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Fred McMason

Die Geleitzugschlacht

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Es war ein seltsames Gefühl, das Don Juan de Alcazar in diesen frühen Morgenstunden plötzlich überfiel. Die Welt um ihn herum verlor an Bedeutung – jene Welt, die seit Tagen nur aus dem Rauschen der Wogen bestanden hatte, aus sengender Sonne und sich rasch auftürmenden Wolken, aus sternenklaren Nächten und undurchdringlicher Finsternis.

Noch immer war der Salzgeschmack der Gischtschwaden zu verspüren, die alles durchdringend über das kleine Fischerboot hinwegstrichen. Noch immer stieg aus dem Inneren des Bootes jener unauslöschliche Geruch auf, der das Handwerk seiner Eigner ein Leben lang begleitete. Doch ebenso wie Wind und Wetter, gehörte das alles auf einmal der Vergangenheit an.

Ursache dafür waren allein die Konturen, die sich nebelhaft über der wolkenverhangenen Kimm abzeichneten. Das Land und die Umrisse der Festungsanlagen wuchsen wie aus dem Nichts auf und begrenzten jäh die scheinbare Unendlichkeit des Meeres.

Kuba war nahe.

Havanna.

Der hochgewachsene Mann rieb sich die Augen, deren Lider und Wimpern salzverkrustet waren. Seit mehr als einer Stunde harrte er im Bugraum des Bootes aus, zwischen zusammengerollten Netzen und Tauen. Eine fieberhafte Erwartung hatte ihn gepackt, ähnlich wie nach der langen Reise über den Atlantik, als er zum ersten Mal die Neue Welt erblickt hatte. Und doch war es anders diesmal.

Don Juan hatte das Gefühl, heimzukehren.

Eben dieses Empfinden war es, das er an sich selbst nicht begriff. Wie war es möglich, daß er sich nach Havanna sehnte? Dies war nicht seine Heimat, nicht einmal sein zweites Zuhause. Überdies waren es zum größten Teil unangenehme Erinnerungen, die ihn mit dieser Stadt verbanden. Aber dennoch empfand er eine beinahe kindliche Freude, endlich zurückzukehren.

Vielleicht lag es daran, daß jeder Mensch nach Unrast und Wirren einen Ort brauchte, mit dem er vertraut war, wo er sich zur Ruhe begeben und neue Kräfte sammeln konnte. Ja, von der Seite aus betrachtet, mußte Havanna doch eine Art Zuhause für ihn sein.

Die Stimme Pedro Murenas unterbrach seine Gedanken, ohne sie zu stören.

„Land in Sicht, Señor!“ rief der Fischer erfreut.

Don Juan lächelte, als ihm bewußt wurde, daß seine Augen die schärferen waren. Er wandte sich um und bedachte den stämmigen Mann an der Ruderpinne mit einem dankbaren Blick. Murena strahlte über das ganze wettergegerbte Gesicht. Sein vierzehnjähriger Sohn Luis schlief hinter ihm im Heckraum des Bootes, in Decken eingerollt.

„Ich habe es schon gesehen, Pedro“, sagte de Alcazar. „Sie sind ein ausgezeichneter Navigator, mein Freund. Wir laufen direkt auf Havanna zu.“

„Oh, das ist Zufall, Señor“, entgegnete der ältere Mann bescheiden. „Wir haben einfach Glück gehabt. Und einen günstigen Wind.“

Don Juan schüttelte den Kopf, versuchte aber nicht weiter, den Fischer von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Pedro Murena gehörte zu jener Sorte Mensch, die sich nie in den Vordergrund drängte. Sicher war er stolz auf seine Leistung, aber es war ihm unangenehm, wenn das hervorgekehrt wurde.

Das Segel des Bootes, mehrfach ausgebessert und doch zuverlässig, stand bretthart vor dem handigen West-Nord-West. In der Tat hatten die günstigen Winde der vergangenen Tage und Nächte entscheidend zur zügigen Rückkehr nach Havanna beigetragen.

Don Juan wandte sich wieder nach vorn und spähte über den sich hebenden und senkenden Bug des Bootes hinweg.

Die Umrisse der Festungsanlagen, jetzt schon wesentlich näher, gewannen wenig an Deutlichkeit. Der Morgenhimmel war bedeckt. Kein Sonnenstrahl brach durch. Dieser 31. Mai des Jahres 1594 war ein Tag, an dem es nicht vollends hell werden würde. Die tief hängenden Wolkenbänke waren regenschwanger, und an Land ächzten die Menschen vermutlich unter der hohen Luftfeuchtigkeit.

Was geschehen war, schien in weiter Ferne zu liegen.

Seit dem Beginn seiner Genesung hatte Don Juan versucht, die Erinnerung an die mißglückte Jagd auf den Seewolf aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er mußte einen neuen Anfang setzen. Zuviel Widersprüchliches und Ungereimtes hatte sich in seinem Bewußtsein eingenistet. Er brauchte einen klaren Kopf. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, das ihn an den Ausgangspunkt seiner Mission zurückbrachte – nach Havanna.

Er erinnerte sich nur schwach daran, wie er bei dem Arzt in Jaguey an der kubanischen Nordküste zu neuen Kräften gelangt war. Allzu lange hatte er sich in einem fiebrigen Dämmerzustand befunden. Grund dafür war der Streifschuß an der linken Kopfseite gewesen, der sich entzündet hatte. Den angebrochenen Knöchel hatte der Arzt fachgerecht geschient.

Pedro Murena und sein Sohn, die ihn in Jaguey abgeliefert hatten, waren in den darauffolgenden Tagen mehrmals erschienen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Erst nach sechs Wochen aber, am 25. Mai, war er fieberfrei gewesen und hatte humpelnd die ersten Schritte unternehmen können. Nach weiteren drei Tagen hatten die Murenas sich dann bereit erklärt, ihn nach Havanna zu segeln.

Die Festungsmauern tauchten aus dem Dunst auf.

Aus den Schornsteinen stieg der Rauch der Küchenfeuer, wurde vom Wind zerrissen und zu den Wolken getrieben. Der Anblick der beiden Forts, wo jetzt die Soldaten vermutlich zur Morgenmahlzeit rüsteten, hatte etwas beinahe Friedliches. Das Castillo del Morro wachte an der Ostseite der engen Hafeneinfahrt. Auf der anderen Seite, im Westen, erhob sich das Castillo de la Punta mit seinen Zinnen.

Ein einmastiges Patrouillenboot kreuzte in der Mitte der Einfahrt. Es näherte sich mit einem langen Kreuzschlag, vollführte eine Halse und näherte sich der Backbordseite des Fischerbootes auf Parallelkurs. Außer dem Rudergänger und drei Decksleuten war der Einmaster mit zehn Soldaten besetzt. Helme und Brustpanzer waren matt und glanzlos im trüben Tageslicht.

Das Kommando führte ein Teniente, der vom Achterdeck herüberspähte.

„Geben Sie Namen und Herkunft bekannt!“ brüllte er herüber. „Was ist Ihre Absicht in Havanna?“

Meine Absicht in Havanna, dachte Don Juan belustigt, wahrhaftig eine gute Frage! Er wandte sich zum Schanzkleid und antwortete dem Offizier, nachdem er Pedro Murena einen Wink gegeben hatte, zu schweigen.

„Ich bin Don Juan de Alcazar, Sonderbevollmächtigter des spanischen Königshauses. Im Rahmen meines Auftrags wurde ich verwundet Pedro Murena“, er deutete mit einer Kopfbewegung nach achtern, „und sein Sohn halfen mir in schwierigster Lage. Und sie waren bereit, mich nach Havanna zurückzubringen.“

Der Gesichtsausdruck des Teniente erhellte sich. Er hob die Rechte zum Gruß. Respektvoll nahm er Haltung an.

„Ich bitte höflichst um Verzeihung, Señor de Alcazar. Es war nicht meine Absicht, Sie in irgendeiner Weise zu behindern. Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Don Juan winkte lächelnd ab.

„Nicht nötig, Teniente. Vielen Dank.“

„Ich erinnere mich jetzt an Sie!“ rief der Offizier, und sein Tonfall war weniger militärisch. „Es ist mir außerordentlich peinlich, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Aber, mit Verlaub, Sie haben sich ein wenig verändert, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe.“

Don Juan nickte, und sein Lächeln verlor sich. Zuletzt hatte er in Jaguey in einen Spiegel geschaut, und er war über seinen eigenen Anblick erschrocken gewesen. Sein Gesicht war hager geworden, die Wangen eingefallen und die grauen Augen glanzlos. Die Verwundung und das anschließende Fieber hatten ihn gezeichnet. Zweifellos sah er jetzt, nach den Tagen auf See, keinen Deut besser aus.

„Wir sind uns also schon einmal begegnet?“ sagte Don Juan stirnrunzelnd.

„Jawohl, Señor, und ich bin stolz darauf, mit Ihnen gemeinsam gegen die Horden der Plünderer gekämpft zu haben. Allerdings habe ich nur einen sehr kleinen Beitrag dazu geleistet. Was Sie geleistet haben, war mehr als bravourös. Wenn Sie nicht diesen Galgenstricken von Anfang an die Zähne gezeigt hätten, läge Havanna heute wahrscheinlich in Schutt und Asche.“

Unvermittelt fiel es Don Juan wie Schuppen von den Augen.

„Aber natürlich!“ rief er. „Sie waren es, der mir im Gouverneurspalast das Leben gerettet hat.“

„O nein, Señor. Sie wissen, das war allein das Verdienst von Señor von Manteuffel. Unter seinem Kommando sind wir in den Palast eingedrungen, um dieses Gesindel zu beseitigen. Ohne ihn wäre ich ein solches Risiko niemals eingegangen.“

De Alcazar sah wieder die Szene im Palast des Gouverneurs vor Augen. Mitten im Kampfgetümmel hatte der Kreole Catalina seine Pistole auf ihn angelegt. Und er, Don Juan, war wegen seiner Fesseln völlig hilflos gewesen. Buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil hatte der Teniente den entscheidenden Schuß abgefeuert und den Kreolen getötet.

Gleichzeitig keimte aber auch die Erinnerung an Arne von Manteuffel wieder auf. Und eben diese Tatsache führte Don Juan den wichtigsten Grund seiner Rückkehr nach Havanna in jäher Deutlichkeit vor Augen.

„Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel“, sagte er, „ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Teniente. Ich hoffe, wir sehen uns bald an Land.“

„Das hoffe ich auch, Señor de Alcazar. Es wird mir eine Ehre sein.“ Der Offizier salutierte abermals.

Er gab ein knappes Kommando, und der Einmaster drehte ab, um seine Patrouillenfahrt wieder aufzunehmen.

Das Fischerboot glitt auf den Hafen zu. Pedro Murena rüttelte seinen Sohn wach, damit ihm der seltene Anblick nicht entging.

„Hoch mit dir, Luis! Wann wirst du jemals einen so großen Hafen und eine so schöne Stadt wiedersehen! Schlafen kannst du immer noch, wenn wir wieder auf See sind.“

In der Tat bot der Hafen mit seinen vertäuten Schiffen ein imposantes Bild. An den Piers und an den Kaimauern lagen Segler unterschiedlichster Größe – von den schweren dreimastigen Galeonen bis zu den wendigen kleinen Zubringerfahrzeugen, wie sie in allen Häfen der Welt ihren Dienst verrichteten.

Durch das Gewirr von Masten, Rahen und Takelage waren die Giebel der Häuser zu sehen, die durch ihre Bauweise den Eindruck vermittelten, als handele es sich um eine Stadt im heimatlichen Spanien. Alles überragend reckte sich der Gouverneurspalast in den diesigen Morgenhimmel. Der Gedanke an den feisten Don Antonio de Quintanilla veranlaßte Don Juan ungewollt zu einer Grimasse.

Durch eben jenen Gouverneur hatte sein Bild von einem wohlgeordneten und makellosen Machtbereich der spanischen Krone erheblich gelitten. Wenn es mehr Leute vom Schlage eines Don Antonio gab, die sich in der Neuen Welt durch Vetternwirtschaft und sonstige undurchsichtige Geschäfte bereicherten, dann war es an der Zeit, mit einem eisernen Besen auszukehren.

Aber im Vordergrund stand für Don Juan zunächst zwingend die Aufgabe, wegen der er nach Kuba geschickt worden war.

Pedro Murena steuerte sein Boot auf eine der Piers zu, die sich in der Nähe der Werft befanden. Dort hatte das verhängnisvolle Geschehen seinen Lauf genommen, als Don Juan vom Gouverneur gezwungen worden war, gemeinsam mit den Galgenstricken unter dem stiernackigen Zapata die Silbergaleonen von ihrem Muschelpanzer zu befreien.

Er ließ seinen Blick über die Häuser in Hafennähe gleiten. In der Zeit seiner Abwesenheit waren die Bürger von Havanna überaus fleißig gewesen. Die Spuren der Brandschatzung waren fast überall verschwunden. Nur an wenigen Stellen ragten noch verkohlte Balken hervor, die an jene Nacht der langen Messer erinnerten, in der Havanna fast unter die Herrschaft der mordenden und plündernden Horden geraten wäre.

Die Faktorei Arne von Manteuffels war nun ebenfalls schon deutlich zu sehen. Ein schmuckes Gebäude, das von seinem deutschen Eigentümer stets sorgfältig in Schuß gehalten wurde.

So sehr er sich auch mühte, konnte Don Juan doch die Gedanken nicht unterdrücken, die der Anblick des Vertrauten in ihm aufsteigen ließ.

Seine tiefschürfende Nachdenklichkeit beruhte keineswegs nur auf der Tatsache, die für ihn im Vordergrund stehen mußte: Es war ihm bislang nicht gelungen, den Mann in Gewahrsam zu nehmen, den er laut Auftrag der spanischen Krone jagen sollte.

Denn das Erstaunliche war, daß ihn diese unwiderlegbare Tatsache tief in seinem Inneren nicht so sehr beunruhigte, wie es – gemessen an seiner Loyalität zum Königshaus – eigentlich angebracht gewesen wäre.

Dieser Umstand rührte zum einen daher, daß er dem Seewolf sein Leben zu verdanken hatte. Zum anderen hatten ihm Pedro Murena und sein Sohn in geradezu überschwenglicher Begeisterung geschildert, mit welcher todesverachtenden Tapferkeit sich der Engländer in einem letzten Kampf der Piratenschaluppe entgegengestellt und schließlich ganz allein geentert hatte.

Seit jenem Zeitpunkt, als er mit Philip Hasard Killigrew von Lobos Cay geflohen war, hatte sich Don Juans Einstellung wesentlich gewandelt. Die innere Stimme, die sich immer dagegen gesträubt hatte, war leiser geworden. Gewandelt hatte sich das Bild des Jägers, der er selbst sein sollte. Und noch mehr gewandelt hatte sich sein Bild von dem Gejagten.

Dieser Mann war ein Ritter ohne Furcht und Tadel, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle – alles andere als ein beutegieriger und mordlüsterner Schnapphahn.

Nichtsdestoweniger war ihm bei seinem zwangsläufigen engen Kontakt mit dem Engländer dessen frappierende Ähnlichkeit mit Arne von Manteuffel aufgefallen. Diese Ähnlichkeit hatte er zwar bereits unmittelbar nach seiner ursprünglichen Ankunft in Havanna festgestellt. Das Medaillon mit dem Ölbildchen des Seewolfs hatte als wichtige Grundlage seiner Mission gedient, aber es hatte nur Hinweise auf das Äußere des Gesuchten geben können.

In Wirklichkeit waren die Übereinstimmungen zwischen Philip Hasard Killigrew und Arne von Manteuffel noch verblüffender. Das äußerte sich unter anderem in der Haltung, in den Gesten und in der Sprechweise der beiden Männer. Auch in einem weiteren Punkt ähnelten sie sich sehr, nämlich in ihrer Ritterlichkeit und Tapferkeit.

Es spielte keine große Rolle, daß er das Medaillon bei den Piraten hatte zurücklassen müssen.

Das Bild des Seewolfs hatte sich ohnehin unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt.

2.