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Burt Frederick

Der
Hurrikan

Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-747-1
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Die Luft war plötzlich erfüllt von einem seltsamen Zittern.

Es geschah an jenem späten Nachmittag des 18. September Anno 1593, dem in der Chronik des spanischen Stützpunkts Pensacola ganze Kapitel voller Trauer und Bestürzung gewidmet werden sollten. Nur wenige der Menschen in der jungen Ansiedlung erfaßten die Bedeutung der Zeichen, die die Natur ihrem Groll vorausschickte. Denn nur wenige dieser Menschen lebten lange genug in der Neuen Welt, um all das zu kennen, was dieser Teil des Erdballs an Eigenheiten aufwies.

Es war dieses Zittern der Luft, das jeden einzelnen aus seinem gewohnten Tagesverlauf aufschrecken ließ. Von einer Minute zur anderen fiel das Atmen schwer, und ein unerklärlicher Druck legte sich auf die Brust. Dann unvermittelt, setzte ein fernes Geräusch ein, das so klang, als schicke der Teufel seine Stimme aus der Tiefe der Erde herauf.

Niemand vermochte zu sagen, woher dieses Geräusch stammte. Für die einen war es ein ferner Donnerhall, der aber auf rätselhafte Weise von allen Seiten auf sie eindrang. Für die anderen waren es die Vorboten eines Erdbebens, das sich mit urgewaltigem Dröhnen ankündigte.

All jene, die sich im Freien aufhielten, legten den Kopf in den Nacken und schickten ein stummes Stoßgebet zum Himmel, von dem sie hofften, er möge ihnen gnädig gesonnen sein.

Was ihnen von dort oben her aber drohte wußte nur die kleine Schar derer, die schon lange genug ihren Dienst in der neuentdeckten Welt leisteten. Die Natur, so sagte man, sei hier launischer als ein spanisches Edelfräulein. Selbst dann, wenn man glaubte, diese Señorita zu kennen, erschreckte sie ihre Umgebung mit immer neuen, bösen Überraschungen.

In der aus Stein gebauten Kirche „Gracia de la Santa Madre de Dios“ schreckte der Geistliche auf, der mit tief geneigtem Kopf vor dem Altar kniete. Schritte von harten Stiefelsohlen polterten herein und hallten in entwürdigender Lautstärke durch das Kirchenschiff.

„Padre!“ brüllte eine rauhe Männerstimme. „Verdammt noch mal, sind Sie nicht bei Trost?“

Der Geistliche zuckte zusammen. Entsetzen und Zorn packten ihn im selben Atemzug. Er vergaß die inbrünstige Zwiesprache, die er geführt hatte. Voller Grimm richtete er sich auf und wandte sich um. Drei Soldaten waren es, die in lästerlicher Weise durch das Gotteshaus auf ihn zustürmten.

„Was ist in euch gefahren!“ rief er donnernd. „Nicht allein, daß ihr die Ruhe dieses heiligen Ortes stört! Nein, auch noch mit einem Fluch auf den Lippen wagt ihr es …“

Sie marschierten geradewegs auf ihn zu, ein Sargento und zwei Soldaten.

„Seien Sie still!“ herrschte ihn der Sargento barsch und respektlos an. „Was fällt Ihnen ein, hier tatenlos herumzuhocken! Menschenleben stehen auf dem Spiel, vielleicht Hunderte. Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als vor Ihrem Altar zu knien? In den Turm! Los, los, läuten Sie die Sturmglocke, wenn Sie das noch schaffen!“

Der Padre erbleichte und rang nach Atem. Niemals hatte er in seinem Priesteramt eine solche Unverschämtheit hinnehmen müssen. Doch er fand keine Zeit mehr, diesen Sargento zurechtzuweisen.

Jäh verdunkelte sich das Licht, das durch die bunt verglasten Apsisfenster hereinfiel. Dem Geistlichen war es, als legten sich schlagartig satanische Schatten in die Gesichtszüge der Soldaten, die ihn mit unerbittlichem Nachdruck anstarrten.

Er warf sich herum und hastete mit wehender Soutane zum Turmaufgang, als hetzten ihn Furien. Was ihn vorantrieb, begriff er noch nicht. Warum hatte er den Sargento nicht entschiedener zurechtgewiesen?

Etwas Unerklärliches geschah. Ohne erkennbaren Grund war er von einer plötzlichen tiefen Furcht gepackt. Diese hereinbrechende Finsternis, was hatte sie zu bedeuten? Das Wort „Sturmglocke“ hallte im Kopf des Padre nach.

Erst vor einem halben Jahr hatte er das Mutterland Spanien verlassen, um in den neuen Kolonien Seiner Allerkatholischsten Majestät der Kirche zu dienen. Nur die Menschen waren es, die die alten Traditionen in gewohnter Weise fortsetzten. Die Umgebung jedoch, dieses feuchte und stickig heiße Stück Erde, war fremd und feindselig.

Keuchend und mit hämmernd schlagendem Herzen erreichte der Padre den Glockenstuhl. Er wollte nach dem Seil greifen, das die kleinste der drei Bronzeglocken in Bewegung setzte. Doch es gelang ihm nicht sofort. Die Luft, die durch die offenen Turmfenster hereindrang, traf ihn wie ein Keulenhieb. Dabei war die Bewegung der Luft eher sanft. Aber sie hüllte ihn ein wie eine säuselnde und schleichende Gefahr, wie eine zähe Masse, die sich nicht mehr einatmen ließ und ihn von allen Seiten umklammerte.

Nach Atem ringend wankte er auf eins der Turmfenster zu und stützte sich auf die Brüstung. Und da vernahm er auch dieses tiefe Grollen, das die Erde erzittern ließ. Mit schreckensweiten Augen starrte der Geistliche über die Dächer von Pensacola.

Dort, weit entfernt im Osten, änderten sich die Farben des Himmels in einem furchteinflößenden Wechselspiel. Schwarze Wolken wirbelten vor schweflig gelbem Hintergrund und wurden im nächsten Moment wie von Gigantenfäusten zerrissen. Lichtbahnen jagten durch die Düsternis, die sich nach allen Seiten ausgebreitet hatte.

Dann, plötzlich, erstarrte der Padre vor Entsetzen.

Es begann in den hohen Wipfeln der Zypressen, mehr als zwei Landmeilen östlich der Stadtmauern.

Eine Schneise entstand in jenem Zypressenwald. Es war, als rase eine riesige, doch unsichtbare Pflugschar hindurch, geradlinig im ersten Moment, doch dann in einer wilden und unkontrollierten Kreisbewegung. Innerhalb von Sekunden geschah es. Bäume knickten weg wie Kienspäne, Äste, ja ganze Stämme wirbelten durch die Luft – fortgetragen von einer wütenden Macht, die sie dann irgendwo weit entfernt lustlos wieder fallen ließ.

Das Dröhnen, das eben noch verhalten geklungen hatte, steigerte sich zu einem Donnern. Im selben Atemzug fauchte die erste Bö über den Stützpunkt, sprang über die Mauern und jagte durch die Gassen. Staubfahnen wurden hochgewirbelt. Angstschreie von Menschen wurden laut. Hunde stimmten ein klagendes Geheul an.

Der Padre erwachte aus seiner Erstarrung. Sein Zorn gegen die Soldaten und ihr rüdes Verhalten wechselte in ein Schuldgefühl. Er schlug das Kreuz. O Gott, sie hatten recht gehabt! Was war mit seinem Verstand geschehen, daß er nicht begriffen hatte?

Er stürzte an das Glockenseil, reckte sich hoch und zog mit seinem ganzen Gewicht. Den Blick nach Osten gewandt, sah er, wie sich jene wirbelnde Schneise im Zypressenwald verbreiterte. Splitterndes Holz und Wolken von Laub spritzten nach beiden Seiten weg, wie von einem urgewaltigen Zimmermannshobel getrieben. Und – der Atem des Padre stockte – Tierleiber, blutig und zerfetzt, flogen plötzlich in diesem Chaos durch die Luft.

Endlich erhob die Glocke ihre dünne Stimme. Zitternd und zaghaft klang sie gegen das Donnern und Brüllen der Naturgewalten. Neue Böen stießen in die Gassen von Pensacola, in immer rascherer Folge tobten die Vorboten des Sturms, als kundschafteten sie die Lebensadern dieser Stadt aus, die es zu vernichten galt.

Der Stützpunkt war jetzt wie ausgestorben. Niemand hielt sich mehr im Freien auf. Ein wenig Erleichterung befiel den Padre. Hatte die Glocke sie vielleicht doch noch rechtzeitig gewarnt?

Und niemand in Pensacola mußte das Grauenvolle ansehen, wie es für ihn in der Höhe des Kirchturms offenbar wurde.

Die harte, erbarmungslose Riesenfaust des Sturms fegte auf die Stadtmauern zu. Wolken jagten und tanzten, zerrissen und formten sich neu. Das Licht begann ein wildes Wechselspiel von staubigem Grau bis zur finsteren Schwärze des Grauens. Die Gewalt der Böen packte auch den Geistlichen auf dem Turm. Doch er krampfte seine Hände nur noch fester um das Seil und hielt nicht inne, seinen Glockenklang dem Inferno entgegenzuschicken.

Sekunden später brach es über Pensacola herein. Baumstämme krachten auf die Stadtmauer. Dachschindeln des Wehrganges wurden hochgewirbelt. Das Donnern und Brausen der Naturgewalten erstickte jeden anderen Laut. Alle Armeen dieser Welt, so schien es dem Padre, hätten gemeinsam keinen mächtigeren Kanonendonner anstimmen können.

Sein Entsetzen war verbissener Entschlossenheit gewichen. Die Glocke durfte nicht verstummen. Sie mußte den Menschen Zutrauen geben und den Gedanken in ihnen wachhalten, daß es eine höhere Gerechtigkeit gab. Nein, er würde nicht innehalten, an dem Glockenstrang zu ziehen. Keine noch so teuflische Macht konnte ihn davon abbringen.

Krachende Schläge mischten sich in den Donnerhall, als ganze Dächer wie Teile von Holzspielzeug davongetragen wurden und zerberstend andere Gebäude zum Einsturz brachten. Und wieder war es wie eine Schneise, die gegraben wurde, eine Schneise, die sich fast über die ganze Breite von Pensacola erstreckte. Die aus Stein gemauerten Gebäude jener Art, wie sie in Europa jahrhundertelang Wind und Wetter zu trotzen vermochten, erwiesen sich als nutzlose Bollwerke gegen eine Gewalt, die stärker war als alles, was Menschenhand jemals errichtet hatte.

Es gab kein Dach, das dem Sturm standhielt. Mauern blieben stehen, doch sie spendeten den Menschen keinen Schutz mehr. Schreie gellten durch das Wüten des Sturms.

Mit brennenden Augen sah der Padre, wie die Menschen von herabwirbelnden Trümmern und Dachbalken erschlagen wurden. Menschliche Körper wurden wie Spielzeugpuppen durch die Luft geschleudert und auf Mauerresten oder den zersplitterten Ruinen von Holzhäusern zerschmettert.

Im Hafen von Pensacola kochte und brodelte das Wasser. Boote wurden losgerissen und wie Nußschalen zerbrochen. Die größeren Schiffe zerrten an ihren Festmachern, und es war nur noch eine Frage der Zeit, daß auch sie den entfesselten Gewalten zum Opfer fielen.

Die Schreie der Sterbenden und Verletzten mehrten sich, übertönten den wimmernden Glockenklang und stachen schmerzhaft in das Gehör des Geistlichen. Das Donnern des Sturms ließ nicht nach und wollte kein Ende nehmen. Erst dann, so schien es, würden die finsteren Mächte nachgeben, wenn Pensacola dem Erdboden gleich war. Eine Hoffnung hatten nur jene, die in den wenigen Kellerräumen des Stützpunkts betend ausharrten.

Der Padre spürte nicht, wie ihn die tobenden Böen am Glockenseil hin und her pendeln ließen. Er bemerkte nicht, wie ein Wanken auch den Kirchturm erfaßte.

Plötzlich, unter einem berstenden Schlag, wurden das Dach und die Turmspitze buchstäblich abgerissen. Nur noch ein Atemzug blieb dem Geistlichen, um das Grauenvolle zu erfassen. Dann lösten sich die ersten Steinbrocken aus dem Mauerwerk des Turms. Im nächsten Moment wurde der Glockenstuhl aus seiner Verankerung gerissen.

Bei aller Kraft, die er hatte, vermochte der Sturm doch nicht die drei mächtigen Bronzeglocken davonzutragen. Unter dem Tonnengewicht der Bronzeleiber stürzte der Padre ab und wurde von ihnen auf dem Erdboden neben seiner Kirche erschlagen.

2.

Bis in die Tiefe des Kerkers war es zu hören – das Toben und Brüllen des Sturms, die gellenden Schreie der Sterbenden und Verletzten, das Krachen der einstürzenden Gebäude. Ja, selbst durch das verschachtelte System der Gänge und Treppenschächte drang der Luftzug bis tief unten zu den Zellen vor und ließ die Flammen der Fackeln blaken, die in eisernen Ringen an den Wänden befestigt waren.

„Ein Geschenk des Himmels“, flüsterte Mardengo seinen Männern zu. „Etwas Besseres als diesen Hurrikan können wir uns nicht wünschen.“

Sie starrten ihn entgeistert an. Angsterfüllt kauerten sie im Halbdunkel der Zelle beieinander, instinktiv waren sie zusammengerückt. Es gab ihnen das Gefühl, sich gegenseitig Schutz zu spenden.

Und ihr Anführer redete so unverfroren daher! Sie konnten es nicht fassen. Doch das Grinsen, das die blutrote Narbe vom linken Ohr bis zum Kinn dehnte, bestätigte seine Worte. Er meinte es wirklich so, wie er es sagte. Seine schwarzen Augen glitzerten tückisch, während er sich mit einer heftigen Handbewegung durch das dunkle Kraushaar fuhr.

„Wir können froh sein“, entgegnete einer der Männer gepreßt, „wenn wir nicht verschüttet und lebendig begraben werden.“

Mardengo verzog verächtlich das Gesicht.

„Habt ihr die Hosen voll, ihr Feiglinge? Ihr tut so, als hättet ihr noch nie einen Hurrikan erlebt.“

„Mehr als genug“, entgegnete der andere. „Und wir haben Kerle sterben sehen, die Tod und Teufel nicht fürchteten.“

„Aber da gab es auch keinen sicheren Keller, in den ihr euch verkriechen konntet. Also reißt euch gefälligst zusammen und …“ Er verstummte. Schritte und gedämpfte Stimmen näherten sich. Mardengo senkte seine Stimme abermals zum Flüsterton, als er weitersprach. „Haltet jetzt das Maul. Laßt mich die Sache erledigen. Vielleicht ist das schon unsere Chance.“ Er deutete zum Vorraum, der sich vor den Gittertüren der Zellen entlangzog und von Fackeln erhellt war.

Langsam richtete sich der Anführer der Piraten auf und trat an das schmiedeeiserne Gitter.

Noch immer waren das Toben der Naturgewalten und die markerschütternden Schreie zu hören. Der Hurrikan würde noch geraume Zeit andauern, ehe er abflaute und über dem Feld seiner Verwüstungen Stille einkehren ließ.

Ein Zischlaut ertönte aus der Nachbarzelle zur Linken. Okachobee, Mardengos Mutter, war dort mit dem Rest der Horde eingesperrt.

Die Schritte näherten sich rasch und waren bereits im letzten Treppengang vor den Kerkerzellen.

„Was ist?“ rief Mardengo halblaut.

„Wirst du es versuchen?“ erwiderte Oka Mama. Alle nannten die Mutter des Piratenführers so, da sie ihren richtigen Namen kaum aussprechen konnten.

„Und ob“, antwortete Mardengo voller Vorfreude. „Wenn es jetzt nicht klappt, klappt es nie.“ Er grinste in die Richtung, in der er seine Mutter wußte, obwohl er sie nicht sehen konnte.

„Dann ist es gut“, sagte Oka Mama leise, „vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen.“

Mardengo schwieg, denn die Schritte erreichten den Vorraum.

„… sind wir nur noch hier unten sicher“, war eine Männerstimme in spanischer Sprache zu vernehmen.

„Auf die Gesellschaft dieser verdammten Galgenstricke würde ich gern verzichten“, sagte eine zweite Stimme. „Aber es ist wohl das kleinere Übel, das wir in Kauf nehmen müssen.“

Mardengo war versucht, eine Verwünschung hinauszubrüllen. Aber er bezwang sich. Eine vorzeitige Auseinandersetzung mußte er vermeiden.

Ihre Brustpanzer schoben sich schimmernd ins Fackellicht. Sie trugen noch ihre Helme, vermutlich hatten sie sich damit in den oberen Stockwerken gegen Steinschlag geschützt. Normalerweise konnten sie innerhalb der Diensträume auf den unbequemen Eisenhut verzichten.

Zufrieden registrierte Mardengo, daß es sich lediglich um zwei Soldaten handelte. Beide waren mit Pistolen und Säbeln bewaffnet. Er konnte nur hoffen, daß sein Vorhaben gelang, ehe weitere von ihnen auftauchten.