Über das Buch

Pointiert, leuchtend, geheimnisvoll: Peter Balko erzählt in seinem warmherzigen Debütroman die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn an der ungarisch-slowakischen Grenze.

Nichts kann ihrer Freundschaft etwas anhaben, davon sind Leviathan und Kapia felsenfest überzeugt. Dank Kapia, dreist und unerbittlich gegenüber Mensch und Tier, traut sich auch der schüchterne und ängstliche Leviathan plötzlich Abenteuer zu, die er bisher nur in seiner Phantasie erlebt hat. Gemeinsam machen sie das Dorf unsicher, jagen das goldene Schwein und verfolgen die todbringende Hahnenwitwe. Sie erobern Mädchenherzen und setzen sich in der Schule gegen Rivalen zur Wehr. Bis eines Tages die Ereignisse rund um einen harmlosen Kuss das dicke Band ihrer Freundschaft doch gefährden … Mit frecher Feder erzählt Peter Balko in seinem Debütroman unterhaltsam und sehr warmherzig die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn an der ungarisch-slowakischen Grenze.

Peter Balko

Zusammen sind wir unbesiegbar

Roman

Aus dem Slowakischen von Zorka Ciklaminy

Paul Zsolnay Verlag

Jenen gewidmet, die zurückkehren

Liebster Kapia, geborener Koloman,

gestern bin ich neun geworden. Meine Eltern haben zu meinen Ehren ein Fest veranstaltet, zu dem niemand kam. Also außer der Familie natürlich. Mutter hat eine Torte mit blauem Guss gebacken, Vater hat Ballons aufgeblasen und Großvater Legenden vom alten Lošonc erzählt. Es war schön, die Torte hätte dir geschmeckt. Ich habe ein neues Fahrrad bekommen. Wenn du zurückkommst, fahren wir bis ans Ende der Welt, vielleicht auch bis hinter den Kriváň. Wir werden in den Wind rufen, zerbrochene Zigaretten rauchen und auf alle dummen Kinder mit güllegetränkten Sonnenblumen eindreschen. Alles wird sein wie früher, mein Freund. Du wirst schon sehen.

In der Schule hat sich nichts verändert. Der Turnlehrer hat sein salzverkrustetes T-Shirt noch immer nicht gewechselt, die Dukatenbuchteln in der Mensa schmecken wie Timravas Asche, und das botanische Gärtchen hinter der Schule ist mit Zigarettenkippen übersät. Die neuen Erstklässler sind klein und hässlich, am ersten Schultag habe ich ihre Jacken angepinkelt. Zu deinen Ehren. Hrachová, die alte Kreide, die sich wie eine Nonne kleidet, fing kürzlich an zu weinen, als wir in der Geschichtsstunde Štefánik durchnahmen. Sie rannte aus dem Klassenzimmer, und als sie zurückkam, hatte sie verschmierte Augen wie eine Prostituierte. Sie geht sich langsam selbst auf die Nerven, ins Altersheim sollte sie. Maco Mamuko hat den Fäkalwagen seines Vaters geklaut, und der hat ihn so verprügelt, dass ihm der Augapfel rausfiel. Das Auge kullerte in den Straßenablauf und machte sich auf den Weg über den Krivánbach, den Ipel’ und die Donau bis ins Schwarze Meer. Der Ärmste, jetzt hat er ein Glasauge. Alle in der Klasse lassen dich grüßen, und die dicke Deutschlehrerin hat im Namen aller für dich gebetet. Keine Angst, ich habe mich nicht beirren lassen. Ich weiß nur zu gut, dass du da, wo du jetzt bist, keinen Gott brauchst. Übrigens, ich kümmere mich gut um Ivan den Schrecklichen. Meine Oma hatte recht, Meerschweinchen können nur scheißen, pfeifen und Vorhänge fressen.

In Lošonc ist alles beim Alten. Vater sagt, dass sich dieses Land nur durch eine Nuklearkatastrophe verändern kann. Straßenköter gibt es immer mehr, im Park haben sie ein Nelkenstillleben gepflanzt, und die nächste Fabrik wurde geschlossen. Die Leute stehen vor der Kneipe, die Leute stehen vor dem Arbeitsamt. Neben dem Friedhof haben sie ein paar alte Häuser abgerissen. Angeblich gibt es hier bald mehr Tote als Lebende. Kilimandscharo ist beim Stadtamt eingebrochen und hat angefangen, durch den Rundfunk zu schwafeln, dass das Ende aller Tage naht, und ähnlichen Quatsch. Vor ein paar Tagen hat sich der Himmel dann tatsächlich verfinstert, und die Sonne hat sich bis heute nicht gezeigt. Ich gehe mit einer Stirnlampe zur Schule wie ein Bergarbeiter in Peru. Fehlen nur noch ein Hämmerchen, verschwitzte Achseln und eine Goldader.

Alica ist gegen Ende des Sommers mit ihrem Vater nach Nymburk gezogen. Das ist in Tschechien. Die Leute trinken dort angeblich weniger als bei uns, und sie gehen nicht in die Kirche. Nicht mal sonntags, um Neapolitaner zu essen. Sie hat mir eine Ansichtskarte mit irgendeiner alten Brücke geschickt und geschrieben, dass sie nie mehr nach Lošonc zurückkehren wird. Das erstaunt mich nicht, in Nymburk gibt es angeblich Minigolf. Es ist seltsam, aber ich träume jeden Abend von ihr. Ich sehe ihre Lippen, ihre Wimpern, ihre Brüste, die Muttermale an den Unterarmen und ihre Oberschenkel. Sie liegt neben mir auf dem Bett. Sie ist nackt und bereit. Sie löst ihr Haar und flüstert mir zu, dass die Eltern endlich eingeschlafen sind. Meine Hände schwitzen, und wenn ich kein Ninja wäre, würde ich mir in die Hose machen. In dem Augenblick schauen wir uns in die Augen und wissen beide, dass wir uns nie mehr wiedersehen werden.

Und du, mein Freund, träumst du dort auch etwas?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das alte Jagdmesser. Ich rieche seinen Lavendelduft, er vermischt sich mit dem Geruch von Blut. Ich hasse mich, glaube mir. Stundenlang liege ich unter dem Bett, zittere, weine. Das mache ich jeden Tag. Jeden verdammten Tag. Ich habe eine Tür geöffnet, die hätte verschlossen bleiben sollen, und etwas Böses ist entflohen. Nach Lošonc, zu dir, zu mir. Zu uns. Zusammen waren wir unbesiegbar. Aber was nun?

Mein Freund, was wird aus mir?

Ich sitze am Tisch im Kinderzimmer, und bald ist es Mitternacht. Die Eltern schlafen, und ich schreibe diese Zeilen, die ich viel früher hätte schreiben sollen. Damals. Manchmal erblicke ich dich auf der Straße oder in unserem unterirdischen Versteck auf dem Baum. Ich denke an den Tag, als das größte Gewitter aller Zeiten über Lošonc hinwegfegte, und ich kriege am ganzen Körper Gänsehaut. Du musst das dort durchstehen, mein Freund, du musst. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte …

Es tut mir leid, aber ich bin kein Forscher.

Du fehlst mir, Kamerad.

Dein bester Freund auf Erden

Leviathan

P. S. Ich lege dem Brief

zehn Fotografien bei,

sieben geklaute Zigaretten

und drei neue Abenteuer von Kapitän Mrož.

1

Der erste Tag meines neuen Lebens

Nachbar Hrčka hat keine Haare, weil er Krebs hat. Glücklicherweise hat Nachbar Hrčka in der Lotterie gewonnen, und die moderne Medizin hat ihm eine Sonde in den Hintern eingeführt. Die Sonde hat ihn geheilt. Nachbar Hrčka war glücklich, denn sein Haar fing wieder an zu wachsen. Das Ganze hatte aber einen Haken: Das Haar war blau und wuchs so schnell, dass es ihn in ein blaues, zotteliges Monster verwandelte. Die blauen Haare umwuchsen Hrčkas Haus, den Garten, die Pferde, die Straßen und ganz Lošonc. Doch da kam eine göttliche Schere vom Himmel herab und schnitt die blauen Haare ab. Das Haar aber wuchs weiter und umwuchs auch die göttliche Schere. Ende und Moral von der Geschichte: Die göttliche Schere kommt einen Dreck an gegen die moderne Medizin!

Als ich geboren wurde, zersprangen im Kreißsaal alle Glühbirnen. Angeblich hatte ich ein dermaßen starkes Charisma. Auf dem Boden bildeten sich grässliche Blutmuster, und über Lošonc brach ein neuer Tag herein. Seitdem sind in unserer Familie nur noch Kerzen in Gebrauch.

Doktor Böhl, der im Kellergeschoss der jüdischen Metzgerei eine Ambulanz eingerichtet hatte, prognostizierte, dass ich ein Mädchen werden würde. Vater reagierte auf die Realität prompt und strich das lachsrosa Kinderzimmer blau an. Meine eindrucksvolle Ankunft auf der Welt hat er fleißig mit dem Fotoapparat dokumentiert, um mir damit auch Jahre später handfeste Beweise liefern zu können, was für ein hässliches Neugeborenes ich gewesen war. Mutter weinte. Sie schmiegte ihr Gesicht an meinen weichen Körper an, den nur ein drei Zentimeter langes Zipfelchen von der erträumten Tochter trennte. Zur Welt zu kommen und unmittelbar seine Eltern zu enttäuschen ist eine ideale Voraussetzung für ein glückliches und erfülltes Leben.

Was nun mit all diesen niedlichen Mädchenkleidchen?

Ob ihr es glaubt oder nicht, in Lošonc geboren zu werden, nur wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt, hat so seine Vorteile. Es reicht, auf einen beliebigen Hügel zu steigen, und mit ein bisschen Rückenwind spuckst du den erstbesten Schlucker in Salgótarján an. Wenn man die mit Apotheken, Optikergeschäften und Casinos übersäte Promenade entlanggeht, wird einem schlagartig klar, dass die Kinder aus dem Süden krank, blind und süchtig sind. Die Geschichte hat Lošonc nicht besonders geschont, zweimal brannten die Türken die Stadt nieder und einmal störrische Pelikane, deren Anführer es bis aufs Stadtwappen schaffte. Es folgten Pestepidemien, Hungerkatastrophen sowie zahlreiche Bombardierungen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die die Lebenskraft der Stadt in vergessene Newton zerlegten. Mein Vater nennt es Niemandsland, die Westslowaken nennen es Ungarn und die alteingesessenen Lošoncer den Abfallhaufen der Geschichte. Für mich ist es einfach mein Zuhause.

Ich hatte eine schöne Kindheit. Im Unterschied zu meinen Altersgenossen, die im Kindergarten gequält und lebendig begraben wurden, die man zwang, gesüßtes Wasser aus blauen Plastikbechern zu trinken und dann zu schlafen, wenn es ihnen Gott befahl, war ich das glücklichste Kind in Lošonc. Die meiste Zeit verbrachte ich auf Bäumen, wo ich mir imaginäre Küchen baute und aus Tannennadeln leckere Suppen, Mus und Elixiere kochte. Opa, der mich täglich im Park spazieren führte, saß auf der Bank, qualmte zufrieden und las in der Lošoncer Zeitung Timravas Gurgel die Todesanzeigen.

Oma brachte mich jeden Tag in einen winzigen Videoverleih, wo ich stundenlang herumlungerte und mit angehaltenem Atem mit der Hand über die in hohen Regalen gestapelten Actionfilme strich. Sie waren mit einer Vielzahl nackter, durchtrainierter Oberkörper, schwerer Waffen und heldenhafter Geschichten beladen. Jean-Claude Van Damme, Bruce Lee, Chuck Norris, Bolo Yeung oder Cynthia Rothrock — sie waren meine Freunde und Lehrer. Ich band mir einen weißen Schal um die Stirn, übte im Garten ungeschickt das Radschlagen und hackte mit einem hölzernen Schwert Opas Setzlinge klein. Dafür kassierte ich eine Tracht Prügel mit einem Ledergurt und war glücklich, keine Träne vergossen zu haben. Ninjas weinen ausschließlich nach innen.

Als ich fünf Jahre alt war, lehrte mich Opa schreiben. Er schüttelte den alten Birnbaum, damit der Obstbrand nicht versiegte, und sagte, dass die Menschen alles Mögliche und Unmögliche tun, um nicht zu vergessen. Einer fotografiert, einer trinkt, einer zeichnet Striche an den Türrahmen, und ich, der jüngste Spross der Familie, werde schreiben. Über mich und andere. Ich werde in ein Heft schreiben, und wenn es voll ist, kriege ich ein neues. Ich werde meine eigene Handschrift finden, meine eigenen Sätze. Das Heft muss ich regelmäßig mit Wörtern füttern, sonst krepiert es, und ich werde bis ans Ende meiner Tage die Schuldgefühle nicht los, es enttäuscht zu haben. Ich werde es bei mir haben, wenn ich schlafe und beim Scheißen, denn man kann nie wissen, wann sich die eigene Kacke in eine Erzählung verwandelt.

Die Anfänge waren schwer und zaghaft. Die Sätze kurz und einfach. Zum Beispiel: Nachbar Hrčka hat keine Haare. Und dann: Nachbar Hrčka hat keine Haare. Nachbar Hrčka hat Krebs. Und am Ende ein Satzgefüge: Nachbar Hrčka hat keine Haare, weil er Krebs hat. Ich schrieb täglich bis zu zwölf Stunden und gewann langsam Übung und Sicherheit. Ich lernte, Wörter und ihre Beziehungen zueinander zu begreifen. Ich merkte, dass es Wörter gibt, die sich lieben, und Wörter, die sich hassen, und dass solche Verbindungen zu einer Tragödie führen können. Beispielsweise kann sich das Wort Leberwurst unmöglich zu Brunnen gesellen oder Vorhaut zu Lebkuchen. Dann kamen die Kommas, die Punkte und die verhassten Strichpunkte. Wenn es mir möglich wäre, auf bestialischste Weise ein beliebiges Interpunktionszeichen ins Jenseits zu befördern, so wäre es die Widerwärtigkeit, genannt Strichpunkt.

Letztlich gelangte ich nach all diesen Tagen und Wochen des schweren Drills, der Entsagung und der Handgelenkskrämpfe zu etwas, was meinem neuen Leben Sinn gab. Es war eine gewöhnliche Lüge, die durch das Schreiben zu etwas Edlem und Erhabenem wurde — die Fantasie.

Meine zerbrechliche Welt, verstärkt mit Tausenden beschriebener Blätter, Kung-Fu-Filmen, Küchen zwischen Baumkronen und versäumten Kindergartenbesuchen, stieß bald auf die dicken Mauern der Grundschule und zerschellte. Aus ihren Ruinen erwuchs ein neuer Junge, schüchtern und verloren. Wo das Auge hinreichte, waren schreiende Kinder, große Schulranzen, Pausenbrote mit angeklebten Servietten und quälender Spott der älteren Schüler — für sie war die Kombination meiner Fettleibigkeit und Schüchternheit der ideale Nährboden für eine gnadenlose Schikane. Wenn ich damals gewusst hätte, dass aus meinen Feinden einmal alleinstehende Väter werden, die im Sägewerk hinter Prša schuften und eine Schwäche für billigen Alkohol und leichte Mädchen haben, hätte ich sie als enger Freund umarmt und ihnen verziehen.

Wenn ich das Ganze mit zeitlichem Abstand betrachte, könnte das Problem auch gewesen sein, dass ich der Größte und Klassenälteste war. Alle dachten, ich sei zurückgeblieben, aber der Stichtag für die Einschulung lag bloß schlecht. Oder wie meine Mutter zu sagen pflegte: Ich war ein Herbstkind.

Ich konnte immer gut lügen, und wenn zu Hause die Schule zur Sprache kam, antwortete ich stets ausweichend und diplomatisch, jedoch ohne meinen Eltern bewusst zu machen, ausweichend und diplomatisch geantwortet zu haben. In Wirklichkeit erlebte ich während der ganzen Schulzeit winzige Lobotomien, bei welchen sich Zweifel und Ängste in die Hirnrinde bohrten und darin verworrene Katakomben bildeten. Die lächelnden Gesichter, bedeckt mit eitrigen Pickeln, der Eichhörnchenkot im Essgeschirr oder die gefährlich geschnittenen Unterhosen, die bis zur Grenze der Milz reichten, bescherten mir sogar nächtliche Albträume, die meist damit endeten, dass ich mir in die Hose machte. Im Falle besonders grausamer und realistischer Traumszenen fiel auch Dreck auf den Spielplatz. Alles veränderte sich in dem Moment, als ich meinen besten Freund auf Erden kennenlernte.

Mein neues Leben ging in die Phase über, die mit fetter Schrift als Kapias Ära in die persönlichen Annalen von Leben und Tod einging.

2

Schwanenballade

»Das ist keine Erzählung!«, rief Kapia und warf mein Heft auf den Boden. Die Zigarette, die er zwischen den Lippen zusammengepresst hatte, drückte er auf einer Schnecke aus. Er sagte, die Natur würde sie aufnehmen und ihre Qualen in etwas Besseres verwandeln, etwa in Humus oder ein Veilchenstillleben. Ich glaubte ihm, war er doch mein Kamerad.

Wir waren acht Jahre alt und bewaffnet. Kapia hatte ein Messer, ich eine Šumbajka. Eine Šumbajka ist ein meterlanger Stock, biegsam und federnd, am besten von einer Linde, an dessen Ende man ein Stück Lehm oder hart gewordenen Schlamm aufsteckt. Kapia kannte sechs unanständige Wörter und zwei Filmtitel für Erwachsene, ich konnte die Namen aller Heiligen des Kalenders auswendig, auch rückwärts. Kapia tötete jeden Tag mindestens ein Tier, ich putzte mir jeden Abend die Zähne. Kapia spuckte, ich schrieb.

Wir waren die besten Freunde in Novohrad und wussten: Sollte uns einmal etwas trennen, könnte das nur der Dritte Weltkrieg sein. Unsere Bande haben wir unter dem alten Nussbaum am Ende des Stadtparks sogar mit Blut besiegelt. Die Sonne hustete die letzten Lichtreste aus, die Schatten verhärteten sich, und Kapia furzte vor Erregung. Die Bruderschaft war hergestellt, und es war höchste Zeit, nach Hause zur Dillsuppe zurückzukehren.

»Nichts auf der Welt ist stärker als Blut«, flüsterte Kapia und spuckte den Briefträger an, der auf einem auberginefarbenen Fahrrad an uns vorbeiflitzte. Seitdem müssen unsere Väter die Briefe auf dem Postamt abholen.

Ein fremdes Geschrei, das nicht in den Kontext meiner Gedankengänge passte, holte mich in die Realität zurück, und ehe ich mich umdrehen konnte, sah ich Kapia bereits die kurvenreiche Straße den See entlang davonsausen. Ich schnappte mir das Heft und die Šumbajka und rannte ihm blitzschnell hinterher. Glaubt mir, nur wenige Dinge auf der Welt sind schlimmer als der Zorn des alten Kilimandscharo, eines beinahe blinden Waldmenschen, der in einer verwitterten Hütte zwischen Unterholz und Sträuchern wohnt. Aus unerklärlichen Gründen wurde er vor Jahren zum Verwalter des hiesigen Sees ernannt. Kapia und ich dachten immer, er sei ein hundsgewöhnlicher Kommunist. Obwohl wir nicht genau wussten, was das heißt, wussten wir, dass wir recht hatten.

Wir versteckten uns auf unserem geheimen Baum, aus dem wir immer ein unterirdisches Versteck machen wollten. Doch wie baut man ein unterirdisches Versteck auf einem Baum?

In die Rinde ritzten wir unsere Initialen. Zur Sicherheit zeichneten wir an die umstehenden Bäume die merkwürdigsten Symbole, die uns im Falle eines Angriffs durch eine Berglanguste oder bei einem Gedächtnisverlust zum Ziel führen würden. Oft dachten wir darüber nach, woran wir uns nach einem Gedächtnisverlust erinnern würden. Um die Befürchtungen zu vertreiben, arbeiteten wir einen Fragenkatalog aus, nach dem wir eindeutig bestimmen konnten, ob es zum Verlust gekommen war oder nicht. Die richtigen Antworten verschlüsselten wir. Nein, wir schrieben sie nicht kopfüber. Nein, wir schrieben sie nicht auf Ungarisch. Ja, wir schrieben sie spiegelverkehrt.

Erste Frage: In welchem Film trafen sich erstmals Bruce Lee und Bolo Yeung?

Kapia nahm aus der Hosentasche die letzte Zigarette heraus, die er seinem Vater geklaut hatte. Sie war zerbrochen, aber er genoss sie auch so, wie ein erfahrener Raucher. Ich konnte nicht rauchen, einmal zog ich den Rauch in die Lungen und kam erst auf einer Wiese zwischen Kletten wieder zu mir. Kapia grölte wie ein Wahnsinniger. Er sagte, dass nur Weiber Rauch in die Lunge ziehen. Er wusste über viele Dinge viel. Schließlich hatte er auch so einiges erlebt. Am linken Fuß hatte er sechs Zehen, vermutlich deshalb, weil er in Ábelová geboren wurde. Die Mutter war Putzfrau an der Berufsschule und spielte in der Freizeit Waldhorn. Der Vater war Landvermesser, Rotschopf und Säufer. Immer wenn er trank, hatte er das Gefühl, sein Sohn sei Kriegsdeserteur und wolle ihn umbringen, also schloss er sich im Schrank ein und wartete dort bis zum Morgengrauen. Einmal kam er angeblich ganze sieben Tage nicht raus, Kapia brachte ihm auf Mutters Drängen jeden Tag Toast und Kamillentee. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie so ein Schrank aussieht, wenn jemand eine Woche lang darin lebt«, sagte er und zog an seiner Zigarette wie ein alter Seemann. Es fehlten nur noch ein Bakelitmeer, kein Ufer in Sichtweite und ein ausgestochenes Auge.

Warum ist meine Erzählung keine Erzählung?

Kapia löschte die Zigarette auf der Zunge aus, schaute in die sterbende Sonne und spuckte aus. »Du weißt doch, in jeder Erzählung muss ein Weib vorkommen, sonst ist es keine Erzählung. Entweder geht es um Weiber oder um gar nichts, das wissen alle. Merk dir das, wenn du Schriftsteller werden willst!«

Ich nickte. Er hatte völlig recht, in meiner Erzählung vom Nachbarn Hrčka, dem blaue Haare gewachsen sind, wurde mit keinem Wort ein Mädchen, eine Frau oder ein Weib erwähnt, wie Kapia sie alle nannte. Aber Opa meinte trotzdem, ich solle über Dinge schreiben, die ich kenne. Über Weiber wusste ich wenig: Sie haben Brüste, mit denen sie Kinder stillen, sie haben keinen Zipfel, und die meiste Zeit ihres Lebens tut ihnen der Kopf weh.

Zweite Frage: Wie heißt und woher stammt die Figur, die Jean-Claude Van Damme im Film Karate Tiger darstellte?

Es dunkelte, wir gingen beide nach Hause. Kapia tötete auf dem Heimweg einen überdimensionalen Maikäfer, ich notierte mir seinen Gesichtsausdruck kurz vor dessen Ableben. Wir waren ein gutes Team, sogar das beste, das ich kannte. Wenn wir uns auf der Straße trennten, blickte sich keiner von uns um. Jungs schauen doch immer nach vorne. Am Abend funkten wir uns an und vereinbarten, was wir am nächsten Tag in die Schule anziehen würden. So machen das Teammitglieder, es ist unausweichlich. Wie eine Geheimschrift. Deshalb hatten wir auch Spitznamen, Kapia hieß in Wirklichkeit Koloman, aber die Schüler der höheren Klassen nannten ihn Kapia, weil er im Gesicht immer so rot wie ein Paprika war. Ich war Leviathan. Ursprünglich wollte ich Kapitän Dabač sein, aber Kapia sagte mir, so ein Spitzname existiere bereits. Den Namen Leviathan fanden wir in der Vermessungszeitschrift von Kapias Vater, worin neben Landschaftsbildern und stummen Karten Fotos von nackten Frauen mit Achseln zwischen den Schenkeln eingelegt waren. Sie waren merkwürdig, vermutlich auch Kommunistinnen.

Über Nacht sank die Temperatur weit unter null. Eis und weiße Daunendecken, wohin das Auge reichte. Häuser, Hügel, Straßen, Schaukeln, ein trauriger Landstreicher, auch die knospenden Bäume auf dem Schulhof, die ich während des Heimatkundeunterrichts durch das Klassenzimmerfenster beobachtete, waren schneebedeckt. Kapia saß hinter mir und ritzte mit dem Zirkel Bibelzitate in die Schulbank. Die Welt versank, und ich hatte so einige Mühe, vom feuchten Körperduft meiner Banknachbarin Alica nicht wahnsinnig zu werden. Die anderen Mädchen in der Klasse rochen entweder nach morgendlichem Kakao oder nach billigem Kirschlippenstift. Alica war anders, ihr Duft verkündete der Welt, dass sie eine Frau war. Ein Weib.

Und die Welt schenkte ihr Gehör, ach, wie wunderbar sie ihr Gehör schenkte!

Als Einzige in der Klasse trug sie einen Rock. Einen weißen mit roten Punkten, knapp bis unter die Knie reichend, und manchmal, aber wirklich nur manchmal, wenn meine Augen Glück hatten, sahen sie die runden, backigen Äpfelchen. Sie erinnerten an weiche Maulwurfshügel, die in ihren unterirdischen Gängen die Geheimnisse des schmutzigen Erwachsenseins versteckten. Kapia pflegte zwar zu sagen, sie sei Jungfrau, aber ich wusste, dass sie im März geboren war. Nur ein Frühlingskind konnte so unendlich langes, gelocktes Haar haben, das sich ihr während des Diktats um die Handgelenke schmiegte, eine schmale und verblüffende Nase wie ein Komma in einem Kurzsatz, und Brüste, wirkliche Brüste, die nicht einmal Dritt- oder Viertklässlerinnen hatten und die sich ihr beim Vorbeugen ins Heft eingruben und die frische Tinte verschmierten. Die anderen Mädchen hatten winzige Vorsprünge, Zapfen, Würstchen, ungarische Abfahrtsstrecken oder Idiotenhügel, aber Alica hatte wunderschöne Berge.

Einmal habe ich sogar mit ihr gesprochen. In der Pause hat sie mich nach einem Papiertaschentuch gefragt, aber ich hatte nur ein Stofftaschentuch mit einem eingenähten Wappen der Burg Šomoška. Meine Mutter pflegte immer zu sagen, ein richtiger Mann müsse Anmut, einen guten Duft und ein eigenes Stofftaschentuch haben. Ich war damals so nervös, dass ich erbrechen musste. Manchmal passiert mir das, wenn ich stark unter Druck stehe. Seither haben wir nie mehr miteinander gesprochen. Sicherheitshalber trug ich aber immer eine Packung Papiertaschentücher und einen Kotzbeutel mit mir herum.

Ja, ich war verliebt, und ich war stolz darauf!

Doch wenn in meinem Umfeld jemand das Wort Stolz als Fußfessel seiner schicksalhaften Vollkommenheit hätte tragen können, so wäre es der Viertklässler Bielik gewesen. Alle Eltern, Nachbarn, Holzfäller, Klempner oder Sozialhilfeempfänger hatten beim Anblick dieses Ponys ein seltsames Zittern und Leuchten in den Augen, das von seiner Außergewöhnlichkeit zeugte. Er hatte goldenes Haar, Traktoristenbeine und gerade so viele Sommersprossen, dass ihn alle Frauen als feinfühlig, aber nicht überempfindlich, rau, aber nicht aggressiv, und redselig, aber nicht plapperhaft bezeichneten. In der Schulzeitschrift Tajovskýs Gamaschen belegte er den ersten Platz sowohl bei der Umfrage nach dem schönsten Nacken, der schönsten Frisur mit und ohne Pomade, und sogar bei den Nägeln an den kleinen Fingern war er die Nummer eins. Er trieb Gymnastik, und es wurde gemunkelt, dass er nachts ohne Helm Motorrad fuhr. Deshalb sehnten sich alle Weiber danach, sich mit ihm zu vermehren, und die Jungs, seine Popularität zu teilen. Wäre unsere Schule ein Hühnerstall, dann wäre Bielik das prächtige, hellenistische Masthähnchen.