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INHALT

GRENZEN DER BIOLOGIE

ANTHROPOGENETIK

UNSERE EVOLUTION GEHT WEITER

Homo sapiens hat sich immer an neue Lebensbedingungen angepasst. Das wird er auch weiterhin.

Von John Hawks

TRANSPLANTATIONSMEDIZIN

SPENDERORGANE AUS TIEREN

Wissenschaftler versuchen, menschliche Organe in Schweinen, Kühen und anderen Tieren zu züchten.

Von Juan Carlos Izpisúa Belmonte

KEIMBAHNTHERAPIE

MENSCHENDESIGN DURCH DIE HINTERTÜR

Genmanipulierte Spermienzellen gegen männliche Unfruchtbarkeit wären ein ethischer Dammbruch: Die Modifikationen würden weitervererbt.

Von Stephen S. Hall

GERONTOLOGIE

DER METHUSALEM-EFFEKT

Forscher untersuchen die Vorgänge in Zellen, dank derer einzelne Menschen mehr als 100 Jahre leben.

Von Bill Gifford

BEVÖLKERUNG

GESELLSCHAFT

REICHE WELT – ARME WELT

In den Industrienationen stagniert die Einwohnerzahl, während in den Entwicklungsländern immer mehr Jugendliche nach Arbeit verlangen.

Von Mara Hvistendahl

UNGLEICHHEIT

GESPALTENE GESELLSCHAFT

Spannungen, verschärft durch Flucht und Migration, gefährden den sozialen Zusammenhalt.

Von Angus Deaton

EPIDEMIOLOGIE

EINE DIAGNOSE DER MENSCHHEIT

Globale Daten geben Aufschluss über den Gesundheitszustand der Erdbevölkerung.

Von W. Wayt Gibbs

PLANET IM WANDEL

GEOLOGIE

EINE VIELSCHICHTIGE ANGELEGENHEIT

Mit uns beginnt ein neuer Abschnitt der Erdgeschichte.

Von Jan Zalasiewicz

URBANISTIK

DIE STADT VON MORGEN

Künftige Metropolen werden ganz anders aussehen.

Von Oliver Frey

TECHNIK

ENERGIEREVOLUTION FÜR AFRIKA

Der Kontinent könnte voll auf sauberen Strom setzen.

Von Erica Gies

HOMO TECHNOLOGICUS

TRANSHUMANISMUS

WOLLEN WIR EWIG LEBEN?

Ein digitalisiertes Bewusstsein brächte einige Probleme.

Von Hillary Rosner

SOZIALE KONTAKTE

LASS DAS, PAPA: NICHT GOOGELN!

Sherry Turkle warnt vor dem ständigen Vernetztsein.

Von Mark Fischetti

ANTHROPOZÄN

APOKALYPSE ODER AUFBRUCH?

Wir bestimmen das Schicksal des intelligenten Lebens.

Von David Grinspoon

EDITORIAL

EDITORIAL
MIT UNS DIE SINTFLUT?

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Von Mike Beckers, Redakteur dieses Hefts

beckers@spektrum.de

2016 hat Stephen Hawking der Menschheit noch 1000 Jahre gegeben. Der berühmte Physiker äußerte die Befürchtung, entweder löschten wir uns bis dahin selbst aus, sei es durch Nuklearwaffen oder genmanipulierte Erreger, oder eine Naturkatastrophe wie ein Asteroideneinschlag würde das erledigen. Diese düstere Prognose hat er 2017 korrigiert – auf gerade noch 100 Jahre. Schon bald würde die Erde unter anderem durch den Klimawandel praktisch unbewohnbar. Hawking sieht als einzigen Ausweg, ins Weltall auszuwandern.

Bekanntermaßen lag von den vielen Propheten der Apokalypse bislang keiner richtig. Doch Hawkings Sorgen sind begründet. Zehntausende Jahre lang haben die Vertreter unserer Spezies ihre Ökosysteme relativ überschaubar gestaltet – hier ein paar Wälder gerodet, dort einige Arten ausgerottet. Aus erdgeschichtlicher Sicht war das alles nicht dramatisch. Mit der Industrialisierung hat sich die Situation – ganz buchstäblich – grundlegend geändert. Die Folgen sind enorm.

Einige Geologen argumentieren, wir erschaffen inzwischen ein eigenes Zeitalter, welches Homo sapiens im Fall seines Aussterbens in den Sedimentgesteinen überdauern wird: das Anthropozän (S. 52). Zum Beispiel fördern wir unvorstellbare Mengen fossiler Energieträger und verteilen sie weltweit in Form von Kohlendioxid. Die gesamte deutsche Waldfläche bindet rund eine Milliarde Tonnen Kohlenstoff. Diese Masse verfeuert die Menschheit gegenwärtig in zwei Monaten. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre war seit Jahrmillionen nicht so hoch wie heute. Unsere Spezies behauptet sich zwar seit ein paar zehntausend Jahren recht erfolgreich, aber das garantiert nicht den Fortbestand über die anstehenden Veränderungen.

Hilft unser Erfindungsreichtum auf der Suche nach Wegen aus den kommenden, selbstverschuldeten Krisen? Gen- und Medizintechnik werden unser Leben weiter verlängern und verbessern (S. 12, 18 und 26) – davon kann jeder profitieren. Dafür müssen wir jedoch insbesondere die Übernutzung der Ressourcen stoppen. Sonst treibt der Streit um sie die wachsende Weltbevölkerung in eskalierende Konflikte. Bereits jetzt nehmen soziale Spannungen zu (S. 34 und 40).

Trotzdem teile ich Hawkings Endzeitsorgen nicht und finde überdies seinen Lösungsansatz mangelhaft: Mit dem Weltraum als Rückzugsort retten wir von den bald zehn Milliarden Individuen auf der Erde ein paar tausend Kolonisten. Die besten Strategien für alle werden wir hingegen entwickeln, sobald wir nicht mehr glauben, uns von unserem Heimatplaneten lösen zu können.

Optimistisch, Ihr

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ANTHROPOGENETIK
UNSERE EVOLUTION
GEHT WEITER

Noch in den letzten 30 000 Jahren haben sich die Menschen genetisch verändert und an neue Lebensbedingungen angepasst. Das wird auch weiterhin geschehen.

John Hawks hat an der University of Wisconsin in Madison eine Professur für Anthropologie. Seine Forschungen umfassen die menschliche Evolution von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. In Südafrika war er an den Ausgrabungen der spektakulären Fossilien in der Rising-Star-Höhle beteiligt. Andere seiner Projekte betreffen die Genetik von Neandertalern und modernen Populationen.

►► spektrum.de/artikel/1343330

AUF EINEN BLICK
DIE MENSCHHEIT WIRD BUNTER

1 Sogar noch in den letzten 10 000 Jahren ermöglichten neue Mutationen biologische Anpassungen an veränderte Lebensbedingungen. Dazu gehören kulturelle Errungenschaften wie die Milchwirtschaft.

2 Weil die Bevölkerungen nach der Umstellung auf den Ackerbau stark zunahmen, stieg das Angebot an potenziell günstigen neuen genetischen Varianten, an denen Selektionsmechanismen angreifen konnten.

3 Fraglos wird der Mensch auch künftig evolvieren. Obwohl sich die Bevölkerungen mischen, wird es den kosmopolitischen Einheitstyp nicht geben. Dazu sind die einzelnen Merkmale zu unabhängig voneinander.

Keine andere Art greift in ihr eigenes Schicksal so stark ein wie der Mensch. Ob Naturgewalten, Krankheiten oder Raubtiere – zahllosen Gefahren, die unsere Vorfahren dahinrafften, wissen wir heute viel besser zu begegnen als früher. Für Nahrungsmittel sorgt eine Agrarwirtschaft im industriellen Maßstab. Selbst die Aussichten auf die Geburt von gesunden Kindern haben sich beträchtlich erhöht.

Nicht nur manche Wissenschaftsjournalisten, sondern sogar einige ausgewiesene Forscher behaupten: Weil der Mensch die Natur nun so gut beherrscht, ist unsere Evolution wohl zum Stillstand gekommen. Denn die technologischen Errungenschaften würden uns dem Zugriff der natürlichen Selektion entziehen. Da heute die meisten ein hohes Alter erreichen, gelte das darwinsche Prinzip vom Überleben der Bestangepassten für den Homo sapiens nicht mehr.

Doch in Wahrheit ist unsere Evolution keineswegs beendet. Wir haben uns selbst noch in der jüngsten Vergangenheit biologisch verändert, und solange es uns gibt, wird das auch weiterhin geschehen. Projiziert man die sieben Millionen Jahre seit dem Zeitpunkt, an dem sich unsere Entwicklungslinie und die der Schimpansen getrennt haben, auf einen einzigen 24-Stunden-Tag, dann entsprechen die letzten 30 000 Jahre gerade einmal sechs Minuten. Aber in dieser kurzen Zeitspanne, dem bisher letzten Kapitel unserer Evolutionsgeschichte, hat sich in biologischer Hinsicht eine Menge ereignet: Es gab große Wanderbewegungen in teils völlig neue Lebensräume und einige drastische Ernährungsumstellungen. Die Gesamtbevölkerung ist in der kurzen Zeit um mehr als das 1000-Fache gewachsen, und die vielen Menschen brachten zahlreiche einzigartige Mutationen ein – eine Menge neues Material für das Wirken von Selektionskräften. Statt anzuhalten, erfuhr die menschliche Evolution hierdurch sogar einen Schub. Und die Beschleunigung wird sich fortsetzen.

Schon lange kam bei prähistorischen Skeletten der Verdacht auf, dass manche unserer Merkmale ziemlich jung sind und rasche Anpassungen an neue Lebensumstände darstellen. So veränderte sich mit dem Übergang zum Ackerbau, der vor rund 11 000 Jahren im Nahen Osten seinen Anfang nahm, auch die menschliche Anatomie – etwa im Zusammenhang mit dem Kochen, das nun Einzug hielt. Beispielsweise waren die Zähne von Menschen in Europa, Asien und Nordafrika noch vor 10 000 Jahren um mehr als ein Zehntel größer als heute. Die Versorgung mit weich gekochter Nahrung erforderte jedoch augenscheinlich kein so kräftiges Kauen mehr wie zuvor die Ernährung der Jäger und Sammler, und so wurden Zähne und Kiefer allmählich kleiner.

Wie neu einige veränderte Merkmale tatsächlich sind, von denen Anthropologen eigentlich seit Jahrzehnten wussten, ergaben erst Genomstudien im neuen Jahrtausend. So enthält der Speichel bei heutigen Nachfahren von Ackerbauern in der Regel deutlich mehr Amylase als bei modernen Jägern und Sammlern. Dieses Enzym zerlegt Stärke in kleinere Zuckereinheiten. Die meisten heutigen Menschen besitzen von dem zugehörigen Gen – AMY1 – mehrere Kopien, manchmal mehr als zehn. Dagegen haben zum Beispiel die traditionell lebenden Datooga in Tansania nur ganz wenige Kopien dieses Gens. Das Phänomen findet sich weltweit. Wo Menschen Getreide anbauten, muss es sich für sie ausgezahlt haben, die Stärke schon beim Kauen gut aufschließen zu können.

Zu den am besten untersuchten Anpassungen an die Landwirtschaft zählt die Laktosetoleranz im Erwachsenenalter. An sich bilden zwar Säuglinge und Kleinkinder das im Darm zum Abbau von Milchzucker (Laktose) benötigte Enzym Laktase, doch die Herstellung wird später bei der Mehrzahl der Menschen eingestellt. Mindestens fünfmal in der jüngeren Vergangenheit setzten sich allerdings unabhängig voneinander Mutationen durch, die auch Erwachsenen eine Verwertung von Milch erlauben. Dies geschah etwa bei drei Völkern Afrikas südlich der Sahara mit einer langen Tradition der Rinderhaltung. Eine weitere solche Mutation kommt in Arabien vor. Offenbar hatte sie einst Populationen von Kamel- und Ziegenhirten Vorteile gebracht.

Am häufigsten und heute am weitesten verbreitet ist die fünfte solche Mutation. Sie findet sich bei Bevölkerungen aus Irland bis Indien mit Schwerpunkt in Nordeuropa, wo meist mehr als 90 Prozent der Individuen sie tragen. Offenbar rührt sie von einem einzigen Menschen her, der vor schätzungsweise 7500 Jahren lebte (siehe Spektrum April 2014, S. 70). Der berühmte Gletschermann »Ötzi«, der vor 5500 Jahren in den Südtiroler Hochalpenstarb, besaß sie nicht. Vielleicht kam die Genvariante damals im Alpenraum noch wenig vor. Auch bei denfrühen europäischen Bauern fehlte sie wohl. Sie fand sich zumindest in keiner DNA-Probe von über 5000 Jahre alten Skeletten. Dass heute in derselben Region gut drei Viertel der Menschen diese Genversion tragen, ist nur scheinbar widersprüchlich, denn die Diskrepanz lässt sich mit Hochrechnungen zu den Auswirkungen einer natürlichen Selektion erklären: Eine vorteilhafte Mutation nimmt in einer Population leicht überhand, wenn ihre Häufigkeit im Lauf der Generationen exponentiell steigt. Eine Zeit lang macht sich die neue Variante noch wenig bemerkbar; doch erscheint sie erst häufig genug, kann sie bald vorherrschen.

Auch erstaunlich viele äußerliche Merkmale der heutigen Menschen haben keine lange Vergangenheit. Das starke, glatte Haar der Ostasiaten beruht zum Beispiel wesentlich auf einer Mutation in dem Gen EDAR, die sich erst vor gut 30 000 Jahren ereignete. Das Genprodukt ist für die Steuerung der frühen Entwicklung von Haut, Haaren, Zähnen und Nägeln wichtig. Auch die amerikanischen Ureinwohner trugen bereits diese Variante, als sie Amerika besiedelten.

Tatsächlich ist die Evolutionsgeschichte unserer Haut-, Haar- und Augenfarbe oft bemerkenswert jung. Anfangs dürften die Menschen generell dunkle Augen und Haare sowie eine dunkle Haut gehabt haben. Aber mit der Zeit traten Dutzende Mutationen auf, die eine hellere Pigmentierung bewirkten. Ein paar davon sind so alt, dass sie schon bei Afrikanern vorkommen. Bei außerafrikanischen Bevölkerungen erscheinen diese Genvarianten allerdings häufiger. Doch die meisten solchen Mutationen sind jüngeren Ursprungs und für bestimmte Menschengruppen charakteristisch. So verleiht eine Veränderung im Gen TYRP1 manchen Bewohnern der Salomonen im Pazifik ihre blonde Haarfarbe. Rotschöpfe gehen auf eine Veränderung im MC1R-Gen zurück, das vorher für dunkles Haar sorgte. Bei blauen Augen – nicht nur von Europäern – scheint immer eine Mutation im HERC2-Gen beteiligt zu sein, die wahrscheinlich vor mehr als 9000 Jahren auftrat. Die helle Haut der Europäer wiederum hängt mit einer Abweichung im Gen SLC24A5 zusammen. Dass sich diese Variante noch nicht im Erbgut von Skeletten aus jener Zeit findet, zeugt davon, wie rasch sich Hellhäutigkeit ausgebreitet haben muss. Überhaupt hat sich die Pigmentierung, auch von Haaren und Augen, in Bevölkerungsgruppen mitunter wohl verblüffend schnell gewandelt.

Genvariante gegen Körpergeruch

Auch weniger auffällige Merkmale variieren zwischen Menschengruppen – zum Beispiel die Konsistenz des Ohrschmalzes. Bei den meisten Menschen ist es feucht und klebrig, doch viele Ostasiaten produzieren eine trockene, schuppige Substanz, die nicht verklebt. Anthropologen wissen das seit mehr als 100 Jahren, aber erst jetzt fanden Genetiker die Ursache: eine zwischen 30 000 und 20 000 Jahre alte Mutation im Gen ABCC11, die sich auch auf die Schweißdrüsen auswirkt. Riecht der Achselschweiß unangenehm und hat man klebriges Ohrschmalz, besitzt man ziemlich sicher die Ursprungsversion des Gens. Menschen mit der Mutation haben weniger Bedarf an Deodorant.

Vor etwa 45 000 Jahren trat in Afrika eine Mutation auf, die Menschen vor der Malaria tertiana schützt, die der Erreger Plasmodium vivax hervorruft. Dieser Parasit zählt heute zu den beiden weltweit vorherrschenden Malariaerregern. Früher war er auch in Europa häufig. (Der andere ist P. falciparum; er erzeugt die besonders gefährliche Malaria tropica.) P. vivax entert rote Blutkörperchen mittels eines auf ihnen sitzenden Moleküls, genannt Duffy-Rezeptor. Bei der betreffenden Mutation ist dessen Gen namens DARC defekt, und der Rezeptor fehlt. Der Erreger kann die Blutzellen daher nicht befallen. Im Afrika südlich der Sahara tragen 95 Prozent der Bevölkerung das mutierte Gen, in Europa und Asien dagegen nur 5 Prozent.

Unter Evolutionsprozessen pflegen wir uns gewöhnlich vorzustellen, dass »gute« Gene »schlechte« ersetzen. Unsere eigenen genetischen Anpassungen aus der jüngsten Zeit bezeugen hingegen die große Bedeutung evolutionärer Zufälle. Denn vorteilhafte Mutationen bleiben keineswegs automatisch erhalten. Entscheidend dafür sind vielmehr sowohl der Zeitpunkt ihres Auftretens als auch die Größe der betreffenden Population.

Ich selbst erfuhr hiervon zum ersten Mal in den 1990er Jahren als junger Student an der University of Michigan in Ann Arbor. Dort lehrte der als Malariafachmann bekannte Anthropologe Frank Livingstone (1928–2005). Zeit seines Forscherlebens untersuchte er die populationsgenetischen Zusammenhänge verschiedener Malariaresistenzen, darunter jene Form, die mit der Sichelzellenanämie zusammenhängt.

Vor mehr als 3000 Jahren dürfte in oder bei Afrika eine Mutation in einem der Gene für den roten Blutfarbstoff Hämoglobin aufgetaucht sein, der Sauerstoff bindet. Wenn jemand das veränderte Gen von beiden Eltern geerbt hat, also doppelt besitzt, entsteht abnormes Hämoglobin, so genanntes Hämoglobin S. Bei Sauerstoffmangel und körperlicher Anstrengung werden die roten Blutzellen sichelförmig und unelastisch – und können dann feine Blutgefäße verstopfen, was oft schwere Krankheitsbilder bedingt, darunter auch Blutarmut. Wer das Gen nur einmal trägt, bleibt normalerweise gesund. Allenfalls leichte Auswirkungen können auftreten. Die Mutation verleiht einen gewissen Schutz vor der Malaria tropica, weil sie verhindert, dass deren Erreger in die roten Blutkörperchen eindringen.

Eine weitere mutierte Form des Hämoglobins, die Livingstone interessierte, war das Hämoglobin E. Es ist besonders in Südostasien weit verbreitet und schützt die Träger in hohem Maß gegen Malaria – und das außerdem oft, ohne so schwere Krankheiten zu verursachen wie eine Sichelzellenanämie. Deshalb fragte ich Livingstone in seinem Seminar: »Hämoglobin E scheint doch viel besser zu sein als Hämoglobin S. Wieso haben es die Afrikaner dann nicht auch erworben?« Er antwortete nur: »Dort ist das einfach nicht passiert.« Zuerst war ich verblüfft, denn die natürliche Selektion hielt ich für den wirksamsten Evolutionsfaktor. Die Malaria tropica sucht Afrika seit Jahrtausenden heim. Da sollte es Selektionskräften doch inzwischen gelungen sein, die nützlichsten Mutationen dagegen durchzusetzen und weniger günstige auszumerzen.

Aber Livingstone erklärte uns, dass sich Hämoglobin E dort offenbar nicht hatte verbreiten können, weil Hämoglobin S schon vorhanden war. In einer Bevölkerung mit ausschließlich normalem Hämoglobin vermöge sich eine neue schützende Variante gegen Malaria zwar rasch zu etablieren. Besitzt die Population jedoch schon einen gewissen genetischen Schutz, bewirkt die neue Variante einfach nicht mehr genug. Weil schon Hämoglobin S die Sterberate verringert, bietet Hämoglobin E in dem Fall keinen wirklich nennenswerten zusätzlichen Vorteil, der in der Selektion eine Rolle spielt. Ich begriff, dass es entscheidend darauf ankommt, welche Mutation zuerst erscheint. Unter Umständen gewinnt eine nur bedingt günstige Variante, die sich fatal auswirken kann. Bei Malaria war das in Afrika offenbar der Fall – zumindest in den wenigen Jahrtausenden, in denen Menschen der Seuche bisher ausgesetzt waren.

Alle medizinischen Fortschritte
verhindern nicht, dass die
Kinderzahl weiterhin auch von der
genetischen Ausstattung abhängt

Seit Malaria menschliche Bevölkerungen heimsucht, kamen in den verschiedenen Weltregionen diverse genetische Anpassungen für mehr Widerstandskraft gegen die Erkrankung auf. Stets war zunächst eine zufällige Mutation aufgetaucht, die sich in einer lokal begrenzten Population halten konnte, wenn ein paar Menschen sie erbten und ihrerseits weitergaben. Im Prinzip hatte jedes einzelne solche Merkmal nur sehr geringe Chancen, langfristig zu überdauern. Doch hier half die riesige und immer weiter wachsende Population der Menschen, denn das bedeutete unzählige Gelegenheiten für vorteilhafte neue Eigenschaften, sich zufällig in einer Bevölkerung festzusetzen.

Auch heutzutage geht die Evolution in den Populationen der Menschen weiter. Das Wirken der Selektion in der ferneren Vergangenheit können Forscher nur indirekt anhand langfristiger genetischer Effekte erschließen. Dagegen lässt sich das aktuelle Geschehen unmittelbar verfolgen, etwa an Trends im Bereich von Gesundheit und Fortpflanzung. Beispielsweise verhindern alle medizinischen und hygienischen Fortschritte nicht, dass die Kinderzahl der einzelnen Menschen in vielen Bevölkerungen weiterhin auch von der individuellen genetischen Ausstattung abhängt. Zum Beispiel haben in Afrika südlich der Sahara Frauen, die während der Malariasaison schwanger sind, eine etwas höhere Chance als sonst, ein lebendes Kind zu gebären, wenn sie eine bestimmte Variante des FLT1-Gens tragen. Das Risiko, dass Malariaerreger die Plazenta infizieren, ist für sie geringer. Wie das mit dem Gen zusammenhängt, weiß man noch nicht, aber der Effekt lässt sich messen.

Umfangreiche Datensätze sollen helfen, die Zusammenhänge zu verstehen

Aufmerksamkeit erregte eine Studie, die Stephen Stearns von der Yale University in New Haven (Connecticut) mit seinen Kollegen durchführte. Sie durchforsteten umfangreiche Datensätze von langjährigen Erhebungen in den USA zur Gesundheit der Bevölkerung nach Merkmalen, die mit der Kinderzahl korrelierten. Heraus kam dabei: Während der letzten 60 Jahre gebaren in den Vereinigten Staaten solche Frauen im Vergleich etwas mehr Kinder, die eher kleiner waren als der Durchschnitt, mehr wogen und einen niedrigen Cholesterinspiegel aufwiesen. Größere, schlanke Frauen mit höheren Blutwerten bekamen etwas weniger Nachwuchs. Eine evolutionäre Erklärung dafür steht allerdings noch aus.

Evolutionsforscher interessieren sich auch für medizinische und genetische Großprojekte, die inzwischen in verschiedenen Ländern laufen, um die oft komplizierten Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Erbanlagen allmählich besser zu verstehen. Ein Beispiel ist die nationale Einrichtung UK Biobank in Großbritannien: In deren Rahmen gewinnen und analysieren Wissenschaftler von einer halben Million Menschen über Jahre hinweg medizinische und genetische Daten. Die Befunde sollen helfen, die Behandlung und Diagnose vieler Krankheiten zu verbessern, aber auch, die Vorsorge zu optimieren. Solche Studien müssen dermaßen umfangreich angelegt sein, weil sich die komplexen genetischen Wechselwirkungen oft erst dann deutlich zeigen. Auch hinsichtlich der menschlichen Evolution entgehen einem viele Einflüsse, wenn man sich auf die Vergangenheit der Menschheit beschränkt, weil man dann die langen Zeiträume nur im Nachhinein betrachten kann. Die Laktosetoleranz im Erwachsenenalter etwa hat sich über viele Generationen etabliert, und feststellen lässt sich heute zwar das Ergebnis, nicht aber, wie sich die Entwicklung tatsächlich abspielte. Die kurzzeitige Dynamik unter Beteiligung von Umwelteinflüssen, Überleben und Fortpflanzung liegt im Dunkeln. Dank der laufenden und geplanten Großprojekte an heutigen Populationen könnte sich die Situation nun ändern. Für die Forschung bieten solche Studien Gelegenheit, tieferen Einblick in aktuelle Evolutionsprozesse beim Menschen zu gewinnen als jemals zuvor.

Milch lebenslang

Normalerweise vertragen nur kleine Kinder Laktose (Milchzucker). Später wird das zum Abbau im Darm benötigte Enzym Laktase nicht mehr gebildet. Aber bei Menschen, die Milch gebende Tiere hielten, setzten sich in den letzten 10 000 Jahren verschiedene Mutationen durch, die das Abschalten des Laktasegens verhindern. Fünf davon haben Forscher bisher aufgespürt, doch dürfte es noch mehr geben.

Die roten Punkte in der Weltkarte zeigen Orte, an denen die Daten erhoben wurden. Je tiefer das Blau, desto höher der Anteil der Bevölkerung, der Milchzucker verträgt.

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Wie wird die menschliche Evolution in Zukunft verlaufen? Obwohl einzelne Bevölkerungen in den letzten Jahrtausenden erkennbar unterschiedliche Wege gegangen sind, blieb die Menschheit im Ganzen dennoch letztlich überraschend gleich. Neue, vorteilhafte Mutationen, die sich einen Platz im Genpool erobert haben, verdrängten die alten Genversionen in den meisten Fällen jedoch nicht völlig. Und heute, da die Menschen räumlich viel beweglicher sind als früher, durchmischen sich die Populationen weltweit in bisher ungekannter Größenordnung.

Man könnte nun erwarten, dass der zunehmende genetische Austausch die Menschheit allmählich immer homogener macht. Würde nicht beispielsweise das Mischen all der Gene, die unabhängig voneinander zur Haut-, Haar- und Augenfarbe beitragen, am Ende eine ziemlich einheitliche Pigmentierung hervorbringen, etwa ein helles Schokoladenbraun? Antwort: mit Sicherheit nicht. Denn viele jener Eigenschaften, in denen sich die Menschenpopulationen unterscheiden, addieren sich nicht einfach. In Ländern wie den USA, Mexiko oder Brasilien mit ethnisch gemischter Bevölkerung zeigt sich das gut. Die Menschen dort tendieren keineswegs zu einem einheitlichen, hellbraunen Aussehen, im Gegenteil. Man kann Personen mit blonden Haaren, dunkler Haut und Sommersprossen begegnen oder Leuten mit olivfarbigem Teint und grünen Augen. Jeder zukünftige Mensch wird ein individuelles Mosaik aus unserer Evolutionsgeschichte sein.

LITERATURTIPPS

Evolution. Wie sie die Geschichte des Lebens geformt hat. Spektrum der Wissenschaft Spezial Biologie, Medizin, Hirnforschung 1/2014
Mit Beiträgen zur Evolutionstheorie sowie zum Evolutionsverständnis von Krebs

Der Menschen-Code. Wie uns die Gene prägen. Spektrum der Wissenschaft Spezial Biologie, Medizin, Kultur 4/2012
Die Artikel behandeln unter anderem die Evolutionsgeschichte von Krankheiten und die medizinische Genetik.

TRANSPLANTATIONSMEDIZIN
SPENDERORGANE
AUS TIEREN

Wissenschaftler versuchen, menschliche Organe in Schweinen, Kühen und anderen Tieren zu züchten. Damit wollen sie dem dramatischen Mangel an Spenderorganen begegnen.