben, zu heiraten, eine Familie zu gründen, ein Auto anzuschaffen, Steuern zu zahlen, mich an Geburtstage zu erinnern, Topfpflanzen zu gießen und leere Flaschen zu entsorgen (höchstens meine Schuhe zu putzen), mich jeden Morgen zu rasieren. Nichts davon und von anderen Dingen, die zum Erwachsenenleben gehörten, blickte ich mit Freude entgegen, obwohl genau das von mir erwartet und vom Diplom in meiner Hand festgehalten wurde, ein Diplom, das ich nicht anders begreifen konnte denn als einen neuen, hinterhältigen Angriff auf meine Freiheit, als Auftakt einer weiteren Unterwerfung, diesmal unerbittlich und endgültig, viel bedrohlicher und heimtückischer noch als die, denen ich bisher ausgesetzt gewesen war, obwohl ich mir von einem solchen Erwachsenenleben lediglich ein recht vages und lückenhaftes Bild machen konnte, das sich aus dem Verhalten der Erwachsenen in meiner unmittelbaren Umgebung schließen ließ.

Nun war ich an der Reihe. Auch meine Freiheit war bedroht.

Aber gerade meine Unreife schützte mich vor dem Erwachsenenleben. Mich daran zu klammern, so lange ich konnte, schien mir die einzige Möglichkeit, jene Freiheit zu verteidigen, und für diese Verteidigung war mein Diplom in keiner Weise hilfreich. Im Gegenteil. Es half nicht, dass das Examen zur Enttäuschung meines Vaters mittelmäßig ausfiel, dass alle meine Zeugnisse ausnahmslos durchschnittlich waren. Nichts davon ließ sich abstreiten. Und doch war ich zugelassen. Man erwartete von mir, das zu machen, was man Karriere nannte, obwohl es meine bereits übel zugerichtete Freiheit endgültig zerstören würde.

Ein Schritt noch, und ich würde die Zeit der Jugend für immer hinter mir lassen. Eine Zeit, die ich in meiner Unreife als Freiheit verstand, die ohne Forderung nach Verantwortung für andere oder auch nur für mich selbst wie totale Unordnung aussehen mochte. Solange ich diesen Schritt über die Schwelle zum Erwachsenenleben nicht tat, blieb ich auf der Seite der unbegrenzten und verantwortungslosen Möglichkeiten, wo nichts abgeschlossen und endgültig war. Solange ich auf der richtigen Seite der Schwelle stand, konnte ich mich immer noch weigern, diesen letzten Schritt zu tun, und unterwegs auf dem Sveavägen in Richtung Odenplan, etwa auf halber Strecke zwischen der Handelshochschule und der Stadtbibliothek, riss ich mein Diplom in zwei gleich große Teile; zur Sicherheit noch einmal, damit es sich nicht so leicht wieder zu dem fügen lassen würde, das es soeben noch gewesen war. Mit diesen Resten, die meine Eintrittskarte in die sogenannte Erwachsenenwelt gewesen waren, ging ich auf dem Sveavägen weiter zur Odengatan, und kurz vor der Ecke, an der die beiden Straßen einander in einem rechten Winkel kreuzen, genau unterhalb der Stadtbibliothek, warf ich die Fetzen in einen Papierkorb, gemeinsam mit, so schien es mir, meiner Reife.

Eine Trotzhandlung. Völlig sinnlos. Aber ich stand auf der Seite des Unreifen, gegen alle, die das Leben für einen Auftrag an Erwachsene und verantwortungsvolle Menschen hielten, und mit dieser buchstäblich kindlichen Handlung, streng genommen nichts weiter als eine vollkommen leere Geste, hatte ich dennoch meine Rolle in diesem erniedrigenden Pakt zwischen Jugend und Erwachsenenleben aufgekündigt. Zum ersten Mal, im vielleicht letzten Augenblick, hatte ich mich geweigert, mich noch einmal zu unterwerfen. Forthin würde ich niemand anderem als mir selbst dienen. Ich hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, wie eine solche Dienstverweigerung vor sich gehen oder aussehen sollte. Und dennoch schien mich gerade das Kindliche meines Handelns in der Überzeugung zu bestärken, dass ich das einzig Richtige tat und das, was ich soeben zerstört hatte, der äußerste Beweis dafür war, dass ich mich um ein Dokument, das mit Siegel und Unterschriften für meine Reife bürgte, nicht verdient gemacht hatte.

Noch war ich unreif. Ich fühlte mich nicht bereit und war fest entschlossen, es zu bleiben, so lange ich nur konnte.

Das sollte sich bald als eine nahezu unmögliche Aufgabe herausstellen. Nicht nur die höheren Studien und mein Diplom hatten mich gefährlich nahe an die Grenze zur sogenannten Erwachsenenwelt gebracht. Seit einiger Zeit wohnte ich mit einer Frau zusammen, die ich bereits nach ein paar Monaten verlassen wollte, einzig und allein, weil es so viele andere gab; der Blick oder das Lächeln einer anderen Frau war verlockender, ihre Gedanken anregender, der Schwung sanfter, mit dem eine blonde oder kastanienbraune Haarsträhne über ihre Stirn fiel. Im Geheimen hatte ich begonnen, die eine oder andere dieser anderen Frauen zu treffen, an abgelegenen Orten in den Außenbezirken Stockholms, die niemand, den ich kannte, aufsuchte, in Teilen der Stadt, in denen ich mich weder zurechtfand noch mich erinnern konnte, je gewesen zu sein. Stockholm war zwar meine Stadt, ich war hier geboren und aufgewachsen, dennoch hatte ich keine Ahnung, wo ich mich gerade befand, wusste nur, warum ich dort war.

Seit einiger Zeit lebte ich in einer Lüge, und diese Verlogenheit war Teil von mir geworden. Ich wachte mit ihr auf und legte mich mit ihr schlafen. Sie trieb mich hinaus ins Unbekannte, löste Bus- und U-Bahn-Tickets zu Haltestellen, von denen ich noch nie gehört hatte, um an Orte zu gelangen, an denen ich meine Leidenschaft stillen konnte. Häufiger noch ließ sie mich unbefriedigt zurück. Gleichzeitig waren diese Stockholmer Expeditionen Betrug. Ich betrog eine Person, die alle als meine Freundin betrachteten, mit jemandem, von dessen Existenz niemand wusste. Am wenigsten meine Freundin, die ich belog und an diesen unbekannten Orten hinter mir ließ, gemeinsam mit dem Alltag, einem Alltag jedoch, in dem die Leidenschaft erloschen war, während die Routinen alles grau und trist eingefärbt hatten; und um diesem trostlosen Zustand zu entkommen, muss mir die Lüge als vergleichsweise geringer Preis erschienen sein.

Diese Abenteuer an den Rändern der Stadt bargen neue und fremde Gefahren. Ich wurde nie gut darin, mich rechtzeitig auf sie vorzubereiten. »Wo bist du so lange gewesen?« Jedes Mal war meine Antwort eine neue und improvisierte Lüge, selten besonders gelungen. »Im Mittelmeermuseum.« »Mittelmeermuseum?« »Um die etruskischen Sammlungen zu sehen.« Es klang nicht überzeugend. Und vielleicht waren die berühmten Sammlungen byzantinisch, nicht etruskisch; ich war mir da nicht ganz sicher oder konnte mich nicht erinnern. Und nicht einmal einen Katalog, keinerlei Ansichtskarte, geschweige denn eine entwertete Eintrittskarte hatte ich mit nach Hause gebracht, um meine Lüge glaubwürdiger zu machen.

»Ich wusste nicht, dass du dich für Krüge und alte Tonscherben interessierst.«

Ich auch nicht.

Oder ich kehrte als Erster nach Hause zurück, rechtzeitig, um in einem warmen Bad die Spuren und Düfte eines anderen Körpers abzuwaschen, bevor ich mich den Fragen stellen musste. Jedes Mal waren die guten Fragen zahlreicher als die guten Antworten. »Seit wann badest du mitten am Tag?« Was ich zu meiner Verteidigung zu sagen hatte, führte mich in einen immer tieferen Sumpf aus Verstellung und waghalsigen Kombinationen aus Halbwahrheiten. Oder noch schlimmer. Sobald ich den Mund aufmachte, riskierte ich, mich in Widersprüche zu verwickeln, die es jederzeit unmöglich machen konnten, wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen.

»Hat das Mittelmeermuseum montags nicht geschlossen?«

Sicherer wäre es gewesen, solche erfundenen Besuche in Museen oder Einrichtungen zu verlagern, die mir vertraut waren und in denen meine Anwesenheit wahrscheinlicher war, in den Lesesaal der Königlichen Bibliothek etwa oder in eines der innerstädtischen Antiquariate, die deshalb aber das Risiko von Zeugen dramatisch hätte ansteigen lassen, von Zeugenaussagen gemeinsamer Freunde und Bekannter, die meine Mischung aus Halbwahrheiten und reinen Lügen sofort zum Einsturz gebracht hätten. (»Vergangenen Montag, sagst du? Am Vormittag? Eigenartig. Ich war den ganzen Tag dort, aber ich habe ihn nicht gesehen.«)

Meine heimlichen Treffen fanden in den Vororten oder auf Nebenstraßen im Zentrum statt, in Gaststätten irgendwelcher Stadtteile, in denen ich niemanden kannte, mit Blick auf dichten Fichtenwald. Hin und wieder auch näher an meinem eigenen Viertel, dann allerdings in Sackgassen, die in einen leeren Hinterhof mündeten oder an einer Brandmauer endeten, in kleinen Konditoreien oder Spelunken, in denen die Tischtücher selten gewechselt wurden und die Gäste lange auf ihren Kaffee und noch länger auf die Rechnung warten mussten. Am Stadtrand dünnte das Leben aus, zwischen den Bushaltestellen schien es sich zu lichten. Auch die Menschen wurden weniger; die, die ich traf, bewegten sich zögernd, als wären sie sich nicht sicher, wohin sie wollten und ob es sich überhaupt lohnte. Die Häuser standen mit sorgfältig geschlossenen Fenstern schnurgerade Straßen entlanggereiht. Wer lebte hier? Es sah ebenso ordentlich wie trostlos aus. Vielleicht wohnten Fabrikarbeiter oder Handwerker in diesen anscheinend ereignislosen Wohngegenden. Alle waren sie bei der Arbeit und die Kinder in der Schule. Wirklich sicher ließ sich das nicht sagen. Mitunter bewegte sich ein Schatten im Fenster hinter einer durchsichtigen Gardine und verschwand wieder. Dennoch konnte man mitten am Nachmittag den Eindruck gewinnen, dass an diesem Morgen hier niemand aufgewacht sei. Vielleicht auch an keinem anderen Morgen.

Eigentlich wollte ich den Besuch solcher Orte vermeiden, mich frei in der Stadt bewegen können, ohne Risiko, mit jemandem ertappt zu werden, dessen Gesellschaft ich nicht erklären konnte, schon gar nicht an so unmöglichen Orten. Mein Aufenthalt in den Randbezirken Stockholms schien mir fragwürdig. Ich war auf dem besten Weg, mich im Unbekannten zu verlieren, mich zu verirren, und diese mir fremden und abweisenden Orte machten mir deutlich, dass es höchste Zeit war umzukehren.

Ich hatte begonnen, nachts schlecht zu schlafen. Anfangs versuchte ich mir einzureden, dass der Zustand der Welt der Grund dafür war, wenngleich mein Schlafmangel ausschließlich mit der Frau zu tun hatte, die friedvoll neben mir im Bett schlief. Dass ich die Welt retten könnte, mag zu viel verlangt gewesen sein. Aber zu versuchen, sich selbst zu retten, war vielleicht immer noch möglich, und ich musste einsehen, dass es nötig geworden war aufzubrechen, das zu verlassen, was ich, wenn jemand fragte, ein »Verhältnis« nannte. Ich war des Zusammenlebens mit meiner Freundin überdrüssig geworden und sehnte mich auch nicht danach, mit jemand anderem zusammenzuleben, nur nach meiner Freiheit. Zugleich aber war ich so ungeschickt und träge, dass ich nicht wusste, wie ich aus dem herausfinden sollte, was für mich zur Falle geworden war.

Erwachsen. Verantwortung. Arbeit. Familie. Alle diese Wörter weckten Unbehagen, und alle waren mit Stockholm verbunden, wo mir meine Stellung mit jedem Tag unmöglicher schien und ich fortwollte aus der Stadt, in der ich geboren war, die aber im Begriff war, sich meines Lebens zu bemächtigen.

Doch wie sollte das vor sich gehen? Ohne den Mut, den ich nicht hatte? Ohne jenes Verantwortungsgefühl, das meine Unreife nicht in ihrer Nähe duldete? Nun wäre genau das erforderlich gewesen, um herbeiführen zu können, was ich mir gedanklich mithilfe eines Wortes wie »Trennung« vorstellte; ein klinisch neutrales Wort ohne scharfe Kanten, an denen man sich hätte schneiden können, beinahe so verlogen wie ich selbst. Ein Wort, das mich überzeugen wollte, dass das, was von mir verlangt wurde, ohnehin eine leichte Aufgabe sei, schmerzlos und bald vergessen.

Trennung?

Den Mut zu einem aufrichtigeren Wort als »Trennung«, einem, das der Sache eher gerecht wurde, hatte ich nicht, obwohl ich bald einsah, dass es viel zu harmlos war, um meine Freundin oder jemand anderen von meinem festen Entschluss überzeugen zu können, sie zu verlassen; große Schwierigkeiten, die richtigen Wörter bei der richtigen Gelegenheit zu benutzen, hatte ich früher schon gehabt. Stattdessen geschah es unachtsam. Wörter wie »Liebe« oder »mein Herz« hatten wir beide viel zu oft verwendet. Anfangs aufrichtig, bald jedoch aus Bequemlichkeit oder reiner Gewohnheit, und sie nun durch etwas zu ersetzen, was sie in Frage stellte oder gar verleugnete, widerstrebte meinem Stolz.

Ausgeschlossen. Es wäre nicht glaubwürdig. Wie hätten sich meine Gefühle in so kurzer Zeit so radikal verändert haben können? Etwas stimmte hier nicht. Außerdem war ich zu feige. Und meinen wirklichen Grund — dass sie eine unter anderen geworden war und mich die anderen mehr interessierten — würde sie nicht akzeptieren; sie würde sich ebenso sicher weigern, es zu verstehen, wie ich sie nie dazu bewegen könnte, meine Unreife als gültige Ursache für die »Trennung« anzuerkennen, die ich herbeiführen wollte, diese im Grunde verlogene Umschreibung, für die sie gewiss ein anderes, brutaleres und ehrlicheres Wort gehabt hätte.

Aber auch mit der Wahrheit war nichts anzufangen. Jede Aufrichtigkeit von meiner Seite würde mich nur zu langen Versicherungen verpflichten, dass es nicht wahr sei, dass ich sie vom allerersten Tag an betrogen hätte, und es nicht stimme, dass ich die ganze Zeit in einer Lüge lebte. Vielmehr seien meine Gefühle in Bezug auf sie und die anderen Frauen erst sehr langsam aufgekommen, sozusagen gegen meinen Wunsch und Willen, und sie hätten eigentlich nicht so sehr mit den anderen Frauen oder nicht einmal mit ihr zu tun als vielmehr mit meiner Freiheit. Doch wäre das eine Art von Erklärung, die mich sofort zu weiteren Erklärungen gezwungen hätte, wann und wie mein Betrug stattgefunden hatte. Eine Art Fahrplan und pedantische Buchhaltung der Untreue würde mir abverlangt werden, gleichermaßen schmerzvolle wie sinnlose Erklärungen. Nichts, was in einem solchen bedrückenden und sicher endlosen Gespräch herauskäme, das ich mir mit Unbehagen ausmalte, würde in der Sache selbst irgendetwas ändern.

Es gab zwischen uns nichts einzurenken. Nicht mit dem besten Willen der Welt würden die anderen Frauen weniger werden, wie sehr sich die Frau, die sich als die Einzige betrachtete, das auch gewünscht hätte. Sich zusammenzutun und in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen hatte sich als wesentlich einfacher erwiesen als auseinanderzuziehen, was aber mit jedem Tag notwendiger wurde, wenn ich mich der vor allem körperlichen Nähe entziehen können sollte, die Gefahren enthielt, die ich zuvor nicht geahnt hatte: Verlockungen, denen ich oft genug nicht widerstehen konnte und die danach einen Aufbruch noch schwerer machten. Was mit Gefühlen und Verliebtheit begonnen hatte, war zu einem Problem der höchst alltäglichen und praktischen Art geworden. Banal und ärgerlich. Und bald würde es darum gehen, was wem gehörte und wer was behalten oder zahlen solle; vor allem aber, wer von uns ausziehen müsse — und es lag an mir, darauf zu beharren, dass einer von uns das auch tat. Eine unangenehme Aufgabe. Die Wohnung aber gehörte mir. Deshalb würde sie es sein müssen, die auszog, und ich der, der blieb.

Doch wie sollte das vor sich gehen?

Wie sollte ich ihr verständlich machen, dass das die einzig richtige und vernünftige Lösung sei? Wo doch ich untreu gewesen war und sie betrogen hatte? Der allein dafür verantwortlich war, dass jede Gerechtigkeit und jede Vernunft in unserer Beziehung untergraben wurde? Und Gefühle hatte ich da noch nicht einmal berücksichtigt, ihr Herz, wo, nachdem die Wahrheit herausgekommen war, vermutlich nicht sehr viel von ihrer Liebe für mich übrig geblieben sein würde. Nicht einmal etwas Glut, aus der sich ein paar letzte blasse und beinahe unsichtbare Flammen entfachen ließen. Nein, nicht mehr als kalte Asche.

Ich sah keinen Ausweg. Vor allem nicht, weil es weiter allein mein Problem war. Stattdessen begann ich von einer Lösung zu phantasieren, die es in Wirklichkeit nicht gab, ein klinischer und schneller, fast süßer Schnitt, der uns, ohne ihre Gefühle zu verletzen, zwar endgültig trennen, aber dennoch bei uns beiden nicht mehr als eine wehmütige und vergleichsweise schöne Erinnerung zurücklassen würde. In meinen Tagträumen begannen meine Phantasie und meine Trägheit harmonisch vereint an solch einer Lösung zu arbeiten, während sich das Problem zu etwas Bitterem und Undurchdringlichem verhärtete, je länger ich mich davor drückte, es auf andere Weise in Angriff zu nehmen als in genau diesen Träumen tagsüber, in denen das Wort »Trennung« immer seltener vorkam, bis es, ohne dass ich wusste, wie, durch ein anderes ersetzt wurde.

Das Wort war »Flucht«.

Zuerst widerstrebte es mir. »Flucht« war kein schönes Wort. Es schmeckte — zum wievielten Mal? — nach Niederlage. Das Feld zu räumen war vielleicht nicht dasselbe wie Unterwerfung, aber auch keine trotzige Geste wie jene, ein Diplom in Stücke zu reißen. Lange bemühte ich mich, das Wort zu meiden, bis ich letztlich aufgab. »Flucht« war das richtige Wort, und nur indem ich floh, glaubte ich, diese Frau loswerden zu können, indem ich ganz plötzlich nicht mehr da war, sondern bereits woanders, wo sie mich nicht fände. An irgendeinem Ort, an dem ich mich verbergen könnte.

Wo? Davon hatte ich keine Ahnung.

Manchmal beunruhigte mich, dass ein solch unbekannter Ort allzu sehr an jene Plätze in den Randbezirken Stockholms erinnerte, die ich so oft aufsuchen musste.

Doch das war nicht so wichtig. Ich würde ja nicht auf etwas hin-, sondern vor etwas davonfliehen. Das Wichtigste war, wegzukommen von ihr und dem Ort, an dem sie sich befand, wo mir meine Existenz mittlerweile unhaltbar schien. Besser, als im Vertrauten zu verharren und seine Freiheit zu verlieren, müsse es doch sein, sich ins Unbekannte zu flüchten, auch wenn einem solchen Entschluss zugleich etwas Bequemes und vor allem Lächerliches anhaftete. Aber nach wie vor befand ich mich in Stockholm, ohne einen Ort zu haben, wo ich hinkonnte. Fände ich einen solchen Ort, so nahm ich mir fest vor, in Zukunft alles anders zu machen: mich nicht sofort in ein neues Verhältnis zu stürzen, keine neue Frau so weit in mein Leben zu lassen, meine Freiheit zu verteidigen, keiner Frau zu erlauben, meine Zahnbürste oder meine Zahnpasta zu benutzen, dann neben mir ins Bett zu kriechen, um am nächsten Morgen erneut meine Zahnbürste und meine Zahnpasta zu benutzen, bis eines Morgens dort plötzlich in einem Plastikbecher ihre eigene stand. Ebenso am Morgen darauf und danach, so lange sie wollte und dazu Lust hatte, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.

Entsetzliche Zukunftsaussichten, von denen ich fest entschlossen war, sie freiwillig nicht noch einmal zu erleben.

Im Spätsommer desselben Jahres marschierten die WarschauerPakt-Staaten in die Tschechoslowakei ein.

Bis zum Einmarsch hatte der Prager Frühling Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geweckt. Das ganze Frühjahr und den Sommer hindurch bis zur Nacht auf den 21. August hatte die Welt, zwischen Hoffnung und Besorgnis hin- und hergeworfen, verfolgt, was in diesem fast unbekannten Land geschah. Gewissermaßen so unbekannt, dass es recht bald auf Prag zusammenschrumpfte. Die Stadt mitten in Europa musste symbolisch verkörpern, was für die allermeisten bis dahin nicht mehr war als »ein fernes Land, von dem wir wenig wissen«.

Würde es Tschechen und Slowaken gelingen, eine Alternative zum stalinistischen Sozialismus zu schaffen? Die Bedingungen ihrer Existenz zu verändern? Ich selbst hatte weder an die eine noch an die andere Möglichkeit geglaubt. Mit dieser Auffassung stand ich allerdings ziemlich allein da. Ich sah die Voraussetzungen für jene Reformen nicht, die die Gesellschaft von Grund auf hätten verändern können. Alles, was ich darüber wusste, wie jenes gesellschaftliche System funktionierte (oder nicht funktionierte), hatte mich überzeugt, dass es unmöglich zu reformieren sei, dass umfassende Reformen eher der nicht beabsichtigte Beginn seiner Abschaffung wären, eine Einsicht, die sich mir indirekt erschloss, durch Bücher, Filme oder im Gespräch mit Menschen aus jenem Teil der Welt, die ich getroffen hatte. Die Machthaber aber — nicht zuletzt jene in Moskau — hatten nicht die leiseste Absicht, die sozialistische Gesellschaftsordnung abzuschaffen. Zu einem frühen Zeitpunkt war ich daher davon überzeugt, dass das, was während des Frühlings in Prag ins Rollen gekommen war, zu keiner Erneuerung führen würde, eher zum Gegenteil: zu Niederlage und Rückzug, zur Wiederherstellung der stalinistischen Ordnung.

Der Einmarsch in der Nacht auf den 21. August hatte mich nicht so sehr überrascht als vielmehr bestätigt, was ich bereits verstanden zu haben glaubte. Im Fernsehen zeigte man Panzer, umringt von wütenden und verzweifelten Pragern, während die eingeschüchterten Soldaten auf den Panzern, oft Asiaten, dachten, sie wären in Berlin, und bei jenen, die sie soeben von Revanchismus und Faschismus befreit hatten, um Wasser bettelten. Wasser gab man ihnen, während die Prager versuchten, sie davon zu überzeugen, dass sie sich nicht in Berlin befanden und dass sie hier in Prag keine Befreier, sondern Besatzer waren. Das verwirrte die eingeschüchterten Soldaten noch mehr. Recht bald suchten sie im Innern ihrer Panzer Schutz und schlossen über sich die Luken. Nur wenige Tage später würden sie ausgetauscht werden, neue Soldaten würden kommen, die nicht so eingeschüchtert und verwirrt waren. Wasser bekamen sie aber keines mehr. Doch das, was bereits geschehen war, reichte aus: Im Verlauf nur weniger Stunden hatte die Welt gelernt, dass der »real existierende Sozialismus« nicht reformierbar und der Einmarsch eine Art zynische Bestätigung dieser Tatsache war.

Die Lebensbedingungen der Tschechen und Slowaken waren zwar aufgezwungen, erstickend und so gut wie unerträglich, hatten sich aber als unerschütterlich erwiesen und vor allem als nicht von Prag bestimmt — »mit der Sowjetunion für alle Ewigkeit« pflegte auf den Spruchbändern zu stehen, die von jenen getragen wurden, die zu Aufmärschen des Regimes abkommandiert wurden. Das, was auf ihnen stand, galt nach wie vor, auch wenn die Spruchbänder während des Prager Frühlings eingerollt wurden und im Keller der Parteizentrale geblieben waren. Nun sollten sie wieder zurückkehren; der Text der Spruchbänder, »mit der Sowjetunion für alle Ewigkeit«, galt erneut als rhetorische Losung, die Tschechoslowakei war eine sozialistische Gesellschaft und würde es auch bleiben.

Ein für alle Mal hatte die Geschichte ihr Urteil gefällt.

An diesem Punkt allerdings blieb ich zutiefst misstrauisch. Auch aus rein persönlichen Gründen. In dem, was in Prag während des Frühlings geschehen war, hatte ich meine eigene Auflehnung gegen fremde Machtausübung und eine erstickende Lebensform wiedererkannt, den Versuch, sich gegen den Willen eines anderen zur Wehr zu setzen. Was mir in Stockholm geschehen war, floss mit dem zusammen, was der Welt geschehen war, sodass ich keinen entscheidenden Unterschied sehen konnte zwischen meiner Situation und jener, die in Prag herrschte.

Es war vermessen: übertrieben und egozentrisch, sogar lächerlich, und dennoch ging es für mich um ein und dieselbe demütigende Unterwerfung, egal, ob sie nun an Diplome und Routinen des Erwachsenenlebens oder an sozialistische Bruderhilfe und Panzer gebunden war. Ich hatte mich in der Weigerung der Tschechen und Slowaken wiedererkannt, ein Leben zu führen, das das wahre Leben an einen anderen Ort verlegte, in ihrem Fall auf die andere Seite des sogenannten Eisernen Vorhangs. So wie ich wollte man in Prag einen Schritt zurücknehmen, ich weg von der Schwelle zur sogenannten Erwachsenenwelt, und sie hinaus aus dem, was sich als politische und historische Sackgasse erwiesen hatte. Was für mich das drohende Leben als Erwachsener war, hatte für Tschechen und Slowaken seine Entsprechung in jenem trostlosen Dasein, das sie so lange geführt und von dem sie zuletzt genug hatten. Sie wollten aus dem Leben, das man sie zu leben zwang, aussteigen, zu dem zurückkehren, was für mich Jugend und Unreife, für sie Freiheit und Unabhängigkeit war.

Der Einmarsch am 21. August zerschlug alle Illusionen. Zuerst starb die Hoffnung in Prag und bald auch das Interesse des Westens an dem, was dort geschah. Die Stadt verschwand von den Fernsehbildschirmen und Titelseiten der Zeitungen; die Berichte von dort wurden immer spärlicher, bis sie schließlich mehr zur Verwirrung als zur Information beitrugen. Aus Hoffnung und Interesse wurden Enttäuschung und Frustration, die ziemlich rasch von Gleichgültigkeit abgelöst wurden. Bald fragte sich niemand mehr, was dort geschah; bereits im Herbst nach dem Einmarsch schien es, als wäre der Prager Frühling eine Luftspiegelung oder ein zufälliger Rausch gewesen, die sich verflüchtigt hatten. Was zum Vorschein kam, war wieder die alte terra incognita von früher. Prag war wieder das, was es immer gewesen war, also nicht Wirklichkeit, erneut ein Ort auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, also nirgendwo, nun auch außerhalb von Raum und Zeit.

Von neuem schien die Stadt in vergilbte Fotoalben geklebt oder in irgendein dickes ungelesenes Buch über den Dreißigjährigen Krieg oder die Kunstschätze Mitteleuropas eingesperrt worden zu sein. Was bis vor kurzem Leben gewesen war, war jetzt tot. Und alles, was aus der näheren Vergangenheit noch da war, waren Schwarzweißfotografien der Zwischenkriegszeit mit ihren prächtigen Gebäuden und Straßen, jedoch nur wenigen Menschen, bei der Arbeit für immer eingefroren oder festgehalten mitten im Schritt auf dem Weg durch ihre Stadt auf ein unbestimmtes Ziel zu.

Die Ordnung war wiederhergestellt, und Prag hatte aufgehört zu existieren.

Doch statt mich abzuschrecken spornte es meine Neugier an. In Prag wurde nun der alte Stalinismus wiedererrichtet, mithilfe einer Politik, die mit einer ebenso genauen wie nichtssagenden Bezeichnung »Normalisierung« genannt wurde, auf Tschechisch normalizace. Schritt für Schritt sollte sie sich in der Wirklichkeit durchsetzen. Wenn aber das, was ihr vorausging, unnormal gewesen war, so betraf die Normalisierungspolitik in Prag dennoch genau dieselben Menschen, die sich eben und beinahe ohne Ausnahme zum Unnormalen bekannten, nicht etwa zur neuen normalen Ordnung. Dass sie in so kurzer Zeit ihre Auffassung vom Leben geändert haben sollten, konnte ich mir nicht vorstellen. Wie sah ihr Alltag nach der Invasion aus? Dass sich dort irgendeine Art von Leben abspielen musste, war schließlich klar, auch dass es nicht mehr heroisch, sondern eher provisorisch war. Zu meiner Verwunderung und moralischen Beschämung fand ich heraus, dass ich auf dieses Leben neugieriger war als darauf, wie die Prager hätten leben können, wenn der Einmarsch nie stattgefunden hätte: Und ich ertappte mich dabei, dass ich begonnen hatte, mich nach einer Stadt zu sehnen, die alle anderen bereits vergessen hatten.

Was aber war es, wonach ich mich dort sehnte?

Nach einer Art schwarzen Utopie: nach einem Ort, an den fast niemand wollte und von dem weitaus mehr wegzukommen wünschten; nach einem Ort, ausreichend weit weg auf der anderen Seite, einem Fluchtort, um Aufschub zu erwirken und sich zu verstecken, wo niemand mich finden könnte. Nach einem Ort, den es gab und auch wieder nicht, einem, an dem weder meine Anwesenheit noch das, was ich dort machte, von irgendeiner Bedeutung wäre, eine Falte in der Zeit, die einen großen Schritt hinaus aus meinem eigenen Leben erlaubte, um Zeit zu gewinnen statt zu verlieren. Ein Platz, an dem ich meinen Eintritt ins Erwachsenenleben aufschieben könnte und an dem niemand auf die Idee käme, nach mir zu suchen.

Denn genau so war es. Prag zählte nicht.

Ich würde in Prag anwesend sein können, ohne dort wirklich zu leben. Nichts hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gab es schließlich wirklich. Das Einzige, das es gab, war etwas, von dem man bestenfalls gehört hatte, das aber keine Spuren hinterließ, keine Träume oder Ideen weckte. An einem solchen Platz würden keine Forderungen an mich gestellt werden. In Prag müsste ich mich zu überhaupt nichts bekennen, könnte mich jeder Verantwortung entziehen, würde keinen Moment lang ernst genommen, und diese Sehnsucht nach Prag verteidigte ich mit einem großen Wort wie »Freiheit« statt Wörtern wie »Bequemlichkeit« oder sogar »Feigheit«, Wörtern, die der Wahrheit mehr entsprochen hätten.

Ahnte ich, dass diese Stadt nicht meine wäre und auch nicht zu meiner werden könnte? Dass ich in Prag nichts als ein Gast bei der Wirklichkeit sein könnte, noch dazu jemand, der sich selbst eingeladen hatte, ein Fremder in besseren Schuhen und Mantel als andere? In einem Land ohne Geld würde ich selbst als Student mehr zur Verfügung haben als alle anderen, zudem meine eigene Freiheit diskret in Reichweite: Wann immer es mir einfiele, könnte ich mit einem Retourticket in der Tasche als Rückversicherung Prag verlassen und in die Wirklichkeit heimkehren, aus der ich geflohen war.

Ahnte ich, dass mich das am Leben in Prag kaum teilhaben lassen würde? Dass ich es an Ort und Stelle nur aus der Ferne betrachten können würde, wie ein Außenstehender etwas betrachtet, das unzugänglich und im Grunde unbegreiflich bleibt? Auf mehr als das könnte ich nicht hoffen. Was ich im Nachhinein von Prag würde erzählen können, hätte abgesehen davon, was es vielleicht über mich selbst sagen würde, nichts zu sagen — in erster Linie würde ich ja doch ein Deserteur aus der schwedischen Wirklichkeit bleiben.

Über keine dieser Befürchtungen war ich mir zu jener Zeit im Klaren. Keine davon hatte ich vorhersehen können, als ich mich entschloss, im Rahmen des offiziellen Kulturaustauschs zwischen Schweden und der Tschechoslowakei um ein Stipendium in Prag anzusuchen. Als einer der wenigen Skeptiker und Zweifler meiner Generation reiste ich in das sogenannte normalisierte Prag, von dem damals niemand auf die Idee gekommen wäre, es zu besuchen. Es war eine bewusste Handlung, ohne dass ich deren Konsequenzen in vollem Ausmaß verstand. Das Wirtschaftsstudium, dem ich mich widmen wollte, war nur ein Vorwand für meine Flucht; es sollte sich zudem herausstellen, dass es in Prag zwar allerlei von Interesse gab, das man hätte studieren können, gerade Wirtschaft aber nicht.

Trotzdem sollte ich in Prag einiges sehen und hören, sogar das eine oder andere lernen, für das ich aber im Unterschied zu Stockholm mit keinem Diplom belohnt werden würde. Ich blieb dennoch zwei Jahre, und als ich nach Stockholm heimkam (das nach Prag nie wieder dasselbe wurde), interessierte sich keiner dafür, was ich dort erlebt hatte. Erfahrungen mit dem Leben im Osten waren nichts, was hoch im Kurs stand. Ich war ein langweiliger Positivist und Empiriker, der darauf pochte, dass es Prag gab. Aber ich hatte mich geirrt. Prag gab es nicht. Nicht einmal ich, der dort gewesen war, konnte jemanden vom Gegenteil überzeugen.

Niemand stellte mir Fragen. Niemand war da, der zuhören wollte. Ohne dort gewesen zu sein, wussten sie alles besser als ich.

Man konnte sich nicht einmal ganz sicher sein, dass eine solche Stadt je existiert hatte.