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Arne Buggenthin

1842

Der große Brand von Hamburg

Historischer Roman

Buggenthin, Arne : 1842. Der große Brand von Hamburg, Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe 2019

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-711-4

Print: ISBN 978-3-86282-709-1

Lektorat: Lea Oussalah, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © Fire of the church Saint-Pierre, in Hamburg, vintage engraving, von Morphart; Hintergrund: © Background from an old burning paper, von ulza

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Vorbemerkung

Plätze und Straßennamen

Das alte Hamburg, wie es in diesem Roman beschrieben wird, hat sich seither nicht nur durch den großen Brand stark verändert.

Angefangen mit dem für die Stadtgeschichte einschneidenden Ereignis des Brandes, über die industrielle Revolution, der Eingemeindung der Vorstädte, den stetigen Ausbau des Hafens, bis hin zum Feuersturm im Zweiten Weltkrieg.

Hamburg ist seitdem um ein Vielfaches gewachsen und hat so einiges über sich ergehen lassen müssen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Speicherstadt, für deren Bau zwischen 1883 und 1927 zwei Wohnquartiere dem Erdboden gleich gemacht wurden. Heute erinnern nur noch die Namen an die ehemaligen Viertel, in denen hauptsächlich die Hafenarbeiter mit ihren Familien wohnten. Die Elbinsel Kehrwieder, der Wandrahm und der Brook. Reiche Kaufleute waren zur Zeit des Abrisses dort nicht mehr zu finden, denn der Gestank des Hafens hatte sie schon früh in entferntere Stadtteile umziehen lassen.

Ist im Roman vom Pferdemarkt die Rede, war dieser damals noch nicht auf St. Pauli angesiedelt – das gehörte noch gar nicht zu Hamburg. Zu damaliger Zeit lag dieser so ziemlich genau an der Stelle, an der sich heute der Gerhard-Hauptmann-Platz befindet, am Ende der Spitaler Straße. An die im 14. Jahrhundert erbaute Gertrudenkapelle, die nur ein paar Häuser entfernt stand, erinnert heute nur noch der Gertrudenkirchhof.

Das alte Rathaus, das den Flammen geopfert wurde, lag, zusammen mit der alten Börse, direkt an der Trostbrücke am Nikolaifleet. An dieser Stelle steht heute das Haus der Patriotischen Gesellschaft und an die alte Börse erinnert lediglich der Straßenname.

Viele Straßen, die im Roman erwähnt werden, bestehen in ihrem Verlauf noch genauso wie im Jahr 1842, auch wenn das heutige Umfeld mit den damaligen Gegebenheiten nicht mehr zu vergleichen ist. Der Hopfenmarkt war zur Zeit des großen Brandes der wichtigste Marktplatz in der Hansestadt. Heute ist er zu einem kleinen, ungepflegten Stückchen Grün direkt neben der Willy-Brand-Straße an einem Ende der Fußgängerbrücke verkommen. Im Gegensatz dazu sind große Teile der Deichstraße erhalten geblieben, und der Jungfernstieg erstrahlte schnell wieder in seinem alten Glanz. Auch die Holzbrücke, die in der Geschichte eine Rolle spielt, und die Katharinenstraße auf dem Cremon, in der Marie gewohnt haben soll, sind bis heute erhalten.

Eid der Sprützenleute bey der General–Feuer-Casse

Ich lobe und schwöre zu Gott dem Allmächtigen, daß ich bey Tag und Nacht, sobald ich die Sturmglocke schlagen höre, oder sonst Nachricht bekomme, daß ein Feuer in der Stadt, in St. Georg oder auf dem Stadtdeiche entstanden, an den Ort, wo die mir angewiesene Sprütze oder Zubringer stehet, auf das schleunigste mich hinverfügen und wenn zum Feuer angerückt wird, die baldige Löschung desselben mir alles Ernstes angelegen seyn lassen will. Was mir von den Herren der Feuer–Cassen-Deputation und den Sprützen-Meistern befohlen wird, dem will ich nach meinen äußersten Kräften und Vermögen treulich und gehorsamlich Folge leisten; auch ohne Vorwissen meines vorgesetzten Sprützen-Meisters keine Nacht vom Stadtdeiche bleiben. Solange an mir die Reihe des Menschenretter-Dienstes ist, will ich mich diesem Geschäfte mit Lust und Eifer weihen und zur Hülfe der in Gefahr schwebenden Leute, mit möglichster Anstrengung und nach besten Kräften beytragen, auch mich sonst in Allem den mir zugetheilten Instructionen gemäß verhalten.

So wahr mir Gott helfe!

2. Mai

Marie hob den rechten Arm und trocknete sich mit dem hochgeschlagenen Ärmel die schweißnasse Stirn ab. Sie stöhnte. Ein erschöpftes Geräusch, tief aus ihrer Brust.

Vor Monaten, an ihrem ersten Tag im Waschhaus, hatte sie den Fehler begangen, ihre brennenden Augen mit den vor Seifenlauge tropfenden Händen zu reiben. Eine Lektion, die sie nie vergessen würde.

Es waren Frauen unterschiedlichsten Alters, die hier im Waschhaus arbeiteten. Kräftige Mädchen, die fast noch Kinder waren, und ältere, erstaunlich zähe Wäscherinnen standen nebeneinander und tauchten die Stoffe mit harten Holzstangen in die Laugenbäder.

In der heißen, feuchten Luft war es unmöglich, etwas anderes als die leichteste Kleidung zu tragen. Dünne Röcke, knappe Blusen. Unterwäsche störte nur. Die Haare mit Tüchern hochgebunden, aus denen der Schweiß den Nacken hinunterlief. In dieser Uniform sahen sich die Wäscherinnen so ähnlich, als gehörten sie alle zu einer Familie, die gemeinsam dazu verdammt war, auf ewig in einer dampfenden Vorhölle zu leiden.

Meistens waren es die jungen Frauen, die plötzlich wankend und stolpernd zusammenbrachen und nach draußen auf den Gnadenhof gebracht werden mussten. Die älteren Wäscherinnen dagegen waren erstaunlich zäh. Halb blind und lederhäutig hatten sie das Waschhaus zu ihrer Welt gemacht und würden nur durch den Tod daraus vertrieben werden.

Ein derartiges Leben wollte Marie um jeden Preis vermeiden und sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie es niemals so weit kommen lassen würde. Doch die Tage vergingen und Wochen wurden zu Monaten, während ihre Hoffnungen seltsam vage und kraftlos wurden.

Ja, sie musste das Waschhaus verlassen. Aber wohin sollte sie gehen? Sollte sie auf dem Land einen Bauern suchen, der sie zur Frau nahm, und auf den Feldern arbeiten? Sollte sie in einer anderen Stadt, in einer großen Näherei verkommen oder ihren Körper an irgendeiner Straßenecke verschachern? Manchmal, in Momenten der Verzweiflung, dachte sie sogar daran, in das Waisenhaus zurückzukehren, durch dessen Tore sie vor Jahren in die Welt getreten war. Sicher würde man sie als Angestellte dort willkommen heißen.

»He! Wäscherin!«

Ein harter Holzstab stieß ihre Schulter an. Sie drehte sich um und sah hinauf in das Gesicht der Waschhausmutter.

Die kräftige, alte Frau war eine strenge Aufseherin. Hohe Wangenknochen und eine schwarze Augenklappe auf der rechten Seite ließen ihr Gesicht unheimlicher erscheinen, als sie es eigentlich war. Viele der Mädchen hatten Angst vor ihr, aber Marie gehörte nicht dazu. Mit der Waschhausmutter setzte man sich nicht zusammen, um Scherze zu treiben, aber man wurde von ihr auch nicht gemein behandelt oder bekam Arbeit zugeteilt, die einem über die Kraft ging, und das war an einem Ort wie diesem eine Menge wert.

»Das Tuch wird nicht sauberer, auch wenn du es bis Sankt Nimmerlein tauchst.« Die Alte zeigte mit einer müden Bewegung ihres Stockes auf den langen Gang zum Gnadenhof. »In die Sonne damit.«

»Ich geh ja schon.« Marie holte das große Laken wie ein Fischernetz ein und rollte es zu einem tropfenden Ballen zusammen.

»Und halte dich nicht länger als nötig damit auf.«

Marie wanderte, den schweren Wäscheberg in einem Korb tragend, durch den verwinkelten Gang, der ans Tageslicht führte.

Der Gnadenhof war ein gepflasterter Platz, auf drei Seiten von mannshohen Mauern umgeben.

Die Leinen, auf denen die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde, waren in den unterschiedlichsten Höhen gespannt worden. Manche von ihnen konnten die Frauen nur mit der Leiter erreichen. Den neuen, unerfahrenen Wäscherinnen geschah manchmal das Missgeschick, dass ein sauberes Laken von der Leine fiel und im Dreck landete. Doch abgesehen vom Hohn und Gelächter der anderen Frauen gab es dafür keine Strafe. Die zusätzliche Zeit über den dampfenden Becken lehrte den Pechvogel, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein.

Seinen Namen trug der Gnadenhof zu Recht. Es war ein kostbares Geschenk, kühle Luft atmen zu dürfen und den freien Himmel sehen zu können. Deshalb ließ sich Marie trotz der Ermahnung der Waschhausmutter ein wenig Zeit mit dem Aufhängen.

Außer ihr und einer der anderen Wäscherinnen, Gesche mit Namen, war der Platz leer. Vom entfernten Lärm des Rödingsmarktes abgesehen, lag eine träge Stille über dem Hof.

Gesche war ein schwerfälliges, unattraktives Mädchen. Manchmal verschwand sie spurlos, um dann schließlich weinend in einer Ecke sitzend gefunden zu werden. Schlimmer aber noch waren ihre Anfälle, wenn das Mädchen zuckend auf dem Rücken lag und mit glasigen Augen hinauf in den Himmel starrte, als erwarte sie eine Antwort von dort oben. Auch Marie hätte gern gewusst, was sich Gott dabei gedacht hatte, einem Menschen so viel Last auf die Schultern zu laden. Eigentlich sprach alles dagegen, dass Gesche an einem derart anstrengenden Ort beschäftigt war. Aber das Mädchen hatte die Waschhausmutter angefleht, ihr diese Arbeit nicht zu verweigern.

Sorgfältig klemmte Marie den Stoff mit groben Holzklammern fest. Als sie fertig war, streckte sie sich erschöpft. Die Schultern zurückgezogen, stand sie im Schatten der großen Laken und genoss den leichten Wind, der um ihre Beine strich. Den Schauer, den sie empfand, als die Kälte unter ihren Rock kroch, nahm sie gern in Kauf.

»Wunderbar, nicht wahr?«

Marie blickte zu Gesche hinüber.

Das Mädchen lächelte breit, was sie nicht schöner machte, ihr aber diese gewisse Wärme gab, die zufriedene Menschen ausstrahlten.

»Die Sonne … und der Wind.«

Marie nickte. »Ja, der Wind ist herrlich.«

Bisher hatte sie Gesche immer nur als ein bedauernswertes Geschöpf gesehen, dessen bloßer Anblick einem den Tag verdarb. Auf einmal festzustellen, dass dieses Mädchen sich an denselben einfachen Dingen erfreuen konnte wie sie, war seltsam berührend. Und ohne es eigentlich zu wollen, antwortete sie ihr mit einem Lächeln.

Marie nahm ihren Korb auf und schlenderte zum Eingang zurück. Mehrere Wäscherinnen kamen nun auf den Gnadenhof hinaus. Unter ihnen befand sich auch Catharina. Eine herzlose junge Frau, doch schön wie ein Gemälde.

Vom ersten Moment an hatte es eine gereizte Spannung zwischen Marie und ihr gegeben. Erstaunlicherweise schien sie jedoch bei den anderen Frauen sehr beliebt zu sein.

In der Hierarchie des Waschhauses hatte Catharina einen begehrten Platz errungen, denn sie durfte sich um die feinen Stoffe der reichen Kunden kümmern. Ihr schlug kein heißer, beißender Dampf entgegen, und ihre Hände fuhren nur durch lauwarmes Wasser, das mit milder Seife versetzt war. Einige der älteren Wäscherinnen nannten sie hinter ihrem Rücken eine dumme, kleine Prinzessin. Dennoch wagte es keine, sich mit ihr anzulegen.

Marie verspürte den Wunsch auszuweichen, als sie Catharina näherkommen sah, zwang sich aber dazu, den einmal eingeschlagenen Weg beizubehalten. Sie kannte diese Art Menschen aus dem Waisenhaus. Auch dort hatte es Mädchen gegeben, die ständig Ärger machten. Sich zurückzuhalten und ihnen aus dem Weg zu gehen, nützte nichts. Das Beste war, ihnen zu zeigen, dass man keine Angst hatte.

Die beiden Frauen begegneten sich knapp vor dem Eingang des Waschhauses. Die Prinzessin wurde von ihrem lachenden, plappernden Hofstaat begleitet und schien sich gut zu amüsieren. Sobald sie jedoch sah, wer da auf sie zukam, bohrte sich ihr Blick in Maries Augen.

»Guten Morgen, Marie.« Die Stimme klang so kalt, dass es niemanden gewundert hätte, wenn ihr Atem zu sehen gewesen wäre.

»Catharina.« Marie nickte knapp.

Dann waren sie aneinander vorbei und das Lachen und Tuscheln setzte erneut ein.

Gott, dachte Marie, wie ich diese Weiber hasse.

So befreiend es war, auf den Gnadenhof hinauszudürfen, kostete sie der Rückweg doch jedes Mal Überwindung. Die schwüle Hitze im Inneren des Gebäudes umschloss sie und der Schweiß begann erneut zu fließen.

Ohne zu zögern trat Marie an den Berg aus schmutziger Wäsche heran, der sie in den ersten Tagen ihrer Arbeit so angeekelt hatte. Sie nahm das oberste Laken herunter und tauchte es ein. Langsam wurde der steife, verdreckte Stoff weicher und heller. Ihre Gedanken verließen sie, zogen sich an einen Ort zurück, an dem es keine dampfenden Bottiche und keine schmutzige Wäsche gab. Ihr Körper führte die Arbeit aus, aber ihr Geist war zurückgekehrt, zum freien Himmel.

Wie viel Zeit verging, konnte sie nicht sagen, oder was es war, das sie aufmerken ließ. Sie sah sich um, unschlüssig, was sich verändert hatte, was nicht so wie immer war. Keine der anderen Frauen schien etwas bemerkt zu haben. Stumm, mit gleichmäßigen Bewegungen kamen sie ihrer Arbeit nach. Dann hob eines der Mädchen den Kopf. Ihre suchenden Blicke trafen sich. Der Geruch im Gebäude hatte sich unmerklich verändert. Es roch nach Rauch.

Marie stand auf und versuchte, in dem wallenden Dampf etwas zu erkennen. Dann sah sie es. Dunkler Rauch quoll unter der Tür zum Lagerraum hervor.

»Feuer …« Marie sprach das Wort fast fragend aus, als müsse sie sich erst davon überzeugen, dass sie nicht irrte. Dann wurde ihre Stimme fester. »Feuer! Es brennt im Lagerraum!«

Köpfe hoben sich, leere Gesichter belebten sich. Die Waschhausmutter kam mit schnellen Schritten heran. Sie stellte sich neben die Tür und stieß sie mit ihrem Holzstab auf. Eine Flammenzunge sprang fauchend aus dem Raum.

»Kommt schon, Mädchen«, rief sie. »Jede greift sich einen Wassereimer.«

Einige der Wäscherinnen wichen ängstlich zurück, aber die meisten traten der Gefahr ruhig und besonnen entgegen. In der feuchten Luft konnten sich die Flammen nicht lange halten. Ein rauchiger Gestank und geschwärzte Wände waren alles, was schließlich von dem Feuer übrigblieb.

»Also schön, zurück zur Arbeit.« Die Waschhausmutter machte eine ungeduldige Geste. »Der Gestank zieht schon heraus. Kommt, kommt, macht weiter.«

»Wie ist das passiert?«, wollte eine der Wäscherinnen wissen.

Marie hob die Schultern und ging an ihre Arbeit zurück.

In einer so engen, so dunklen Stadt war das Bedürfnis der Menschen nach Licht und Wärme allgegenwärtig. Überall brannten Öllampen, wurden Öfen beheizt. Die Häuser, zum größten Teil aus völlig ausgetrocknetem Holz gebaut, waren jedem Funken, jeder Flamme ausgeliefert, die zufällig oder aus Achtlosigkeit entstand.

Als Kind hatte sie einmal eine Illustration in einem Buch gesehen, die einen prächtigen Engel darstellte. Eine wunderschöne Gestalt, ganz aus Licht und Rauch und göttlicher Liebe gemacht.

Möglicherweise schwebte ja ein mächtiger Schutzengel über Hamburg, weil es eine so gute und gottesfürchtige Stadt war.

Marie seufzte. Aber wie gut und gottesfürchtig konnte eine Stadt schon sein, dachte sie, in der es derart schmutzige Wäsche gab.

»Sieh mal einer an!«, rief Tante Metta, als Adam die enge Treppe herunterstieg. »Hat der gnädige Herr sich endlich dazu entschlossen aufzustehen.«

Die Vormittagssonne erhellte den kleinen Raum nur zur Hälfte. Während Adams Vater unter dem Straßenfenster im Hellen seiner Arbeit nachkam, kochte Metta in der dunklen Küchennische ihren Eintopf. Über ihr hingen Topflappen und getrocknete Kräuter an einer gespannten Schnur, zu ihren Füßen standen rostige Eimer und die Kiste mit dem Feuerholz.

Tante Metta war Witwe und führte, da sie nur ein paar Straßen weiter wohnte, ihrem Bruder den Haushalt. Für ihren Neffen Adam hatte sie stets einen unerschöpflichen Vorrat an Ratschlägen parat. Dass sie sich dabei manchmal selbst widersprach, schien sie nicht zu stören. Tatsächlich konnte Metta in ihrer aufdringlichen Art nahezu unerträglich sein, dennoch war Adam dankbar dafür, dass er mit dem alten, in sich gekehrten Mann nicht ganz allein war. Lästiges Gerede, ja sogar Gezeter, war der Totenstille vorzuziehen, die zwischen Vater und Sohn herrschte, wenn sie abwesend war.

»Ein kräftiger junger Mann muss beim ersten Hahnenschrei aus dem Haus sein, weißt du das?«

»Du hast völlig recht.« Adam setzte sich an den Tisch und zog sich den Teller mit dem Brot heran. »Wenn ich einem kräftigen jungen Mann begegne, werde ich ihm ins Gewissen reden.« Er schnitt sich eine Scheibe vom Brot ab und bestrich es dick mit Schmalz, geradeso als wäre er ein reicher Mann. Dann begann er, hungrig zu kauen.

»Hörst du das?«, wandte sich Metta an Adams Vater. Ihre Stimme wurde schrill. »Hörst du, was für einen vorlauten Burschen du in die Welt gesetzt hast? Da brauchst du dich nicht wundern, wenn es einmal ein böses Ende mit ihm nimmt.«

»Lass den Jungen in Ruhe«, sagte der alte Mann, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

»Also schön. Ich habe nichts gesagt!« Metta rührte gekränkt in ihrem Topf. »Es hört mir ja sowieso keiner zu.«

Adam, der an diesem Morgen zu gute Laune hatte, um sie sich von einem unangenehmen Schweigen verderben zu lassen, wechselte das Thema. »Habt ihr schon das Neueste von der Eisenbahn gehört?«, fragte er. »Am Sonnabend ist es soweit. Dann soll es ein großes Fest geben und sie wird endlich fahren.«

»Ein schreckliches Ding!« Tante Metta schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Man erzählt sich, dass alle krank werden, die damit fahren. Eine Art Schwindsucht sagt der Apotheker.«

Der Vater schnaufte. »Ein geschwätziger Dummkopf, dieser Apotheker. Es hat schon viele Erfindungen gegeben, so wie die Eisenbahn, und immer haben die Menschen Angst davor gehabt. Aber der Fortschritt …«, er biss den Faden ab, »… lässt sich nicht verbieten.«

Adam hatte aufgehört zu kauen. Es kam nicht oft vor, dass sein Vater der Tante widersprach, und nun geschah es sogar zweimal an einem Morgen.

»Natürlich könnte man es verbieten«, beharrte Metta auf ihrer Meinung. »Wenn man es denn wollte.«

»Ich glaube nicht, dass man davon krank wird.« Adam leckte sich den salzigen Geschmack von den Fingern. »Nur der Kessel, in dem der Dampf entsteht, soll sehr gefährlich sein.«

Metta hob den Holzlöffel beschwörend in die Höhe. »Das sage ich ja. Eine Höllenmaschine.«

Draußen läuteten die Glocken von St. Petri die zehnte Stunde.

Adam leerte den Bierkrug und trocknete seinen Mund am Ärmel ab. »Ich muss mich beeilen. Jasper wird schon auf mich warten«, erklärte er und stand auf.

»Jasper! Das ist mal ein netter Junge«, meinte die Tante. »An ihm solltest du dir ein Beispiel nehmen, du missratener Bengel.«

Adam lachte. Dann sah er zu seinem Vater hinüber, der mit einem neuen Faden Stich für Stich weiter nähte. »Ich komme heute früher heim«, sagte er. »Versprochen.«

»Betrink dich nicht … und stell nichts an!«, rief Metta ihm hinterher, aber Adam war schon zur Hintertür hinaus.

Er ging über den kleinen Hof, in dessen Mitte eine alte Buche stand. Dann stieg er auf die unkrautüberwucherte Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter in die Gasse. Ein Stück des Weges ging er unter der Wasserkunst entlang, deren kühle, tropfende Rohre die Luft auf wunderbare Weise erfrischten. Dann öffnete sich die Gasse auf eine Straße, die ein wenig breiter und heller war. Adam lief zwischen den Wagen, die über das grobe Pflaster rollten, hindurch und erreichte schließlich den kleinen Platz, auf dem er sich mit dem Freund verabredet hatte.

In der Mitte des Platzes befand sich ein großer, alter Brunnen, an dem die Frauen des Viertels ihre Eimer füllten.

Jasper stand davor und goss sich kaltes Wasser über den nackten Leib. Hemd und Hose hatte er auf dem Brunnensockel abgelegt. Er schüttelte sich und lachte.

Die jungen Frauen beobachteten den nackten, frechen Kerl mit argwöhnischen Blicken, die älteren jedoch wussten die Darbietung durchaus zu schätzen und fanden anerkennende Worte für sein stattliches Gemächt.

Adam war vom Verhalten seines Freundes nicht besonders überrascht. Er wusste, dass Jasper weder Scheu noch Scham kannte, wenn es um seinen Körper ging.

»Adam! Los, komm her und nimm ein Bad!«

»Findest du es gar nicht peinlich, dich so zur Schau zu stellen?«

»Wieso denn?«, fragte Jasper arglos. »Frauen lieben es, einen schönen Mann baden zu sehen.«

Er schüttelte sich noch einmal. Dann nahm er Hemd und Hose auf und zog sich an. »Also los«, meinte er. »Lass uns gehen, sonst kommen wir noch zu spät.«

Als sie an der Wasserkunst vorbeigingen, ahnte Adam bereits, was als nächstes kommen würde. Jasper suchte sich eine der jungen Frauen aus und begann sein Spiel mit ihr. Er hielt sich, rückwärtsgehend, immer ein Stück vor ihr, bis sie ihn endlich beachtete.

»Geh mir aus dem Weg«, forderte die Frau ihn auf, denn der Eimer, den sie trug, war schwer und sie hatte es eilig.

»Das kann ich nicht.«

»Wieso nicht?«

»Ich kann es nicht. Ich kann es nicht.« Nun lief er neben ihr her, immer darauf achtend, dass sie ihn auch weiterhin ansah. »Seit meine Augen deine Schönheit erblickt haben, zwingen sie mich, dir zu folgen. Du hast einen Sklaven aus mir gemacht, du blonder Engel. Jetzt gehöre ich dir. Dir allein.«

Sie blieb stehen und sah ihn prüfend an. »Schön, dann trag mir meinen Eimer nachhause.«

Jasper wich einen Schritt zurück. »Ich würde es tun. Alles würde ich für dich tun, du wundervolles Weib. Aber …«, er hob seine Hände in einer hilflosen Geste, »… aber ich muss weiter. Ich habe keine Wahl, ich muss fort.« Sich immer wieder umwendend, beeilte er sich, Adam einzuholen, der schon ein gutes Stück weiter war.

Verärgert schickte ihm die Frau einen derben Fluch hinterher.

»Du bist ein dummes Schwein«, meinte Adam anerkennend.

»Ja, ich weiß«, antwortete Jasper gutgelaunt.

So kurz vor der Mittagsstunde wurde überall gearbeitet. Durch die offenstehenden Türen konnte man die Männer des Viertels bei ihrem Tagewerk beobachten. Bäcker kneteten Teig und Böttcher waren dabei, ihre Fässer mit flüssigem Pech abzudichten. Bei den Kerzenziehern hing die tropfende Ware zum Aushärten im Wind, während der scharfe Gestank der Gerbereien die beiden Freunde auf die andere Straßenseite trieb.

Einige Werkstätten waren nicht mehr als armselige Schuppen, in denen man nicht einmal aufrecht stehen konnte. Dort saßen alte Männer und Frauen, die Schuhe besohlten oder Körbe reparierten. Auf der Straße tummelten sich spielende Kinder und neugierige Hunde, die in allen Ecken herumschnüffelten.

»Heute soll es also geschehen?«, fragte Adam. »Dein verrückter Cousin will es tatsächlich wagen?«

»So verrückt ist er gar nicht«, entgegnete Jasper. »Er ist nur … Na ja, er hat ’ne harte Zeit hinter sich.«

»Seine Familie ist verhungert, nicht wahr?«

»Ja, das ist sie wohl.« Es war Jasper anzumerken, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte.

Schließlich erreichten sie den Sammelplatz ihrer Bande. Ein Hof mit festem Sandboden, der scheinbar vergessen zwischen hohen Lagerhausmauern lag. Aus den Fenstern einer nahen Brauerei strömte der würzige Geruch gärenden Bieres und manchmal konnte man das Quieken der Schweine hören, die hinter der Mauer zum Schlachthaus getrieben wurden.

Die Bande bestand aus einem knappen Dutzend junger Männer, die fast alle aus demselben Viertel stammten. Sie hatten sich vor Jahren zusammengetan und bisher hatte es keinen größeren Streit zwischen ihnen gegeben. Viel Geld hatten ihnen die kleinen Diebereien nicht eingebracht, aber das war damals, am Anfang, nicht so wichtig gewesen.

Eines Morgens hatten sie ein verirrtes Schwein auf ihrem Platz entdeckt. Es musste dem Tier gelungen sein, vom Gelände des Schlachthofes zu fliehen. Sie hatten ihm zu fressen gegeben, und schon nach kurzer Zeit war es zutraulich geworden. Dann war einer von ihnen auf den Gedanken gekommen, das Schwein zum Bandenmitglied zu machen. Als sie am Abend einen bevorstehenden Raubzug planten, hatte Freder die rechte Vorderpfote des Tieres gehoben und mit verstellter Stimme so getan, als würde das Schwein mit abstimmen. Sie hatten sich vor Lachen im Sand gewälzt, und Kai, der Jüngste von ihnen, hatte sich die Hose nass gemacht. Ja, dies waren die Zeiten, an die sich Adam gern erinnerte, doch seitdem hatten sich die Dinge verändert.

Die Bande war vollzählig erschienen und die beiden Freunde gesellten sich zu ihren Kameraden. Es musste sich herumgesprochen haben, dass es einen Kampf geben würde. Kinder, junge Frauen und sogar einige Seeleute, die sich in Stimmung tranken, hatten sich versammelt.

August, ihr Anführer, beriet sich mit seinen engsten Freunden. Seinen kräftigen, gebräunten Körper verdankte er den Jahren auf hoher See, denn schon als Halbwüchsiger hatte er auf einem Schiff angeheuert und Hamburg verlassen. Weshalb er zurückgekehrt war, hatte er nie erwähnt, und es hatte ihn auch niemand danach gefragt.

Victor war vor einiger Zeit aus dem Umland nach Hamburg gekommen und hatte durch Jasper, seinen Cousin, Aufnahme in die Bande gefunden. Schon bald hatte er sich über die kleinen Beutezüge beschwert, die seiner Meinung nach zu wenig einbrachten. So wurde es schließlich unausweichlich, dass es zu einem Kampf um die Führung zwischen ihm und August kam.

»Also gut«, beendete August das Warten. »Wir sind nicht zum Rumstehen hierhergekommen.« Er zog sein Hemd aus und gab es einem seiner Freunde. Seine Haut hatte die Bräune der Südseesonne nie ganz verloren. Auf dem rechten Oberarm trug er eine große Tätowierung, ein Muster von beeindruckender Schönheit.

Victor tat es ihm gleich und entblößte seinen bleichen Oberkörper. Angezogen hatte er nicht sehr kräftig gewirkt, aber jetzt mussten die Jungen feststellen, dass er ein ernstzunehmender Gegner für ihren Anführer war. Mit entschlossenen Schritten ging er zur Mitte des Platzes und wartete ab.

August stand einen Moment unbeweglich da, als würde er ein letztes Mal die Notwendigkeit des Kampfes in Frage stellen. Dann ging auch er langsam zur Mitte des Versammlungsplatzes.

Während den Kämpfern die Fäuste mit Bandagen umwickelt wurden, trat einer der Jungen, den man den blonden Jakob nannte, vor und hob die Hände.

»Die Regeln …«, rief er und senkte dann seine Stimme, denn es war so still, dass man ihn auch mit normaler Lautstärke verstand, »… die Regeln sehen vor, dass Schläge wie Tritte gleichermaßen erlaubt sind. Waffen werden nicht gebraucht. Der Kampf ist erst dann beendet, wenn einer der Gegner seine Niederlage erklärt.« Er machte eine Pause, unsicher, ob er nicht noch etwas vergessen hatte. »Oder wenn er dazu nicht mehr in der Lage ist … Also, fangt an.«

Der blonde Jakob trat einige Schritte zurück und überließ den beiden Männern den Kampfplatz. August und Victor begannen, einander langsam zu umkreisen.

Für Adam war es keine Frage, wen er sich als Sieger wünschte. August hatte bei ihren Raubzügen immer auf die Sicherheit seiner Männer geachtet. Victor dagegen würde nicht zögern, einige Mitglieder zu opfern, wenn es ihm nötig erschien.

»Au, das hat gesessen!«, zischte Jasper beim Anblick des ersten harten Schlages.

Es war eindeutig, dass Victor den stärkeren Kampfeswillen hatte. August parierte die Schläge, brachte auch selbst einige Schwinger an, aber seine Bewegungen waren schwerfällig. Es schien, als würde er nur eine lästige Pflicht erfüllen. Dennoch reichte ein beinahe zufälliger Treffer aus, um Victor zu Boden zu schicken. Mit blutender Nase blieb der Getroffene einen Moment lang liegen.

August stand nur da und starrte seinen Herausforderer an. Als er sprach, klang seine Stimme beiläufig und ruhig. »Wenn du meine Bande willst, musst du sie dir schon holen.«

Ohne etwas zu entgegnen, kam Victor auf die Beine und warf sich mit wilder Entschlossenheit auf den Gegner. Beide Männer wurden von den Füßen gerissen und stürzten auf den Sandboden. Die Menge begann, mit lauten Rufen den Kämpfer ihrer Wahl anzufeuern. August bäumte sich auf und es gelang ihm, den Gegner abzuschütteln. Von einem kläffenden Hund umkreist, standen sie sich gegenüber.

»Komm schon«, schnaufte August. »Verdien’ es dir!«

Er will den Kampf gar nicht gewinnen, dachte Adam. Er will sich entthronen lassen.

Das Blut tropfte von Victors Kinn, doch seine Augen glänzten fiebrig in Erwartung des nahen Sieges.

Dann kam der letzte Schlag, traf August an der Schläfe und schickte ihn zu Boden. Er lag wie eine umgestürzte Statue im Staub. Diesmal war es Victor, der darauf wartete, dass sich sein Gegner erhob. Aber August blieb liegen. Der Kampf war vorbei.

Victor wischte sich das Blut von Mund und Kinn, dann begann er zu lachen. Er breitete seine Arme aus, wie ein Heilsbringer, der von seinen Jüngern willkommen geheißen wird. »Lasst uns feiern!«, rief er überschwänglich. »Heute soll niemand durstig bleiben.«

Während die meisten Bandenmitglieder ihren neuen Anführer umringten, eilten einige getreue Männer zu August und kümmerten sich um ihren niedergestreckten Freund.

Die Menge der Schaulustigen löste sich langsam auf, nur die betrunkenen Seemänner versuchten, sich der Siegesfeier anzuschließen.

Adam und Jasper gingen zu dem kleinen Kreis der Getreuen hinüber. August saß erschöpft auf einem Fass und war dabei, die dreckigen Bandagen von seinen Händen zu wickeln.

»Warum hast du ihn gewinnen lassen?«, wollte Adam wissen. »Du hättest deinen Nachfolger einfach bestimmen können. Niemand hätte deine Wahl angezweifelt.«

August blickte auf. Sein geschwollenes Gesicht sah sie gleichgültig an. »Früher oder später wäre es doch zu einem Kampf gekommen. Victor hätte es immer wieder versucht.« Er warf die Bandagen zur Seite. »So ist es besser. Eine klare Entscheidung.«

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Jasper.

»Ich werd wieder anheuern«, sagte August und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte er. »Hab noch nicht genug von der Welt gesehen, um in dieser stinkenden Stadt zu versauern.«

Nachdem sie sich von dem Mann verabschiedet hatten, dem sie so lange gefolgt waren, gingen die beiden ohne Eile den anderen in Richtung Wirtshaus nach.

»Mir scheint, jeder hat bekommen, was er wollte«, meinte Jasper mit schiefem Grinsen. Wie immer sah er das Gute an einer Sache. »Victor ist unser neuer Anführer und der alte August fährt wieder zur See … Aber was meinte er mit ›stinkende Stadt‹?«

Adam musste lachen. »Was er damit meinte? Meine Güte, Jasper, die Stadt stinkt Tag und Nacht. Riechst du das denn gar nicht mehr?«

»Wasser marsch!«

Der raue Lederschlauch lag schlaff auf den Pflastersteinen. Das eine Ende war im Fleet versenkt, das andere hielt Claas tapfer in die Höhe. Dazwischen befand sich die alte Schlangenspritze, die nur noch für Übungen benutzt wurde. Die Feuerwehrmänner begannen, im Takt zu pumpen, und ein quietschendes, ächzendes Geräusch ertönte.

Claas hatte diesen Moment lange Zeit herbeigesehnt, doch nun musste er sich eingestehen, dass die Wirklichkeit sich beängstigend von seinen Tagträumen unterschied. Die starre, beinahe einen Meter lange Messingdüse lag schwer in seinen Händen. Obwohl er ein kräftiger Junge war, brauchte es eine enorme Anstrengung, den Schlauch zu halten.

Das Anpumpen des Fleetwassers dauerte länger, als er erwartet hatte. Halb enttäuscht und halb erleichtert, glaubte er schon, dass die Spritze ihren Dienst versagen würde, doch dann spürte er eine Bewegung im Schlauch. Obwohl Roter, der Spritzenmeister, ihm eingeschärft hatte, den Blick immer nach vorne zu richten, wandte er sich um und sah, wie das Wasser den Schlauch füllte. Schnell drehte er sich wieder nach vorn und hatte gerade noch Zeit, auf das Ziel zu halten, als das Wasser herausgeschossen kam.

Der Strahl schien einen eigenen Willen zu haben. Claas stemmte sich gegen den Druck, aber es war, als würde ihn eine unsichtbare Riesenhand zurückschieben. Der Wind warf ihm eine Wolke Sprühregen entgegen. Seine Hände wurden nass, sein Griff unsicher. Schon war seine Kraft verbraucht und er geriet ins Wanken. Nur sein Stolz und die Angst, sich lächerlich zu machen, ließen ihn durchhalten. Dann rutschte sein Fuß auf dem nassen Boden zur Seite und es riss ihn von den Beinen. Die lange Düse sprang ihm aus den Händen und schlug, als hätte sie ein rachsüchtiges Eigenleben, zurück. Hartes Metall traf ihn an der Brust, flog an seinem Gesicht vorbei und streifte sein linkes Ohr.

»Wasser … Halt!«

Die Männer an der Schlangenspritze wurden langsamer und langsamer, bis die Pumpstangen sich nicht mehr bewegten. Polternd und gurgelnd kamen die letzten Wasserschwalle aus dem Schlauch, dann lag er so harmlos und friedlich wie zuvor auf dem nassen Pflaster.

Claas prustete und spuckte brackig schmeckendes Wasser aus. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was geschehen war. Als das dröhnende Geräusch in seinen Ohren leiser wurde, bemerkte er den Chor der Spötter, der zu ihm herüberwehte.

»Da ist mehr Druck drauf als auf deinem kleinen Piephahn, was?«, rief ihm einer der Männer an der Spritze zu.

»Halt’s Maul, Mattes!«, befahl Roter, während er durch die Pfützen gestapft kam. Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb er vor Claas stehen. »Wo hat es dich getroffen, Junge?«

Claas rieb sich die kalte, taube Brust. »Hier.«

Mit festem Griff fühlte Roter ihm die Rippen. »Du hast Glück. Nichts gebrochen … und blaue Flecken bringen uns nicht um.«

»Nein, das tun sie nicht.« Claas wischte sich das Gesicht trocken und atmete tief ein. Der Gedanke, dass er den Spritzenmeister enttäuscht hatte, schmerzte ihn mehr als seine Rippen.

Roter strich nachdenklich über die gebräunte Haut seines kantigen, haarlosen Schädels. »Du hast dich gut gehalten«, sagte er schließlich.

Der Junge blinzelte und sah erstaunt auf. »Tatsächlich?«

»Ja. Das hast du.«

Claas war so überrascht, dass er sicherlich noch einmal gefragt hätte, doch da entdeckte er etwas, das ihm wie ein Wunder erschien. Schmerzen und Enttäuschung waren mit einem Schlag vergessen. »Roter, sieh mal.« Er deutete hinauf.

In der feuchten Luft hing ein zarter Regenbogen. Die Farben schimmerten erst schwach, dann stärker, als die Sonne durch die Wolken drang.

»Hab ich den gemacht?«, fragte Claas überrascht.

Der Spritzenmeister lachte. »Jetzt steh schon auf. Deine Wunde muss versorgt werden.«

Claas berührte vorsichtig sein getroffenes Ohr. Als er die Hand zurücknahm, klebte Blut an seinen Fingern. »Ach, ist nicht weiter schlimm«, meinte er tapfer.

»Das entscheide ich.« Der Spritzenmeister wies über den Platz zur Feuerwache. »Silbermann soll sich das mal ansehen. Dann kannst du nachhause gehen.«

Der Junge kam auf die Beine. Die nasse Kleidung klebte ihm wie eine zweite Haut am Körper. »Nachhause?«

Roter verzog keine Miene. Nichts deutete darauf hin, was er dachte. »Du kannst morgen wiederkommen. Dann werden wir eine Entscheidung getroffen haben«, sagte er streng.

»Könnte ich nicht warten, bis …«

»Willst du einem Spritzenmeister widersprechen?«, fragte Roter mit erhobener Stimme.

Der Junge sah ein, dass er sich fügen musste, und nickte schicksalsergeben. Während der nächste Anwärter den Schlauch aufnahm und sich bereitstellte, überquerte Claas den Platz.

Die Feuerwache war ein helles, aufgeräumtes Gebäude mit gefliestem Boden. Jedes Werkzeug und jedes Teil der Ausrüstung hatte hier seinen Platz, um im Fall eines Alarms griffbereit zu sein. Gleich am Eingang hing eine lange Reihe Ledereimer an der Wand. Kurze Spaten standen darunter Spalier. Claas fand, dass sie wie gehorsame Soldaten aussahen, die nur darauf warteten, dass ihnen jemand den Befehl zum Ausrücken gab.

In der Mitte des Raumes standen eine Landspritze und ein Materialwagen mit den aufgerollten Schläuchen.

An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine kleine Tür, kaum einen Meter hoch, durch die man in den Pferdestall gelangen konnte. Ab und zu hörte man, wie sich die Tiere im angrenzenden Raum bewegten.

Silbermann stand auf einer kurzen Leiter und räumte ein Regal ein. Zu alt, um den Schlauch zu tragen oder an der Spritze zu stehen, blieb er in der Feuerwache und achtete darauf, dass alles, was benötigt wurde, zur Hand war. Seine Eintöpfe und Suppen trugen dazu bei, dass die Männer bei Kräften blieben. Außerdem versorgte er ihre kleinen, alltäglichen Verletzungen.

Claas hatte großen Respekt vor dem alten Feuerwehrmann, denn es hieß, er wäre ein guter Freund und Kamerad des legendären Oberbrandmeisters Johann Georg Repsold gewesen. Doch es war nicht Heldenverehrung, die sein Herz nun schneller schlagen ließ. Es war der Anblick von Silbermanns Enkeltochter Rebecca. Sie war ein paar Jahre älter als Claas, eine junge Frau, und wenn sie in der Nähe war, hatte er nur Augen für sie. Der Glanz ihrer kupferroten Haare, das ausdrucksvolle Gesicht, die sanften Formen ihres Körpers. Ihr ganzes Wesen verwirrte und beglückte ihn auf eine Weise, die ihm bisher unbekannt war.

»Guten Tag, Herr Silbermann. Guten Tag, … Rebecca«, grüßte er, mit einer Stimme, die plötzlich unsicher und zaghaft klang.

»Ah, der junge Herr Claas. Wir haben gesehen, wie du den Schlauch geführt hast. Das war sehr respektabel. Nicht wahr, Rebecca?«

Die junge Frau nickte und lächelte.

»Ich hab was abgekriegt dabei.« Claas deutete auf sein Ohr, das angeschwollen war und vor Schmerz pochte.

»Na, dann wollen wir uns das mal ansehen.« Silbermann stieg die Leiter herunter und rückte seinen Zwicker zurecht. »Nimm Platz.«

Claas setzte sich. Silbermann nahm den Kopf des Jungen in die Hände und drehte ihn zum Licht.

»Das war wohl ein ganz schöner Schlag, was?«, fragte der alte Feuerwehrmann.

»Ich hab schon zu Roter gesagt, dass es nicht so schlimm ist«, beteuerte Claas, dem es peinlich war, dass so viel Aufhebens um ihn gemacht wurde.

»Ja, ja, aber Roter weiß es besser«, sagte Silbermann, während er sich das Ohr ansah. »Und ich auch.« Er wandte sich an seine Enkeltochter. »Hol mir bitte die Tasche, mein Schatz.«

»Ja, Großvater.« Rebecca ließ ihre Arbeit stehen und folgte der Aufforderung.

Der Alte öffnete seine Tasche, holte Fläschchen und Bandagen heraus. Er säuberte das Ohr vom Blut, tränkte einen Baumwolltupfer mit Äther und führte ihn behutsam an die Schwellung.

Claas zuckte.

»Ja, das brennt. Aber es kühlt auch. Also gut festhalten, junger Mann. Ich bereite dir jetzt eine Salbe, die dich im Handumdrehen gesund macht.«

»Mit Verletzungen am Ohr muss man vorsichtig sein«, sagte Rebecca und beugte sich vertraulich zu ihm vor.

Ihre Haut hatte eine leichte dunkle Tönung, die ihn an Lebkuchen, an Zimt und an Mandeln denken ließ, und er fragte sich, wie Rebeccas Hals wohl schmecken würde, wenn er daran leckte. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken. Er senkte seinen Blick und vermied es, die junge Frau anzusehen, aus Angst, sie könnte seine Gedanken irgendwie erraten.

»Wir sind gleich fertig«, sagte Silbermann, der die Unruhe des Jungen der unangenehmen Prozedur zuschrieb. Mit der fertig gemischten Salbe kam er zu ihnen herüber. Er nahm den Äthertupfer an sich, dann strich er die Salbe auf das Ohr.

»Das riecht gut«, meinte Claas überrascht.

Der Alte lächelte. »Alles, was dem Menschen hilft, riecht gut oder schmeckt bitter. Da ist die Natur sehr eigen«, sagte er. »So, nun muss ich dir nur noch den Verband anlegen.«

»Einen Verband? Ist das unbedingt nötig?«

»Ja. Das ist besser so.« Silbermann bandagierte das Ohr.

Claas bedauerte es, schließlich aufstehen und gehen zu müssen. Er verabschiedete sich und trat ins Freie. Dann schlug er den Heimweg ein.

Der Junge hatte es nicht eilig, nachhause zu kommen. Langsam gehend suchte er das Pflaster nach Münzen und anderen Wertsachen ab, die die Leute verloren hatten. Doch heute lohnte es die Mühe nicht. Alles, was er fand, waren alte Knöpfe und krumme Nägel. Schließlich entdeckte er am Straßenrand einen kleinen, verstreuten Haufen Brennholz, der von einem Karren gefallen sein musste. Er suchte sich einen langen, geraden Stock aus, hob ihn auf und schlug damit in der Luft herum.

Nein, Claas hatte es nicht eilig. Sein Vater, der Böttcher, kam um diese Zeit erschöpft aus der Werkstatt und seine Mutter hatte einen langen, harten Tag im Haus hinter sich. Trotzdem würden sie auch heute wieder genug Kraft aufbringen, um sich wie Hund und Katze anzugehen. Claas hatte sich damit abgefunden, dass der endlose Streit ein Teil ihres, und damit auch seines, Lebens war. Seltsamerweise hinderten diese Streitereien seine Eltern nicht daran, immer wieder für eine Vergrößerung der Familie zu sorgen. Er hatte sechs Geschwister und obwohl das Haus viel zu klein für sie alle war, rundete sich der Bauch seiner Mutter schon wieder.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, sprang Claas auf eine niedrige Fleetbegrenzung und schwang den Stock wild hin und her. Dies war die Mauer des Schlosses, das es zu erstürmen galt, und hier kamen drei, vier Feinde, die durch sein Schwert sterben oder in die Tiefe stürzen würden. Claas war bereit, sich den größten Gefahren zu stellen, denn es gab einen Schatz zu erbeuten und eine schöne Dame zu erobern. Schon drangen neue Feinde auf ihn ein. Ein Mann mit weniger Mut hätte sich geschlagen gegeben, doch er lachte nur, des Sieges gewiss.

Claas liebte abenteuerliche Erzählungen, und Seeräubergeschichten gefielen ihm am besten. Dass sie meist ein blutiges Ende nahmen, störte ihn nicht. Sogar der größte Seeräuber von allen, Störtebeker, hatte seinen Kopf unter dem Henkersbeil verloren, und das war keine Geschichte, sondern tatsächlich geschehen. Hier ganz in der Nähe, auf dem Grasbrook, hatten sie ihn enthauptet. Aber Störtebeker war noch nicht ganz tot gewesen. Ohne Kopf war er aufgestanden und hatte die Reihe seiner Kameraden abgeschritten und deshalb musste man sie begnadigen. So ein Kerl war das.

Claas hob seinen Stock zum erneuten Schlag, und eine Freude erfüllte ihn, die beinahe unerträglich war. Der tapfere, furchtlose Claas. Ja, sie alle sollten sehen, wie mutig er war. Roter, die anderen Feuerwehrmänner und Rebecca. Vor allem Rebecca.