Titelei

 

Eva Hochrath

 

Parallelwelt 520

Der Flügelschlag des Schmetterlings

 

 

15. Die Eierköpfe

02 Lügenbolzen

 

Mit einem leise summenden Geräusch erwachte der Vogel zum Leben. Dieses Mal sah Reafer, wie ein Hebel sich wie von Geisterhand bewegte.

"Das machen diese... 'Gooks', nicht?"

"Ja, klar! Wer sonst!"

"Man, äh, traut uns offenbar für keine zwei Nickelstücke mehr über den, äh, Weg!"

"Und das zu Recht, hähä!"

Sie rollten. Das Tor des Ausstoßkanals kam näher, glitt auf, gab eine dunkle Öffnung frei... Sie fuhren hinein. Tiefste Schwärze umgab sie. Aber man merkte, dass der Flieger an Geschwindigkeit gewann. Schneller und schneller wurden sie; es drückte sie in ihre Sitze. Draußen blitzte ab und zu etwas vorbei. Sie rasten durch den Kanal. — Dann, plötzlich, glitt die Dunkelheit von ihnen ab wie ein Mantel. Helles Tageslicht blendete die Augen. Reafer stellte jetzt fest, dass der ganze Innenraum des Fliegers nach außen durchsichtig war, wie aus Glas. Sie konnte Berge vorbeihuschen sehen, die in Sekunden zusammenschrumpften. Der Silbervogel schoss lautlos in die Atmosphäre.

Deane lehnte sich zurück und schloss andächtig die Augen. "Ouh Mann! Ich kann's noch gar nicht richtig fassen! Leute!!" Er lachte auf. "Wir sind tatsächlich auf dem Nachhauseweg!!!"

"Ja, äh, in der Tat! Hoffentlich können wir uns überhaupt wieder ans, äh, normale Leben gewöhnen! — Alles in allem hat dieser, äh, Zirkus ja nur elf Tage gedauert... Aber ich hatte zuletzt wirklich, äh, das Gefühl, es ginge endlos so weiter! Ein richtiger, äh, Alptraum!!"

Sie nickten. So war es ihnen allen gegangen!

Reafer beobachtete interessiert die Anzeiger der Kontrollinstrumente. Der Höhenmesser blieb bei vierzehntausend Metern stehen. Der Richtungs-Computer zeigte an, dass sie nach Süden abdrehten. Und ihre Geschwindigkeit betrug... "fünfundzwanzig Einheiten" — eine Einteilung, die Reafer nicht kannte. Aber sie kam schnell drauf: Das mussten... zweitausendfünfhundert Stundenkilometer sein!

"Zwei-Fünf! Kein schlechter Affenzahn!" entfuhr es ihr.

"Aha! Kennste dich aus mit der 'Leuchtreklame'..." Die drei Männer verfolgten gespannt Reafers Reaktionen.

Reafer blickte lässig-grinsend in die Runde. "Ihr glaubt's mir vielleicht nicht... Aber ich könnt' den Bock wahrscheinlich sogar selbst fliegen!"

Grinsen. Achselzucken.

"Ach, Cracks! Du hast uns schon so viele, äh, Unglaublichkeiten aufgetischt..."

"So! Meine Herren... Doktoren!" Reafer schoss heischende Blicke in die Runde. "Eure Lebensläufe, die kenn' ich ja immerhin schon, dank der 'Kumpels' — wenigstens bis Januar Vierundachtzig. — Wie wär's denn, wenn ihr jetzt mal endlich mit diesem ominösen 'Informationsstandard' rüberkommen würdet! —  W o  rauschen wir hin?! Und  w a s  ist da los?!"

Lachen.

"Wo wir hin rauschen? — Na, wenn du die Instrumente checken kannst... dann weißte doch schon, wo's hingeht!"

"?????!! — Jaaa... nach Süden! — Aber irgendwann demnächst müssen wir ja wohl mal abkurven! Bei dem Tempo sogar ziemlich zeitnah, würde ich vorschlagen!"

"Abkurven?! Warum?!" Sie nervten herum mit scheinheiliger Dümmlichkeit.

Da stutzte Reafer. Sie waren, seit sie mit den dreien zusammengetroffen war, konstant in Südrichtung unterwegs. — Bis jetzt hatte sie das, wenn sie überhaupt drüber nachgedacht hatte, mehr oder weniger dem Zufall zugeschrieben, und dieser Adresse in Mexico City. — Aber jetzt... ging es immer  n o c h  weiter nach Süden! Sogar die Winterhälfte der Erde lag jetzt bereits hinter ihnen! — In einer knappen Stunde, schätzte sie, würden sie Mittelamerika überflogen haben, und dann...

Noch weiter südwärts ging es dann wirklich nicht mehr! Dort unten stieß man an die Energie-Abschirmung, die den südamerikanischen Kontinent vom Rest der Welt trennte. — Eine absolut unüberschreitbare Grenze!

Südamerika... Der geheimnisvolle und unheimliche Erdteil! Keiner kam hinein! Niemand wusste, welche Ungeheuerlichkeiten da vor sich gingen, hinter dieser gewaltigen Energieglocke! — So nahe wie jetzt war Reafer, bei ihrer ganzen Odyssee um den Globus, noch nie an diesen Kontinent herangekommen! Nachrichtenmeldungen zuckten ihr durch den Kopf, von 'Flugzeugen', die an der Energiewand zerschellt waren...

Und dabei, wie viel Hoffnung hatte man einmal in das "Südamerika-Projekt" gesetzt! — Nach der großen Zerstörung von 2050 hatte der Kontinent zwei Jahrzehnte lang leer und wüst und brach gelegen: unbewohnbar für menschliches Leben! — Aber dann, 2073, nach dem historischen Beschluss der United Nations, hatten sie alle gemeinsam dort die gewaltigsten technologischen Einrichtungen geschaffen, die die Welt noch hatte aufbieten können! Das gesamte Knowhow sämtlicher Wissenschaftler und Techniker der Erde, zusammen mit ungeheuren Geld- und Materialmengen! Ein gewaltiger Kraftakt fünf Minuten  n a c h  Zwölf! Und die gesamte, im Elend verkommende Erde hatte von den dort entwickelten neuen Lebensmöglichkeiten und Technologien profitieren sollen!

Zehn Jahre lang war alles gutgegangen, und sie mussten dort Gewaltiges aufgebaut haben! — Aber dann hatte eine der beteiligten Nationen dieser ‑ gleichermaßen gewaltigen ‑ Versuchung nicht mehr widerstehen können! Und die absolut erbärmlichen, mangelhaften Kontroll- und Sicherheitssysteme hatten es möglich gemacht, dass der gesamte Kontinent im Handstreich hatte genommen werden können! Es musste ein komplettes Kinderspiel gewesen sein, die zentralen Steuerungssysteme in die Hand zu kriegen! Die hatten dann nur noch alle anderen rauszuschmeißen, und die Energieglocke dicht zu machen brauchen!

Zwanzig-Vierundachtzig war das gewesen, vor fünf Jahren! — Reafer war damals dreiundzwanzig gewesen, gerade im Endstadium ihrer Promotion, und sie erinnerte sich noch gut an die Nachrichten: Rausgeschmissene Wissenschaftler hatten in den Medien von einem perfekten Kommandounternehmen erzählt! Man sei vor die Wahl gestellt worden: entweder mitmachen, oder raus! Und ein großer Teil schien sich sogar fürs Mitmachen entschieden zu haben! Umso mehr hatte man die Rausgeschmissenen gefeiert, dass sie standhaft geblieben waren und den Verbrechern nicht auch noch ihr Wissenspotenzial zur Verfügung gestellt hatten!

Reafer hatte direkt noch Æleashs Lachen in den Ohren. Wie der sich über die 'anständigen Trottel' lustig gemacht hatte! Wie bescheuert die wären, dass sie nicht in Südamerika geblieben waren! Reafer war damals hell empört über ihn gewesen! Wie konnte er über so ein gigantisches, furchtbares Verbrechen blöde Witze reißen!! — Da drinnen, hinter dieser Energiewand, da befanden sich jetzt diese Ungeheuer und verfügten über die gesamte Technologie der Erde!!! Und was sie damit vorhatten, darüber gab es auch keinen Zweifel: Eines Tages würden sie wieder hervorkommen hinter ihrer Energiewand... Und dann würden sie die ganze Erde überfallen!! — Genau das, was man ‑ wenn auch zu Unrecht ‑ auch von Saxxan behauptete, dem einzigen Land, das ebensolche technologischen Möglichkeiten besaß...

Und auf die Energiewand dieses unheimlichen, gefahrdrohenden Mörder-Kontinents donnerten sie jetzt geradewegs zu...

"Zwanzig-Vierundachtzig..." sinnierte Reafer laut.

"Ja... und?!"

Nachdenklich blickte sie auf die drei Männer. "Zwanzig-Vierundachtzig! — Das war auch die Jahreszahl, die in euren Lebensläufen so drollig übereinstimmt! — Ihr seid alle drei genau in dem Jahr von der Bildfläche verschwunden… als Südamerika zugemacht wurde!"

"Ah ja..." Breitestes Feixen ringsum.

Reafer holte Luft, wagte es kaum auszusprechen. "Ihr seid aus... Südamerika?!!"

"Na, Bravo! — Läutet die Glocken, zieht die Fahnen hoch und die Hosen runter! — Sie hat's geschnallt!!!"

Reafer war geschockt — milde ausgedrückt! "Jetzt geht mir aber 'ne Beleuchtung auf! — Eure komischen Autos... dieser Flieger hier... diese frechen Angeber-Kugeln... überhaupt euer ganzes technisches Schikanorium!!" Sie holte tief Luft. "Das hätt' ich nicht gedacht! Dass  i h r  zu diesem Lumpenpack gehört, das da einfach 'n ganzen Kontinent klaut!!!"

"'Lumpenpack'!! Da, äh, hört sich doch alles auf!!"

"Du bist vielleicht witzig! — Die Gegend stand ja leer!!"

"Leer?! — Und die ganzen Sachen?! Und die Leute, die da gearbeitet haben?!" Reafer sprühte Funken vor ehrlicher Entrüstung. Sie war so enttäuscht von ihren Spezis!

"Die Leute, und die, äh, Sachen... die haben wir übernommen, das will niemand, äh, bestreiten. — Aber ich darf dir versichern, liebe Cracks, dass wir das, äh, Übernommene besser verwenden als diejenigen, die vor uns damit, äh, herumgeschlampt haben!"

"Und für blöde verkaufen wollt ihr mich jetzt auch noch! — Alles, was in Südamerika steht, das waren Gemeinschaftseinrichtungen! Die ganze Erde hätte davon profitieren sollen! Und jetzt... Habt ihr euch eigentlich nicht geschämt, als ihr jetzt das ganze Elend draußen gesehen habt?!!"

Sie lachten nur.

"Nu zieh' mal langsam die Bremse an!" gluckste Deane. "Wer ganz bestimmt keinen Grund hat sich zu schämen, das sind wir! Eher im Gegenteil! — Die... 'Sachen'... ,von denen du sprichst, diese angeblich so 'segensreichen' Gemeinschaftseinrichtungen, zum 'Wohle der ganzen Menschheit'... Weißt du, um was es da in Wirklichkeit ging?! — Das waren profit-orientierte Unternehmen! Schön sauber aufgeteilt nach Kapitalmehrheit! Die entsprechenden Dokumente haben wir jetzt noch! Die United Nations, die hatten nämlich 2073 vielleicht ganz 'hehre' Absichten... aber keinen müden Taler, um ihre edlen Pläne zu finanzieren! Und was haben sie gemacht?! Anleihen bei den großen internationalen Wirtschaftskonzernen! Und glaubst du vielleicht, dass die denen die ganze Penunze geschenkt hätten?!!"

Rhyan nickte. "Iss dir denn nie aufgefallen, dass in den ganzen zehn Jahren, die die da rumgebastelt haben… dass da nie mal irgend 'ne 'Errungenschaft' auf die Menschheit losgelassen worden iss?! Hast du dich nie gefragt, ob die von ihrer ganzen Forscherei nich endlich mal was vorzuweisen haben?!"

"Hm..."

"Eben! — Was immer die da an technologischen Erfindungen gemacht haben... das war erstens zum großen Teil Militär-Technologie! Und mit sowas kannste weißgott nicht allzuviel 'Gemeinwohl' erreichen! Aber das hatten die, zweitens, ja auch sowieso nicht vor! Auch nicht mit den paar wenigen, als 'Beifang' angefallenen zivilen Forschungsergebnissen! Knallharte Geschäfte haben die gemacht, sonst gar nix! — Otto-Normalverbraucher hätte in zehntausend Jahren keinen Nutzen davon gehabt!"

"Ja, und die Regierungen..."

"Die, äh, konnten ‑ oder wollten ‑ gar nichts dagegen machen! Denn sie waren ja nicht die, äh, Kapitalgeber! — Ob du es nun glaubst oder nicht, Cracks... Aber um 2084 herum, da war gerade ein kleines, aber elitäres Grüppchen fleißig dabei, eine Art, äh, 'Welt-Kontrolle' zu etablieren! — Wenn die, äh, Herrschaften Erfolg gehabt hätten, dann hätten eine Handvoll Konzerne und die ihnen hörigen, äh, staatlichen Administrationen den Rest der Welt bequem in die, äh, Tasche stecken können!"

"Ist das wirklich wahr?!!!" Reafer war immer kleinlauter geworden.

"Und ob das wahr iss! Wie Deana sagt: Die ganzen Papiere, Unterlagen und Daten, die haben die alle schön in Südamerika verwahrt! Und jetzt haben  w i r  sie! Da kann man alles nachlesen! Und das kann sogar jeder, der sich dafür interessiert: Weil wir die Sachen nämlich nich in Geheim-Schubladen verstecken! — Diese ganzen Sprüche von wegen 'Gemeinnutz' und 'Fortschritt'! Das war das gigantischste Mega-Schwindel-Unternehmen, das es je gegeben hat! — Das einzige, was an den ganzen Märchen stimmt, die sie erzählt haben, das iss, dass die Einrichtungen und die Forschungsergebnisse tatsächlich ganz beeindruckend sind! — Wenn man davon absieht, dass wir das meiste erstmal von seinem militärischen Zweck wegentwickeln mussten!"

Reafer sah die drei Männer total verunsichert an. Das, genau das, hatte sie schon einmal gehört — von keinem geringeren als Æleash! Nur glauben hatte sie es nicht wollen! — Aber wenn es wirklich Beweise gab...

Aber trotzdem... "Also gut! Nehmen wir mal an, es war wirklich so... K e i n  Gemeinnutz, sondern ein paar Wenige haben die Sache für sich ausnutzen wollen...  A b e r ... Macht  i h r  denn jetzt nicht genau dasselbe?! — Von euch profitiert der Globus doch genauso wenig! Ihr seid doch ebenfalls die alleinigen Nutznießer, während alle anderen bloß 'n leeren Hut haben!"