Über das Buch

»Ich bin eine Legende!«, sagt Jean-Luc Godard — Bert Rebhandls Gesamtdarstellung über den Revolutionär des Kinos. Am 9. Dezember feiert Godard, Regisseur von Außer Atem, seinen 90. Geburtstag.

1960 war er der größte Popstar des Kinos: »Außer Atem« (mit Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo) feierte Premiere; im Jahr darauf war seine Hochzeit mit Anna Karina auf den Titelseiten der Illustrierten; seine Filme zogen Hipster aller Art an, als diesen Begriff noch kaum jemand kannte. Dann kam 1968, und für Jean-Luc Godard begann ein Prozess der permanenten Revolution des Kinos, der bis in die Gegenwart für Aufsehen und Debatten sorgt. Er ist ein Intellektueller vom Rang eines Jean-Paul Sartre, indem er die Bilder zum Denken bringt. In diesem Buch wird zum ersten Mal in deutscher Sprache Godards aufregendes Leben mit seinem filmischen Werk zusammen erzählt. Eine einzigartige europäische Figur in einer lange überfälligen Gesamtdarstellung.

Bert Rebhandl

Jean-Luc Godard

Der permanente Revolutionär

Biografie

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

I Moderne Zeiten (1950 bis 1959)

II Pop-Art (1959 bis 1967)

III Revolutionskino (1967 bis 1973)

IV Video, ergo Sum (1973 bis 1980)

V Der Idiot des Kinos (1980 bis 1996)

VI Der Partisan der Bilder (1997 bis 2020)

VII  Fröhliche Wissenschaft

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Filmografie

Weitere Filme

Zeittafel

Vorbemerkung

Mit einem seiner berühmtesten Filmtitel hat Jean-Luc Godard nebenbei deutlich gemacht, was er von Biografien hält: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. Das bezog sich 1967 auf Juliette Jeanson, eine Pariser Hausfrau und gelegentliche Prostituierte, gespielt von Marina Vlady. Von Menschen, von richtigen oder erfundenen, weiß man immer nur einen Bruchteil dessen, was sie ausmacht. Das gilt natürlich umso mehr für einen Künstler wie Jean-Luc Godard, der im Lauf seines langen Lebens immer stärker in seinem Werk verschwunden ist — persönliche Ereignisse wurden zunehmend weniger wichtig, während er mit den weit über hundert Titeln seiner Filmografie als eine Art Weltgeist mit den Mitteln des Kinos auftrat.

JLG JLG heißt ein autobiografischer Film aus dem Jahr 1994. Die Formel ist deutlich genug: Jean-Luc Godard gibt es nur als und durch JLG, die Figur, die er als Filmemacher und herausragender Intellektueller des Kinos ist und darstellt. Dieses Buch versucht nicht, hinter diese Konstellation zu blicken. Das haben die drei bisherigen Biografien — die britische von Colin MacCabe, die amerikanische von Richard Brody und schließlich die detaillierteste und bei weitem umfangreichste aus Frankreich von Antoine de Baecque — zumindest bis zu einem gewissen Grad getan, und sie haben dabei durchaus eine Menge zutage gefördert. Godards Leben ist auch als Roman höchst lesenswert. Wo es angebracht ist, soll es auch hier nach Möglichkeit so erzählt werden und nicht einfach als Aufhänger für eine Beschäftigung mit seinen Filmen dienen. Doch in erster Linie muss es darum gehen, Godard als die Jahrhundertchiffre JLG zu begreifen und zu deuten: eine Kippfigur an der Grenze zwischen Biografie und Werk, zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung, zwischen Subjektivität und Politik, zwischen moderner Kunst und digitalem Zeitalter. Eine Schlüsselfigur des Kinos als Schlüssel zu Fragen und Themen des 20. und des 21. Jahrhunderts.

Ich habe versucht, den Stationen auf dem Weg von Godard möglichst gleichrangig gerecht zu werden. Der unbekannte oder zumindest häufig vernachlässigte Godard der Jahre 1968 bis 1980, als er zuerst revolutionäres Kino und dann Fernsehen gegen das Fernsehen machte, wird genauso ernst genommen wie der späte Godard, dessen Werk vielfach als unzugänglich oder uferlos empfunden wird.

Die Arbeit an diesem Buch begann zweimal. Der Anstoß kam 2012 von Alexander Horwath, damals Direktor des Österreichischen Filmmuseums. Persönliche Umstände verzögerten dann den Fortschritt, bis mit Godards neunzigstem Geburtstag am 3. Dezember 2020 ein Datum in den Blick rückte, das ausreichend Anreiz bot, um mich doch noch an die Fertigstellung zu machen. Den Versuchungen der Unabschließbarkeit, die bei einem so radikal offenen Künstler wie Godard naheliegen, habe ich schließlich den Versuch einer kompakten Darstellung entgegengestellt.

Unter den hilfreichen Freunden und Kollegen, denen ich meinen Dank persönlich abstatte, möchte ich einen auch öffentlich nennen: Volker Pantenburg ist nicht nur der vielleicht beste Godard-Kenner im deutschsprachigen Raum, er hat mich daran auch sehr großzügig teilhaben lassen. Im Auftrag des Verlags hat Regina Schlagnitweit das Buch betreut — ich hätte mir keine bessere Lektorin wünschen können.

Einleitung

»Nichts als das Kino, das ist vielleicht nicht das ganze Kino.«

Jean-Luc Godard, 1957

»Ich bin eine Legende.«

Jean-Luc Godard, 1991

Im Juni 2013 nahm eine Kamera des Datengiganten Google in einer kleinen Stadt in der Schweiz zufällig zwei berühmte Passanten auf. Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville, er damals bereits über achtzig, sie fünfzehn Jahre jünger. Zwei Senioren, die an einem sonnigen Nachmittag ein paar Besorgungen oder einfach einen Spaziergang machten. Der kurze Clip, in dem Godard und Miéville auftauchen, blieb in den Weiten des Internets nicht unbemerkt und erscheint seither immer mal wieder in Timelines oder wird irgendwo hochgeladen. Kinoverrückte Nerds in aller Welt teilen und posten das Fundstück wie eine wertvolle Trophäe. Die kleine Netz-Folklore, die darum entstanden ist, passt zu einem Filmemacher, der seit sechzig Jahren ungebrochen produktiv ist und der in dieser Zeit alle Verwandlungen des Kinos mitgemacht hat, von den Tempeln des Zelluloidkults bis zu den neuesten digitalen Möglichkeiten.

In Rolle am Genfer See lebt Godard seit mehr als vierzig Jahren wie in einem Refugium, zurückgezogen von der Welt. Als Individuum ist er immer anonymer geworden, als Verkörperung des Kinos aber wurde er umfassender.1 Godard ist ein Medienenthusiast, allerdings ein subversiver, denn es ging ihm konsequent darum, die Macht der vorherrschenden Bilder zu brechen. Und wenn er in den letzten Jahren auch Filme mit einem Mobiltelefon oder in 3D gedreht hat, wenn er nach 1968 früh auf die damals noch exotische Video-Technik umstieg, war er vor allem auf der Suche nach Unabhängigkeit: Er wollte Kino so machen, wie Montaigne in der frühen Moderne seine Essais geschrieben hatte, also ganz auf sich gestellt oder eben auf die Arbeitsgemeinschaft mit seiner Frau Anne-Marie Miéville, mit der er seit 1977 das Leben in der Zurückgezogenheit teilt.

Kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag hat er seine Klause überraschend öffentlich gemacht. Seit einem Jahr kann man in Mailand die Werkstatt von Godard besichtigen. Die Fondazione Prada zeigt als permanente Installation das Atelier aus Rolle, zwei Räume wurden als Ausstellungsräume wieder aufgebaut, mit allen Geräten, mit denen er seine späten Filme entworfen hat, und mit dem Krimskrams, mit dem ein Medienkünstler sich umgibt. Ein großes Bild von Hannah Arendt ließ einen Reporter unruhig werden, denn Godard hat sich mehrfach des Antisemitismus verdächtig gemacht, und man könnte ihm nun unterstellen, er wollte die Verfasserin von Eichmann in Jerusalem für eine Geschichtsdeutung reklamieren, die gegen den Staat Israel gerichtet ist. »Schon sind wir mitten in einer Kontroverse und einem Rätsel. Anders geht es nicht bei Godard«, schrieb der Kritiker der Financial Times.2

Als Jean-Luc Godard 1960 in Frankreich mit À bout de souffle (Außer Atem) als Spielfilmregisseur debütierte, veränderte er die Grammatik des Kinos von Grund auf. Es folgten Schlag auf Schlag die Titel, mit denen der Name Godard bis heute verbunden ist — viele sind fast so etwas wie geflügelte Worte geworden, zum Beispiel Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß (2 ou 3 choses que je sais d’elle) oder Die Kinder von Marx und Coca-Cola (der Untertitel von Masculin féminin). Es ist dieser frühe Godard, der bis heute als Popstar rezipiert wird, zum Beispiel von Quentin Tarantino, der seine Produktionsfirma A Band Apart nach dem Film von Godard benannt hat, in dem drei junge Leute in Rekordtempo durch den Louvre laufen: Bande à part (Die Außenseiterbande).

Aber schon 1967 war Godard seiner Rolle überdrüssig, und kein Filmemacher der französischen Nouvelle Vague hat sich radikaler auf die revolutionären Erfahrungen von 1968 eingelassen als er. Er wollte nicht mehr einfach Filme machen, sondern Kino. Es genügte ihm nicht, eine Industrie mit Inhalt zu beliefern, er wollte über die Produktionsmittel verfügen und selbst eine Industrie sein. Damit wollte er seiner Kunst eine Zukunft geben, an der er immer wieder methodische Zweifel anmeldete.

IL CINEMA È UNA INVENZIONE SENZA AVVENIRE. Dieser Satz steht in unübersehbaren Versalien unterhalb der Leinwand eines Vorführraums in den römischen Filmstudios Cinecittà geschrieben, in dem in Le Mépris (Die Verachtung, 1963) der amerikanische Produzent Jerry Prokosch ein paar Leute versammelt hat, um Probeaufnahmen für eine Verfilmung von Homers Odyssee zu begutachten. Das Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft. Louis Lumière, einem der beiden französischen Erfinder des Kinos, wird dieses Diktum zugeschrieben, das sich als epochal falsch und vielleicht doch auf längere Sicht als zutreffend erwiesen hat. Gemessen an der Würde des antiken Epos, einem der ältesten europäischen Texte, ist das eine relativ unbedeutende Behauptung, neben der Wirkungsgeschichte der Odyssee ist das Kino bisher selbstverständlich nicht mehr als eine Episode. Doch die beiläufige Emphase, mit der Godard den Satz ins Bild setzt, ist bezeichnend für sein ganzes Werk. Mehr als jeder andere Filmemacher hat er das Kino nicht einfach als eine Reihe von einzelnen Hervorbringungen verstanden und entwickelt, sondern daraus einen fortlaufenden Kommentar zu dem Medium gemacht, in dem er begonnen hat: »le cinéma«, wie man in Frankreich mit einer viel ausgeprägteren Betonung kulturellen Gewichts sagt, als es im Deutschen bei »das Kino« mitschwingt.

Godard ist, als Filmemacher, der permanente Revolutionär des Kinos, und unter den Mitteln, deren er sich dabei bedient, zählen die Parole, das Zitat, das Insert, das Aperçu zu den wichtigsten. Der Satz »Das Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft« ist all dies — eine Parole, die 1964 schon auf den revolutionären Bruch von 1968 vorausweist; ein Zitat, das mit dessen Urheber Louis Lumière auch die Anfänge des Kinos als bereits obsolet einstuft; und ein Aperçu, das folgenlos im Raum hängen bleibt, weil es zu keiner Konsequenz zwingt. Godard beansprucht für den Satz keine Autorität. Er teilt ihm nur eine bestimmte Position in einem vielstimmigen Diskurs zu, der sich in den Bildern und Tönen von Le Mépris entfaltet, und in dem es eben auch — am Rande, und doch zentral — um die Zukunft des Kinos in einem von Produzenten dominierten, von Finanzinteressen bestimmten technisch-industriellen System geht.

Aus diesem System ist Godard in den mehr als sechzig Jahren, in denen er nun schon arbeitet, allmählich ausgewandert. Er hat die Form des Spielfilms, mit der er von Beginn an gespielt hat, zerlegt — »wie ein Kind, das ein Spielzeug mit dem Hammer untersucht« (Hartmut Bitomsky).3 Aus einem Hipster avant la lettre, als der er um 1960 erscheinen konnte, ist ein Eremit geworden, dem heute die Youtube-Generation mit Überwachungsbildern nachspürt. In den Teilsystemen der demokratischen Öffentlichkeit seiner beiden Bezugsländer Schweiz und Frankreich gehört er nirgends mehr richtig hin, in Deutschland, das für ihn eine geistige Wahlheimat ist, wurde er immerhin 1995 mit dem Adorno-Preis ausgezeichnet, im Versuch, eine Brücke zwischen dem Bilderdenker Godard und dem Denken in Begriffen zu schlagen. Zwar hatten seine Filme in den vergangenen Jahren fast alle ihre Premiere in Cannes (Film Socialisme erschien 2010 gleichzeitig als Video-on-demand, auch das war damals ein innovativer Zugang), und es gab sogar noch einen Kinostart für seinen großen, späten Film Le Livre d’image (Bildbuch, 2018), die vorerst letzte, universalpoetische Summe seines Werks.

Aber die Besucherzahlen sprechen eine klare Sprache: Godard gehört nicht mehr zum Kino. Er gehört aber auch nicht zur bildenden Kunst, obwohl er 2006 mit einer Ausstellung in Paris einen Versuch in dieser Richtung unternommen hat und die Fondazione Prada mit der Installation in Mailand sein Nachleben in den Museen in Stellung bringt. Er gehört auch nicht zur literarischen oder intellektuellen Öffentlichkeit, obwohl er starke, widerstrebende Affinitäten zu beiden hat. Volker Pantenburg schrieb mit einigem Recht, man könnte »seine gesamte Arbeit als kompensatorische Geste eines gescheiterten Schriftstellers deuten«4, und Bezeichnungen wie »Multimedia-Dichter« (Michael Witt) oder »Filmschriftsteller« (»cinéaste-ecrivain«, Raymond Bellour) treffen etwas Wesentliches. Aber den Nobelpreis, den er so sehr verdienen würde wie Elias Canetti, Octavio Paz oder Peter Handke, ein Bewunderer zumindest seiner frühen Filme, gibt es nicht, weil eine Literatur und eine Philosophie in Bildern und Tönen nirgends hinpasst. Mangels alternativer Einordnungen gehört Godard also immer noch zum Kino, indem er dessen Geschichte in einer doppelten Weise zu seiner eigenen gemacht hat: Es begann diese Geschichte schon (in filmischer Form) zu schreiben, während er selbst sie immer noch weiterschreibt, und zwar mit einem wesentlich stärker ausgeprägten Bewusstsein für Form-, Epochen- und Technologieaspekte als fast alle seiner Kolleginnen und Kollegen. Die Histoire(s) du cinéma (Geschichte[n] des Kinos, 1988—98) sind der potenziell unendliche, späte Bildtext, den Godard als historische Zusammenschau des Mediums gerade in dem Moment verfasst, in dem das technische Trägermedium des Kinos — das Zelluloid — zu verschwinden begann. Mit den Möglichkeiten des Videos wurde das Bild noch einmal anders »schreibbar«, als Godard und seine Zeitgenossen dies in der Ära gleich nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal dachten, damals noch orientiert am Strich der Maler und an der Federführung der Schriftsteller, also an einer Debatte über das Potenzial der jeweiligen Künste, wie sie nach dem Krieg mit Bezug auf das Kino geführt wurde. Godard ließ diese Debatte für sich nie abreißen, auch wenn er sie bisweilen fast im Alleingang weiterführen musste. In seinem Spätwerk öffnet sich die ganze Spannweite zwischen der Malerei und dem technischen Impressionismus, der sich aus den algorithmisierten Kameraoptiken heutiger Endgeräte ergibt. So könnte man mit einem Zitat des großen französischen Filmkritikers André Bazin die Perspektive von Godards Werk — und dieser Darstellung — nach vorne hin öffnen: Das Kino ist noch nicht erfunden!5

I

Moderne Zeiten (1950 bis 1959)

Im Jahr 1950 betritt Godard zweimal das Feld des Kinos. In Jacques Rivettes Kurzfilm Le Quadrille spielt er die Hauptrolle. Das Geld für die Produktion hat er, so behauptet er später, »von einem Onkel« gestohlen.

Ein zeitgenössischer Bericht stammt vom englischen Kritiker Tom Milne: »Eines späten Abends im Jahr 1950 war ich in einem Ciné-Club in der Rue Danton in Paris zufällig bei einem jener quälenden Programme von 16 mm-Filmen anwesend, die auch geübte Cineasten vor große Herausforderungen stellen. Einer der Filme hatte allerdings etwas: eine bestimmte hypnotische, obsessive Qualität zeichnete diesen Versuch aus, über vierzig Minuten hinweg zu zeigen, was geschieht, wenn nichts geschieht. Das Verhalten im Wartezimmer eines Zahnarztes, in streng objektiver Weise dargestellt. Ein Spiel aus Schweigen, heimlichen Blicken, nervös durchgeblätterten Zeitschriften, verstohlen angezündeten Zigaretten, wie es eben ist, wenn einander fremde Menschen für eine Weile miteinander zurechtkommen müssen, ohne dass da etwas wäre, wofür man zurechtkommen müsste. Der Film mit dem Titel Quadrille wurde ein kleinerer succès de scandale. Die eine Hälfte des Publikums, die am Ende noch anwesend war, geriet sich darüber leidenschaftlich in die Haare. Erst einige Jahre später dämmerte mir, welche Bedeutung die Namen des Regisseurs und des Hauptdarstellers hatten: Jacques Rivette und Jean-Luc Godard.«1

Im Juni desselben Jahres erscheint in der Gazette du cinéma ein Text über den amerikanischen Regisseur Joseph Mankiewicz, den der debütierende Kritiker Godard für so außergewöhnlich brillant hält, dass er einen nicht unmittelbar naheliegenden Vergleich wählt: »Ich scheue mich nicht, ihm einen ebenso wichtigen Platz zuzuerkennen, wie Alberto Moravia ihn in der europäischen Literatur einnimmt.«2 Schon hier bringt Godard mit größter Selbstverständlichkeit (und mit der Anmaßung des genialischen Alleswissers) zwei Bereiche zusammen, die wenig miteinander zu tun haben: Für das amerikanische Studiosystem der Filmproduktion und für die europäische literarische Öffentlichkeit gibt es eigentlich kaum ein Vergleichsmoment, außer eben die Sensibilität einer Nachkriegsgeneration, die sich an allen Fronten mit neuen Eindrücken konfrontiert sah und die heftige Auseinandersetzung über die Ordnung dieser Eindrücke nicht scheute.

Dass es viele Eindrücke waren, gleich nach dem Krieg, geht aus einem anderen Zeugnis aus dieser Zeit hervor: François Truffaut war ein sehr junger Kritiker für die Zeitschrift Travail et Culture. Er traf den damals 18-jährigen Godard zum ersten Mal im Jahr 1948. »Was mir am meisten an ihm auffiel, war die Weise, wie er Bücher verschlang. Wenn wir abends bei Freunden waren, schlug er ohne weiteres bis zu vierzig Bücher auf. Er las immer die erste und die letzte Seite. Er war sehr ungeduldig und nervös. Wie wir alle war er vom Kino begeistert, aber er sah manchmal fünf Filme an einem Tag, weil er immer nur fünfzehn Minuten lang blieb. Nachdem er uns monatelang davon erzählt hatte, er würde demnächst nach Jamaika reisen, brach er eines Tages mit seinem Vater auf. Als er wieder da war, erwarteten wir einen ausführlichen Bericht von der Reise. Nichts. Damals hörte er schon zu reden auf. Er erklärte sich nie.«3

Diese Erinnerung stammt aus dem Jahr 1970. Sie erzählt von einer Begegnung zwischen Halbwüchsigen in einer Epoche des Aufbruchs. Truffaut, ein Sensibler, trifft auf Godard, einen Unruhigen. Filme und Bücher weisen den Weg in eine neue Zeit, aber ist überhaupt genügend Zeit, um alles zu lesen, alles zu sehen? Godard war fünfzehn Jahre alt, als Frankreich befreit wurde. Er ist also in seiner intellektuellen Formation ein Kind der libération. Seiner nationalen Zugehörigkeit nach ist er allerdings Schweizer, Sohn eines Arztes, der am Genfer See ein Krankenhaus für betuchte Patienten betrieb und Odile Monod, die Tochter einer großbürgerlichen Pariser Familie aus dem achten Arrondissement, geheiratet hatte. Die Generationenfolge hat Godard später in ein mythisches Bild übertragen: »Es war wie in einer griechischen Sage, meine Großeltern waren Götter, meine Eltern waren Halbgötter, und ich, das Kind, war nichts weiter als ein Mensch.«4 In dieser Deutung klingt die »Augenblicksapotheose« nach, die der Erzähler in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat, als er die Familie Guermantes im Theater erblickt: »Und wenn ich meine Augen zu ihrer Loge erhob, so meinte ich, sehr viel überzeugender als an der mit kalten Allegorien geschmückten Decke des Zuschauerraums, (…) die Versammlung der Götter zu sehen, wie sie gerade dem Schauspiel der Sterblichen unter einem roten Baldachin, in einer schimmernden Lichtung zwischen zwei Pfeilern, die den Himmel trugen, zuzusehen sich herabließen.« Godards Combray liegt am Genfer See. Im kleinen Ort Anthy, wo sein Vater arbeitet, erlebt er eine paradiesische Kindheit5, zur Pariser Verwandtschaft hingegen hat er ein gespanntes Verhältnis. Unter den Monods gibt es strenge Petainisten, Anhänger des Regimes, das mit Deutschland kollaboriert, während die Eltern in der Schweiz eine pazifistische Position vertreten. Der Vater engagiert sich für das Rote Kreuz, der Sohn stellt sich unterdessen die Schicksale der großen Armeen nach dem Bild von Fußballmannschaften vor und legt dabei eine sportliche Neutralität an den Tag. Rommels Niederlage bei El Alamein empfindet er als Niederlage für sich selbst, den Fan.

1946 kehrte Godard aus der Schweiz nach Paris zurück, wo er die ersten vier Jahre seines Lebens verbracht hatte, bezog ein Zimmer in der Rue d’Assas in der Nähe des Jardin du Luxembourg und begann von hier aus eine neue Landschaft zu erkunden. Die vielen Angebote der Ciné-Clubs und der Cinémathèque française, damals in der Avenue de Messine, wurden für ihn ab 1947 zu einer alternativen Bildungsanstalt. »Ich habe das Kino mit siebzehn entdeckt, durch die Lektüre der Revue du cinéma, die mir eine neue Welt erschlossen hat, einen künstlerischen Kontinent, von dem ich davor nie gehört hatte und den ich dank der Forscher, die ihn beschrieben, nun selbst vermessen konnte.«6

Doch als er im Begriff war, sich in diese neue Welt zu stürzen, gab es einen empfindlichen Rückschlag zu verkraften. Den Bruch mit der Familie Monod provozierte er mit einem, wenn man deren Status als Götter in Betracht zieht, fast schon prometheischen Akt: Er stahl signierte Erstausgaben des Hausheiligen und persönlichen Freundes von Großvater Monod, Paul Valéry, aus einem eigens dafür reservierten »Valerianum« in der Wohnung am Boulevard Raspail, verkaufte diese weiter, wurde ertappt und musste deswegen 1947 für eine Weile in die Schweiz zurück. Die Kindheit, die ihm später im Rückblick »wie in einem Paradies« erscheinen konnte, war zu Ende. In einem Schriftstück, von dem sein Biograf Antoine de Baecque berichtet, polemisiert Godard gegen die Monods und bedient sich dabei eines Zitats von Bismarck: »Ich bin nicht zum Spion geboren, meiner ganzen Natur nach. Aber ich glaube, wir verdienen Ihren Dank, wenn wir uns dazu hergeben, bösartige Reptilien zu verfolgen bis in ihre Höhlen hinein, um zu sehen, was sie darin treiben.«7

Es gibt einen Begriff, der die streitbare Dimension seiner jungen Jahre verdeutlicht (und in ein eigenwilliges historisches Bild bringt): Zusammen mit François Truffaut zählte Godard um 1950 zu den »Jungtürken« einer Filmkritik, die eben mehr sein wollte als nur herkömmliche Auseinandersetzung, ohne deswegen in das andere Extrem eines vor allem politisch-ideologischen Jargons zu verfallen. Die historischen Jungtürken im Osmanischen Reich, auf die sich in den dreißiger Jahren auch radikale Gruppen der französischen Linken ausdrücklich beriefen, deklarierten sich durch ihre Selbstbezeichnung als leidenschaftliche Modernisierer. Auch wenn der Begriff von den jungen Kritikern nur spielerisch gemeint war, verrät er doch eine Menge. Denn die Anspielung auf eine historisch wirkmächtige Reformbewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts konnte in Frankreich unmittelbar nach der Befreiung nur als mehrfache Provokation gelten, vor allem als Kritik an einer Gesellschaft, die dadurch als veraltet ausgewiesen wurde, obwohl sie sich doch scheinbar in Aufbruchsstimmung befand.

Godards wichtigste kritische Vokabel in diesen Jahren, in denen er das Feld betritt, ist denn auch eine der geläufigsten und schillerndsten: »Entschieden modern«, findet er den Film Sait-on jamais von Roger Vadim, wie auch das Medium in seiner Gänze: »Überhaupt, das Kino ist zu entschieden modern, als dass sich ihm die Frage stellen könnte, einem Weg zu folgen, der nicht ständige ästhetische Offenheit wäre.«8 Was Modernität allerdings um 1950 in Frankreich bedeutet, ist ganz und gar nicht klar, und Godards eigene Texte bezeugen in dieser Hinsicht tatsächlich eine charakteristische Offenheit. Aus heutiger Sicht identifizieren viele Theoretiker und Intellektuelle des Kinos den Beginn der Modernität mit dem Moment der Befreiung von den faschistischen Systemen. Drei Filme von Roberto Rossellini stehen prototypisch für diesen Neubeginn: Roma, città aperta, Paisà und Germania, anno zero sind die Gründungsurkunden des Neorealismus, der ersten wesentlichen Erneuerungsbewegung im Kino der Nachkriegszeit. Der 1944 geborene Kritiker Serge Daney hat, in Anspielung auf einen Begriff, der in etwa dem deutschen »Wirtschaftswunder« entspricht, die damals beginnende Ära als »›die dreißig glorreichen Jahre‹ des modernen Films« bezeichnet.9 Als Ausgangspunkt nahm Daney ausdrücklich den Film Roma, città aperta, der vom römischen Widerstand gegen die Deutschen im Jahr 1943 erzählt. Dem bedeutendsten Kritiker der Ära, André Bazin, wurde der Neorealismus das wichtigste Beispiel für eine prinzipielle Neubestimmung des Kinos, die er auf Grundlage der fotografischen Technik vornahm: »Der Mythos, der die Erfindung des Films hervorgebracht hat, (…) ist der Mythos eines allumfassenden Realismus, einer Wiedererschaffung der Welt nach ihrem eigenen Bild, einem Bild, das weder mit der freien Interpretation des Künstlers noch mit der Unumkehrbarkeit der Zeit belastet wäre.«10

Für die Kultur der Cinephilie11, auf die der junge Godard in Paris traf, war André Bazin die entscheidende Figur. Er war Kritiker, Kurator, Vermittler. Bei den zahlreichen Ciné-Clubs, die es in diesen Jahren gab, galt die »heilige Dreifaltigkeit« aus Präsentation, Projektion und Diskussion als verbindlich. Während der deutschen Besatzung war Paris von den Produktionen des amerikanischen Kinos weitgehend abgeschnitten gewesen, nun wurde das Versäumte nachgeholt. In der 1951 gegründeten Filmzeitschrift Cahiers du cinéma fand diese Kultur der Cinephilie ihr wichtigstes Medium, aber auch davor und daneben gab es eine Vielzahl von Publikationen, in denen sich die »Jungtürken« versuchen konnten und Bazin in einer Reihe von schnell aufeinanderfolgenden programmatischen Texten seine offene Kinotheorie entwickelte. Ihm war daran gelegen, auch das kommerzielle Kino als potenziell avantgardistisch verstehbar zu machen. Der gesamte Ansatz des von Bazin mitbegründeten Filmclubs Objectif 49 beruhte auf dieser Idee einer »populären Berufung des Kinos«12 und sollte ihr dienen. Im Ciné-Club Objectif 49 liefen in diesen Jahren neue Filme von Ehrenmitglied Orson Welles, William Wyler, Preston Sturges, aber auch von Jean Renoir (der mit den Nachkriegsarbeiten seinen Klassikerstatus bewusst aufs Spiel setzte und die Kritik vor große Probleme stellte), Robert Bresson oder Roberto Rossellini.

Modernität musste zu einem flexiblen Kriterium werden, angesichts der Tatsache, dass die wichtigste kritische Schule der Gegenposition um 1950 einen vornehmlich politischen Begriff davon verbreitete. Der kommunistische Kritiker Georges Sadoul sah das wahre Kino vor allem in der Sowjetunion verwirklicht. Nicht weniger als drei »goldene Zeitalter« binnen kurzer Zeit folgten seiner Meinung nach aufeinander, bei Padenie Berlina (1949) kam er ins Schwärmen: »(Der Regisseur) Michail Čiaureli hat die Einfachheit von Giotto und seinen Schülern wiedergefunden, wie wir sie in den Fresken von Padua oder Assisi sehen. Stalin in seiner Gegenwart unter den Leuten ist dieser Bruder, dieser wahrhafte Kamerad.«13 Die Szene mit einem im Flugzeug einschwebenden Stalin, die in ihrer propagandistischen Naivität auch als eine Zumutung empfunden hätte werden können, ruft bei Sadoul einen kunsthistorischen Vergleich hervor, der darauf schließen lässt, dass Godard diesen Text gelesen hat. Denn er gerät 1950 im Aufsatz Für ein politisches Kino in einen ähnlich liturgischen Tonfall: »Der Schauspieler findet unwillkürlich zu dem zurück, was er ursprünglich war, Priester. Der Fall von Berlin, Die Schlacht von Stalingrad sind Krönungsmessen. Im Hinblick auf die Geschichte interpretiert der sowjetische Schauspieler seine Rolle (seinen Klassencharakter) auf zweierlei Weise: entweder als Heiliger oder als Held.« Godard spricht von einer »spontanen und begeisternden Poesie des Ereignisses« und kommt zur Schlussfolgerung: »Sicherlich wird man heute nur in Russland die Bilder, die über die Leinwand ziehen, als die des eigenen Schicksals betrachten.«14

Den systematischeren Text zum Thema politisches Kino schrieb nahezu zeitgleich André Bazin. In Le cinéma soviétique et le mythe de Staline beschäftigte er sich mit der Frage, warum es in den abendländischen Filmen eine Scheu gibt, bedeutende Menschen zu Lebzeiten darzustellen, wie es in der Sowjetunion im Falle Stalins ohne weiteres gemacht wurde. Bazin findet seine Antwort in einer Überlegung zur Geschichtlichkeit von Individuen. Stalin kann in den Propagandafilmen als Figur auftreten, weil er gerade nicht mit dem »menschlichen Maß« gesehen wird, das üblicherweise an Figuren und ihre Verhaltensweisen gelegt wird. Er erscheint nicht in einem psychologischen Licht, sondern in einem theologischen. Die Form seiner Darstellung als unfehlbare und allwissende Führergestalt ist der Mythos. Er wird filmisch einbalsamiert, er inkarniert schon zu Lebzeiten das Ende einer Geschichte, die er (im konkreten Fall des Großen Vaterländischen Kriegs, aber darüber hinaus verallgemeinerbar) siegreich gelenkt hat.

Die Unterschiede zwischen Godards Text und dem von Bazin, der trotz seiner schweren Krankheiten auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft war, sind charakteristisch. Der junge Kritiker, der nach seinen Kriterien sucht, spielt selbst noch mit den sprachlichen Registern der Religion, um dem bewunderten Film eine entsprechende Aura zu verleihen. Bazin hingegen, persönlich bis zu seinem frühen Tod ein gläubiger Katholik, durchschaut die politische Religion des Kommunismus auch deswegen, weil ihn gerade seine Filmtheorie zu einer gedanklichen Entmythologisierung herausfordert: Er sieht in den Filmbildern von Stalin schon die Mumie, zu der die Propaganda ihn macht.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Texte, der eine von einem Neuling, der andere von einer Autorität, findet eine weitere Pointe in Godards Schlusssatz. Während Bazin bei der Ontologie des Kinos ankommt, endet Godard mit einem provokanten Aufruf: »Ihr französischen Cineasten, denen es an Drehbüchern mangelt, warum habt ihr nicht längst die Steuergesetzgebung verfilmt …«15 Godard greift hier noch beinahe intuitiv, in einer Mischung aus Chuzpe und Sarkasmus, eine Debatte auf, die zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Texts ganz am Anfang steht und die Filmkritik mehr als ein Jahrzehnt intensiv beschäftigen sollte. Das Stichwort ist »Sujet«. Von ihm lässt sich, in einer Gegenbewegung, die zentrale Kategorie der cinephilen Kritik der fünfziger Jahre ableiten: »Mise en Scène« — das inszenatorische Vorgehen mit all seinen Aspekten wie Kameraführung, Licht, Farbe, Setting, Kostüme. Die Gazette du cinéma, in der Godards Text über das politische Kino erschienen ist, dient dabei als kurzlebiges Organ einer wegweisenden Lagerbildung innerhalb der Zirkel der Pariser Filmbegeisterten. Denn die Zeitschrift, an der entscheidend jene Leute beteiligt sind, für die der Filmclub CCQL (Ciné-Club du Quartier Latin) der wichtigste Treffpunkt ist, setzt sich vom maßgeblichen Objectif 49 ab, dessen Präsident Jean Cocteau ist und wo Bazin sein wichtigstes Forum hat. In der Gazette hingegen publizieren die jungen Cinephilen, die in der Cinémathèque française immer die erste Reihe (und den Boden davor) einnehmen und sich dort im Lauf weniger Jahre ihre Filmbildung angeeignet haben: Godard, Jacques Rivette, Jean Douchet, Jean Gruault, Charles Bitsch, Suzanne Schiffman (geb. Klochendler). Der um einige Jahre ältere Maurice Schérer, der für seine späteren filmkritischen Texte (und dann auch Filme) das Pseudonym Éric Rohmer führt, ist die Autorität in dieser gegen die Autoritäten antretenden Gruppe. In den ersten drei Ausgaben der Gazette gelingt mithilfe von Alexandre Astruc und Schérer, die beide auch für Les Temps modernes — die Zeitschrift des Lagers von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir — schreiben, ein publizistischer Coup. Sartre veröffentlicht in Fortsetzungen seinen Text Das Kino ist keine schlechte Schule (Le cinéma n’est pas une mauvaise école). Es handelt sich dabei um die Niederschrift einer Rede, die Sartre als junger Lehrer 1931 gehalten hatte. Damals wurde der Tonfilm eingeführt, eine Innovation, die Sartre für kurzlebig hielt: »Ich glaube, dass der Film sich gerade das Recht erkauft, zu verstummen.« Doch die Aktualität, die eine Veröffentlichung auch nach zwanzig Jahren noch lohnend machte, lag in den Überlegungen zum Stellenwert des Kinos im Vergleich mit den anderen Künsten, namentlich mit dem Theater und der Musik. Gegenüber dem Theater hob Sartre eine deutlich gesteigerte Wirkungsästhetik hervor: »Denn diese Kunst wird mehr in Sie eindringen als alle anderen Künste, und sie wird Sie allmählich dazu bringen, die Schönheit in all ihren Formen zu lieben.« Mit der Musik hingegen hat der Film etwas gemeinsam, was Sartre als »thematische Einheit« bezeichnet: Wie in der Komposition, in der mehrere musikalische Themen »bis zu ihrer vollkommensten Entfaltung« geführt werden, vermag auch der Film durch die thematische Verbindung von Motiven oder Themen eine »kinematografische Polyphonie« zu erzeugen, eine »vieldeutige, sinnbeladene Verkettung«, die Sartre an Beispielen aus G. W. Pabsts Die freudlose Gasse (1925) festmachte, welche erst in Ansätzen erkennen lassen, was damit alles gemeint sein könnte.16 Godard probiert sich in der Gazette du cinéma intensiv aus, er bedient sich dabei auch des Pseudonyms Hans Lucas, in dem er seine beiden Vornamen verdeutscht — ein Indiz für eine tiefergehende Neigung zum deutschen Sprach- und Geistesraum, die an vielen Stellen dieser Texte aufblitzt, etwa auch bei Verweisen auf die nationalsozialistischen Propagandafilme, die damals in Paris gezeigt wurden und von denen er sich genaue Kenntnis verschaffte.

Die neu gegründete Filmzeitschrift Cahiers du cinéma wird ab April 1951 zum Forum für diese Generation. Die jungen Kritiker schreiben nun nicht mehr in kurzlebigen, hektografierten und handverteilten Medien, sondern in einem professionellen Blatt, das sie fortan als Plattform nutzen sollten. Innerhalb der Redaktion werden sie als Gruppe wahrgenommen, die nach ihrem ältesten Vertreter benannt wird: Die »Schérer-Bande« tritt auf wie »Hunde beim Kegeln«, so beschreibt Alexandre Astruc den lebhaften Eindruck, den die jungen Cinephilen hinterlassen. Er fügt aber hinzu, dass diese Gruppe den Cahiers in den kommenden Jahren »ihre eigentliche Dimension« verleihen sollte. Ein »neues Kino« kündigt sich hier an, vorerst in kritischen Texten.17 Die Nouvelle Vague ist im Grunde schon formiert, und die einzelnen Vertreter sind eifrig damit beschäftigt, sich zu positionieren. Maurice Schérer, der sein Autorenpseudonym Éric Rohmer nun zum ersten Mal verwendet, gibt wichtige Motive vor und trägt dazu bei, dass seine »Schule« innerhalb der Cahiers als rechtsgerichteter Flügel wahrgenommen wird, vor allem von einem Linken wie Pierre Kast, der Schérers Generation angehörte und Mitglied der Résistance war. Die beiden Chefredakteure Jacques Doniol-Valcroze und Bazin müssen viel Vermittlungsarbeit leisten, schlagen sich aber letztlich auf die Seite der »Jungtürken«. Zur wichtigsten Figur aus diesen Reihen neben Schérer wird ein junger Mann, an dem Godard über die folgenden zwei Jahrzehnte immer wieder gemessen werden würde: François Truffaut, der »Ziehsohn« von André Bazin. Truffaut wuchs als Halbwaise in einer wesentlich weniger paradiesischen Situation als Godard auf, aber es gibt bezeichnende Parallelen in beider Aufbegehren: Beide machen sich des Diebstahls schuldig, beide werden vorübergehend psychiatrisch diszipliniert, Truffaut muss wegen Veruntreuung ins Gefängnis und begeht einen schweren Fehler, als er sich zum Militär meldet. Um nicht nach Indochina geschickt zu werden, desertiert er, und es bedarf mehrerer Interventionen vonseiten Bazins und anderer Freunde, um ihn schließlich für dienstuntauglich erklären zu lassen. Während Godard in diesen Jahren zwischen Paris und der Schweiz pendelt und Ende 1950 auch eine große Lateinamerikareise unternimmt (er begleitet seinen Vater, der die Eröffnung einer Klinik in der Karibik erwägt, fährt dann aber auf eigene Faust über Peru bis nach Brasilien weiter), schlägt Truffaut sich in Paris durch. Gemeinsam ist ihnen schon damals ein rastloses Rezipieren von Büchern und Filmen, Texte entstehen nahezu aus dem täglichen Gespräch heraus, so hat es den Eindruck.

1952 erscheint der erste Text von Jean-Luc Godard in den Cahiers du cinéma. Es ist eine kleine Arbeit, nur zwei Seiten lang, und der Film, um den es geht, ist nicht wirklich der Rede wert: No Sad Songs for Me (1950) von Rudolph Maté erzählt von einer Frau, die an Krebs leidet, dies aber ihrem Mann verschweigt und ihm sogar noch eine neue Gefährtin für die Zeit nach ihrem Tod zuführt. Godard nimmt den Film zum Anlass für mehrere grundsätzliche Überlegungen. Die »klassische Einstellungsfolge« geht für ihn hier mit »großer psychologischer Macht« einher, einer Macht, die in den Großaufnahmen von Margaret Sullavan deutlich wird, deren »Herz« sich in den »Bizarrerien ihrer Scham« zeigt. »Das Kino spezifiziert die Realität. Es wäre vergeblich, wollte es dem Augenblick etwas hinzufügen, was der Augenblick selbst nicht enthält.«18

Kurz darauf greift Godard mit einem Text über Alfred Hitchcock zum ersten Mal in eine der wesentlichen Auseinandersetzungen dieser Jahre ein. Der Titel seiner Kritik zu Strangers on a Train (1951) ist programmatisch: Vorherrschaft des Sujets.19 Zwei Linien der Auseinandersetzung kreuzen sich in diesem Text. Die eine betrifft die Einschätzung Hitchcocks (und des amerikanischen Kinos insgesamt), die andere die Frage, was für das Kino ein guter Stoff ist. An der Bewertung Hitchcocks konkretisierten sich um 1950 viele der Einsichten der jungen Kritik. Ein großer Teil der intellektuellen Landschaft in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg ist offen antiamerikanisch eingestellt. Das trifft vor allem auf den Kommunisten Georges Sadoul zu, der aus ideologischen Gründen den Großteil der Hollywood-Produktion ablehnt. Das Sujet, also die Grundlage für einen Film, wird zu einem beziehungsreichen Streitpunkt, bei dem im Hintergrund stets die Formalismus-Debatten in den realsozialistischen Ländern präsent sind. Häufig misst Sadoul die Bedeutung von Filmen daran, ob ihnen ein lohnendes Thema zugrunde liegt. Die konservative Kritik hat davon zwar inhaltlich andere Vorstellungen, sie denkt eher an literarische Klassiker, während Sadoul die Fortschritte des Sozialismus im Blick hat. Aber in beiden Fällen wird der Wert von Filmen an ihren Inhalten gemessen. Bei Hitchcock (und implizit bei vielen Genre- und B-Filmen aus Hollywood) verschiebt sich das Gewicht. Bei ihm kommt es vor allem auf die Umsetzung an, auf das, was mit dem damals schon geläufigen Begriff der Mise en Scène bezeichnet wird. Godard bedient sich also einer doppelten Provokation, als er seinen (unter Hans Lucas veröffentlichten) Text zu Strangers on a Train mit Vorherrschaft des Sujets betitelt. Die Schilderung des Inhalts gibt Godard die Gelegenheit, über Modernität zu reflektieren. »Ich kenne wirklich keinen Film, der heute besser zeigt, welches Interesse die Situation des modernen Menschen verdient, die darin besteht, ohne die Hilfe der Götter der Entwürdigung zu entgehen. Und auch dazu ist das Kino sicher in besonderer Weise befähigt, dieses Drama zu erfassen, sich weniger mit dem Mythos vom Tod Gottes abzugeben (…), als mit der unheilvollen Wirkung, die davon ausgeht.« Das Beispiel, das er dafür gleich im Anschluss gibt, ist verwegen. Denn für Godard ist es der Mörder, dessen Abenteuer hier zählt, und Hitchcock unterstreicht dies seiner Meinung nach durch seine Inszenierung, indem er nämlich von diesem Abenteuer »nur das prometheische Bild seiner kleinen Mörderhand zeigen kann, nur den Schrecken vor dem unerträglichen Glanz des Feuers, das sie raubt«.

In dieser Formulierung wird eine Überhöhung des Konzepts von Mise en Scène erkennbar, von der die ganze Hitchcock-Rezeption der »Jungtürken« geprägt bleiben würde. In der schäbigen Mordtat auf einem Rummelplatz einen prometheischen Akt zu sehen, zeugt von dem Pathos, mit dem Godard und seine Freunde das Popkulturelle zu einer neuen Mythologie umwerten. Aus Strangers on a Train im Besonderen leitet Godard ab: »Man muss nur verstehen, dass alle Erfindung in den amerikanischen Filmen, ihre Jugend, darauf beruht, aus dem Sujet wieder den eigentlichen Beweggrund der Inszenierung zu machen.«20

Zur selben Zeit brütet Truffaut über einem Aufsatz zum Thema »Sujet«, der erst zwei Jahre später erscheinen sollte, allerdings mit enormen Folgen: Eine bestimmte Tendenz des französischen Kinos nimmt den Begriff des Sujets so wörtlich, dass Truffaut sich vom Autorenpaar Jean Aurenche und Pierre Bost sogar ein unveröffentlichtes Drehbuch zuschicken ließ, das er dann genüsslich auseinandernahm. Der Text ist eine Polemik gegen das herkömmliche französische Kino dieser Jahre, für das schon seit einiger Zeit der Begriff cinéma de qualité (Kino der Qualität) gebräuchlich war. Eine bestimmte Tendenz erschien letztlich Anfang 1954 in den Cahiers, nachdem Bazin immer neue Verbesserungen und Abschwächungen eingefordert hatte. Aber auch in der veröffentlichten Form ist heute schwer nachzuvollziehen, woher die Wirkung kam. Sie lag wohl vor allem in einem neuen Begriff: Auch Filmemacher konnten nun auteurs sein. Truffaut unterscheidet den psychologischen Realismus von einem cinéma d’auteurs (Kino der Autoren), das hier noch vor allem dadurch bestimmt wird, dass Regisseure »ihre Dialoge oft selbst schreiben, und einige von ihnen erfinden auch die Geschichten selbst, die sie auf die Leinwand bringen«.21 Es geht also darum, die Filme autonom werden zu lassen, sie aus der Abhängigkeit von der Literatur zu befreien, wobei in einer bezeichnenden Pointe Flaubert zu einem Kronzeugen dieser Position wird. Denn der Autor von Madame Bovary war, wie die jungen Kritiker der Cinephilie auch, skeptisch gegenüber der Bedeutung des Sujets. »Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Literatur hatte ein Autor seinem Sujet gegenüber den distanzierten Blick des Außenstehenden gewählt, wobei das Sujet wie das Insekt unter dem Mikroskop des Entomologisten eingekreist wurde«, schrieb Truffaut. Die optische Metapher kommt hier nicht von ungefähr, denn Flaubert wird in dieser Konzeption zu einem literarischen Kameramann, zu einem Autor, der die Registratur des technischen Apparats mit den Mitteln der Sprache einholen will. Seine Romane wollen nicht Geschichten »mit Subtilitäten ausschmücken«, sondern im Gegenteil in Abstraktion von diesen Ausschmückungen auf eine substanzielle Qualität der Romanform kommen. Das cinéma d’auteurs sucht gleichfalls nach einem genuinen Kino, das sich vom Thema, von der Geschichte nicht fesseln lässt.

Es ist bezeichnend für Godard, dass er sich dieser Debatten im Detail entschlägt, indem er seinen Begriff von Sujet so offen fasst, dass er im Grunde die gesamten möglichen Vorlagen des fotografischen Mediums Film enthält. Er operiert mit einem Arsenal von Begriffen, deren Bedeutung er in der Schwebe hält. Das, was eigentlich gemeint sein könnte, verschwindet hinter vielfachen Ansätzen. In der personellen Streitsache aber bezieht Godard eindeutig Position: Er ist für Hitchcock und damit auf der Seite der kritischen Minderheit, die sich als Avantgarde versteht und ihre Vorreiterrolle in den Dienst der Verteidigung einer neuen Klassizität stellt, die sie als eigentlich modern vertritt.

In seinem zweiten großen Text des Jahres 1952 provoziert Godard neuerlich explizit und schon mit dem Titel. Verteidigung und Darlegung der klassischen Einstellungsfolge22 kann nicht anders als gegen André Bazin gerichtet verstanden werden, der in seinem Aufsatz über Die Entwicklung der Filmsprache das vor allem in Orson Welles’ Citizen Kane