Hemma und Elisabeth Manndorff

DAS HERMANN HESSE I GING

Die Würde des Geistes und der Sinn der Welt

Inhaltsverzeichnis

Hermann Hesse und das I Ging

Hermann Hesse

und Gottfried Wilhelm Leibniz

„Das Glasperlenspiel“ und Wissendes Sein

Die Heiligkeit der Reinheit

1. Zeittafel

2. Buchstaben und Zahlen als Rückgrat der Sprache

3. Der Name Hermann Hesse

4. Calw und der 2. Juli 1877

5. Hermann Hesse-Trigramme

6. Hermann Hesse-Musterlexikon

7. Das Hermann Hesse-I Ging

Anhang:

Notizen zur Wissenschaftstheorie:
Von Llull zu Leibniz, Frege, Carnap
Russel und Wittgenstein.

Literatur

DDr. Elisabeth Manndorff (geb. 1948) hat sich schon in frühen Jahren, angeregt durch die Lektüre von Hermann Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“, für das I Ging interessiert und beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten mit der Vertiefung in die Gedanken dieses alten chinesischen Weisheitsbuches.

Über zwanzig Jahre hat sie dazu Vorträge und Seminare gehalten. Die Verbindung zur Sprachphilosophie mit Methoden der Wahrheitssuche im Wort, sowohl bei Ramon Llull als auch bei Gottfried Wilhelm Leibniz, und die Mustersuche zu Erfahrungen der Wirklichkeit bildeten ein Forschungsthema neben dem Studium der Geschichte (Schwerpunkt Mittelalter und christlicher Transkaukasus) sowie Volkskunde (Institut für Europäische Ethnologie) an der Universität Wien.

Hermann Hesse und das I Ging

Das vorliegende Buch richtet den Blick auf Interessen von Hermann Hesse an chinesischem Denken und Philosophie: Im Fokus steht sein Zugang zum I Ging1, einem alten und ehrwürdigen chinesischen Weisheitstext, dem „Buch der Wandlungen“. Es ist dies ein im Allgemeinen noch wenig bekannter Aspekt, der sich auf Anregungen im letzten großen Roman von Hesse Das Glasperlenspiel bezieht.

Die hier angebotene Perspektive bespricht im Rahmen der umfassenden, vielseitigen Hesse-Forschung somit einen Nischen-Bereich und ergänzt in spezifischen Standpunkten die Einsicht in manche Fragen.

In den Schriften des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) erkannte Hesse dessen Staunen über das binär angelegte philosophische Weltmodell des I Ging. Mehr dazu erfuhr er, als der evangelische Missionar Richard Wilhelm mit der Hilfe chinesischer Gelehrter das Tao Te King und dann auch das I Ging ins Deutsche übersetzte2. Hesse vertiefte sich in diese Wurzel und Quelle von Lao-Tse und Konfuzius3. Es mag das I Ging wohl trotz seines schwer verständlichen und gar nicht leicht zugänglichen Symbolkreises von Allem, von der Würde des reinen Geistes und dem Sinn der Welt kristallklare Antworten auf die Wegsuche von Hermann Hesse zur Yin- und Yang-Verbundenheit im Idealbild der irdischen Situation gegeben haben.

Ein Zurückgehen auf die ursprüngliche Reinheit des Menschseins und das Erkennen der Keimsituation von Wegführungen aus diesem Idealzustand erkannte Hesse in den Lehren des I Ging mit Anleitungen zur Arbeit an der Vervollkommnung des Menschen4.

Auf dieser Ebene vertritt das I Ging mit seinem ordnenden Aufbau in modernem, geistes- und naturwissenschaftlich bestätigten Sinn eine ethische Orientierung; Gefühl und Verstand, wissendes Sein und Kenntnisse sowohl in rationalen als auch emotionalen Aussagen berücksichtigend. Der kontinuierliche Wandel grundlegender Gegebenheiten findet deshalb in den Sprachbildern der Hexagramme des I Ging zu Aussagen, die eine freie Wahl der richtigen Entscheidungen begünstigen5.

Ursula Chi schreibt, daß Hesse sich nicht nur literarisch und philosophisch mit dem I Ging beschäftigte – er hat sich vor allem auch die Raum und Zeit überwindende „Wirklichkeitserfassung“ vom Buch der Wandlungen zueigen gemacht6. Indem das I Ging die natürlichen ebenso wie demgegenüber widernatürliche Bewegungen beobachtet und erkennt, kann es dabei unterstützen, Fehler in allen Bereichen des täglichen Lebens zu vermeiden. Das I Ging gilt deshalb als Buch der praktischen Anleitung zur Lebensweisheit und ist in diesem Sinn weit über eine bloße Orakelfunktion hinaus aktiv zur chaosvermeidenden Gestaltung des Daseins nutzbar.

Freundschaftlich verbunden mit Richard Wilhelm sah Carl Gustav Jung im I Ging ein synchronistisches Prinzip als möglichen Zugang zum Unbewußten. Heute würde man im Rahmen neuer Erkenntnisse vom Gleichklang des I Ging mit dem genetischen Code7 sprechen und weiters daraus resultierend dem direkten Verstehen von Berichten über „Endloses Bewußtsein“8.

Es gibt dazu eine Verbindung des I Ging mit jener formalen, objektivierenden Sprache, die schon von Leibniz als wesentliche Erkenntnismethode angepeilt aber nicht erreicht worden war. Im Hinblick auf die Kongruenz der binären Linienschrift des I Ging mit dem genetischen Code sind wissenschaftstheoretische Wegmarken einer Fortführung des Leibniz’schen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert von besonderer Relevanz.

Hermann Hesse hat in seinem Roman „Das Glasperlenspiel“ diese geistigen Konzepte als klärende Antworten auf vielfältige Fragen seiner Zeit gesehen. Darüber hinaus blickte er voraus in die Zukunft, insbesondere in das 21. Jahrhundert; das ist die heutige Gegenwart mit den Problemgeschehnissen in aller Welt. Verbunden mit dem I Ging ist es nicht allein die „Weltzeichensprache“ als Friedenswerkzeug, das Hermann Hesse auf der Suche „nach dem Vollkommenen“ als wesentlich erkennt. Ganz wie Leibniz fordert er das reine Sein ohne eine Entwertung von Worten. Somit entstand mit dem Roman Das Glasperlenspiel in zwölfjähriger Arbeit eine feinsinnige Komposition zum I Ging, das uns heute in seiner universalen und auch zeitlosen Gültigkeit wichtig geworden ist.

Hermann Hesse und das I Ging offenbaren sich also in einem unserer Zeit angepaßten Erklären und Lehren. Es sind in dieser Verbindung erstaunliche Entdeckungen in den Sinn- und Wissensahnungen von Hermann Hesse möglich, die uns den Zugang zu einer vorbildlichen Einheit von Yin- und Yang, von Seele (oder fortlebenden wissenden Sein) sowie Geist ermöglichen.

Das Glasperlenspiel zeigt uns „die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie“9 schreibt Ursula Chi – zugleich spricht es von einem erhabenen und ‚überwirklichen’ Ziel einer Menschheit, die sich als Familie und Einheit auf Erden bewährt.

1 In diesem Buch wird noch die alte Schreibform nach Richard Wilhelm beibehalten – heute hat man sich, insbesondere in der wissenschaftlichen Bearbeitung, auf die Umschrift Yijing geeinigt, die somit die frühere Schreibform ersetzt.

2 Vgl. Lao Tse: Tao Te King. Übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm (1910). Düsseldorf/Köln 1952. Wilhelm, Richard: I Ging. Das Buch der Wandlungen. Jena 1924. München 221995. Der Eugen Diederichs Verlag legte damit den Grundstein für die breite Rezeption im Westen mit der Übertragung in weitere Sprachen, u. a. ins Englische. Vgl. weiters Hesse, Hermann: Eine Bibliothek der Weltliteratur. Stuttgart 1964, S. 48f.

3 Vgl. Limberg, Michael: Vortrag im Rahmen eines Seminars der Evangelischen Akademie Bad Boll (30.8. bis 2.9. 2001: Hermann Hesse in Bad Boll — Die Krise als Chance): „Begegnung mit östlichem Denken. Hermann Hesse und Richard Wilhelm“: Siehe S. 12
hesse.projects.gss.ucsb.edu/papers/HH+Wilhelm.pdf - zuletzt gelesen am 24. 7. 2019.

4 Vgl. Chi, Ursula: Die Weisheit Chinas und das >Glasperlenspiel<. Frankfurt am Main 1976, S. 188.

5 Vgl. ebd., S. 84.

6 Ebd., S. 83.

7 Vgl. Schönberger, Martin: Verborgener Schlüssel zum Leben. Weltformel I-Ging im genetischen Code. Frankfurt am Main 1977.

8 Vgl. Lommel, Pim van: Endloses Bewußtsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. München 2018.

9 Chi, Ursula: Die Weisheit Chinas und das >Glasperlenspiel<. Frankfurt am Main 1976, S. 214.

Hermann Hesse und Gottfried Wilhelm Leibniz

Es mag Hesse-Lesern gar nicht besonders vertraut sein, aber zwischen den beiden Männern herrschte eine enge geistige Verwandtschaft.

Wie viele Schriftsteller vor und nach ihm hat Hermann Hesse über manche seiner Vorbilder und Impulsgeber nicht viel ausgesagt. Doch in seinem großen Spätwerk zum ‚Glasperlenspiel’ sind sowohl die Einflußlinien von Leibniz und dessen Vorläufern wie auch Nachfolgern neben dem I Ging als Impulse verewigt.

Die Zeichensprache und Grammatik des Glasperlenspiels10, bei Hesse zur intellektuellen, hochentwickelten Geheimwissenschaft erhoben, trägt alle Merkmale der ehrgeizigen Pläne von Leibniz zur Schaffung von Raum und Zeit ordnenden Strukturen der Welt via scientia universalis – einer allumfassenden Wissenschaft, die in einer weltvereinenden Verständigung durch eine höherwertige friedenschaffende Sprache namens characteristica universalis11 selbsttätig wirkt und gedeiht.

Die vielseitigen und herausragenden Leistungen in unterschiedlichen akademischen Disziplinen zeichnen den Juristen, Diplomaten, Mathematiker, Historiker, Sprachwissenschafter und Erfinder Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) als einen außerordentlichen und schöpferischen Denker aus, dem in der deutschen Geistesgeschichte ein besonderer Rang zukommt. Er war mit der Gelehrtenwelt seiner Zeit in umfangreichen Korrespondenzen verbunden und bestrebt, als Wissensorganisator eine mathematisch-naturwissenschaftliche ‚Societät’ zu begründen.

Getrieben von rastloser Schaffenskraft hat Leibniz zu ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern Entwurf um Entwurf verfaßt – seine Ideen wurden manchmal zu spät geliefert, dann waren sie nicht finanzierbar oder bisweilen auch nicht konsequent genug durchdacht. Mißerfolge haben Leibniz aber nicht entmutigt, sondern zu weiteren Geistesflügen angeregt. In seinen Projekten zur Mechanisierung des Rechnens fokussierte Leibniz Gedanken auf ein binäres Zahlensystem das lediglich zwei Charaktere kennt, nämlich die Null und die Eins; das wird als entscheidender Schritt für die Entwicklung des Computers genannt12.

Sein großes Lebenswerk, das logische Erkenntnissystem characteristica universalis, sollte die Sprache und Begriffswelt so objektivieren, daß es Differenzen oder Mißverständnisse auch unter den Konfessionen vermeiden würde – doch Leibniz hat es nie fertiggestellt. Es ist bemerkenswert, daß es nach Leibniz im 19. und 20. Jahrhundert auch George Boole, Charles Sanders Peirce, Gottlob Frege13, Rudolf Carnap, Bertrand Russell sowie Wittgenstein nicht gelungen ist, diese kognitive Methode zu vollenden. So verwundert es nicht, daß Hermann Hesse im Glasperlenspiel die technischen Details zur Begriffssprache des Leibniz eher verschleiert und verbirgt, denn fiktiv ausarbeitet und als Ergebnis vorstellt. Es ist die anregend-verhüllende literarische Darstellung eine vernünftige Entscheidung.

Die thematische Verschränkung mit dem I Ging ist außerordentlich bemerkenswert. In Europa wurde das I Ging durch eine Teilübersetzung (1687) von Richard Couplet bekannt. Leibniz reagierte erstaunlich rasch: Sogleich erfaßte er die hohe ethische Bedeutung des I Ging und sah die dyadische (binäre) Linienschrift der 64 Hexagramme als frühen Vorläufer seiner eigenen Gedanken. Am Austausch von Wissen immer lebhaft interessiert, versuchte er durch die Korrespondenz mit Jesuiten in Peking mehr über das I Ging zu erfahren14.

Die Kongruenz der 64 I Ging-Hexagramme mit dem genetischen Code wurde erst nach dem Tod von Hermann Hesse in den 1960er Jahren bekannt, wissenschaftlich untersucht und nachgewiesen15. Diese Tatsache stellt nunmehr alle Ahnungen und Ansprüche, die Hesse mit dem Glasperlenspiel verband, in einen neuen fachlichen Zusammenhang.

Gewiß war es für Hesse interessanter, in dieses etwas undeutliche, noch verschwommene Bild der Leibniz-Ideen und auch der Dyadik des I Ging einzutauchen, ohne beides zu entschleiern. Leibniz hat sich übrigens vor allem auf die Ars Magna des Ramon Llull (1232-1316) gestützt. Der katalanische Theologe und Philosoph wollte mit seiner Ars Magna eine perfekte philosophische Sprache schaffen, mit der man ‚Ungläubige bekehren’ kann16. Insgesamt hat Ramon Llull inhaltlich bedeutsame Werke in beeindruckender Vielzahl und hoher geistiger Qualität hinterlassen17 – die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg (Breisgau) gründete ein Raimundus-Lullus-Institut und übersetzt sowie bearbeitet dort seine Bücher. Auch an der Universität in Barcelona18 und Palma de Mallorca wird der umfassende Nachlaß von Llull wissenschaftlich betreut.

Zu den Anhängern von Llull, Lullisten genannt, zählte Nikolaus von Kues (1401-1464), Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494), Johannes Reuchlin (1455-1522), Giordano Bruno (1548-1600) u. v. a. mehr. Llull hat eine intellektuelle und religiöse Brücke zwischen Abendland und Orient geschaffen, die eine Spannung zwischen verschiedenen Zentren betonte. Der Lullismus19 wurde als philosophischer Stimulus aufgenommen und weitergetragen.

Auf diesem reichen Nährboden hatte Hermann Hesse eher die Mühe, sich nicht zu dichte Anleihen zu nehmen und Personen sowie Handlungen in seinen Werken dem eigenen Denken und der eigenen Erfahrung anzupassen. Ganz gewiß aber läßt sich feststellen, daß der Bogen von Llull über Leibniz und dann auch noch nach China zum I Ging eine absolut ideale Anregung bot. Mit diesem Dreiklang konnte Hesse in seinem Magnum Opus zum Glasperlenspiel eine Komposition schaffen, die seinem Idealbild, seiner innersten Auffassung von wahrscheinlichen Zusammenhängen der Ethik mit wirklichem Menschsein entsprach.

Hesse fühlte sich dem fernen Llull und auch dem näheren Leibniz hinsichtlich deren Lebensläufen und Fremdheitsempfinden in der Gesellschaft ihrer Zeit wohl sehr verbunden – er kannte deren Unverstandensein und das Leid der ungewürdigten Leistung aus den eigenen, schon früh erlebten Kränkungen. Und während der Historiker sich ganz in die Quellen vertiefen darf, um dort Belege für geistige Prozesse zu suchen, bewegt sich der Schriftsteller im weiten Feld der eigenen Deutung und der Auslegung von einigen zugänglichen Angaben weit ungeschützter sowie vor allem ungesicherter, dafür aber viel freier.

Die Kommentare20 zu den I Ging-Hexagrammen zu lesen ist fordernd. Es war für die Architektur des großen Romans zum Glasperlenspiel reizvoll, das I Ging als ein nicht unbedingt leicht zugängliches und damals noch unvertrautes Terrain direkt anzusprechen. Was die geniale Linienschrift des I Ging – nämlich im Hexagramm – erbbriefgerecht auszusagen vermag, ist keineswegs mühelos in verständliche Texte zu fassen. Zudem mußte man angesichts der Wilhelm-Übersetzung doch mit einer relativ langen Einarbeitungszeit für das tiefere Durch-denken der eigentümlich geschriebenen Hexagramm-Kommentare rechnen.

Die Bindung der Linienschrift an das I Ging ist für das heutige Verständnis, für die sprachwissenschaftliche Deutung und für den philosophischen Kontext keinesfalls bestimmend an die Orakelfunktion gebunden. Die Möglichkeit, das I Ging aus dieser Sicht zu nutzen besteht genauso wie zuweilen das ‚Bibelstechen’ als Praxis erwähnt ist.

Hingegen wäre die Linienschrift des I Ging aus dem universalen Bedürfnis unserer Zeit im breiteren Vokabular, Themenbereich und Beziehungssystem neu zu definieren – und zwar in einem exakten, überprüfbaren Status. Der von Hesse geahnte Bezug von sehr dichter Verflechtung einer mathematischen Sprache, also einem rechnenden Denken mit Musik sowie dem Allwissen des Bewußtseins, erinnert ungemein an Leibniz, den Hesse im Roman Das Glasperlenspiel ja auch tatsächlich, gleich eingangs (vgl. S. 13) erwähnt. In jeder Hinsicht kommt das I Ging wichtigen persönlichen Erfahrungen von Hesse entgegen, die er präziser zu formulieren sucht um sich das Verständnis dafür zu erschließen: Basisfragen zu Yin und Yang in ihrer komplexen Ergänzungsfunktion sind notwendigerweise ständig zu wiederholen, um ein langsames Fortschreiten im Denken und daraus resultierend einen spürbaren Reifezustand anzustreben.