Über Hans Fallada

Rudolf Ditzen alias Hans Fallada (1893 Greifswald – 1947 Berlin), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann – was nun?« (1932) macht Fallada weltbekannt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Informationen zum Buch

Falladas großer Roman, von allen politischen Eingriffen befreit – erstmals mit dem ursprünglichen Schluss.

Für die Erstausgabe des »Eisernen Gustav« (1938) war Hans Fallada gezwungen, den Schluss zu ändern. Goebbels ließ den Text wegen »fehlender Propagandawirkung« nicht genehmigen. 1962 rekonstruierte Günter Caspar für den Aufbau Verlag die verschollene Urfassung, die seither als die gültige angesehen wird. Die Fallada-Biographin Jenny Williams kann nun zeigen, dass hier allerdings zahlreiche Passagen vom Originaltext fehlen: Offenbar standen sie den damaligen kulturpolitischen Vorgaben in der DDR entgegen. Jetzt erscheint der Roman endlich so, wie ihn sein Verfasser gewollt hatte. Berlin 1914–1924: Der Betrieb des Droschkenkutschers Gustav Hackendahl kann neben der Automobil-Konkurrenz nicht bestehen. Da setzt er trotzig einen Traum in die Tat um – eine letzte Reise mit der Droschke von Berlin nach Paris.

Die Textfassung, die Falladas Original so nahe kommt wie keine bisher publizierte Fassung – rund 30 Seiten mehr Text.

Mit einem Nachwort der Fallada-Forscherin Jenny Williams.

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Hans Fallada

Der eiserne Gustav

Roman

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams

Inhaltsübersicht

Über Hans Fallada

Informationen zum Buch

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Erstes Kapitel – Die gute schöne Friedenszeit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Zweites Kapitel – Ein Krieg bricht aus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Drittes Kapitel – Die lange schwere Zeit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Viertes Kapitel – Ein Friede bricht aus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Fünftes Kapitel – Welche Hand müsste nicht verdorren …?

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Sechstes Kapitel – Rausch der Armut

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Siebentes Kapitel – Wer Arbeit kennt und da nicht rennt …

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Achtes Kapitel – Die Fahrt nach Paris

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Neuntes Kapitel – Der weite Weg

Kapitel 1

Kapitel 2

Anhang

Nachwort

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Impressum

Alle Gestalten dieses Buches, einschließlich des eisernen Gustav, sind Geschöpfe der freien Phantasie. Nirgend soll auf reale Personen auch nur angespielt werden. Der Verfasser hat lediglich Geschehnisse, wie sie in jeder Tageszeitung aufgezeichnet stehen, als Grundstoff benutzt.

H. F.

Erstes Kapitel
Die gute schöne Friedenszeit

1

Vielleicht war es das Pferd im Stall gewesen, die Schimmelstute, das Lieblingstier des alten Hackendahl: Es ließ pausenlos die Halfterkette durch den Krippenring rasseln und schlug, sein Futter fordernd, unablässig mit dem Huf gegen das Stallpflaster.

Vielleicht aber war es auch die erste fahle Dämmerung gewesen, die mit ihrem grauen Schein das hellere Mondlicht abgelöst hatte – vielleicht hatte der über Berlin grauende Morgen den alten Hackendahl geweckt.

Vielleicht aber hatten weder Lieblingstier noch Morgendämmerung Hackendahl so früh wach gemacht, um drei Uhr zwanzig, am 29. Juni 1914 – sondern etwas sehr, sehr anderes … Mit der Schlafseligkeit kämpfend, hatte der alte Mann gestöhnt: »Erich, Erich, das wirst du doch nicht tun …!«

Dann war er hochgefahren und hatte in das Zimmer gestarrt, ohne noch etwas zu sehen. Langsam war Erkennen in sein Auge getreten; über den geschwungenen Muschelaufsatz des Ehebettes fort, flankiert von den beiden Knäufen rechts und links, sieht er grade auf die Wand, an der sein Pallasch hängt aus der Zeit, da er noch Wachtmeister bei den Pasewalker Kürassieren war, neben dem Helm, unter dem Bild, das ihn an seinem Entlassungstage aus dem Dienst vor nun zwanzig Jahren zeigt.

Er sieht mit wachem Auge im Dämmerlicht den schwachen Schein auf der Klinge und auf dem goldenen Adler des Helms: Diese Erinnerungen machen ihn heute noch stolzer und glücklicher als das große Fuhrgeschäft, das er aufgebaut hat. Das Ansehen, das er beim Regiment genoss, freut ihn mehr als die Achtung, die dem erfolgreichen Geschäftsmann von den Nachbarn in der Frankfurter Allee gezollt wird. Und, unmittelbar an seinen Angsttraum anknüpfend, sagt er, jetzt völlig wach: »Nein, Erich würde so etwas nie tun – nie!«

Mit entschlossenem Ruck stellt er die Beine auf den Bettvorleger, ein Heidschnuckenfell.

2

»Stehst du schon auf, Gustav?«, fragt es aus dem Nebenbett, und eine Hand tastet nach ihm. »Es ist doch erst drei.«

»Jawoll, Mutter«, antwortet er. »Drei Uhr fünfundzwanzig.«

»Aber warum denn, Vater? Füttern ist doch erst um vier …«

Er wird fast verlegen. »Mir ist so, Mutter, als könnte was krank sein im Stall …«

Er steckt rasch den Kopf in die Waschschüssel, um weiteren Erklärungen zu entgehen. Aber seine Frau wartet geduldig, bis er sich abgetrocknet hat und nun dabei ist, den aufgewirbelten Schnurrbart mit Pomade, Kamm und Bürste in Form zu bringen. Da sagt sie: »Du hast die ganze Nacht von Erich phantasiert, Vater …«

Der Mann hält mit einem Ruck im Kämmen inne, er möchte etwas Rasches sagen, aber er besinnt sich. »So«, meint er dann gleichgültig. »Davon weiß ich nichts …«

»Was hast du denn mit Erich?«, fragt die Frau beharrlich. »Ich merke doch, ihr habt was miteinander.«

»Die Eva hat gestern wieder den ganzen Nachmittag in der Konditorei Köller gesteckt. Das passt mir nicht – die Leute sagen dafür nur Café Knutsch.«

»Ein junges Ding will auch was haben vom Leben«, antwortet die Mutter. »Fräulein Köller hat jetzt ein Grammophon gekauft. Sie geht nur wegen der Musik hin.«

»Es passt mir nicht!«, sagt der alte Wachtmeister nachdrücklich. »Sorg du für Ordnung bei den Mädchen, ich werde die Bengels schon an die Kandare nehmen. Auch den Erich.«

»Aber …«, fängt die Frau an.

Aber Hackendahl ist schon fort. Er hat gesagt, was er will, und sein Wille gilt in diesem Hause!

Aufseufzend lässt die Frau sich zurücksinken in die Kissen. Ach ja, ach du liebes Gottchen! So ein Mann, starr wie ein Besenstiel, möchte, dass die Kinder ebenso leben wie er! Der hat eine Ahnung – aber ich werde schon dafür sorgen, dass die Kinder zu ihrem bisschen Lebensfreude kommen, auch die Eva, auch der Erich. Grade der Erich …!

Schon schläft sie wieder.

3

Der Vater steht einen Augenblick unentschlossen auf dem dämmrigen Flur. Von unten, aus dem Stall, hört er den Schimmel mahnend klopfen und rasseln. Aber er widersteht der Versuchung, dem Liebling ein heimliches Extrafutter zu schütten. Stattdessen klinkt er leise die Tür zum Schlafzimmer der jungen Mädchen auf.

Die beiden schlafen ruhig weiter, sie sind es gewohnt, dass der Vater morgens, abends, nachts seinen Rundgang macht, genau wie in der Kaserne, wo er auch die Schlafsäle revidierte, ob alles in Ordnung war. Als Hackendahl die Uniform auszog, aus einem Militär ein Zivilist wurde, den Droschkenbetrieb des dahingegangenen Schwiegervaters übernahm, gab er doch nichts von seinen militärischen Gewohnheiten auf. Ob es nun die Kutscher, die Pferde oder die Kinder waren – sie hatten zu parieren, als seien sie Soldaten unter Militärrecht. Was die Kinder anging, so durften sie kein Privatleben haben, nichts von Geheimnissen, wie sie Kinder so lieben. In Schränken und Kommoden hatte jedes Ding auf seinem Platz zu liegen, der Vater war erbarmungslos in dem, was er Ordnung und Sauberkeit nannte. Der Vater – das war das Wort, das drohend über der ganzen Familie Hackendahl hing. Der Vater – das hieß Befehl, Urteil, strengstes Gericht.

»Der eiserne Gustav«, so nannten sie ihn nur, in der Frankfurter Allee – unnachgiebig, stur, dickköpfig, aber auch aufrecht und untadelig. Spät in eine bürgerliche Welt verschlagen, die ihm zu weich vorkam, versuchte er, seinen Kindern die Grundsätze einzuimpfen, durch die er, wie er meinte, zum Erfolg gekommen war: Fleiß, Pflichtgefühl, unbedingte Rechtlichkeit, Unterordnung unter den Willen eines Höheren – heiße er nun Gott, Kaiser oder Gesetz.

Die beiden Mädchen schlafen ruhig weiter in ihren Betten, der Vater steht im Zimmer und sieht sich prüfend um. Über dem Stuhl von Sophie, der Einundzwanzigjährigen, hängt, achtsam in Falten gelegt, das Schwesternkleid, auf dem Nachtkästchen liegt die steif gestärkte Schwesternhaube mit dem roten Kreuz. Der Vater seufzt, weil die mündig gewordene Tochter es erzwungen hat, Schwester zu werden. Er hielt dafür, dass dies blasse, bleichsüchtige, ein wenig frömmelnde Kind sich besser zur Lehrerin geeignet hätte. Aber Sophie wusste ihren Willen durchzusetzen. »Wenn du eben durchaus nicht willst, Vater«, hatte sie in ihrer stillen, immer ein wenig muffigen Art gesagt, »so muss ich es eben ohne deinen Willen tun.«

»Aber ich bin dein Vater!«, hatte er gerufen, verblüfft über solchen Ungehorsam. »Was du gegen meinen Willen tust, ist gegen das fünfte Gebot!«

»Pastor Rienäcker hat mir gesagt«, hatte sie leise geantwortet, »ich habe den Ruf …«

Der Ruf Gottes – wahrhaftig, sie hatte sich nicht geschämt, ihrem Vater so etwas zu sagen. Seit wann sprach man von Gott, dem Allmächtigen, als sei man persönlich mit ihm bekannt …?! Für so was war man zu klein. Der alte Hackendahl glaubte an eine Rangordnung auf Erden, als sei sie etwas Räumliches: Ganz oben saß der liebe Gott, sehr weit unten er – und was dazwischen war: ein Oberst, Kammergerichtsrat oder Kaiser hatte jeder seinen bestimmten Platz, aber alle näher an Gott als die Hackendahls.

»Ich will doch nur dein Bestes, Sophie«, hatte er gesagt. »Du bist viel zu schwach für den Beruf.«

»Gott wird mir Kraft geben«, hatte sie geantwortet.

Nun gut, nun gut – mechanisch schiebt der Vater die Haubenbänder auf dem Nachtkästchen etwas nach links, so dass sie in einem graden Winkel zur Haube liegen, trotzdem es vielleicht nötiger wäre, bei den Kleidern der zweiten Tochter, bei Eva, der Achtzehnjährigen, auf Ordnung zu sehen.

Eva liegt auf der Seite, das Gesicht in den Arm geschmiegt, die langen blonden Haare breiten sich um den Kopf aus wie eine Erntekrone. Sophie hat die Haare zur Nacht, wie es sich gehört, in zwei Zöpfchen geflochten – aber Eva: »Nachts wenigstens will ich das Haar frei haben statt den ollen Dutt den ganzen Tag …!«

Ganz ungehörig, aber bei ihr hat der Vater nicht nein gesagt. Sie sieht so hübsch aus, mit dem blonden Geringel um die lichten Farben des Gesichtes; es macht sein Herz irgendwie froh, sie so liegen zu sehen, blühendes Leben, ein erwachsenes Mädchen – aber ein Kind noch!

Ein Kind noch, bestimmt, er kennt doch seine Eva …

Hackendahl runzelt die Brauen, wieder denkt er an die Konditorei, dieses elende Café Knutsch mit seiner blechernen Musik aus einem riesigen, rosa-gold bemalten Schalltrichter. Gewiss, dahin läuft sie in letzter Zeit, aber nur wegen der Musik, wegen dieses neumodischen Apparates – kein Gedanke an Männer, an Küssen …

Er betrachtet sie nachdenklich, und unter seinem Blick wirft sie sich rasch, wie sie alles tut, auf den Rücken. Sie streckt die Arme, sie stößt einen Laut aus, irgendetwas selig Zufriedenes, nur ein Oh! – aber so schön!

Dann sieht sie zu ihm hin. »Bist du das, Vater?«

»Guten Morgen!«, sagt er langsam.

»Guten Morgen, Vater!« Und rasch: »Vater, du, hör mal …«

»Was ist denn? Du sollst doch noch schlafen!«

»Keine Angst – ich schlaf gleich wieder ein. Du, Vater …« Sehr geheimnisvoll: »Weißt du auch, wann Erich nach Haus gekommen ist?«

»Du sollst doch nicht petzen!«

»Um eins, Vater! Denk dir, um eins!«

»Pfui, Evchen, du sollst nicht petzen!«, sagt er noch einmal. Aber er sagt es nur schwach, denn das, was er eben gehört hat, erregt ihn sehr.

»Petzen! Wo er mich auch immer verpetzt! Und im Café Köller haben sie erzählt, er hat Geld, Goldstücke, Vater …«

»Du sollst doch nicht in das Café gehen!«

»Aber ich esse so gerne Schlagsahne – und hier kriegen wir nie welche!« Sie sieht ihren Vater listig prüfend an, sie merkt sofort, er denkt jetzt nicht an ihre Sünden. »Und jetzt will ich wieder schlafen. Gott, bin ich noch müde …«

»Ja, schlaf!«, sagt der Vater mahnend. »Und petze nie wieder. Petzen ist sehr hässlich.«

Auf dem Flur hört er wieder deutlicher das Klopfen des Schimmels. Es ist schon bald vier, es wird Futterzeit. Aber er geht doch lieber erst in das Zimmer der Söhne.

4

Drei Betten, drei Schläfer, drei Söhne. Das könnte so etwas wie Reichtum sein – und der Vater hat das auch oft so empfunden. Aber heute nicht – heute nicht. Es ist nicht nur die dunkle Spur des Angsttraums in Hackendahl, es ist nicht nur das angeberische Geschwätz von Eva – Hackendahl steht auf der Schwelle und lauscht.

Lauscht …

Hunderte, Tausende von Menschen hat er schlafen hören, laut und leise. Er kennt also dieses rasselnde, schwere, gaumige Atmen, er hat es gehört in den Kasernenstuben, hauptsächlich in den Sonnabend-, in den Sonntagsnächten, nach den Urlaubstagen – aber in dieser Stube, im Zimmer seiner Söhne hat er es noch nicht gehört.

Jetzt hört er es. Er steht und lauscht, durch den Kopf schießen ihm Evas Worte: Erich ist erst um eins nach Haus gekommen. Aber es braucht ihm keiner zu erklären, was ein betrunkener Schlaf ist, er hört das auch ohne Petzen …

Er geht hastig auf Erichs Bett zu und bleibt wieder stehen. Jetzt sieht er nur noch den betrunkenen Sohn. Es wäre Anlass genug, über die Art zu schelten, wie Heinz, der Jüngste, Bubi genannt, seine Kleider weggehängt hat. Oder dem Ältesten, dem vierundzwanzigjährigen Otto, begreiflich zu machen, dass der Vater wohl merkt, der Junge schläft nicht. Er tut nur so, viel zu regungslos liegt er im Bett.

Aber Hackendahl steht hilflos vor Zorn und Trauer an dem Bett seines Erich, seines heimlichen Lieblings, dieses raschen, frohen, hellen Jungen, klügeres Gegenstück zur Eva … Zorn und Trauer, ach, der Junge tut nicht gut, er ist betrunken … Er ist erst siebzehn, er geht in die Unterprima des Gymnasiums, Liebling seiner Eltern, Liebling der Mitschüler, Liebling der Lehrer – aber er ist betrunken …

Der Vater steht gedankenverloren da, sein Fuß scharrt mit dem Bettvorleger herum, aber vielleicht ist es etwas anderes, gar kein Bettvorleger?! Jetzt hat er keine Zeit, nachzusehen, er muss in das Gesicht des Sohnes schauen, dieses geliebte Gesicht. Und er versucht, darin zu lesen …

Aber es ist immer nur erst Dämmern in der Stube. So geht er an das Fenster und schlägt eine Ecke des Vorhangs zurück, damit das schon hellere Licht des Tages voll auf den Schläfer fällt …

Dabei begegnet sein Blick einem anderen Blick, dem Auge seines ältesten Sohnes Otto, das ihn dunkel und ein wenig trübe anschaut. Zorn steigt in Hackendahl auf, als habe Otto ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Er gibt ganz diesem plötzlichen Zorn nach, vor Otto kann man sich gehen lassen, Otto ist weicher Brei, weder Zorn noch Liebe scheinen einen merkbaren Eindruck in ihm zu hinterlassen. Der Vater hebt drohend die Faust, als wolle er ihn schlagen, er zischt im Flüsterton: »Stille biste! Willst du gleich wieder schlafen!«

Und sofort schließt der Sohn die Augen.

Einen Augenblick sieht der Vater noch in das blasse, weichliche Gesicht mit dem schütteren Bart. Dann wendet er sich wieder zu dem anderen Sohn zurück. Aber das kleine Zwischenspiel hat ihn verändert, er ist gewissermaßen nicht mehr allein im Zimmer, seit er weiß: Der Älteste ist wach. Mit dem ruhigen Nachdenken ist es vorbei, Zorn, Klage, Trauer sind verweht – es muss etwas geschehen …

Es muss etwas geschehen!

Zuerst bückt er sich. Jawohl, er hat vorhin nicht darauf geachtet, aber er hat sie doch bemerkt, die betrunken verstreuten Kleidungsstücke. Das war kein Bettvorleger, auf dem er gestanden … Er fängt an, die Kleider aufzusammeln.

Aus der Tasche der Weste gleitet etwas, leise klappernd fällt es zu Boden …

Der Vater hängt erst die Weste ordentlich über die Stuhllehne. Dann hebt er den Schlüssel auf. Es ist ein ganz gewöhnlicher Schlüssel, ein kleiner Hohlschlüssel, wie man ihn für Schränke und Schubladen verwendet. Ziemlich neu noch, selbst im matten Licht meint der Vater, die Feilstriche am Bart zu erkennen … Es ist eben kein Fabrikschlüssel, es ist ein vom Schlosser zurechtgefeilter Schlüssel, nichts Besonderes …!

Der Vater steht so still, so still. Er hält dies Schlüsselchen in der Hand, er meint, die Zeit mit Sekunden und Minuten in den Ohren rauschen zu hören, sie fällt wie ein dichter Regen, sie löscht alle Geräusche aus, alle Geräusche des Lebens. Und das Leben selbst wird hinter diesen Schleiern grau und farblos und ferne …

Nur ein Schlüsselchen …

Nein, er sieht nicht mehr nach dem Bett des Trunkenen hin, es ist ihm auch gleich, ob Otto wach ist und ihn beobachtet. Im tiefsten Schmerz ist jeder unfassbar allein. Nichts reicht mehr zu ihm …

Mit schweren Füßen, wie über den Boden scharrend, mit Augen, die nur mühsam sehen, als seien sie halb blind, geht der Vater zur Tür, den Schlüssel vor sich in der Hand.

Diesen kleinen Schlüssel!

5

Auf dem Flur hörte Hackendahl wieder den Schimmel mahnend klopfen und rasseln. Das Lieblingstier des Herrn war verwöhnt, es forderte sich sein Extrafutter. Nein, es war nicht in Ordnung mit dem Schimmel und mit dem Erich auch nicht: Es war mit dem Herrn des Hauses nicht in Ordnung! Nach außen peinliche Gerechtigkeit und Pflichttreue, aber eine halbe Stunde früher stand er auf und schüttete dem Schimmel eine Extraration, heimlich, ehe der Futtermeister Rabause kam. Alle seine Kinder galten ihm gleich, aber wenn der Erich schmeichelte und nicht abließ, so lachte er schließlich, lachend gewährte er ihm, was er den anderen brummig abschlug.

Er hatte bei sich gemeint, dies sei nicht schlimm, niemand konnte seinem Herzen befehlen, wen es lieber haben sollte. Aber es war schlimm, es war keine Ordnung, ja, es war sogar wider die Ordnung, die menschliche und die göttliche, den Beweis dessen trug er in der Hand.

Er trug ihn in der Hand, zwischen zwei spitzen Fingern trug er den Schlüssel, wie einen Zauberschlüssel, dessen Wirkung man noch nicht genau kennt, mit dem man vorsichtig umgehen muss. Es ist ein Zauberschlüssel, er schließt dem eisernen Gustav neue Erkenntnisse auf. Kein Vaterherz kann eisern sein, es ist Boden, der immer neu gepflügt wird; manche von den Pflugfurchen vergehen nie wieder.

Hackendahl steht jetzt vor seinem Schreibtisch; er weiß nicht genau, wie er hierher gekommen ist, aber nun ist er hier, und es gibt kein Zurückweichen mehr. Gibt es das überhaupt je? Ein preußischer Unteroffizier weicht nicht zurück, er sieht dem Feind ins Auge, er greift an! Hackendahl blickt auf den Schreibtisch, es ist ein großes Stück aus heller Eiche, viel geschnitzt, die gelben Messingbeschläge zeigen Löwenmäuler.

In solch ein Löwenmaul stößt er den Schlüssel, er dreht ihn im Schloss, siehe da, der Schlüssel schließt. Es überrascht ihn nicht, er hat es nie anders erwartet, als dass dieser von einem Schlosser angefertigte Schlüssel seine Schreibtischschublade schließen würde. Und er tut es nun also auch – Hackendahl sieht in die Lade. Plötzlich fällt ihm ein, dass früher, als die Kinder noch kleiner waren, rechts vorn immer ein Block aus braunrot gebranntem Zucker lag. Jeden Sonntag, nach dem Essen, traten die Kinder hier vor der Lade an. Der Vater hielt Gericht über die Woche, mit dem Messer schnitt er Stücke von dem Zuckerblock ab, je nach Artigkeit, kleinere und größere. Er hatte das für gut und gesund gehalten; in seiner Jugend war Zucker etwas Kostbares gewesen, man glaubte damals, dass er große Kräfte verlieh. Hackendahl hatte starke Kinder haben wollen …

Später hatte sich herausgestellt, dass dies falsch gewesen war. Der Zahnarzt hatte erklärt, vieles Zuckeressen verderbe den Kindern die Zähne. Hackendahl hatte es gut gemeint, hatte es aber falsch gemacht. Das war oft so im Leben: Man meinte es gut und machte es doch falsch. Vielleicht wusste man nicht genug, hatte zu wenig gelernt. Mit Erich hatte er es auch gut gemeint und hatte es falsch gemacht. Er war nicht streng genug gewesen, und nun hatte er einen Dieb zum Sohne, das Schlimmste, was es gibt: einen Hausdieb, einen Burschen, der Eltern und Geschwister bestiehlt …

Der Mann vor der Schreibtischlade stöhnt auf. Sein Stolz ist getroffen, seine Sauberkeit ist schmählich beschmutzt; wenn der Sohn stiehlt, kann der Vater nicht ohne Makel sein! Er hat, während er hier steht, ein sehr genaues Gefühl für die erbarmungslos verrinnende Zeit, er hat es vier Uhr schlagen hören. Er muss hinunter in den Stall, Füttern und Putzen der Pferde beaufsichtigen. In einer halben Stunde kommen schon die ersten Nachtdroschken von ihrer Tour zurück, er muss mit ihnen abrechnen. Er hat keine Zeit, hier tatenlos zu stehen und über einen missratenen Sohn zu grübeln.

Jawohl, er müsste jetzt das Geld in den Leinwandbeutelchen nachzählen, er müsste den Fehlbetrag feststellen und den Sohn vernehmen. Dann das Füttern beaufsichtigen und das Putzen, anspannen lassen, abrechnen … Er tut nichts von alledem, er schüttelt nachdenklich ein Leinwandbeutelchen, Sophie hat mit rotem Faden in Kreuzstich »10 Mark« darauf gestickt, das Beutelchen enthält Goldstücke, Zehnmarkstücke …

Aber er zählt den Inhalt nicht nach, er geht weder zum Sohn noch in den Stall, er ist in Erinnerungen versunken. Seine Militärzeit hat ihn zum Mann gemacht, sie hat ihm Grundsätze gegeben, alles, was er später erlebte, im tätigen bürgerlichen Dasein, es gab Beispiele dafür in der Militärzeit, Richtlinien. Er erinnerte sich so manchen Diebes in den Mannschaftsstuben, es gab unverbesserliche Kerle, die ihren Kameraden immer wieder den Tabak oder die von Haus geschickten Würste stahlen. Da gab es erst Stubenkeile, erbarmungslose Prügel mit dem Koppelschloss, in der dunklen Nacht, auf den nackten Hintern, während das Gesicht mit einem Woilach verdeckt wurde. Aber auch ohne das hätte kein Unteroffizier Ohren für solches Geschrei gehabt …

Half aber die Keile nicht, war der Dieb wirklich unverbesserlich, ein Feind seiner Kameraden, so gab es die Entehrung vor offener Front, die Versetzung zu einem Strafbataillon – Schande und Schmach. Kameraden, ja, ein Kamerad war etwas Gutes – aber war ein Vater nicht vielleicht doch noch mehr? War es nicht viel gemeiner, einen Vater zu bestehlen als einen Kameraden? Der alte Hackendahl steht zögernd, er sieht seinen Sohn vor sich, in drei Stunden hat der seine Schulsachen zu nehmen und ins Gymnasium zu gehen. Es ist fast unmöglich, sich auszudenken, dass der Sohn nicht ins Gymnasium gehen wird, nie wieder, dieser sein Stolz, sein Ehrgeiz! Und doch – es muss ja sein! Er sieht den Soldaten vor der Front, einen ganz bestimmten Soldaten, mit einer großen, höckrigen, bleichen Nase. Tränen liefen über seine Backen, aber erbarmungslos sprach die Stimme des Offiziers fort, das endgültige, unwiderrufliche, verdammende Urteil über den Mann und Dieb …

Es darf kein Weichsein gegen das eigene Herz geben; dass es das eigene Fleisch und Blut ist, das sündigte, ändert nichts: Ein Dieb ist ein Dieb. Sie haben ihn den eisernen Gustav getauft, wohl halb im Spott, weil er so starrköpfig sein kann. Aber man kann aus einem Spottnamen auch einen Ehrennamen machen.

Und schon zählt er, und nur, als er die Höhe der fehlenden Summe festgestellt hat, hält er einen Augenblick bestürzt inne. So viel …? Es kann doch nicht sein …! Aber es ist so – noch mehr Schande und Schmach! Das kann nicht nur vertrunken sein, siebzehn Jahre, und plötzlich sieht der Vater hinter dem blassen, beweglichen, klugen Gesicht seines Sohnes die Fratzen von Weibern, käuflichen Weibern, jedem sauberen Manne ein Ekel! Siebzehn Jahre …!

Mit einem Ruck stößt er die Schreibtischlade zu, schließt ab und geht eilend, eisern entschlossen zurück in das Schlafzimmer der Söhne.

6

Als der Vater so unerwartet zurückkommt, fährt der jetzt schon angekleidete Älteste, der Otto, auf seinem Fensterplatz schreckhaft zusammen. Angstvoll versucht er, Holz und Schnitzmesser zu verbergen, schon zehnmal hat ihm der Vater diese lächerliche Spielerei verboten: Pfeifenköpfe aus Holz schnitzen oder kleine Tiere – eine Albernheit, die eines Mannes, der einmal einen Stall mit dreißig Pferden leiten soll, unwürdig ist!

Aber der Vater beachtet dieses Mal nicht die Unfolgsamkeit des Ältesten – er geht ohne Zögern auf das Bett von Erich zu, legt ihm die Hand fest auf die Schulter und befiehlt: »Wach auf!«

Der Schläfer bewegt sich, er versucht, seine Schulter dem harten Griff zu entziehen, die Augenlider zittern – aber er wird nicht wach.

»Du sollst wach werden, hörst du!«, befiehlt der Vater lauter.

Erich versucht noch immer, sich in den Schlaf zurückzuretten, aber es ist umsonst. Die Hand des Vaters macht Schmerz, die Stimme des Vaters droht.

»Was ist denn los?«, fragt Erich und reißt die Augen mühsam auf. »Schon Zeit für die Penne?«

Der Vater sieht dem Sohn wortlos in das erwachende Gesicht. Dann greift er mit einer Hand in das lange, blonde Haar des Schläfers, er zieht den widerstrebenden Kopf so nahe an den seinen, dass Stirn und Stirn sich fast berühren … Die Augen sehen das zu nahe Gesicht nicht mehr, sie sehen nur das dunkle, feuchte Auge des anderen, so nahe – und in dem einen Auge ist Angst, in dem anderen aber ein dunkles, finsteres Glühen …

»Was ist denn los?«, fragt Erich wieder. Aber er fragt es ohne Mut, ohne Überzeugung.

Der Vater antwortet nicht, er hat im Auge des Sohnes schon das Geständnis gelesen, das Herz klopft ihm so schwer …

Lange, lange bleibt er wortlos, dann hat er plötzlich, ohne es gewollt zu haben, doch leise gefragt: »Wo hast du das Geld gelassen …?«

Die dunkle, nahe Pupille scheint sich eng zusammenzuziehen, hat der Sohn geantwortet? Der Vater weiß es nicht. Er reißt an den Haaren des anderen, er schlägt mit der Stirn des Sohnes gegen die eigene, wieder und wieder.

»Mein Geld!«, flüstert er. »Dieb! Schlüsselfälscher!«

Der Kopf wackelt haltlos, er versucht nicht einmal, sich dem grausamen Griff zu entziehen.

»Wie stinkst du?«, fragt der Vater wieder. »Nach Schnaps. Nach Huren – gibst du denen mein Geld?«

Wieder keine Antwort, ach, diese schlaffe, feige Nachgiebigkeit steigert den Zorn Hackendahls nur noch!

»Was denkst du, was ich mit dir tue?!«, stöhnt er, fast sinnlos vor Zorn. »Zur Polizei …! Ins Gefängnis …?«

Keine Antwort.

»Was willst du?!«, fährt Hackendahl zornig herum zu dem anderen, dem ältesten Sohn. »Misch dich nicht ein, du Tölpel!«

»Ich gehe in den Stall«, sagt Otto gleichgültig. »Soll ich für dich Futter ausgeben?«

»Du Futter ausgeben?!«, ruft der Vater verächtlich und freut sich doch irgendwie über die Ablenkung, hat sogar den Sohn Erich aus dem Griff entlassen. »Das gäbe was Rechtes! Nein, geh voran, ich komme gleich nach.«

»Jawohl, Vater«, sagt Otto gehorsam und geht aus der Stube.

Der Vater sieht der schwerfälligen Gestalt nach, dann wendet er den Blick und sieht wieder auf Erich, der jetzt aufgestanden ist und blass, mit verzogenem Gesicht, auf der anderen Bettseite steht.

»Und was hast du zu sagen?«, fragt er und versucht, sich wieder in Zorn zu bringen. »Mach schnell – du hörst, ich habe zu tun. Ich muss Geld verdienen für meinen Herrn Sohn zum Stehlen, Versaufen, Verhuren …«

Der Sohn sieht den Vater von unten her an, seine Lippe zittert, als wollte er weinen. Aber er weint nicht, und jetzt, da er aus dem Griff des Vaters ist, das Bett als Deckung zwischen ihnen steht, spricht er auch. »Ich will auch was vom Leben haben …«, sagt er.

»Häh? Willst du das?«, ruft der Vater zornig. »Und was gibst du dem Leben? Wenn man was haben will, muss man auch was geben!«

Er sieht den Sohn an. Dann sagt er verächtlich: »Aber du bist ja ein Dieb, du stiehlst …«

»Ich will so nicht leben«, sagt der Sohn mürrisch und streicht die Haare aus der schmerzenden Stirn. »Immer nur Penne und Schularbeiten, und wenn ich eine halbe Stunde fortwill, habe ich dich zu fragen, und du lauerst mit der Uhr, dass aus dreißig Minuten auch keine einunddreißig werden.«

»Kannst du so nicht leben? Als ich so alt war wie du, war ich Knecht beim Bauern. Ich habe morgens um drei aus dem Bett gemusst, und wenn ich mich Klock neun zur Nacht hinlegte, fühlte ich keinen Knochen mehr, so tot war ich! Du kannst nicht leben mit fünf Schulstunden, mit heilen Kleidern und gutem Essen – so kannst du nicht leben?!«

»Aber ich bin kein Bauernknecht! Ein Schüler lebt nicht wie ein Knecht! Und die Zeiten sind auch anders geworden, Vater!«

»Ja, die sind freilich anders geworden! Es sind Zeiten geworden ohne Respekt und Ehre! Vor dem Schloss haben die Roten spektakelt und ihr Recht vom Kaiser gefordert. Ihr Recht! Du bist wohl auch so ein Roter geworden und willst mir dein Recht auf Nachschlüssel und gestohlenes Geld beweisen?!«

»Wenn du mir nie einen Groschen in die Hand gibst, Vater!«, antwortete der Sohn trotzig. »Jawohl habe ich ein Recht, so zu leben wie die anderen Gymnasiasten. Du hast mich in die Welt gesetzt und willst, dass ich studiere … Dann gib mir auch, was dazu gehört! Aber du willst bloß tyrannisieren, du bist nur glücklich, wenn alle vor dir zittern. Du bist genau wie dein Kaiser: Wer nicht pariert, wird über den Haufen geschossen!«

»Erich!«, rief der Vater tödlich verletzt. »Wie kannst du das sagen?! Will ich nicht euer Bestes? – Was redest du überhaupt?«, fragte er, sich besinnend, ruhiger. »Du hast mir meinen Schlüssel gestohlen und heimlich einen falschen machen lassen, du hast mir mein Geld gestohlen – und das willst du verteidigen?! Da fällst du nicht auf die Knie und bereust und bittest? Ja, bist du denn ganz wahnsinnig geworden: Der Sohn bestiehlt den Vater, und nicht der Sohn, nein, der Vater soll schuld sein …?«

Er sah sich hilflos in der Stube um. In seinem Bett der Heinz war nun doch von dem Lärm aus seinem festen Jungenschlaf erwacht, er saß aufrecht und sah den Vater an. Mit seinem altklugen, schnoddrigen Berliner Ton meinte er: »Reg dich bloß nich uff, Vater. Der Erich is ja nich normal, den haben se mit der Muffe gebufft, det weiß die janze Penne. Der is ja rot …!«

»Rot!«, schrie der Vater. »Mein Sohn rot! Ein Hackendahl Sozialdemokrat! Ja, weißt du denn nicht, dass der Kaiser gesagt hat, alle Sozialdemokraten sind Vaterlandsfeinde, und er zerschmettert sie!«

»Wenn die deinen Wilhelm bloß nicht zerschmettern!«, sagte der Sohn böse. »Der kann ja bloß mit seinem Säbel rasseln!«

»Vater! Vater!«, rief Heinz. »Lass Erich doch quasseln, der is ja verrückt!«

»Das will ich mal sehen!«, schrie der Vater und drang über das Bett vor. »Ob mein eigener Sohn …«

Er griff nach ihm, der Sohn wich aus …

»Friedlich, immer friedlich!«, rief Heinz in seinem Bett …

7

»Hört euch bloß diesen Lärm an!«, klagte die Mutter und schob sich in das Zimmer der Mädchen. »Und das schon am frühen Morgen! Vater kann doch nie Ruhe halten – er denkt immer, er ist noch in seiner Kaserne …«

Eva saß aufrecht in ihrem Bett, mit interessiertem, fast vergnügtem Gesicht lauschte sie auf den Lärm. Sophie aber hatte die Decke hoch über die Schultern gezogen und tat, als höre sie nichts, nicht einmal die klagende Mutter.

»Sophie!«, sagte die Mutter flehend zu ihr. »Auf dich hört Vater doch am ehesten. Geh mal hin und beruhige ihn – und horch, was eigentlich los ist. Was hat er bloß mit Erich – er hat sich schon im Schlaf mit ihm gestritten! Sophie! Bitte!!«

»Ich will nichts mit eurem Streit und Unfrieden zu tun haben!«, rief Schwester Sophie, setzte sich auf und sah mit blassem, zuckendem Gesicht die Mutter an. »Oh, ihr quält mich ja so! Ich halte das nicht mehr aus! Immer Streit und Klatsch – ja, wofür lebt man denn?«

»Fürs Kirchegehen doch!«, rief Eva spöttisch. »Für den Herrn Pastor Rienäcker. Gott, was hat der Mann für einen schönen Bart! Da kann es einem ja gar nicht langweilig werden in der Kirche …«

»Mit dir rede ich überhaupt nicht!«, sagte die Ältere zornig. »Oh, wie gemein bist du! Du denkst, weil du … Aber ich will dir nichts Böses nachreden, Gott verzeih mir die Sünde, dass ich es mache wie du …«

»Streitet euch doch bloß nicht, Kinder!«, bat die Mutter jammernd. »Wir könnten uns doch alle so schön vertragen. Wir könnten unser gemütliches Leben führen, aber nichts, immer nur Streit und Zank …«

»Nein, Mutter«, sagte Sophie entschlossen. »Das ist es ja gar nicht, das gemütliche Leben, wie du es dir denkst, alle Sonntage nach dem Eierhäuschen oder nach Hundekehle. Ihr denkt, das ist schön. Aber das findet ihr bloß schön, wir Jungen, und darin muss ich Evchen und Erich Recht geben, wir finden schön anders …«

»Danke, Fräulein Tugend«, sagte Eva spöttisch. »Ich brauch deine Hilfe nicht. Ich kann allein Mutter sagen, was ich will. Und so wie Erich, erst um ein Uhr nachts betrunken nach Haus kommen und Vater sein Geld klauen …«

»O Gott, o Gott!«, jammerte die Mutter. »Das wird Erich doch nicht getan haben! Wenn Vater das erfährt, schlägt er ihn tot! Er kann ja von mir Geld haben …«

»Aber, Mutter«, rief Sophie entsetzt, »hinter Vaters Rücken darfst du Erich doch kein Geld geben. Ihr müsst doch zusammenhalten als Eltern, ihr seid doch ein Ehepaar …«

»Wenn ich solchen Quatsch bloß höre!«, sagte Eva verächtlich. »Das ist auch solches Pfaffengeschwätz! Lieber soll der Erich Geld klauen …«

»Wozu braucht er denn Geld?«, redete Sophie hitziger dagegen.

»Aber ich will dir sagen, was mit dir ist, Sophie!«, fuhr Eva böse fort. »Du hast dich hier von allem gedrückt. Du läufst lieber mit ’nem Unterschieber von Erster-Klasse-Patienten, als dass du Vaters Nachtpott leer machst! Da kommst du dir wer weiß wie fein vor, da bildest du dir ein, der liebe Gott gibt dir ’ne gute Zensur und du kriegst den ersten Platz im Himmel …«

»Mutter!«, rief Sophie weinend. »Lass sie nicht so gemein reden, ich halte das nicht aus …«

»Ja, die Wahrheit zu hören, dafür bist du zu fein, aber uns die Wahrheit zu sagen, dafür bist du nicht zu fein!«

»Und ich mache es nicht mehr mit!«, rief Sophie entschlossen und wischte sich die Tränen mit dem Nachthemdärmel vom Gesicht. »Ich habe es nicht nötig. Heute noch spreche ich mit der Frau Oberin, und heute Abend noch ziehe ich mit Sack und Pack in das Mutterhaus!«

»Sophie!«, rief die Mutter flehend. »Tu bloß das nicht! Vater erlaubt es nie! Du bist doch unsere Tochter, und wir sind eine Familie und gehören zusammen …«

»Jawohl, zum Streiten gehören wir zusammen!«, sagte Eva zornig. »Sophie hat ganz Recht, sie soll machen, dass sie wegkommt! Und ich gehe auch bald. Jeder muss sehen, wo er bleibt, und das mit Familie und Elternliebe und Geschwistern – das ist alles bloß Unsinn!«

»Aber, Evchen, sage doch das nicht! Wir lieben uns doch untereinander …«

»Gar nicht lieben wir uns!«, rief Eva trotzig. »Nicht ausstehen können wir uns …«

»Sage doch bloß das nicht, Evchen!«

»Ich höre mir das nicht mehr an«, sagte Sophie entschlossen. »Dass du so redest, das zeigt, dass du überhaupt keinen Glauben mehr hast, du nicht und der Erich auch nicht. Und wenn du hier wegwillst, so tust du es nur, weil du zügellos sein willst. Ich habe es schon lange kommen sehen, und ich brauche dich gar nicht zu treffen mit Kavalieren Arm in Arm, pfui Teufel! Ich habe es schon gewusst, wie du immer auf den Rummelplatz gelaufen bist und hast dich schon mit dreizehn von den Bengels freihalten lassen auf dem Karussell!«

»Neidisch bist du, weil dich nie einer angesehen hat, Sophie!«

»Vertragt euch doch wieder, Kinder!«

»Und nicht geschämt hast du dich, wenn dein Rock vom Wind hochgeflogen ist, dass man sogar die Häkelspitzen von deiner Hose sah!«

»Grade schön!«

»O Gott, Kinder, helft doch!«, jammerte die Mutter. »Hört doch nur! Ich glaube, der Vater schlägt den Erich noch tot …«

8

»Chef verschlafen?«, fragte der alte Futtermeister Rabause, saß auf der Futterkiste und klopfte mit den Pantinen gegen das Holz. »Wird Zeit zum Füttern …«

Zwanzig Pferde hatten die Köpfe nach dem eintretenden Otto gedreht und leise, erwartungsvoll gewiehert. Aber sie kannten ihren Herrn, den Bringer der Nahrung, sie wussten, Otto war es nicht. So wandten sie die Köpfe enttäuscht wieder fort, scharrten im Stroh, klirrten mit den Halfterketten – und nur der Schimmel klopfte emsiger mit dem Huf.

»Kommt gleich«, antwortete Otto und setzte sich neben Rabause auf die Kiste. »Ist schon lange wach.«

»Warum hat er dann seinem Schimmel noch kein Futter geschüttet?«, wunderte sich der Meister. »Er ist sonst doch immer auf dem Kien.« Er lachte. »Der Chef denkt, ich merke es nicht, aber ich merke es doch.«

»Das geht uns nichts an, Rabause«, sagte Otto. »Es sind Vaters Pferde und Vaters Futter, damit kann er machen, was er will.«

»Sage ich denn was anderes, Ottochen?«, fragte der alte Rabause. »Ich sage bloß, er füttert heimlich, und das ist wahr. Seine Lieblinge hat der Chef eben doch, er mag noch so sehr tun, es geht nur nach der Gerechtigkeit.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Otto abweisend. »Ich tu, was Vater will.«

»Genau, was ich sage, Ottochen«, grinste der Alte. »Du bist aber auch nicht sein Liebling.«

Eine Weile saßen sie stumm auf ihrer Kiste. Dann räusperte sich Rabause, stieß Otto an und fragte: »Du, Otto, hast du mir den Piepenkopf geschnitzt?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, sagte Otto. »Sie wissen, ich muss so aufpassen, Vater will es nun mal nicht haben.«

»Mach ihn auch recht schön«, bat Rabause. »Es muss mein Ajax werden, wie ich ihn sieben Jahre gefahren habe, du weißt, eine Blesse über das halbe Maul.«

»Ich mach das schon«, sagte Otto. »Ich muss nur erst mal Zeit haben.«

»Siehste, Otto – nun hast du doch wieder vergessen, mich daran zu erinnern, dass ich Sie zu dir sage. Du weißt, der Chef hat mir das Du streng verboten.«

»Ich habe es nicht vergessen, ich mag es Ihnen nur nicht immer wieder sagen.«

»Das ist es ja grade!«, rief der Futtermeister eifrig. »Wenn Sie selber es wollten, dass ich Sie zu Ihnen sage, dann würde ich es auch nicht immer vergessen. Aber du willst es eben nicht.«

»Sie haben eben wieder du gesagt, Rabause!«

»Siehste! Dein Vater hat ganz Recht, das ist keine Sache, wenn der Futtermeister zum Sohn vom Chef du sagt. Du bist doch keine zehn Jahre mehr, wie damals, als ich zu euch kam, du bist jetzt fünfundzwanzig …«

»Vierundzwanzig.«

»Also vierundzwanzig.« Der Futtermeister klopfte nachdenklich mit den Füßen gegen die Kiste. »Vierundzwanzig – da musst du vielleicht noch mal Soldat spielen …«

»Ich Soldat? Nein, damit bin ich durch, einmal ist genug.«

»Aber wenn es jetzt einen Krieg gibt?«

»Es gibt doch keinen Krieg!«

»Hast du denn gestern nicht die Extrablätter gelesen? Die Serben haben doch den österreichischen Kronprinzen totgeschossen – pass auf, es gibt einen Krieg.«

»Was haben wir denn mit den Serben zu tun? Wo wohnen die überhaupt?«

»Weiß ich auch nicht genau, Ottochen, irgendwo da unten …« Er wies unbestimmt in den Stall.

»Sehen Sie! Darum kann es doch keinen Krieg geben.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann fing der Futtermeister neu an: »Wenn jetzt aber der Chef nicht gleich kommt … Ich muss doch füttern. – Die Taxen müssen pünktlich raus. – Willst du nicht mal rübersehen, Ottochen?«

»Der Vater hat gesagt, er kommt gleich.«

»Oder ich rufe ihn selber, wenn du Angst hast, Ottochen.«

»Lassen Sie’s man lieber, Rabause, Vater wird schon kommen.«

»Was ist denn? Dicke Luft?«

Otto nickte.

»Schon wieder? Am frühen Morgen? Wegen was denn?«

»Ach, nichts …«

»Hat wohl wieder mal ein Topf in der Küche nicht richtig gestanden? Der Chef macht es aber auch zu schlimm, sich macht er kaputt und die andern mit! Du hast auch schon gar keinen Mumm mehr in dir, Ottochen.«

»Ach, ich halt’s schon noch ’ne Weile aus. Aber ganz schön wäre es ja, es gäb einen Krieg, und ich käme raus aus dem Haus. Ich möchte auch mal meine Ruhe haben und nicht immer angeschnauzt werden.«

»Die schnauzen aber auch bei den Preußen, Ottochen.«

»Aber nicht wie Vater …«

»Da!«, rief Rabause. »Da haben wir schon den Krach! Komm, Ottochen!«

Und er lief zur Stalltür.

»Wollen wir nicht lieber hierbleiben?«, fragte Otto unschlüssig. Dann aber ging er doch dem Futtermeister nach aus dem Stall.

9

Über den Hof kam der alte Hackendahl, er stieß den Erich, der nur in Hemd und Hose war, vor sich her. Aus den Fenstern spähten die erschrockenen, die neugierigen Gesichter der Frauen. Der Sohn hatte es mit seinem Trotz geschafft: Er hatte den Vater um alle Besinnung gebracht.

»Ein Student willst du sein?!«, schrie der Alte und stieß Erich, dass er taumelte. »Ein Furz bist du in meinen Augen! Ein Garnichts! Ein Dieb!!«

»Ich lasse mir das nicht gefallen!«, rief Erich. »Ich will …«

»Herr Chef! Herr Chef! Bitte, Sie wecken die Nachbarn!«, bat der alte Futtermeister erschrocken.

»Sehen Sie ihn sich an, Rabause!«, rief der ehemalige Wachtmeister erbittert. »Der Herr Sohn verludert achtzig Mark in einer Nacht – und sagt noch, er hat ein Recht darauf! Stillgestanden, du, wenn dein Vater mit dir redet! Aber ich will dir zeigen, wer Herr ist in diesem Hause! Heute noch melde ich dich ab vom Gymnasium …«

»Das tust du nicht, Vater!«

»Das tu ich. Ich schwöre dir, dass ich es tu, heute noch!«

»Herr Chef, Herr Chef, beruhigen Sie sich, überlegen Sie doch! – Rede deinem Vater doch auch zu, Ottochen!«

»Vater …«

»Vater!«

»Jawohl, Vater! Jetzt kannst du Vater schreien, wo es zu spät ist! Aber es hat sich ausgevatert mit dir, Bürschchen, jetzt bin ich nur dein Herr – und ich werde dafür sorgen, dass du parieren lernst!«

»Herr Chef …«

»Jawohl, Herr Chef, jetzt bin ich sein Chef! Marsch mit dir in den Stall, von heute an bist du Stallknecht, und ich schwöre dir, du sollst so viel auszumisten und zu putzen kriegen …«

»Das tue ich nie, Vater! Lieber laufe ich fort, ehe ich eine Mistgabel anrühre!«

»Herr Chef, besinnen Sie sich doch, so ein heller Kopf …«

»Für was helle? Für Diebstahl! Nichts da, du gehst jetzt in den Stall, Erich!«

»Ich gehe nicht in den Stall!«

»Du gehst in den Stall!«

»Nie!«

»Du verweigerst deinem Vater den Gehorsam?«

»Ich gehe nicht in den Stall, ich fasse nie eine Forke an!«

»Erich! Treib es nicht zum Äußersten! Geh in den Stall, tu die Arbeit, gehorche – und wir wollen nach einem Jahr sehen …«

»Ein Jahr? Nicht eine Stunde, Vater, nicht eine Minute!!!«

»Du tust es nicht?«

»Nie!«

Der Vater stand nachdenkend, fast ruhig.

»Ottochen, red du dem Erich zu«, bat der alte Rabause. »Er soll vernünftig sein. Es wird ja nicht ein Jahr dauern müssen, dein Vater wird auch mit einem Monat zufrieden sein, mit einer Woche – er muss nur erst den guten Willen sehen.«

»Erich …«, bat Otto schwerfällig …

»Ach, sei du bloß still!«, rief Erich böse. »Du Schlappschwanz – weil du immer gekrochen bist, ist Vater bloß so geworden!«

»Komm!«, sagte der Alte, der nichts gehört zu haben schien. »Komm!«

Er legte dem Sohn die Hand um den Arm. »Los!«

»Ich gehe nicht in den Stall!«, widerstand der Sohn.

»Komm!«, sagte der Vater. Er zog den Sohn mit sich. Es ging wieder auf das Haus zu. »Bring mir die Kellerschlüssel, Otto!«, rief der Vater.

Otto lief.

»Was …?«, fragte Erich verwirrt.

»Komm!«, sagte der Vater.

Sie kamen zurück in das Haus, aber sie stiegen nicht die Treppe zu dem Obergeschoss empor, es ging in den Keller hinab.

»So«, sagte der Vater und stieß eine Kellertür auf. »Hier bleibst du, bis du dich besonnen hast. Ich schwöre, ich lasse dich nicht eher raus, Erich, bis du dich gefügt hast.«