Über das Buch

»Wie kann ein Dorf einfach verschwinden?« — mit archäologischer Präzision ergründet Filip Springer die Geheimnisse der ehemaligen Bergbau-Stadt Kupferberg in Niederschlesien.

1311 wird der Ort in Polen erstmals erwähnt. Heute existiert Kupferberg nicht mehr. Nur eine Flasche Bier und ein Porzellanverschluss sind übrig, als sich Filip Springer mit archäologischer Präzision daranmacht, die Geheimisse der verschwundenen Stadt zu ergründen. Der Bergbau lässt das Dorf in idyllischer Lage wachsen. Keiner der vielen Kriege bis zum Zweiten Weltkrieg kann ihm etwas anhaben. Danach wird aus Kupferberg Miedzianka, eine Stadt, die wiederaufgebaut und zu einem Zentrum des Abbaus von Uran wird. Bis der Untergrund durchlöchert ist und man dort nicht mehr leben kann … Filip Springer zeichnet die Geschichte eines langsamen Untergangs nach. Eine Chronik spannend wie ein Roman.

Filip Springer

Kupferberg

Der verschwundene Ort

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Paul Zsolnay Verlag

Alle Auferstehungen

Zum ersten Mal sackt der Erdboden unter Preuß’ Schmiede und Reimanns Kaufladen ab. Ein Krater entsteht, so groß, dass ein ganzes Pferdefuhrwerk Platz darin fände. Auch quer über die Häuserzeile — vom Bäcker Flade bis zum Friseur Friebe — hat sich ein Riss im Mauerwerk gebildet, weil Stollen eingebrochen sind.

Eines Tages stecken die Pferde, die den Pflug über Franzkys Feld ziehen, plötzlich bis zur Brust in der Erde und stoßen ein so schrilles Quieken aus, dass alle in der Umgebung ihr Arbeitszeug hinwerfen und mit bleichen Gesichtern zum Acker rennen. Nur wenige haben Mut genug, den Pferden zu Hilfe zu kommen; die anderen starren von weitem auf die Pferdeköpfe, die aus der Erde ragen, und das merkwürdige trichterförmige Loch um sie herum.

*

Alles Unglück, sagen die Abergläubischen, komme daher, dass in Kupferberg vor vielen Jahren ein Mann seinen eigenen Bruder getötet hat. Weil damals Blut vergossen wurde, liege nun ein Fluch auf der Stadt. An den Brudermord erinnern zwei steinerne Kreuze, die der Mörder selbst, wie es die schlesische Sitte will, gleich neben der Straße nach Johannesdorf1 aufstellte. Das »Memento« auf einem der beiden Kreuze ließ kein Vergessen zu. Mahnend ragte die Inschrift aus dem hohen Gras, wann immer jemand hinübersah. So lernten die Menschen, nicht hinzusehen. »Memento« — »Gedenke« — als wären alle Unglücksfälle, die das grüne Kupferberg im Laufe der Jahrhunderte heimsuchten, nur die Vorboten schlimmerer Dinge gewesen, die sich noch hier ereignen sollten. »Memento« — wie eine Warnung, dass für manche Fehler jahrhundertelang bezahlt werden muss. Und die Rechnung doch niemals beglichen werden kann.

Die Geschichte kehrte hier nie richtig ein, eher streifte sie die Umgebung. Für die Menschen oben in ihren Häuschen, die sie waghalsig auf dem Gipfel aufgestellt hatten, wirkte sie wie ein alles zerstörendes Ungeheuer, das sich zu ihnen jedoch niemals verirren würde.

Ein mutiger Menschenschlag. Ängstliche hätten an diesem Ort niemals eine Stadt gegründet. Sie hätten die Natur nicht so kühn herausgefordert, hätten keine Maulwurfsgänge in den steinigen Berghang gegraben und in deren Dunkel nach kostbaren Rohstoffen geforscht. Vorreiter der Mutigen war angeblich Laurentius Angelus — ein halblegendärer schlesischer Bergbaumeister, ursprünglich aus der fernen Wallonie stammend, der im 12. Jahrhundert wertvolle Flöze entdeckt haben soll. Viel mehr weiß man nicht über ihn, vielleicht ist er auch nur eine Fantasiefigur, dem Bergmannsgarn an langen Winterabenden entsprungen. Solche Geschichten, die die Fantasie befeuerten, gab es im Übrigen mehrere, zum Beispiel die vom Srebrny Kusznik, vom silbernen Armbrustschützen, von den Deutschen wohl der Blutige genannt [Anm. d. Übers.], der Angst und Schrecken unter deutschen Siedlern verbreitete, die den Polen nicht wohlgesonnen waren.

Das, was man sicher weiß, steht in den Chroniken. Anfang des 14. Jahrhunderts gehören die Berge und das umliegende Land einem Herrn namens Albert der Baier de Cuprifodina in montanis, kurz: Albert Bavarus. Vielleicht ist es ihm zu verdanken, dass die Gegend schon bald für ihren Silberabbau berühmt wird. Im Jahr 1370 verkauft ein Nachfahre Alberts — Heinrich Bavarus, Ritter am Hof der Herzöge von Schweidnitz-Jauer — die Ansiedlung an den Adligen Clericus Bolze [auch Boltze oder Bolcze; Anm. d. Übers.]. Der wiederum errichtet in den nahegelegenen Wäldern ein Schloss, das bei den Polen später Bolczów und bei den Deutschen Bolzenstein heißen wird.

Danach wandern Besitztümer und Siedlung von Hand zu Hand. Herren sind der Reihe nach, vom Jahr 1375 an, Puta z Častolovic (von Tschastolowitz) und Hannos Wiltberg, ab 1397 dann die Brüder von Ylenburg, ab 1398 die Brüder Konrad und Reinhard von Boralowicz (Borawecz, Borrwitz). Für 1433 verzeichnen die Chroniken Hermann von Czettritz, für 1434 die Gebrüder von Liebenthal. Während der Hussitenkriege kommt der Bergbau zum Erliegen und erholt sich erst im 16. Jahrhundert wieder.

1512 erwirbt Dippold von Burghaus die Ländereien, der erste wirkliche Bergbaukenner in der Region. Solch hohen Ertrag erwirtschaften seine Goldbergwerke und Hütten im nahen Reichenstein, dass nun die mächtigsten Bergbau- und Hütten-Gesellschaften die Finger nach diesem Leckerbissen ausstrecken. In seiner besten Phase sind 145 Bergwerke in Betrieb; dennoch sieht Dippold sich nach einer neuen Herausforderung um und verkauft die Abbaurechte für Bodenschätze, die der Herzog ihm verliehen hat, an die Familien Fugger und Turzon. Bald darauf entdeckt er Kupferberg und ahnt, dass sein Erfolg sich hier wiederholen könnte. Bei einer nur flüchtigen Besichtigung schätzt er, dass sich im Berginneren vor allem Kupfer in Form von reinem Erz, Kupferpecherz und Pechblende verbirgt, aber auch Silber und Zinkblende. Damit Dippold an all diese Reichtümer gelangen kann, ist jedoch eine Bedingung zu erfüllen: Die Siedlung muss den Status einer Freien Bergbaustadt erhalten — und darum bemüht sich Dippold drei Jahre lang beim jungen tschechischen König Ludwig II., bis er 1519 tatsächlich sein Ziel erreicht. Dank des eingeräumten Privilegs verfügt der Besitzer Kupferbergs nicht nur über die vollen Rechte zu jeglichen Bergbauarbeiten auf seinen Ländereien, sondern ist auch von der Urbar befreit — der Abgabe des zehnten Teils aus dem Abbau von Kupfer, Blei, Eisen und Zinn. Ludwigs Großzügigkeit — oder auch Kurzsicht — sollte später noch zum Anlass für zahlreiche Streitigkeiten zwischen den weiteren Herren von Kupferberg und der Königskammer werden.

Dippold hat somit freie Bahn: Im Laufe von mehr als zwanzig Jahren legt er an den Berghängen fast 160 Schächte und Stollen an. Die dort gewonnenen Rohstoffe werden gleich vor Ort in den Hüttenwerken eingeschmolzen, und das verdiente Geld investiert Dippold, indem er unter anderem das in den Hussitenkriegen zerstörte Schloss Bolzenstein wiedererrichten lässt.

Dennoch wecken der heftig vorangetriebene Rohstoffabbau und Dippolds rasch wachsender Reichtum den Unmut der Bergleute und Bürger. Sie wissen, dass sie größeren Anteil am Erfolg ihres Landesherrn haben könnten, und fordern immer nachdrücklicher Beteiligung. Dippold wiederum merkt, woher der Wind weht, und kommt ihnen entgegen. Besser weniger Geld einnehmen und keinen Aufstand von Bergleuten und murrenden Kaufleuten riskieren, als alles aufs Spiel zu setzen. Er hält sie noch ein paar Jahre hin, doch als er sieht, dass ihm Widerstand nichts nützt, überlässt er ihnen eine der Hütten und ein paar Anteile am Bergbau. Für diese Nachgiebigkeit werden sämtliche nachfolgenden Herren von Kupferberg ihn verfluchen.

Einer dieser Herren ist Jost Ludwig Dietz (Jodocus Ludovicus Decius)2, Sekretär von König Sigismund I. (dem Alten), gebürtiger Elsässer, der in Krakau besonderen Einfluss und hohes Ansehen genießt. Er ist Gelehrter, Diplomat, erstklassiger Humanist, aber auch Finanzier. Dank seiner Bekanntschaft mit dem in Krakau sehr mächtigen Jakub Boner, dem Errichter und Verwalter der Salzbergwerke in Wieliczka und Bochnia, wird Dietz auf die großen finanziellen Möglichkeiten aufmerksam, die der Abbau von Rohstoffen birgt. Außerdem träumt er sicherlich davon, auch auf eigene Rechnung zu wirtschaften; daher nutzt er bei der Suche nach einer gewinnbringenden Investition seine Beziehungen zu den Familien Fugger und Turzon, die ihr Vermögen unter anderem mit der Förderung von Rohstoffen erworben haben, und stößt so auf den Ort Kupferberg. Dippold will die Ländereien ohnehin abstoßen, die Sache sieht mehr als vielversprechend aus.

Zum Geschäftsabschluss kommt es 1538. Dietz rechnet damit, die Konflikte mit Bürgern und Bergleuten, über die so viele Herren Kupferbergs klagen, besänftigen und als Ausgleich dafür die von Dippold bislang unangetasteten Flöze abbauen zu können. Er ist schließlich kein Laie und kauft nicht die Katze im Sack. Die Sachverständigen, die das Gelände begutachteten, haben allesamt positive Nachrichten überbracht. Was Dietz nicht ahnt, ist, dass er soeben in eine Falle tappt, die in der Zukunft noch für zahlreiche Dramen in und um Kupferberg sorgen wird: Die hiesigen Flöze weisen nämlich die Besonderheit auf, dass ihre oberflächlichen Schichten geradezu erstaunliche Mengen an Kupfer und sogar Silber enthalten. Wer sie untersucht, verfällt in fieberhafte Erregung, die einem Goldrausch nahekommt. Doch liefert die Analyse der Proben etwas zu optimistische Ergebnisse, sodass die Prognose, der zufolge sich in Kupferbergs Erde große Reichtümer verbergen, als trügerisch gelten muss.

Tatsächlich erweisen sich Dietz’ Schätzungen als zu hoch gegriffen — die Förderung ergibt nicht die erwarteten Erträge, die Bergleute verlangen wieder und wieder höhere Beteiligung. Nach nur fünf Jahren verkauft Dietz Kupferberg mitsamt allen Bergwerken und sucht fortan auf der anderen Seite der Berge, in Zuckmantel, sein Glück — findet es aber offenbar nicht, denn 1545 stirbt er, zwar als reicher, jedoch nach wie vor unerfüllter Mann.

Nun gelangt Kupferberg in die Hände der Gebrüder Hellmann. Die wiederum setzen auf die Durchsuchung der Halden, die sich in mehr als zwei Jahrhunderten Rohstoffförderung rund um den Ort aufgetürmt haben. Zu ihrem Erstaunen und sicher auch zu ihrer Empörung sollen die Bergleute nun, statt unter Tage zu gehen, den Aushub von den Halden zu einer Lichtung am nahegelegenen Bach schaffen. Dank eines für die damaligen Zeiten fortschrittlichen Verfahrens — der Nassmetallurgie — bringen die Hellmanns in Kupferberg die Produktion von Kupfervitriol in Gang, das in ganz Europa beim Färben und Gerben von Leder eingesetzt wird. 1553 sind die Gebrüder Hellmann die führenden Produzenten dieses Mittels im Habsburgerreich.

Das Treiben der neuen Landbesitzer betrachten die Kupferberger Bürger mit Unwillen, ziehen sie doch ihre sämtlichen Privilegien und nicht eben geringen Profite aus dem Bergbau. Einer von ihnen, Valentin Krün, baut sich in der Niedergasse 25 ein Haus, das mit seinem kunstvollen Portal und den prächtigen Innenräumen noch über fünf Jahrhunderte lang Ortsansässige in Ehrfurcht und Gäste in Entzücken versetzen wird. Die Menschen erzählen einander, dass von jenem Haus ein unterirdischer Geheimgang zum »Rattenkloster« im unteren Ortsteil und weiter zum Bolzenschloss führe. Krün beobachtet voller Unruhe, wie ein Bergwerk nach dem anderen eingeht, die Zahl der Bergleute abnimmt und immer weniger Rohstoffe gefördert werden, an denen er und andere Menschen seines Schlages ein Vermögen verdienen. Die Hellmanns kommen mit dem Verkauf ihres Vitriols erstaunlich gut allein zurecht.

1579 setzt ein Sacharrest, unter den die wenigen Bergmänner gestellt werden, da sie vor dem König nicht mit der erforderlichen Menge an geförderten Rohstoffen abrechnen konnten, dem Bergbau in Kupferberg zum ersten Mal ein Ende. Die verbliebenen Bergwerke werden geschlossen, und nun ahnen auch die Letzten, die noch mit einer glücklichen Schicksalswende gerechnet haben, dass magere Jahre vor ihnen liegen. Und dass es Zeit wird, sich eine neue Beschäftigung zu suchen.

Nicht ahnen können sie, dass ihnen das Schlimmste erst bevorsteht. Anfang des neuen Jahrhunderts dringt das drohende Grollen des Ungeheuers namens Geschichte nun doch bis nach Kupferberg. Fällt jetzt den Menschen, die immer schwerer über die Runden kommen, der Fluch wieder ein? Sicherlich werfen sie besorgte Blicke zu den beiden Steinkreuzen hinüber. »Memento« — Bedenke, vielleicht liegt das Schlimmste noch vor dir.

Ab 1618 ziehen bewaffnete Horden durch Europa; sie sind in Geschehnisse verwickelt, die von den Historikern später als der »Dreißigjährige Krieg« bezeichnet werden. Das Ungeheuer wütet dreißig Jahre lang — dreißig Jahre Angst, Verzweiflung und Trauer. Zuerst kommt eine Seuche, die in der ganzen Gegend reiche Todesernte einfährt. Kupferberg weint um nahezu die Hälfte seiner Einwohner. Noch haben die Menschen diesen Schlag nicht ganz verwunden, als sie in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 1634 von Glockenläuten geweckt vor ihre Häuser treten und sorgenvoll vom Gipfel ihres Berges gen Westen blicken — wo unter dem sternenklaren Himmel der Ort Hirschberg lichterloh in Flammen steht. Wieder macht sich das Ungeheuer bemerkbar. Brandbomben haben sämtliche Hirschberger Kirchtürme in Flammen aufgehen lassen, in der Hitze schmelzen die Glocken. Nach wenigen Stunden wird von der Stadt nur noch ein verkohltes Aschenfeld übrig sein. 341 Häuser verbrennen, und in ihnen die Menschen. Ihre Schreie hört man nicht bis Kupferberg, doch den Feind sehen die entsetzten Einwohner bereits nahen. Dieses Mal sind es die Kroaten, die aufseiten der Habsburger kämpfen. Sie belagern Hirschberg. Als sie schließlich auch in Kupferberg auftauchen, verschwindet der Ort zum ersten Mal von der Landkarte. Wer es schafft, das Pogrom zu überstehen, versteckt sich in den dichten Wäldern. Zunächst raffen Kälte und Hunger die Überlebenden dahin, dann tut ein außergewöhnlich frostiger Winter das Seine. Als die Kroaten sich zurückziehen, betritt eine Handvoll Einwohner die Brandstätte, bereit, ihr Kupferberg wiederaufzubauen.

Im Mai 1641 wird Feldmarschall Lennart Torstensson zum Befehlshaber der schwedischen Truppen ernannt, die aufseiten der Protestantischen Union gegen die Habsburger kämpfen. Er befiehlt seinem General Königsmarck, das von Dippold mehr als hundert Jahre zuvor so mühevoll wiedererrichtete Schloss Bolzenstein zu erobern. Nun müssen die Kupferberger, die den Angriff der Kroaten überstanden haben, erneut flüchten, diesmal vor den Schweden. Eine Belagerung beginnt, während derer die schwedischen Truppen ihr Lager auf den verkohlten Grundfesten fast aller Dörfer in der Umgebung aufschlagen — in Johannesdorf, Rohrlach, Waltersdorf. Und Kupferberg verschwindet bloß deshalb nicht zum zweiten Mal von der Landkarte, weil es nach dem Kroateneinfall noch nicht zur Gänze wiederaufgebaut werden konnte.

Die tragischen Zeiten, in denen sie leben müssen, versuchen die Menschen mit Legenden zu deuten, die sie sich im Schein ihrer heimlich entzündeten Lagerfeuer erzählen. Sie handeln von einem heldenhaften Fürsten auf Schloss Bolzenstein, der sich angesichts der hoffnungslosen Lage aus den Händen der protestantischen Angreifer befreite, indem er aus einem Fenster des Schlosses in die Tiefe sprang. Sein Geist sollte angeblich noch jahrelang durch die verwinkelten Schlossgänge huschen, ächzen, heulen und jeden verfolgen, der es wagte, seine Ruhe zu stören. Manche Geschichten handeln auch von einem Trauerzug, der in wolkenlosen Nächten zwischen Kupferberg und Johannesdorf herumirren soll — und eine Besonderheit aufweist: Sämtlichen Trauergästen fehlt der Kopf. Gegen Morgen pflegt sich der Zug in Nebel aufzulösen.

Schlussendlich erobern die Schweden Schloss Bolzenstein und besetzen es für vier Jahre, während derer sie mehrere Versuche der kaiserlichen Truppen abwehren, das Schloss zurückzuerobern. Schließlich ändert sich die Situation an der Front so weit, dass die Besetzung der Festung keinen besonderen Sinn mehr ergibt. Die Schweden ziehen sich zurück, wobei sie, entsprechend den damaligen Kriegsgepflogenheiten, nur eine rauchende Ruine hinterlassen.

Der Krieg legt nicht nur die gesamte Stadt in Schutt und Asche, sondern zerstört auch etwas viel Wertvolleres, an dem die Kupferberger sich Jahrzehnte hindurch hatten erfreuen können: Die Reduktionskommission nimmt den evangelischen Einwohnern ihre Gotteshäuser und verbietet den pastoralen Dienst. In den folgenden Jahren sind die Kupferberger Protestanten stärkstem Druck vonseiten der Österreicher ausgesetzt und müssen sich, um die Predigten ihrer Pastoren zu hören, wieder in den Wäldern rund um die Berge und die niedergebrannte Schlossruine verstecken. Ihre Gotteshäuser bekommen sie erst mit der Übernahme des Landstrichs durch die Preußen im Jahr 1742 zurück. Über jene Zeit vermerkt Pastor Fiebiger aus dem nahegelegenen Rudelstadt in seinen Erinnerungen: »O du mein Gott! In welchen Zeiten hast du uns zu leben beschieden! Komm, guter Geist, rette dieses arme Volk. Sieh, wie viel Verheerung, wie viele Ruinen ringsum! Schlesien ist in Trauer und beweint sein bitteres Los.«3

Mit dem Ende des Krieges enden jedoch nicht die Plagen, die den Ort heimsuchen. Nach den Jahren voller Katastrophen glaubt hier niemand mehr an Zufall. Der einst blühende Bergbau liegt am Boden, die Menschen hungern und versuchen ihr Glück mit Ackerbau und Viehzucht. Doch auch darin sind sie zum Scheitern verurteilt. Die Erde ist wenig fruchtbar, das Klima rau. Chroniken verzeichnen im August 1693 heftige Schneefälle in der ganzen Gegend, die zahllosen Pfützen sind von einer dünnen Eisschicht überzogen. Kurz darauf werden Kupferberg und die Nachbardörfer von Heuschrecken in entsetzlichen Mengen überfallen. In den Kirchen beten die Menschen darum, dass die Plage, dieser göttliche Fingerzeig, abgewendet werden möge. In den folgenden Jahren suchen den Ort eisigere Winter heim denn je — 1708 gibt es in der Gegend 105 Kältetote, weitere 185 ältere Menschen und Kinder sterben an der Ruhr und an den Pocken.

Trotzdem standen die zähen Kupferberger nach jedem Schlag wieder auf. »Wes die Zeit erlaubte …«, pflegten sie gelassen zu sagen, wann immer jemand gewagte, fantastische oder gar weitreichende Zukunftspläne schmiedete. Zu viel hatte sie die Vergangenheit gelehrt. Schlugen sie den Weg nach Johannesdorf ein, wandten sie nach wie vor den Blick von den steinernen Kreuzen ab, doch behielten sie das »Memento« und das Grollen des Ungeheuers, das jenseits der Berge lauerte, stets im Hinterkopf.

All das wusste Johann Martin Stulpe, der im November 1724 nach Kupferberg kam mit dem festen Vorsatz, den von Schicksalsschlägen geplagten Seelen der Einwohner ein wenig Hoffnung einzuflößen. Stulpe war 1686 in Wartenberg geboren, in einer armen, jedoch so gottesfürchtigen Schustersfamilie, dass gleich zwei ihrer Söhne sich zu Priestern berufen fühlten (der ältere Johann und der jüngere Michael). Schon von jüngster Kindheit an hatte Johann sich durch Fleiß und Wissbegier hervorgetan, zuerst in der Volksschule in seinem Heimatdorf, später dann auf dem Gymnasium in Liegnitz und schließlich an der Hochschule in Breslau, wo er 1710 einen Magistertitel in den freien Wissenschaften sowie ein Bakkalaureat in Theologie erwarb. Drei Jahre später empfing er die priesterlichen Weihen und begann seinen Dienst in den Gemeinden der Umgebung. Nach mehreren Jahren an verschiedenen Orten wurde er in Anerkennung seiner Verdienste schließlich zum Pfarrer der gebeutelten, in Verzagtheit erstarrten Kupferberger Gemeinde ernannt. 1725 machte er sich, wenngleich völlig mittellos, auf eine lange und gefährliche Reise nach Rom, um von Papst Benedikt XIII. die Erlaubnis einzuholen, in Kupferberg eine Bruderschaft zum Heiligsten Herzen Jesu zu gründen. Die Erlaubnis bekam er.

So beginnt Prälat Stulpes fast dreißigjähriges Wirken in Kupferberg, zurückdenken wird man an ihn noch zwei Jahrhunderte lang. Der Beginn jedoch steht unter keinem guten Stern. 1727 renoviert der Pfarrer mit seinen eigenen Ersparnissen die Kirche, die im Laufe der Kriege und der Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte vollkommen verfallen ist. Doch allzu lang sollte das Gotteshaus die Augen der Gläubigen nicht erfreuen. In einer eisigen Januarnacht 1728 legt eine Feuersbrunst wieder einmal die Kirche und auch einen gehörigen Teil der Stadt in Schutt und Asche. Und wieder einmal müssen die Kupferberger von vorn anfangen. Innerhalb von fünf Jahren bauen sie die Kirche neu auf und errichten auch gleich eine Schule bei der Pfarre.

Pfarrer Stulpes akribischen Aufzeichnungen zum Dank wissen wir, dass er im Laufe der nun folgenden zwei Jahrzehnte 2551 Predigten verliest, 2392 Missae solemnis und ganze 10.077 Missae recitatae abhält. Er spendet 744 Mal das Sakrament der Taufe (374 der Täuflinge sind Jungen, 370 Mädchen). Das letzte Geleit zum Friedhof an der Hinterseite des dreieckigen Marktplatzes gibt er 768 verdienten Bürgern, und den Segen 265 Paaren, die sich entschließen, im freundlichen hiesigen Kirchengebäude das Sakrament der Ehe zu empfangen. Woran Johann Martin Stulpe jedoch die meiste Freude hat, sind die alljährlichen Kirchweihfeiern und Patronatsfeste, die stets am dritten Sonntag nach Ostern stattfinden. Dann wird die kleine Stadt von Hunderten Pilgern aus der ganzen Umgebung bevölkert, und das Mitgliederbuch der Herz-Jesu-Erzbruderschaft quillt über von neuen Einträgen. Der Pfarrer kann nicht wissen, dass der Brauch, dem zufolge alle Gläubigen jedes Jahr am dritten Sonntag nach Ostern zum Herz-Jesu-Fest in Kupferberg zusammenkommen, in ferner Zukunft einer der wenigen Beweise dafür sein wird, dass es dieses Städtchen überhaupt einmal gegeben hat.

Das Ungeheuer Geschichte erwacht 1740 wieder, und zwar im Geist Friedrichs des Großen, als der beschließt, den Habsburgern Schlesien zu nehmen — und damit auch das grüne Kupferberg. Diesmal dauern die Kämpfe über zwanzig Jahre. Im Herbst 1744 erhebt das kaiserliche Heer von den Ortsbewohnern eine Kontribution; einzige Alternative ist die Befriedung. Die Österreicher verlangen zehntausend Gulden in Bargeld, dreißig Paar Schuhe, zwanzig Zugpferde, sechshundert Scheffel Hafer, sechshundert Bund Heu sowie achthundert Laib Brot — all das innerhalb von 24 Stunden. In Kupferberg aber leben gerade einmal tausend Einwohner, von denen ein jeder nur zu gut weiß, dass diese Kontribution auch mit vereinten Kräften nicht aufzubringen ist. So lassen sie ihren Blick nur traurig über die Wälder schweifen, in der dunklen Vorahnung, wieder einmal mit ansehen zu müssen, wie ihre kleine Stadt dem Erdboden gleichgemacht wird. Doch da kommt ihnen Pfarrer Johann Martin Stulpe zu Hilfe. In Missachtung aller Verbote macht er sich auf den Weg nach Schömberg, wo der österreichische Heerführer, Oberst Franquini, stationiert ist — und kann tatsächlich erreichen, dass den Ortsbewohnern ein Teil der Kontribution erlassen wird und dass sie den Großteil des Verbleibenden zu einem späteren Termin abliefern dürfen. Kupferberg ist gerettet. Das Ungeheuer trollt sich. Zurückkehren wird es erst in ein paar Jahren bei der letzten Partie um Schlesien, aus der die Preußen siegreich hervorgehen. Dann wird die Stadt niemand mehr schützen können: Am 26. Januar 1753 stirbt der von den Bürgern so geliebte und verehrte Pfarrer Stulpe eines plötzlichen Todes. Seinem Wunsch entsprechend wird er zu Füßen seines selbsterrichteten Altars bestattet.

Indessen tauchen im Ort ein ums andere Mal neue Eigentümer und Investoren auf, Glücksjäger, die, verlockt durch den scheinbaren Reichtum der Flöze, den Berg aushöhlen. Unter ihnen sind auch gewöhnliche Hochstapler und Betrüger, wie zum Beispiel ein Mann namens Herzer, der dem neuen König Friedrich dem Großen das Vorkommen vielversprechender Kobalt-Lagerstätten beweisen will. Zu diesem Zweck lässt er den kostbaren Rohstoff aus Sachsen herschaffen und in den Kupferberger Stollen wieder »abbauen«. Friedrich zahlt daraufhin horrende Summen für die Suche, deren Ziel die gewinnbringende reguläre Kobalt-Förderung sein soll. Schließlich kommt er jedoch dem Schwindler auf die Schliche und findet sich 1766 sogar persönlich vor Ort ein. Der vorgewarnte Herzer ergreift die Flucht; seine Entlarvung und beispielhafte Bestrafung läuten wieder einmal das Ende des Bergbaus in dieser Gegend ein. Sämtliche noch folgenden Versuche, die in dieser Erde verborgenen Schätze zu heben, münden in einer mehr oder minder großen Enttäuschung — und davon hat man in Kupferberg langsam genug.

Eine Chance für den Ort scheint nun die Weberei zu bieten, vor allem da eine neue Art Spinnrad, die in den Spinnereien der Alten Welt zum Einsatz kommt, außerordentliche Resultate liefert. Recht schnell jedoch erweist sich die vermeintliche Verbesserung als Fluch, wird durch sie doch die Produktion von Webstoffen leichter, der Absatzmarkt aber nicht größer. 1725 verliert fast die Hälfte aller bis dahin aufstrebenden Weberfamilien des Ortes wegen der mangelnden Nachfrage ihre Einkünfte. Kupferberg entvölkert sich; im Jahr 1785 leben hier gerade noch 796 Einwohner, die meisten davon in bitterer Armut. Und bald sollte es noch schlimmer kommen, denn im nahen Merzdorf eröffnen industrielle Spinnereien, wodurch die restliche Handvoll Kupferberger Weber endgültig ihr Einkommen verliert.

Kurz darauf besinnt sich das Ungeheuer wieder auf das unglückselige Städtchen am Berggipfel, diesmal allerdings ist es gnädiger gestimmt. Im August 1813 tauchen preußische Partisanentrupps auf, angeführt von Offizier Ferdinand Wilhelm Franz Bolstern von Boltenstern. Zwar sind sie völlig ausgehungert, halten sich aber dennoch abseits, denn statt auf Kupferberg haben sie es auf kleine französische Trupps abgesehen, die Richtung Norden hasten, um sich am 26. August bei einer der blutigsten napoleonischen Schlachten ins Kampfgetümmel zu stürzen. An der Katzbach erringen die mit Russland verbündeten Preußen einen Sieg über Napoleons Soldaten, die von Marschall McDonald angeführt werden, und hinterlassen 4000 eigene und 15.000 französische Gefallene. Von diesem Sieg erfahren die Kupferberger erst später, während der Schlacht lauschen sie nur dem bedrohlichen Grollen und Dröhnen jenseits der Berge und freuen sich, dass ihre Stadt diesmal nicht betroffen ist.

Jedoch lässt der nächste Schicksalsschlag nicht lang auf sich warten. Eines herbstlichen Abends, am 12. Oktober 1824, röstet Weißgerber Mansches Ehefrau in ihrem Haus unter der Nummer 84 eine Speckseite derart scharf an, dass diese Feuer fängt. Zunächst verbreiten sich die Flammen nur im Haus; als sie schließlich auf die Straße hinauszüngeln, finden sie im böigen Herbstwind rasch einen Verbündeten. Der Brand, der über mehrere Stunden im ganzen Ort wütet, erfasst 67 Häuser, beide Kirchen mitsamt den Schulen, das Hospital und das Rathaus mit nahezu dem gesamten örtlichen Archiv. Den Flammen zum Opfer fallen auch das königliche Bergamt des Fürstentums Schweidnitz und Jauer, die Scheunen mit Getreide und Vorräten für den Winter. Fassungslos betrachtet Pastor Kamnitz das Ausmaß der Tragödie: »Bauart und Beschaffenheit der Häuser, die alle aus Holz waren, erleichterten das Umsichgreifen des Feuers. Mit Schnelligkeit verbreitete es sich auf beiden Seiten, sowohl nach dem niederen als auch dem höher gelegenen Theile der Stadt. Ein scharfer Südwind trug das verheerende Element zur katholischen Kirche und nun ward die katholische und evangelische Schule, so wie der nach Jannowitz zu gelegene Theil der Stadt von ihm ergriffen. Anfangs drohten die Flammen den ganzen oberen Theil der Stadt zu verzehren. Als sie sich aber bis zur Fechtergasse verderbend fortbewegt hatten, verwandelte sich der Südwind in einen heftigen Ostwind und brachte der Niederstadt Untergang und Verderben. Immer rascher und rascher griffen die Flammen um sich, immer verheerender wurde die Gewalt und schien der vereinten Kraft aller der Tausende zu spotten, die aus Nähe und Ferne herbeigeeilt waren, um ihrer Verwüstung Grenzen zu setzen. Lange Zeit hindurch war es gelungen, die in der Mitte der Stadt sich befindende evangelische Kirche zu erhalten, als sie aber mitten in dem Feuermeer noch allein unversehrt das Haupt erhob, da musste auch sie ein Raub der Flammen werden.«

Innerhalb weniger Stunden verlieren 146 Familien — 503 Personen — ihre gesamte Habe. Nun stehen sie ohne ein Dach über dem Kopf da, wissen nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen sollen. Zwischen den noch rauchenden Trümmern im unteren Ortsteil und den verkohlten Halmen der umliegenden Wiesen und Felder ragen einzig zwei steinerne Kreuze auf. »Memento«. »Gedenke«. Schwer zu sagen, ob in jenen tragischen Tagen noch irgendjemand des Fluchs gedenkt.

Kurz nach dem Unglück besucht Friederike Gräfin von Reden aus Buchwald das Städtchen Kupferberg. In ihrem Tagebuch notiert sie: »Ich näherte mich dem Trauerbild, von dem wer dergleichen nie sah, siech keinen Begriff machen kann — ich war anfangs wahrlich wie versteinert. Am Schloss, was vollkommen erhalten zwischen lauter Trümmern sich erhebt, empfingen mich Anton und Graf Matuschka mit unendlicher Liebe, sagten, ich käme wie gerufen, führten mich in die Mitte des kleinen versammelten Comitees, bestehend aus ihnen, beiden Geistlichen, dem Bergzehnter, Bürgermeister und Amtmann und baten daran teilzunehmen. Es wurde alles beschlossen, wie die Hilfsmittel verteilt, das Geld zum Wiederaufbau deponiert wird.«

Die Gräfin ist erschüttert vom Anblick des Ortes, der ein weiteres Mal von der Landkarte verschwunden ist. Sie besucht die Bewohner, tröstet die Unversehrten, beugt sich besorgt über die Verwundeten. Dann fährt sie nach Bad Warmbrunn zum Markt und kauft ein, was die Menschen, die alles verloren haben, ihrer Einschätzung nach am dringendsten brauchen — 61 Paar Stiefel und zwölf Paar Halbschuhe. Alles an Schuhwerk, was ihr die Bad Warmbrunner Schuster an jenem Tag verkaufen können. Daheim auf ihrem Familienbesitz hält Gräfin Reden sämtliche Bediensteten an, aus warmer Wolle Kleidung für die Ausgebrannten zu stricken.

Und wieder erhebt sich Kupferberg nach einem Fall. Zwei Jahre nach dem Brand, am 12. November 1826, kann Pastor Christian Schreck stolz sein neues Gotteshaus konsekrieren. Bei den Feierlichkeiten verliest er eine schöne Rede, die er anschließend drucken und an Einwohner und Gäste verkaufen lässt. Den Erlös übergibt er der katholischen Pfarre, die drei Jahre länger mit dem Wiederaufbau ihrer Kirche beschäftigt ist. Deren Architekt ist kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel, von dem auch das Berliner Alte Museum stammt. Sämtliche neuen Gebäude werden unter Anwendung aller nur erdenklichen Vorschriften zum Feuerschutz errichtet. Niemand will hier mehr brennende Kirchen sehen.

Im Jahr 1840 leben 676 Menschen im Ort; nur neun von ihnen bezeichnen sich als Bergleute. Trotzdem reisen nach wie vor Unternehmer an, die im Innern der Berge ihr Glück suchen — und es dann doch nicht finden, wie zum Beispiel die Herren Tiel-Winkler, Rosenstiel, Karsten und Grundmann aus Oberschlesien. Bei Letzteren endet die Glückssuche mit einer Explosion des Kesselhauses und der Maschinenräume bei einem der Schächte, was jedoch die Gebrüder Schönfelder — Richard, Hermann und Robert — nicht abhalten kann, sich 1880 ebenfalls am Bergbau zu versuchen. Nach mehreren Jahren ohne besondere Ergebnisse, dafür aber mit hohen Verlusten, verkaufen sie das Bergwerk Kupferberg an einen Herrn namens Arend weiter, einen Juden aus Berlin. Wieder werden die Schächte eingeweiht, die Grubenarbeiter ziehen frühmorgens mit Fackeln durch die Gänge und hoffen, dass diese feierliche Eröffnung ihrem Glück und Reichtum förderlich sein wird. Der Abbau geht über mehrere Jahre, es werden sogar neue Schächte angelegt, doch wieder bringen die Flöze nicht die erwarteten Erträge.

Doch bleibt keine Zeit mehr, die Abbaumethoden zu verbessern und neue Technologien einzuführen, denn das Ungeheuer regt sich wieder: Am 28. Juni 1914 erschießt Gavrilo Princip den Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau — und die Welt, wie sie die Kupferberger bis dahin kannten, zerfällt vor ihren Augen.

Der Große Krieg hält jedoch nicht in Kupferberg Einzug, sondern bahnt sich einen anderen Weg. Nicht einmal annähernd streift die Front den Ort, stattdessen nehmen die Kriegsgeschehnisse ihm ein gutes Dutzend seiner Väter und Söhne. Als der Geschützdonner verhallt, stellen die Kupferberger zur Erinnerung an das vergossene Blut ein Denkmal auf ihrem dreieckigen Marktplatz auf.

Die Kupferberger sind zäh. Fünf Jahre nach Kriegsende versammeln sie sich wieder zur Prozession, wieder leuchten die Grubenlampen, wieder flattern die Fahnen. An der Wand einer Kaue prangt ein großes Bildnis der heiligen Barbara, gemalt von Bergassessor Fitzners Bruder. Der evangelische Pastor Helmut Eberlein und der katholische Priester Johannes Kaufmann erklären den Gläubigen gemeinsam, Segen und Schutz bei der Arbeit ließen sich einzig durch eifriges Gebet erzielen.

Um den Rohstoffabbau kümmern sich nun die Ingenieure der Gesellschaft Giesche-Erben — ein Konzern, der in Oberschlesien den Großteil aller Bergwerke und Hütten und einen noch größeren Teil der Stadt Kattowitz sein Eigen nennt. Hoffnungsfroh lauschen die Kupferberger den Nachrichten aus jener Region, haben sie doch bereits von den schönen und komfortablen Gartenstädten gehört, die den Arbeitern von der Giesche-Gesellschaft gebaut werden. Die Träume der restlichen sechzig Kupferberger Bergleute sind um einiges bescheidener: Weder wollen sie luxuriöse Wohnsiedlungen noch eine kostenlose Bahnlinie bis vor die Tore des Bergwerks — sie wünschen sich lediglich, die von den Giesche-Erben angelegten Schächte möchten genügend Rohstoffe abwerfen, damit niemand sich um das Morgen sorgen muss.

Ihr Gebet, zu dem Pastor Eberlein und Priester Kaufmann sie angehalten haben, ist daher gewiss überaus eifrig, allerdings leider ebenso wirkungslos. Auch die Erfahrung der Ingenieure aus dem Giesche-Konzern ist nicht von Nutzen — mit leichter Hand haben sie den Bergbau in Kupferberg wiederaufgenommen, noch leichteren Herzens fällen sie die Entscheidung über seine endgültige Abwicklung. In den Firmenbilanzen haben die paar Gruben und die Handvoll Bergarbeiter keine allzu wichtige Stellung. Zuerst wird der Tonischacht stillgelegt, schon bald darauf, im Jahr 1927, folgt der letzte, der Adlerschacht. Den Bergleuten bleibt nichts als der wehmütige Blick auf das verwaiste Fördergerüst, das von fast jedem Haus aus zu sehen ist.

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Einfach vergessen lässt sich die Vergangenheit der ehemaligen Bergbaustadt jedoch nicht. Der Berg, auf dessen Gipfel die Kupferberger Häuser stehen, ist löchrig wie ein Sieb. Jahrhundertelang hat man ihn unterhöhlt, nun beginnen die ungesicherten Tunnel einzusinken — und alles zu gefährden, was sich oberhalb befindet. Die Verschalung in den alten Stollen zerfällt allmählich, niemand bei Verstand würde sich jedoch hineinwagen, um den Verfall zu beurteilen und drohende Gefahren abzusehen. Von einer Sicherung der alten Gruben kann keine Rede sein.

Immer häufiger reißt die Rohrleitung, die Wasser vom Fuß des Ochsenkopfs nach Kupferberg führt. Die Stadtverwaltung zerbricht sich den Kopf, woran das liegen könnte, bald stellt sich heraus, dass kleinste Erschütterungen und Verschiebungen des Erdreichs die Schäden an der Leitung verursachen.

Eines Tages stecken die Pferde, die den Pflug über Franzkys Feld ziehen, plötzlich bis zur Brust in der Erde und stoßen ein so schrilles Quieken aus, dass alle in der Umgebung ihr Arbeitszeug hinwerfen und mit bleichen Gesichtern zum Acker rennen. Nur wenige haben Mut genug, den Pferden zu Hilfe zu kommen; die anderen starren von weitem auf die Pferdeköpfe, die aus der Erde ragen, und das merkwürdige trichterförmige Loch um sie herum.

Zum ersten Mal jedoch sackt der Erdboden unter Preuß’ Schmiede und Reimanns Kaufladen ab. Ein Krater entsteht, so groß, dass ein ganzes Pferdefuhrwerk Platz darin fände. Auch quer über die Häuserzeile — vom Bäcker Flade bis zum Friseur Friebe — hat sich ein Riss im Mauerwerk gebildet, weil Stollen eingebrochen sind.

Und dieser Riss ist erst der Anfang.

Die Flasche

Den Flaschenverschluss hat mir Zbigniew Pawęski nach unserem Gespräch geschenkt. Unentwegt spielte er damit, befühlte ihn, klopfte sacht damit auf die Tischplatte, direkt neben dem Mikrofon, sodass ich mich schließlich fragen musste, ob Absicht dahintersteckte. Endlich sagte er, der Korken sei für mich, und ich tat überrascht, hielt mich eine Weile höflich zurück. Dann aber fragte ich ihn, woher er den Verschluss habe.

»Hab ihn halt«, erwiderte er, um gleich darauf zu versichern, ihn mir zu schenken sei kein Opfer für ihn: »Ich kann mir wieder einen suchen.«

Der Flaschenkorken also. Zu alt, um als gewöhnlicher Müll zu gelten, zu jung, um historisch wertvoller Gegenstand zu sein. Ein Porzellanverschluss mit roter Emailleschrift: KUPFERBERGER BRAUEREI, G. FRANZKY. Keine Jahreszahl, nichts. Der Dichtungsring ist schon zum Teufel, ebenso der Metallbügel, dessen Reste noch in den seitlichen Öffnungen stecken.

Anfangs kann ich kaum der Versuchung widerstehen, eine Geschichte dazu zu erfinden — erst kämpfe ich dagegen an, dann aber geht die Anwandlung von selbst vorbei. Korken bleibt Korken, ein ausgebuddelter Flaschenverschluss, der mir nichts sagt, was ich nicht schon wüsste. Es hat hier eine Brauerei gegeben, es hat einen Georg Franzky gegeben, es hat Bier gegeben. Das ist alles — und alles ist Vergangenheit. Ich stecke den Flaschenkorken in meine Jackentasche, ein bisschen wie einen Glücksbringer. Aber warum sollte er mir Glück bringen? Ich überlege mir sogar, ob ich meinen Schlüsselring durch ihn hindurchziehen kann. Dann könnte ich ihn immer bei mir tragen.

Später finde ich die Flasche. Und wieder ist es da, dieses aufdringlich Symbolhafte, dessen ich mich kaum erwehren kann. Ein hämisches Kichern der Geschichte, als erlaubte sich das grüne Kupferberg, der verschwundene Ort, einen Scherz mit mir und würfe mir beliebige Gegenstände hin, aus denen ich mir dann meine eigene Version zusammenreimen soll. Deswegen stoße ich beim Versuch, zu verstehen, einzig auf diese beiden Dinge — den Porzellanverschluss und eine Bierflasche von der Brauerei Franzky. Ein Zweierset, könnte man sagen. (Doch der Häme nicht genug: Der Flaschenhals ist angebrochen, sodass es mir nicht gelingen will, die beiden Teile feierlich zusammenzusetzen und in einen albernen Begeisterungstaumel zu verfallen.)

Ein einzelner Verschluss, eine einzelne Flasche — nichts weiter. Ein paar Tellerscherben könnte ich gewiss noch finden, wenn ich über die frisch gepflügten Felder ginge. Aber auch sie würden nichts bedeuten — diese ganze Ausgraberei ist zu nichts nutze, folgt ihr doch bloß der freie Erfindergeist, wenn ich im Bus von Jelenia Góra sitze, aus dem Fenster starre und grüble. Ist Franzky dort entlanggegangen, wo die Flasche lag, hielt er selbst sie in der Hand — oder wer hat sie sonst gekauft, wer das Bier getrunken (Beier aus der Hausnummer 10 oder Casper aus der 6)? Ist diesem Jemand der Alkohol zu Kopf gestiegen, hat er eine Schlägerei angezettelt, ist er vielleicht selbst verprügelt worden? Hat er sich Mut angetrunken? Trank er aus Langeweile? Weil er musste? Weil er Durst hatte? Vor Freude, vor Trauer? Aus Lust und Laune?

Die Flasche lag im Laub, neben Ueberschaers Grab. Hatte er sie selbst mitgebracht, als sein Holzhaus noch stand? Oder stammt sie von denen, die ihn begraben haben und an der Backsteinwand, gleich über dem Sarg, seine Pickelhaube und seinen Säbel aufhängten? Sie wälzten eine grobe Betonplatte über das Grab, und statt sein Todesdatum einzumeißeln, hoben sie ihre Flaschen, tranken auf ihn und gingen dann gemächlichen Schrittes zurück in Richtung Stadt. Armer Ueberschaer, dachten sie bei sich, warum hat er das getan?

Oder war es ganz anders? Vielleicht lag die Flasche dort, weil jemand fand, das sei eine ausgezeichnete Stelle, um endlich den ganzen Schrott loszuwerden, den die Deutschen in den Häusern hinterlassen hatten. Sie hatten ja selbst keine Zeit mehr, aufzuräumen.

Heute ist all das bedeutungslos. Meine Ergriffenheit, meine Faszination für diese beiden Gegenstände rühren von etwas anderem her, was nichts mit ihnen zu tun hat — von meinem Wissen über die Geschichte dieses Ortes. Aber es sind eben nur diese beiden Dinge, die es noch gibt vom grünen Kupferberg — und das muss mir genügen, um meine Verzückung des Hobby-Archäologen zu rechtfertigen.

Kupferberger Gold

»Das nächste Äffchen ist für dich«, verspricht Max Sintenis mit leuchtenden Augen. Um deren schelmisches Blitzen im Dämmerlicht sehen zu können, muss der kleine Georg Franzky sich auf die Zehenspitzen stellen und die Hand mit der Flasche, die den herrlichen goldenen Trunk enthält, hoch hinaufrecken. Eine riskante Operation, liegt doch die Fensteröffnung der Gefängniszelle, wo der übermütige Max wieder einmal einsitzen muss, zu weit oben für Georgs bescheidene Möglichkeiten. Über das Gelingen der Aktion entscheiden Maxens geschickte Fingerkuppen; angeblich ist ihm noch nie eine volle Flasche entglitten, und so ist es auch dieses Mal.

Noch ein Risiko kommt hinzu. Max Sintenis — Hallodri, Nachtschwärmer und standfester Zecher — sitzt eben darum in der Zelle, weil er unter Einfluss des einen oder anderen Fläschchens wieder einmal die Kupferberger Bürger brüskiert hat. Einem solchen Zeitgenossen noch mehr Bier zuzutragen stieße bei den Nachbarn und Bürgermeister Schmude sicher auf Missbilligung, und vom Vater gäbe es eine gehörige Tracht Prügel. Doch das Versprechen eines eigenen Äffchens ist zu verlockend, als dass Georg dieses Risiko nicht eingehen würde. Im Übrigen wiederholt sich das Ritual recht häufig, also bringt der Junge schon eine gewisse Erfahrung mit. Zunächst ertönen frivole Lieder aus dem Haus der Brüder Sintenis, von denen das harmloseste mit den Worten beginnt: »Wenn du eine Schwiegermutter hast …« Später schallt Maxens sonorer Bariton durch die Straßen. Sodann lässt sich der Pfiff des Gendarmen oder Bürgermeister Schmudes ärgerliche Stimme vernehmen, der sich in solchen Momenten auf ein gewöhnliches »Max, du Esel!« beschränkt und dem Gendarmen befiehlt, den betrunkenen Krakeeler am Schlafittchen in die Zelle hinter dem Armenhaus zu schleifen. Dort hat er bis zum nächsten Morgen Zeit, auszunüchtern und seine Schandtaten zu überdenken — wobei ihm meistens weder das eine noch das andere gelingt.

Zu diesem erzieherischen Fehlschlag trägt gewissermaßen auch der kleine Georg Franzky bei, Sohn des Bierbrauers Ewald Franzky und Enkel von Wilhelm und Ernestine Franzky. Schon seit über vierzig Jahren sorgt die Franzky-Sippe für den guten Namen des Städtchens, indem sie Wirtshäuser, Schenken und Restaurants nah und fern mit ihrem — nicht umsonst so benannten — Kupferberger Gold beliefert.

Das Erfolgsgeheimnis des hiesigen Bieres liegt, so behauptet jedenfalls Ewald Franzky, im ausgezeichneten Quellwasser aus den Tiefen des Berges, auf dessen Gipfel sich Kupferberg befindet. In der Hirschberger Lokalzeitung, betitelt Wanderer im Riesengebirge, erscheint sogar ein umfassender Artikel aus der Feder eines Professors Liebreich über die gesundheitsfördernden Eigenschaften des Wassers aus der Julianquelle: Der Gehalt von Arsensäure ohne andere, stark reaktive Salze charakterisiere dieses Wasser recht spezifisch als arsenikhaltiges Mineralwasser, das durch diese seine Eigenschaften leicht bekömmlich sei. Ein Gehalt von 1,66 Milligramm pro Liter Wasser soll exakt die zur Aufnahme geeignete Menge sein, diese Dosis sei selbst bei der Einnahme über einen längeren Zeitraum hin nicht zu hoch.