Elias Haffter

Briefe aus dem hohen Norden

Eine Fahrt nach Spitzbergen mit dem HAPAG-Dampfer "Auguste Viktoria" im Juli
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066115227

Inhaltsverzeichnis


Vorwort.
Unterwegs.
Daheim.
Verzeichnis der Abbildungen.
Unterwegs.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Daheim.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.

Buarbrae

1900

Verlag von J. Huber in Frauenfeld

Vorwort.

Inhaltsverzeichnis

Das kleine Buch enthält in der ersten Hälfte Briefe, welche ich während einer Fahrt längs der norwegischen Küste mit dem Endziel Spitzbergen — auf dem Hamburger Prachtsdampfer „Auguste Viktoria“ im Juli 1899 — an die „Thurgauer Zeitung“ sandte, um mit meinen Freunden und Bekannten in der Heimat in Kontakt zu bleiben. Die zweite Hälfte besteht aus den Reiseerinnerungen, welche ich, nach Hause zurückgekehrt, für das gleiche Blatt zu Papier brachte. Das kleine Buch zeigt, als unveränderter Abdruck jener Feuilleton-Artikel, die Schwächen rasch hingeworfener Reminiscenzen.

Die Clichés sind zum Teil Eigentum der Hamburg-Amerika-Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft und teilweise nach eigenen photographischen Aufnahmen hergestellt. Die Bilder auf pag. 49, 74, 89, 108, 161 und 193 — ebenfalls Originalphotographien — verdanke ich der Liebenswürdigkeit von zwei Mitreisenden, Herrn und Frau Baurat Waltz aus Konstanz.

Ich grüße Norge, das herrliche Land, und alle diejenigen, in deren Gesellschaft wir seine Schönheiten bewundern durften: die Mitpassagiere und Führer der „Auguste Viktoria“ und den lieben gastlichen Landsmann in Yttre-Arne.

Frauenfeld, November 1899.

Dr. E. Haffter.

Unterwegs.

Inhaltsverzeichnis
Seite
I.
Einleitung. — Von Frauenfeld nach Hamburg. — Krankenhaus in Eppendorf. — Besuch in Friedrichsruh. — Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“ 3-11
II.
Erste Stunden an Bord. — Bau der „Auguste Viktoria“. — Verpflegung. — Toiletten. — Schiffskapelle. — Norwegische Küste in Sicht. — Ankunft 12-18
III.
Fjorde und Schären. — Hardangerfjord. — Ankunft in Odde. — Buarbrae. — Unglücksfall bei der Abfahrt. — Molde. — Naes. — Romsdal. — Ball an Bord. — Abendstimmung. — Ankunft in Drontheim 19-36
IV.
Drontheim. — Effekt des Polarstromes. — Lerfos. — Verspätete zur Abfahrt. — Erste Wale. — Polarkreis 37-45
V.
Lofoten. — Mitternachtssonne. — Sonntag zur See. — Walfischdampfer. — Hammerfest. — Vogelriff. — Das Nordkap und seine Besteiger 46-57
VI.
Bäreninsel. — Eisberge — Fahrt durch das nördliche Eismeer. — Gang durch das Schiff. — Passagiere. — Tageseinteilung 58-76
VII.
Spitzbergen. — Gletscher- und Eiszeit. — Einfahrt in den Eisfjord. — Ankunft in Adventbay. — Erster Besuch der Küste 77-82

Daheim.

Inhaltsverzeichnis
Seite
VIII.
Hapag. — Patriotische Feststimmung. — Gräber an der Adventbay. — Im Eise gefangen. — Jagd auf Spitzbergen. — Walfischfang 85-98
IX.
„Malerische Gruppe“. — Beutezug an der Küste. — Fischerzelt. — Die Yacht des italienischen Kronprinzen. — Hotel Spitzbergen 99-112
X.
Abfahrt aus der Adventbay. — Polarnebel. — Seekrankheit. — Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe 113-120
XI.
Ankunft in Tromsoe. — Besuch im Lappenlager. — Die Stadt Tromsoe. — Küstenlappen. — Musikabend an Bord. — Spaziergang beim Schein der Mitternachtssonne 121-137
XII.
Nach Süden. — Lofoten. — Digermulen. — Pro patria. — Besteigung des Digermulenkollen. — Boot in Gefahr. — Kranker in einsamer Fischerhütte. — Der schwermütige Schimmel. — Abfahrt von Digermulen. — Einladungstelegramm von Kaiser Wilhelm 138-154
XIII.
Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. — Die Welt — ein Dorf. — Maraak. — Vorbereitung für den Kaiserbesuch. — Ankunft in Aalesund bei „S. M. Y. Hohenzollern“. — Der Kaiser an Bord. — Besuch der „Hohenzollern“ 155-171
XIV.
Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. — Durch den Sognefjord. — Genrebilder in Naeröfjord. — Gudwangen. — Naerödal und Stahlheim. — Hungersnot. — Oell und Musöst. — Sprachverwirrung 172-184
XV.
An der Stätte der Frithjofssage. — Ankunft in Bergen. — Das norwegische Hamburg. — Im Leprahospital. — Fahrt nach Yttre-Arne. — Heimat in fremdem Lande. — Mange tak 185-205
XVI.
Abfahrt von Bergen. — Abschied der Lotsen. — Letzter Tag zur See. — Brahmskultus mit Schwierigkeiten. — Zollrevision in der Elbe. — Abschied von der „Auguste Viktoria“. — Zum letzten Male die norwegische Nationalhymne 206-216
Dekor

Verzeichnis der Abbildungen.

Inhaltsverzeichnis
Seite
Buarbrae (Titelseite)
Bismarck-Mausoleum 9
Odde (Hardanger) 22
Buarbrae 25
Norwegerinnen 27
Straße in Molde 29
Stolkjärre 32
Oberer Lerfos 41
Dom in Drontheim 42
Mitternachtssonne 47
Walfischdampfer 49
Das Nordkap 53
Deckscenen 66 u. 74
Gletscherpartie (Spitzbergen) 78
Einfahrt in Adventbay 79
Nothütte 89
Gletschereis 92
Yacht des italienischen Kronprinzen 108
Hotel Adventbay 111
Lappen 126
Digermulen 143
Digermulkollen 147
Maraak 161
Stahlheim 179
Bergen 193
Dekor

Unterwegs.

Inhaltsverzeichnis

I.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. — Von Frauenfeld nach Hamburg. — Krankenhaus in Eppendorf. — Besuch in Friedrichsruh. — Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“.

An Bord der „Auguste Viktoria“, 4. Juli 1899.

... Soll ich? Oder soll ich nicht? Schreiben nämlich. Ich will’s probieren, obschon es kaum möglich sein wird, in dem Gewirr von plaudernden Damen (es sind ihrer gegen 200 an Bord), herumflanierenden Yankees, schnarrenden Berlinern etc. seine Gedanken zu konzentrieren.

Also nach Spitzbergen geht unsere Fahrt. Ueber dieses Reiseziel werde ich erst sprechen, nachdem wir es gesehen haben. Vorläufig sind wir auf unserm schwimmenden Palaste an der norwegischen Küste eingetroffen und liegen seit gestern abend 10 Uhr in dem tiefsten Punkte des herrlichen Hardangerfjords — bei Odde — vor Anker. — Die Bucht ist so tief ins Land hineingeschnitten, daß unser Schnelldampfer sieben Stunden brauchte, um sie zu durchfahren; hier hat sie noch die halbe Breite des Zürchersees. An den Ufern des tiefgrünen Wassers erheben sich steil bis zu imposanter Höhe, die mit 1500 bis zu 2000 Meter wohl nicht überschätzt ist, Gebirgsstöcke aus grauem Urgestein, teilweise mit Wald bedeckt, oben voll blendend weißen Schnees, überall zu abschüssig, um menschlichen Wohnungen Platz zu bieten. Zwischen den Bergkuppen erscheinen aus dem Hintergrunde mächtige Gletscher, deren Wässer als riesige — von oben bis unten zu verfolgende Fälle — zur See herniederstürzen. Gegen das satte Grün der Wälder sticht ihr Weiß ab wie flüssiger karrarischer Marmor. Im Ganzen erinnert das Landschaftsbild außerordentlich an den Urnersee, und der Lage von Flüelen entspricht das freundliche norwegische Städtchen Odde, hinter welchem sich nach einer sachten Erhebung von zirka 200 Meter — wohl einer alten Gletschermoräne — ein breites Thal öffnet, dessen Hintergrund durch eine Kaskade von der dreifachen Größe des Staubbaches etwas besonders Malerisches erhält. Ueber diesem herrlichen Landschaftsbilde wölbt sich zur Zeit ein tiefblauer Himmel, und ich glaube, weder bei uns noch in südlichen Ländern je so gesättigte Farben gesehen zu haben. Das Grün der See, sowie von Wald und Wiese auf dem hellgrauen Gestein, das Blau des Himmels und das Weiß der Gletscher und Schneefelder und der fallenden Wässer bilden geradezu entzückende Kontraste und in das farbige Landschaftsbild sind — ein freundliches Idyll — eingebettet die schlichten Holzhäuser von Odde.

Den Mittelpunkt dieser Szenerie bildet also zur Zeit die „Auguste Viktoria“, das stolze Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, das — etwa einen Kilometer vom Ufer — mitten im Fjord vor Anker liegt. Drei mitgeführte Benzin-Motorschiffe zu je 40 Plätzen vermitteln ununterbrochen den Verkehr mit dem Festlande, so daß es für unsere zirka 400 Passagiere gar keine Schwierigkeiten hat, jeden Augenblick nach Odde zu fahren, aber auch jederzeit wieder an Bord zu sein.

Doch — eine richtige Reisebeschreibung sollte vorne anfangen — wie kamen wir hieher?

Die Strecke von Frauenfeld nach Hamburg ist bei den jetzigen ausgezeichneten Zugsverbindungen in 20½ Stunden zurückgelegt. In Frankfurt a. M. bestiegen wir nachts 8 Uhr einen direkten Wagen nach Hamburg und richteten uns im bequemen Coupé häuslich ein; auch das Nachtessen wurde nicht vergessen und dem Reiseungewohnten mag es fast wunderbar erscheinen, daß man — während der Zug in rasender Eile dahinsaust, nur auf einen elektrischen Knopf zu drücken braucht, um einen dienstbeflissenen Geist dahereilen zu sehen, welcher aus der mitfahrenden Küche serviert, was das Herz begehrt — das wirkliche „Tischlein deck’ dich“.

Endlich war die reisende Welt satt; um 11 Uhr knallte der Pfropf der letzten Bierflasche im Nachbarcoupé; dann trat Ruhe ein im Lande; wer schlafen konnte, schlief. Stadt um Stadt huschte geisterhaft an uns vorbei; nach Mitternacht brauste, von hundert frischen Kehlen gesungen, die „alte Burschenherrlichkeit“ an mein eben dem Dasein entrücktes Ohr und ließ mich durch geweckte Erinnerungen lange nicht wieder einschlafen: Göttingen hatte den schlaftrunkenen alten Studenten gegrüßt. — Um 4 Uhr erhob sich die Sonne über der Lüneburger Haide und Punkt 6 Uhr 30 Minuten — wie vorgeschrieben — fuhr der lange Zug über die Elbbrücke in Hamburg. Ebenso programmgemäß stellte sich auf die Minute ein lieber Neffe ein, den ich zur Ueberraschung für meine Reisegefährtinnen von Berlin her zitiert hatte, und so machten wir denn — vier Köpfe stark — einige Tage lang die alte Hansastadt unsicher.

Ueber Hamburg ließe sich vieles sagen; zu den größten Sehenswürdigkeiten gehört der mit Hunderten von Millionen erstellte Hafen, in dem alle Schiffe der Welt verkehren. Ein bewunderungswürdiges Monument des Hamburger Kunstgewerbes, aber auch des Hamburger Bürgerfleißes und — Reichtums bildet das dortige Rathaus, das an Geschmack und Gediegenheit seiner innern Ausstattung alle ähnlichen mir bekannten Gebäude übertrifft, so namentlich auch das prunkvolle neue Reichstagsgebäude in Berlin. Der Hamburger ist aber auch stolz auf seine Vaterstadt und trägt bei jeder Gelegenheit seine republikanische Unabhängigkeit zur Schau. Dem politischen Oberhaupte, dem deutschen Kaiser, scheint von Arm und Reich so ziemlich das erlaubte Mindestmaß von Majestätsfurcht entgegengebracht zu werden; unter anderm zitierte unser Bootführer seine kaiserliche Majestät, wenn er bei Erklärung verschiedener öffentlicher Bauten darauf zu sprechen kam, stets einfach als „Wilhelm zwei“.

Großartig hat die Stadt Hamburg für ihre Kranken gesorgt. Das neue Krankenhaus in Eppendorf, das wir besuchten, besteht aus 90 Gebäuden, die in einen herrlichen Park eingelagert sind. 2000 Kranke finden dort Unterkunft und werden durch 220 Schwestern, 80 Laienwärterinnen und 32 Aerzte verpflegt. Die Anlage der zentralen Institute — Küche, Wäsche (pro Tag müssen 8000 Stück Linge gewaschen werden!), Desinfektionsanstalt, Sektionsgebäude (1300 Sektionen pro Jahr; während der Cholerazeit 1336 in 4 Wochen!), Operationsgebäude, Badehaus, Schwesternhaus etc. — ist erstaunlich!

Einen Vormittag widmeten wir dem „Alten im Sachsenwalde“. Nach halbstündiger Fahrt auf der Linie Hamburg-Berlin erreicht man die Station Friedrichsruh. Wer aber dort etwas zu sehen erwartet, ist geleimt. Der Park des Bismarckschen Schlosses stößt zwar direkt an die Eisenbahnlinie; Mauern und dichte Baumschläge verbieten aber dem Auge jeden Einblick, und wo dem suchenden Wanderer sich ein Eingang zu öffnen scheint, hemmt eine mächtige Verbottafel den Eintritt.

Wir umkreisten im Dunkel eines Eichwaldes das große Gut, klommen längs der Einfriedigung in die Höhe; aber nirgends bot sich eine Möglichkeit, etwas zu sehen. Endlich aber erreichten wir eine unverschlossene Pforte im Waldesdickicht, an welcher eine Verbotstafel fehlte. Unter meiner Führung drang die kleine unverschämte Schweizerkarawane ein und nach etwa 5 Minuten stehen wir plötzlich auf freiem Rasenplatze, direkt dem Bismarckschen Schlosse gegenüber und nur durch einen schmutzigen Teich von ihm getrennt. Das Gebäude sieht sehr anspruchslos aus, mit verschiedenen häßlichen Kaminen eigentlich eher wie ein Fabrikgebäude, denn ein fürstliches Palais.

Nun aber kam die Strafe: „n’No, n’No, n’No, n’No, n’No! Was soll denn do wer’n?“ erschallte eine Stimme aus der Nähe, und es erschien ein wütender Gärtner, der mit erhobenen Armen und einer Sense unserm Vordringen wehrte, unterstützt durch eine keifende Frau, welche die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „„Ja, wo sind wir denn? Wem gehört das Haus?““ „Das ist den Fürst’n sein Palä; da darf kein Mensch hin!“ „„Aber wir sind doch durch eine offene Thüre ohne Verbottafel eingetreten.““ „Da haben natürlich diese ekligen Hamburger wieder die Tafel weggerissen.“

Wir wurden per Schub — unsrerseits in sehr vergnügter Stimmung — durch das nächste Thor „entleert“ und setzten unsern Rundgang weiter fort.

Auf der andern Seite der Eisenbahnlinie, auf waldiger Anhöhe dem Schloßgarten gegenüber, liegt das Mausoleum, in welchem die irdischen Ueberreste des Gewaltigen ruhen. Eine steile Böschung verhindert den Zutritt. Trotz überall angebrachter Verbote finden sich aber doch ausgetretene Wege, denen wir folgten, so daß uns auch die von einer kleinen romanischen Kirche überbaute Gruft zu Gesichte kam und sogar photographisch von uns fixiert werden konnte.

Ein halbstündiger Spaziergang durch herrlichen Eichwald — ein Stück des berühmten Sachsenwaldes — führte uns nach Station Aumühle, wo wir der heimatlichen Reminiscenz[1] und einer schönen Naturszenerie zuliebe in schattiger Veranda uns erfrischten, um dann mit dem nächsten Zuge nach Hamburg zurückzukehren.

Bismarck-Mausoleum

Bismarck-Mausoleum.

Sonntag, den 2. Juli, mittags 1½ Uhr hatten wir uns, so lautete die Ordre, an Bord des Dampfers „Blankenese“ einzufinden, welcher uns auf die einige Stunden elbabwärts, bei Brunshausen verankerte „Auguste Viktoria“ führen sollte. Wir waren frühzeitig da und sahen sie nun in Scharen anrücken, welche für drei Wochen unsere Gesellschaft zur See sein sollten: Damen schienen vorherrschend, übrigens alle Altersstufen vertreten, vom „Säugling“ (zehnjährige Jungen) bis zum „Meergreise“ und vom Backfisch bis zur Urgroßmutter; laut ausgeteilter Passagierliste waren wir 360 Personen, in der Mehrzahl Amerikaner und Deutsche, wenig Franzosen, Engländer, an Eidgenossen außer uns noch drei Baslerherren. Auch das „Volk Gottes“ zeigte sich zahlreich und in ausgeprägtesten Formen, hauptsächlich Berliner Ursprungs. Immerhin soll auf der vorjährigen Fahrt das jüdische Element weit mehr vorgeherrscht haben, was folgende Anekdote illustriert: Ein deutscher Familienvater durchsucht die Weinkarte, ruft den Kellner und bestellt „für sich eine Flasche Laubenheimer, für seine Frau eine halbe Flasche Ingelheimer und für seinen Sohn eine halbe Flasche Hochheimer.“ „„Entschuldigen Sie, mein Herr; Sie haben da die Passagierliste erwischt,““ war die Antwort des Stewards.

Punkt 1½ Uhr setzte sich der dichtgefüllte und buntbewimpelte Dampfer in Bewegung und führte uns vorbei an Hunderten von Seglern und Dampf-Seefahrzeugen aller Größen in die freie Elbe. Etwa zwei Kilometer von Hamburg entfernt war die Route gesperrt durch einen stolzen schwedischen Dreimaster, den ein Wörmannscher Frachtdampfer Abends zuvor angerannt und zum Sinken gebracht hatte. Masten und Steuerteil des schwer befrachteten Schiffes überragten noch die gelbliche Wasserfläche, während der Vorderteil auf dem Grunde ruhte.

Nach zweistündiger Fahrt erschien vor unsern Augen die majestätische „Auguste Viktoria“, mit Flaggen und Wimpeln reich und malerisch geschmückt; 200 Stewards und sonntäglich gekleidete Matrosen stunden in Reih und Glied; eine Kanonensalve erschütterte die Luft und unter dem Begrüßungsmarsche einer Blechmusikkapelle hielten wir unsern Einzug auf dem mächtigen Schiffe, das nun für drei Wochen unsere Wohnung sein sollte. Jedermann suchte seine Kabine, wo die Tags zuvor abgelieferten Koffer schon ihren Platz gefunden hatten, und nach weniger als einer halben Stunde hatte sich aus dem Wirrwarr eines aufgestörten Ameisenhaufens ein geordnetes Dasein entwickelt und man konnte dem schwimmenden Kolosse kaum mehr ansehen, daß ein Heer von fast 400 Menschen mit Kisten und Koffern und Plaids und Apparaten sich hinein ergossen hatte.

Die Falltreppe wurde aufgezogen; das Kommando des Kapitäns ertönte; das eiserne Herz des Riesen fing zu schlagen an und unter den Klängen einer flotten Blechmusik setzte er sich in Bewegung, nordwärts, nordwärts dem Meere zu.

Dekor

II.

Inhaltsverzeichnis

Erste Stunden an Bord. — Bau der „Auguste Viktoria“. — Verpflegung. — Toiletten. — Schiffskapelle. — Norwegische Küste in Sicht. — Ankunft.

An Bord der „Auguste Viktoria“ im Fjord von Romsdal vor Naes, 6. Juli Abends.

Bei herrlichstem Wetter liegen wir hier vor Anker, um in zwei Stunden nach Trondhjem, der Wiege und Krönungsstadt des norwegischen Reiches, abzudampfen. Zurück nach der Elbemündung, wo mein erster Brief stehen geblieben ist!

Die ersten Stunden an Bord entbehrten der Komik nicht. Allerdings waren zuvorkommende Stewards in Menge da, um den Passagieren die Kabinen anzuweisen; aber sobald man seinen Schlupfwinkel verlassen, sah man sich in einem wahren Labyrinth von Kreuz- und Quergängen, in welchen eine Orientierung vorläufig nicht möglich schien. Die Kabinen sind in drei Etagen über einander angebracht; steile Treppen stellen die Verbindung her und wer in den engen Korridoren umherirrt, täuscht sich anfänglich nach allen Richtungen der Windrose, ist rat- und thatlos. Letzteres eigentlich nicht, denn bald pufft er energisch mit einer daherstürmenden Lady zusammen oder fällt einem um die Ecke fliegenden Steward in die Arme — oder aber er sieht sich plötzlich in einer Sackgasse und muß ärgerlich den Rückzug antreten. Ich kenne Menschen, die im erhebenden Bewußtsein, ihre Sache trefflich zu machen und ausgezeichnete Pfadfinder zu sein, im Vorderteil des Schiffsrumpfes herumsuchten, während ihr Daheim doch 100 Meter davon entfernt gegen das Steuer zu lag.

Einige Angaben über die Dimensionen unseres Schiffskolosses werden dies begreiflich erscheinen lassen. Die „Auguste Viktoria“ wurde seiner Zeit mit einem Aufwand von sieben Millionen Mark erbaut und hat in den letzten Jahren eine vollständige Umgestaltung erfahren, indem das gewaltige Schiff in der Mitte geteilt und durch Einfügung eines 15 Meter langen Mittelbaues vergrößert wurde — eine Ausgabe von weiteren 2 Millionen Mark. Sie ist ein sogenannter Doppelschraubendampfer, d. h. die bewegende Kraft ist auf zwei getrennte Maschinen und zwei Schrauben verteilt, sodaß bei etwaigem Schaden an einer Maschine die Bewegungs- und Manövrierfähigkeit des Schiffes nicht aufhört. Maschinen- und Kesselräume sind durch einen starken Längsschott unter der Wasserlinie in zwei Hälften geschieden, so zwar, daß wenn auch der eine Maschinenraum bei einer Kollision oder Explosion sich mit Wasser füllt, das Schiff deshalb weder sinken, noch unlenksam werden kann. Wasserdichte Querschotten, welche im Momente der Gefahr geschlossen werden, so daß dann das ganze Schiff aus 11 wasserdichten Abteilungen besteht, erhöhen die Sicherheit — auch für den Fall einer Kollision — außerordentlich. Aber auch die Steuerfähigkeit des Schiffes wird durch dieses Doppelschraubensystem in wunderbarer Weise vermehrt; arbeitet die eine Schraube vorwärts, die andere rückwärts, so dreht sich der Koloß auf der Stelle, ohne einen Meter sich vorwärts zu bewegen. Dieses Manöver sehen wir in den engen nordischen Fjords täglich ausführen; aber auch bei schnellster Fahrt soll es möglich sein, ganz rasch zu wenden und dann einer drohenden Kollisionsgefahr zu entgehen. Die Länge unseres Schiffes beträgt 530 Fuß, die Breite 60 Fuß, die Tiefe 35 Fuß; 125 Heizer schleudern Tag um Tag 6000 Zentner Kohlen in die 56 Feuerstellen. Die übrige Bemannung besteht aus 35 Bootsleuten und Matrosen, 24 Maschinisten, 3 Offizieren, 30 Köchen und Handwerkern und 96 Stewards und Stewardessen und — extra für diese Nordlandsfahrt — aus den 20 Berufsmusikern, welche unsere Schiffskapelle bilden. Drei mächtige Kamine von 10 Meter Umfang senden ihre dunkeln Rauchwolken zum Himmel; 18 Sicherheitsboote für je 40 bis 50 Menschen werden mitgeführt; alles Vorhandene geht in riesige Dimensionen, und dabei ist die innere Ausstattung des Schiffes von einer Pracht und einem Komfort, wie ich sie zur See noch nirgends angetroffen habe. Die Kabinen sind mit polierter Ahorn- und Mahagoniarbeit versehen; überall — in jedes Waschbecken — läuft ein Hahn mit fließendem Wasser; jeder Winkel ist elektrisch beleuchtet und neben den Schlafstellen sind sogar Kontakte für elektrische — Haarkräuselungsapparate angebracht, von welchen ich allerdings bis jetzt noch keinen Gebrauch gemacht habe. Außer den zwei gewaltigen Hauptmaschinen funktionieren Tag und Nacht — auch bei Ruhe des Schiffes — noch Extramaschinen für elektrisches Licht, für Eisbereitung und für Herstellung von Süßwasser. Die luxuriöse Wasserversorgung in den Kabinen, Badezimmern und Aborten ist ein Hauptfortschritt der neuesten Passagierdampfer. Die Speise-, Konversations-, Musik- und Rauchsalons sind mit übertriebenem Luxus ausgestattet; an allen Ecken sorgen elektromotorische Fächer geräuschlos für Lufterneuerung. Ist man im Verlaufe einiger Tage einmal in den labyrinthischen Gängen und Abteilungen des Schiffsinnern orientiert, so kann man nur staunen über die vortreffliche, auf alles bedachte, jeden Raum ausnützende und doch einheitliche und durchsichtige Einteilung des schwimmenden Gebäudes.

Der Qualität der Dampfer entsprechend ist auch die Verpflegung. Man glaubt, in einer Mastkuranstalt zu leben. Von 6 Uhr morgens bis nachts 12 Uhr ist ununterbrochen Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme, und sind wir einmal im Gebiete der Mitternachtssonne, so wird das Tafeln auch während der bisher beobachteten Schonzeit kein Ende nehmen. Morgens 6 bis 8 Uhr wird Thee, Chokolade, Kaffee mit Zuthaten serviert; 8 Uhr ist erstes Frühstück, 1 Uhr zweites Frühstück, 7 Uhr Diner, alle Mahlzeiten von der Reichhaltigkeit eines Festessens erster Güte. Zwischenhinein aber zirkulieren überall Stewards mit Thee, Kaffee, Limonade, Kakao, Sandwiches aller Art, Früchten etc. — alles gratis; nur die alkoholischen Getränke (Pschorr, Zacherl, Münchner Bürgerbräu und Pilsner Hofbräu vom Faß etc. etc.) müssen extra vergütet und — getrunken werden.

Man verzeihe diesen materiellen Exkurs; er gehörte zur Schilderung des Schlaraffenlebens auf dem Nordlandfahrer „Auguste Viktoria“; übrigens erhält das so stark betonte und prosaische Verdauungsgeschäft einen künstlerischen, fast poetischen Anstrich dadurch, daß durch das bekannte Trompetensignal aus dem Beethoven’schen „Fidelio“ jeweils dazu eingeladen wird. Den zu diesem Eß-Signal beorderten Stabstrompeter bezeichnete der Witz der letztjährigen Nordlandsfahrer als „Trompeter von Eß-lingen“. Er wird von den herumliegenden Passagieren — wenigstens denjenigen der Rauchkabine — meist mit einem Geheul begrüßt, das an die Töne einer Menagerie in der Nähe der Fütterungszeit erinnert.

Schon nach einer Stunde, welche durch Vorträge der Kapelle auf Deck gekürzt wurde, ließen wir Cuxhaven links liegen, grüßten die „Alte Liebe“ — jene so benannte altehrwürdige Landungsbrücke, welche die Auswanderer auf ihr Schiff leitet, und als das Diner vorüber war, sahen wir uns dicht an der Ostküste von Helgoland, dessen Häuser hell beleuchtet erschienen.

Ein Spaziergang auf Deck zeigte uns ein wunderbares Völkergemisch und eine wahre Ausstellung von schönen und absurden Toiletten. Speziell durfte die Kopfbedeckung der Damen auf Vielseitigkeit und Originalität Anspruch machen; von der deutschen Infanterie- und Artillerie-Offiziersmütze auf den Köpfen einiger koketten Amerikanerinnen bis zur Lootsen-Kappe fehlte keine Variation. Ich bin glücklich zu sagen, daß auch ich, dem die eigene Toilette sonst leider zu sehr „wurst ist“, etwas Aufsehen erregte durch einen Lodenmantel, den ich mir in Hamburg gekauft, um gegen die Unbill der arktischen Witterung und gegen die Eisbärentatzen geschützt zu sein. Die beim Kaufe im Dunkel der Nacht mir als grau erschienene Farbe entpuppte sich nämlich bei dem Glanze der Tagessonne als spinat- oder bohnengrün, so daß ich von meinen zwei Lebens-, Leidens- und Reisegefährtinnen bei meinem ersten gloriosen Auftreten mit diesem Kunstwerk der Schneider- und Färbekunst als „Grüner Heinrich“ begrüßt wurde.

Das Meer blieb die ganze Nacht ziemlich ruhig; Seekranke gab es kaum. Abends war flottes Konzert von unseren zu komplettem Orchester umgewandelten Blechmusikkünstlern, die wirklich vortrefflich spielten — Heiteres und Ernstes, zum Schlusse natürlich den Meyer-Polka, den die zahlreichen anwesenden „Meyers“ mit stürmischem Applaus lohnten.

Am Morgen des 3. Juli kam bei 58° Breite die inselreiche norwegische Küste zu Gesicht; einige Segler belebten das Meer in malerischer Weise; mittags näherte sich bei Kopervik der Lootse unserm Schiff, das er durch die vielgestaltigen Fjorde lenken soll. Immer näher und deutlicher traten die Ufer — graue Klippen mit eingestreutem Busch- und Grasgrün und einzelnen freundlichen Häusergruppen, im Hintergrund Berg an Berg, wunderbar geformte Linien, und als Abschluß des Horizontes blendend weiße Schneegipfel, hie und da auch ein mächtiger Gletscher.

Böllerschüsse ertönen; unsere Kapelle spielt die norwegische Nationalhymne; der Lootse steigt an Bord, salutiert, besteigt die Kommandobrücke; die Falltreppe wird unter dem bekannten rhythmischen Gesang des leitenden Matrosen aufgezogen; das Schiff dreht nach Osten ab; eben bricht die Sonne durch die Wolken und vorwärts geht’s in die zauberhaften Schönheiten der nordischen Schärenlandschaften.

Dekor

III.

Inhaltsverzeichnis

Fjorde und Schären. — Hardangerfjord. — Ankunft in Odde. — Buarbrae. — Unglücksfall bei der Abfahrt. — Molde. — Naes. — Romsdal. — Ball an Bord. — Abendstimmung. — Ankunft in Drontheim.

Nördliches Eismeer 76° nördl. Breite, 11. Juli 1899.

Vor 30 Stunden haben wir dem alten Europa an seinem nördlichen Markstein, dem Nordkap, Valet gesagt und steuern dem Endziele unserer Fahrt, Spitzbergen, zu. Die Temperatur ist auf 2° C. gesunken; Himmel und Meer sind unheimlich grau und düster; undurchdringliches Gewölk verbirgt die Sonne und mit stark verminderter Geschwindigkeit sucht unser Schiff seinen Weg durch Nebel und spärliches Treibeis, geführt von zwei im Dienst ergrauten norwegischen Lootsen. Ein gelegentlich zu Gesicht kommender schwimmender Eisberg zeigt uns, wie wohlbegründet die reduzierte Fahrgeschwindigkeit und die vermehrte Vorsicht sind. Bei einem Zusammenstoß mit einem derartigen nordischen Riesen könnten alle technischen Vollkommenheiten unseres Schiffes zu Schanden werden.

Ueber das mit heute eingetretene schlechte Wetter dürfen wir nicht ungehalten sein; denn bis jetzt ging alles nach Wunsch und wir konnten die Schönheiten der norwegischen Küstenlandschaften bei herrlichstem Sonnenlichte genießen, das nordische Meer und die Mitternachtssonne in einer Pracht, wie sie wohl wenigen Reisenden zu Teil wird.

Es war vom Süden Norwegens bis zum nördlichen Ende eine Lustreise durch herrlichen sonnenwarmen Frühling. Den glänzenden Anfang bildete die Fahrt durch den vielbesungenen Hardanger Fjord. Fjorde heißt man bekanntlich die Meeresbuchten, in welche die norwegische Westküste gegliedert ist. Sie zeichnen sich vor andern Golfen dadurch aus, daß sie außerordentlich tief — bis über 200 Kilometer weit — und vielfach verzweigt in das Land eindringen. Im Verhältnis zu ihrer Länge sind sie schmal, überall von mächtigen, steilen Bergwänden eingefaßt; ihre innersten und engsten Endpunkte, bei welchen dieser Charakter am meisten ausgeprägt erscheint, gleichen auffallend unsern Alpenseen. Sie schneiden in die höchsten Teile des Landes ein; Felswände bis zu 1500 Meter fallen senkrecht und unnahbar in den dunkeln, ruhigen Golfspiegel ab; sie sind von den Gletschern der Eiszeit glatt gescheuert und wo an ihren Leisten und Absätzen die Verwitterung etwas lockere Erde geschaffen, sproßt üppiges, strotzendes Rasengrün. Blendend weiße Wasserfälle stürzen über diese von lebendig grünen Bändern durchzogenen, dunkeln Urgesteinswände und gekrönt sind sie durch flache Firnfelder; dazwischen in schwindelnder Höhe zeigt sich ab und zu ein blauer Gletscherabbruch.

Nirgends öffnet sich der Fjord direkt ins Meer; nirgends bespült der atlantische Ozean direkt das norwegische Festland, sondern die ganze über 3000 Kilometer lange Küste ist von zahllosen Inseln und Klippen — den sogenannten Schären — eingehüllt, die — groß und klein, niedrig und gebirgig, die meisten aber trostlos kahl — zu Tausenden in Gruppen beisammen liegen und die brandenden Wogen des Ozeans brechen, so daß die Dampfer in ruhiger Fahrt zwischen ihnen und der Küste nordwärts gelangen können.