Über Günter Franzen

Günter Franzen absolvierte ein Studium zum Diplom-Pädagogen und zum Diplom-Sozialarbeiter. Er lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main und ist freier Mitarbeiter  »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, der »Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft« und des Deutschlandradio Kultur. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen und Essays.

Informationen zum Buch

Höhenflüge und Herausforderungen der späten Liebe.

Mit sechzig Jahren verliert Günter Franzen die Liebe seines Lebens. Nach Jahren der Trauer folgt er den Verheißungen einer Online-Plattform: »Alle 11 Stunden verliebt sich ein Best Ager über FinalDate.« Die Suche nach einer Frau fürs restliche Leben führt den Autor in die absurdesten Situationen, die die digitale Welt der Partnerschaftsanbahnung für ältere Kunden bereithält. In den Begegnungen spielen gescheiterte Lebensentwürfe, hochfliegende Erwartungen und die Sehnsucht nach Geborgenheit eine wesentliche Rolle. Günter Franzen lädt zu einer Reise ein, an deren Ende eine Hoffnung aufscheint: Liebe ist nicht herstellbar, aber möglich. In jedem Alter.

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Günter Franzen

Späte Liebe

Wie ich im Internet die Frau fürs Leben suchte und fand

Inhaltsübersicht

Über Günter Franzen

Informationen zum Buch

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Wahrheit oder Pflicht

Zweimal zwei im Abendlicht

Böhmische Dörfer

Doppelherz sucht Frauengold

Im Schlaraffenland

Tiefes Wasser

Alt Heidelberg, du feine

Nie wieder Görlitz!

Draußen nur Kännchen

An der Goldküste

Unter Beobachtung

Damenwahl

Blaues Wunder

Kleckern oder Klotzen

Costa Anakonda

Senza una Donna

Liebe Gewohnheiten

Unterm Pantoffel

Antje, Adorno und ich

Am Steinhuder Meer

Das Gewicht der Welt, abnehmend

Schneller Vorlauf

Russisch für Anfänger

Apo da capo

Kost & Logis

Fräulein Rottenmeier revisited

Nails & More

Weiße Rosen aus Eutin

Letzte Ausfahrt Bad Kleinen

Mann o Mann

Ella, elle l’à

Handkäs und frühes Leid

Vom Main zum Mekong und zurück

Bikeway to Hell

Im Kurschatten

Senex24

Milch und Honig

Fegefeuer in Homburg

Plötzlich berühmt

Heldendämmerung

Das Bergwerk von Wien

Viva Colonia

Toter Mann

Fun in Jever

München leuchtet

Nachlese

Quellen

Impressum

Für Ursi
4.12.2018

Wahrheit oder Pflicht

Die Vorgeschichte zu diesem Buch beginnt am Morgen des 11. November 1997. Die Frau, die an diesem Tag in Frankfurt auf meinem Weg zur Arbeit die U-Bahn betritt, trägt hochhackige, schwarze Wildlederstiefel, einen dunkelblauen, taillierten Wollmantel und eine tief in die Stirn gezogene Baskenmütze, unter der ein blaues Augenpaar aufblitzt. Ihr Blick gleitet wach und offen über die müden, hinter Büchern und Zeitungen verschanzten Fahrgäste hinweg. Ausdruck einer unerschrockenen, den Menschen zugewandten Neugier und Lebendigkeit, die mich auf eine Weise hinreißt, dass ich ihr folgen muss, als sie die Bahn an der übernächsten Station verlässt. Die Fragwürdigkeit meines Treibens wird mir erst bewusst, nachdem ich ihre Gestalt im Menschengewirr aus den Augen verloren habe.

Vierzehn Tage später nehme ich an der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung in Wiesbaden teil, und weil der Hauptvortrag gähnende Langeweile in mir verströmt, richte ich den Blick auf die vorderen Stuhlreihen und fahre wie elektrisiert hoch, als ich eine moosgrüne, von einer Art Maulwurfskragen gezierte Cordbluse sehe, aus der sich ein zarter und stolzer Nacken erhebt. Wenn ich sage, dass es mir gelang, sie in der Kaffeepause in ein Gespräch zu verwickeln, gibt das den Charakter unseres Gesprächs nur unzulänglich wieder. Ich rede drauflos wie ein Wasserfall: von der schicksalhaften Begegnung in der U-Bahn, meiner Lebensgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, von dem Zwang, sie wiedersehen zu müssen, und als das Bekenntnisstakkato in dem Wunsch gipfelt, mit ihr ein Kind zeugen zu wollen, schaut sie mich an wie einen vom Wahnsinn befallenen Patienten und beendet meinen manischen Monolog mit dem ernüchternden Hinweis auf meinen Familienstand: verheiratet, ein Kind. Die Tagung nimmt ohne uns ihren Lauf, und nach weiteren drei Stunden der heftigen Auseinandersetzung über die moralische Verwerflichkeit meiner Avancen und die Glaubwürdigkeit meiner Motive sagt sie mir, dass sie sich, so verrückt es auch sei, vorstellen könne, sich irgendwann auf mich einzulassen, aber mit Sicherheit nicht als Geliebte. Diesen Status habe sie in ihrer Vergangenheit hinlänglich ausgekostet. Als ich in der Dämmerung den Rücklichtern ihres davonfahrenden Autos hinterherstarre, weiß ich, dass die Phase meiner bis zum 50. Lebensjahr ausgedehnten Adoleszenz vorbei ist und dass diese Frau keine Vagheit des Herzens dulden wird. Take it or leave it. Da ist es endlich, das herbeigesehnte Gesicht: offene Augen, die mich umfangen mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen. Ich bin dem Menschen begegnet, der mir bestimmt war von Anbeginn, von dem ich weiß, dass er zu mir passt wie kein anderer vor und nach ihm, und weil das so ist, bedarf es nur eines Wortes: Ja.

Danach ist alles ganz einfach. Aus den Quellen zweier katholischer Kindheiten springt ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit auf, ein von heiligem Ernst beflügelter Glaube, der den romantischen Furor und die wechselseitige körperliche Anziehung aufhebt: Du und Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit.

Credo quia absurdum: es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach neunmonatiger Adventszeit bestaunen eine nicht mehr ganz junge Frau und ihr zwölf Jahre älterer Mann, das atmende Wunder, das sie selbst hervorgebracht haben: »Ein Kindelein so zart und fein …« Ein dankbares Paar, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie unverfügbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott ist mit den Liebenden, zehn Jahre oder 3650 Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.

Der Engel, der die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundlich lächelnde Leiter des örtlichen Onkologiezentrums. Er kann nach mehrwöchigen diagnostischen Anstrengungen ausschließen, dass es sich bei der anhaltenden Atemnot um das Symptom eines grippalen Infekts, einer Bronchitis oder einer Pneunomie handelt. Er spricht mit fremden Zungen und seine Stimme hat einen scharfen metallischen Klang: »Bronchialkarzinom Stadium IV. Maligner Pleuraerguss. Weichteilmetastase linker Oberarm.«

Da, wo die Haut besonders dünn, durchscheinend und empfänglich ist für ganz andersartige Berührungen, unterhalb ihres linken Schulterblatts, wird der Port gelegt, eine im Durchmesser etwa ein Zentimeter große künstliche Öffnung, durch die diverse chemische Kampfstoffe an die Tumore herangeführt werden. Durch die orale Beigabe acht verschiedener Präparate seien, so heißt es, die Kollateralschäden bei einer positiven Grundeinstellung der Patientin auf nahezu null zu minimieren. Die geforderte Einstellung ist vorhanden, die Nebenwirkungen aber kommen, bleiben und breiten sich aus: Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, Bewegungsstörungen, Schüttelfrost und Angstattacken.

Der sanfte Onkologe mit dem eisernen Kern bemäntelt das Ende seiner Kunst mit Durchhalteparolen und redet von Pfeilen, die er im Köcher und Trümpfen, die er im Ärmel habe. Die maximalinvasive Strahlentherapie verpufft wirkungslos und hinterlässt lediglich verbrannte Hautflächen. Der Tumor hat keine menschlichen Eigenschaften, er ist weder grausam noch heimtückisch. Er ist vollkommen eigenschaftslos und macht einfach und unaufhaltsam weiter. Die Gewalttätigkeit der Medizin, die Gleichgültigkeit der Natur und das Schweigen Gottes verbünden sich gegen die Frau, die unter meinen Händen und vor meinen Augen zerbricht und dahinwelkt, Stunde um Stunde.

Im Verlauf von vier chemotherapeutischen Behandlungszyklen sinkt sie elfmal in die Knie und steht zehnmal wieder auf. Kurz vor dem Eintritt in die Zone des Unsagbaren bittet sie mich zu sich und sagt flüsternd, dass sie mir das Kind anvertrauen müsse und es als eine Ehre betrachte, mit mir verheiratet gewesen zu sein. Aufschreiend verbiete ich ihr, von sich und uns in der Vergangenheitsform zu sprechen, und herrsche sie an, die verfluchten Medikamente zu schlucken und das Wasser zu trinken.

Sie entzieht sich meinen Worten und erlischt am 15. Mai des Jahres 2009 um 22 Uhr 45. Ich schließe ihre Augen, die blauen, küsse ihre Lippen, die zarten, löse die über ihre Schulter verteilten Morphiumpflaster, streife ihr den Trauring vom Finger und umrahme das schöne, schmal gewordene Gesicht mit den Blütenblättern weißer Rosen, um dem Kind den Anblick der toten Mutter zu erleichtern. Da stehe ich und fühle mich kalt, erstarrt und bar jeder Empfindung.

»Ich bin auf alles eingerichtet«, sagt die Hinterbliebene in einem Roman von Christoph Hein: »Ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts mehr verletzen. Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr raus. In meiner unverletzlichen Hülle werde ich krepieren in Sehnsucht.«

Das ist zehn Jahre her. Eine lange Zeit, von der es heißt, dass sie alle Wunden heilt. Meine Lektorin, der ich den nachfolgenden Text anvertraut habe, hat mich vom Gegenteil überzeugt. Mein literarisches Alter Ego, mit dem ich über das Meer der internetbasierten Liebe kreuze, sei ein passiver, aufs Scheitern abonnierter Held des rasenden Stillstands, der bei aller äußeren Umtriebigkeit von dem unberührt bleibe, was er wortreich und ironiegesättigt beschwöre: die Möglichkeit einer späten Liebe.

Weil diese Diagnose weder dem Autor noch seiner Figur schmeichelt, habe ich mich um dieses Vorwort lange gedrückt. Ich wollte dem Tod, dem Verlust und den Schmerzen ums Verrecken kein zweites Mal einen Raum zubilligen, nicht in mir und nicht in den mehr oder weniger fiktiven Lebensgeschichten der Frauen, die sich im Laufe der letzten acht Jahre auf eine Begegnung mit mir einließen. Dass mir diese Verleugnung kurz vor Drucklegung auf die Füße fällt, kränkt zwar meinen schriftstellerischen Narzissmus, kommt jedoch – so meine Hoffnung – der Lesbarkeit des Textes entgegen, der keinen Rat erteilt, aber eine Botschaft enthält: Wer Liebe geben und empfangen will, muss verwundbar bleiben.

Zweimal zwei im Abendlicht

»Und Casanova wußte, wie sie ihn sah; denn er sah sich selbst gleichsam im Spiegel der Luft und erblickte sich so, wie er sich gestern in dem Spiegel gesehen, der im Turmgemach gehangen: ein gelbes böses Antlitz mit tiefgegrabenen Falten, schmalen Lippen, stechenden Augen – und überdies von den Ausschweifungen der verflossenen Nacht, dem gehetzten Traum des Morgens, der furchtbaren Erkenntnis des Erwachens dreifach verwüstet. Und was er in Marcolinens Blick las, war nicht, was er tausendmal lieber darin gelesen: Dieb-Wüstling-Schurke; er las nur dies eine, das ihm von allem das furchtbarste war, da es sein endgültiges Urteil sprach: Alter Mann.«

Arthur Schnitzler, Casanovas Heimfahrt

»Ich war nicht mehr jung, als ich beschloß, mein Leben als eine nicht endende, ununterbrochene Liebesgeschichte fortzuführen. Mein Körper befand sich schon in jenem Stadium des Verfalls, das an besonders gefährdeten Partien die beginnende Greisenhaftigkeit offenbart. Schlaffe Gesäßfalten, sich wellendes Fleisch am Bauch und an den Innenseiten der Oberschenkel, unter der Haut das sich in kleinen Klumpen auflösende Bindegewebe. Trotzdem haftete ihm in seinen Konturen seine Jugend noch an und ließ bei vorteilhaften Lichtverhältnissen und bei einer Haltung, die Haut und Fleisch strafft, die Illusion zu, ich sei der Jugend nicht ferner als dem Alter.«

Monika Maron, Animal triste

»Während ich sie beobachtete, überkam mich ein Schmerz, ein metaphysischer Schmerz, und ich unternahm nichts, ihm Einhalt zu gebieten. Intuitiv wusste sie Bescheid, wusste, dass in dem alten Mann auf dem Plastikstuhl in der Ecke etwas Persönliches vor sich ging, was mit Alter und Bedauern und Verfall zu tun hatte. Was ihr nicht sonderlich gefiel, was sie nicht provozieren wollte, obschon es eine Huldigung an sie war, an ihre Schönheit und Frische ebenso wie an die Kürze ihres Kleids. Wenn es von einem anderen gekommen wäre, wenn es eine einfachere und direktere Bedeutung gehabt hätte, wäre sie vielleicht eher bereit gewesen, es wohlwollend entgegenzunehmen; aber von einem alten Mann kommend war seine Bedeutung zu diffus und melancholisch für einen schönen Tag, wenn man es eilig hat, mit der Hausarbeit fertig zu werden.«

J. M. Coetzee, Tagebuch eines schlimmen Jahres

»Bettina Brentano, eine Liebhaberin junger Männer, hat keinen Brecht gefunden, der gegen den Geist ihrer Zeit die Größe, Neuigkeit, Einmaligkeit ihres Lebens erkannt hätte. Sie blieb die unwürdige Greisin, mit der sich auch die nachfolgende Literaturwissenschaft nur ungern oder amüsiert beschäftigte. Was an ihrem Leben in die Zukunft wies, hat man in dieser ihrer Altersbiografie verleugnet. Sie tat nur, was jede intelligente alternde Frau gern täte: lieben, denken, schreiben, Reden schwingen, publizieren – eben: frei sein. Heute können Frauen sich dies alles leisten – außer der Liebe, denn, entgegen aller anderslautenden Behauptungen, ist das Heer der einsamen verlassenen alternden Weiblichkeit groß und wird es bleiben. Es gibt keine alte Venus.«

Hannelore Schlaffer, Das Alter. Ein Traum von Jugend

You’ll Be 70

Das ist die Liebe der Senioren

Auf die Dauer, lieber Schatz,

Ist mein Herz kein Ankerplatz.

Es blüh’n auf allen Gräbern Rosen,

Und für keine gibt’s im Internet Ersatz

Ein Tag wie jeder, ich träum’ von Liebe,

Doch nur ein Traum – aha aha

Menschen wohin ich schau, Großstadtgetriebe,

Und auf einmal sah ich sie, sie

Siebzig Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir

Siebzig Jahr, blondes Haar, wie flieh ich von hier?

Über siebzig Brücken musst du geh’n,

Siebzig dunkle Jahre übersteh’n,

Siebzig Mal wirst du die Asche sein,

Aber niemals mehr der helle Schein.

Böhmische Dörfer

Wenn ein Mann in vorgerücktem Alter einer Frau, deren Zuneigung er zu erringen hofft, versichert, ihr bis ans Ende der Welt zu folgen, kann er in der Regel darauf vertrauen, nicht beim Wort genommen zu werden. Ich hatte das Pech, an eine willensstarke Vertreterin des schönen Geschlechts geraten zu sein in der Gestalt von Elli, die diese Regel entweder nicht kannte oder ignorierte, als sie mich aufforderte, sie nach Dux zu begleiten, wo sie 63 Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt hatte.

Im Rahmen meiner widerwillig getroffenen Reisevorbereitungen bringe ich in Erfahrung, dass der in diesem nordböhmischen Kaff residierende Graf Joseph Karl von Waldstein sich einstmals des berüchtigten Schwerenöters Giacomo Girolamo Casanova erbarmt, und den greisen, von Gicht und Heimweh geplagten Italiener von 1785 bis zu seinem Tod im Jahr 1798 selbstlos durchgefüttert hatte. Er habe, heißt es in einem zeitgenössischen Dokument des Fürsten de Ligne, 13 Jahre lang darauf bestanden, tagtäglich um Punkt 12 Uhr in der Schlossbibliothek seine Makkaroni serviert zu bekommen. Abgesehen davon, dass ich die Beschäftigung mit dem Niedergang lebender und verstorbener Altersgenossen als wenig erbaulich empfinde, steht das ganze Projekt unter keinem guten Stern.

Auf der Flucht vor den in beiges Einheitstuch gehüllten, vorwiegend aus dem Ruhrgebiet stammenden Reha-Patienten, die sich mit ihren Trinkbechern in Divisionsstärke durch die bezaubernd fragilen Kolonaden der Jugendstilhochburgen von Marien-, Franzens- und Karlsbad wälzen, erreichen wir unseren Bestimmungsort bereits in einem ziemlich angefressenen Gemütszustand. Die Fassade des Hotels erstrahlt im schönsten Habsburger Gelb, im Foyer hängt der Geruch von Krautwickeln und Moder. Der magenkrank wirkende Objektleiter knöpft uns eine Parkgebühr in ungeahnter Höhe ab und legt uns nahe, den kleinen japanischen Sportwagen meiner Gefährtin zusätzlich mit einer Wegfahrsperre zu versehen, die gegen Zahlung von 3000 Kronen käuflich bei ihm zu erwerben sei. Beim Gang durch die Stadt reiht sich eine Enttäuschung an die andere. Das Grab des legendären Frauenhelden war bereits von prüden Angehörigen der Roten Armee eingeebnet worden, das Elternhaus meiner Geliebten in den letzten Tagen des kommunistischen Regimes den Baggern des Braunkohletagebaus zum Opfer gefallen, kurzum: das Ganze wirkt so besucherfreundlich wie das heimische Bitterfeld im Jahr nach dem Mauerfall.

Wir sitzen auf der verwitterten Terrasse der nach dem toten Schürzenjäger benannten Gaststätte, die Fallwinde aus dem nahen Erzgebirge lassen mich frösteln, der Kaffee schmeckt nach einer Mischung aus Zichorie und Robusta, bettelarme Kinder umkreisen das scheinbar wohlsituierte, von historischen Schuldgefühlen gebeutelte linksliberale Liebespaar, und ich grummele halblaut vor mich hin: »Mensch, Ella, erst schleppst du mich zurück in den verdammten Ostblock und jetzt haben wir auch noch die Zigeuner an den Hacken.« Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass selbst Angehörigen des ZK der EKD in dieser misslichen Lage die Gäule durchgegangen wären, aber meine Annahme, dass man im geschlossenen Raum einer intimen Zweierbeziehung reden kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist, erweist sich als trügerisch. Die lichtblauen Augen meiner spät ausgesiedelten Begleiterin changieren ins Steingraue, ihre Züge verhärten sich und sie begräbt mich unter ans Unflätige grenzenden Anwürfen: »Du verhärteter alter Idiot! Seit dem Grenzübertritt muss ich deine Übellaunigkeit ertragen, ein chauvinistischer Spruch jagt den anderen, aber jetzt ist Sense! Such dir meinetwegen eine reinrassige Thusnelda aus der Gerontoabteilung der AfD und zieh mit ihr in eins der germanischen Wehrdörfer in der Uckermark, mir gehst du jedenfalls nicht mehr an die Wäsche.«

Mit dem Chanson »Du lässt dich geh’n« landete Charles Aznavour 1962 nicht nur auf einem Spitzenplatz der deutschen Schlagerparade, sondern auch auf der schwarzen Liste der zart keimenden hiesigen Frauenbewegung, die von der resoluten Inge Meysel angeführt wurde. Der rüstige Franko-Armenier beteuert bis zu seinem Tod im Jahr 2018, dass er überhaupt nicht wusste, was er damals auf Geheiß der Plattenproduzenten vom Blatt ablas, aber enthält dieser schwerlich subtil zu nennende Text nicht eine zeitlose Wahrheit über die Erleichterungen, die das Paarleben nach Erreichen des Happy Ends mit sich bringt? Der Make-up-Zwang entfällt über Nacht, der Wechsel zur nächsthöheren Konfektionsgröße wird kommentarlos toleriert, man darf abgestandene Witze und Heldentaten erzählen, im schlabbrigen Homedress durch die Wohnung schlurfen, sich mit einer Tüte Paprikachips auf dem Schoß die zehntausendste Folge der Lindenstraße reinziehen, Schundromane lesen oder um es mit Theodor W. Adorno ein wenig anspruchsvoller und gewundener zu formulieren: Die eingespielte, von romantischen Flausen befreite Partnerschaft bietet eine Schutzzone, in der »du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren«.

Als ich zwei Wochen nach der fristlosen Kündigung des auf die Ewigkeit angelegten Liebesverhältnisses bei einem sauer Gespritzten auf dem Frankfurter Römerberg sitze und durch die Gläser meiner Sonnenbrille voller Schwermut und Selbstmitleid den leicht bekleideten Frauen nachblicke, die an diesem lauen Sommerabend in variantenreicher Schönheit zu Hunderten den touristischen Brennpunkt kreuzen, kommt mir die Klage des neunzigjährigen Charmebolzens in den Sinn, und ich schütte den Rest des 7-Schoppen-Bembels in den Rinnstein: Tu te laisses aller? Nein, denn noch ist nicht aller Tage Abend.

Doppelherz sucht Frauengold

Der den Frösten des Singledaseins ausgesetzte, plötzlich wieder auf Freiersfüßen wandelnde Mann auf der Schwelle zum statistisch gesehen letzten Lebensjahrzehnt, kann schwerlich mit inneren Werten wie Contenance, Beständigkeit, Herzensbildung und geballter Lebenserfahrung punkten, sondern nur mit Eigenschaften, die, soweit er überhaupt noch über sie verfügt, im Schwinden begriffen sind: Dynamik, Spannkraft, Virilität. Der Handel mit Dingen, die man nicht hat, aber in Aussicht stellt, gibt in der Finanzwirtschaft ein gewinnträchtiges Geschäftsmodell ab, auf dem störanfälligen Markt der Beziehungen hingegen führt er binnen kürzester Zeit zum Offenbarungseid und in den Abgrund der Lächerlichkeit: dem Narrenende wohnt kein Zauber inne. Diese Einsicht trieft vor Weisheit, mit der es aber auch nicht weit her ist, wenn sich meine beiden Teilpersönlichkeiten im Morgengrauen vor dem Badezimmerspiegel begegnen und in einen Wortwechsel geraten. Sagt der resignierte alte Sack, in den ich eingeschweißt bin: Komm, lass stecken, mit den Frauen bin ich durch, reich mir Stützstrumpf, Schnabeltasse und Rheumadecke, damit endlich Ruhe ist im Karton! Antwortet der auf ewig in mir wohnende quecksilbrige, leicht entflammbare Achtzehnjährige: Auf die Pferde, Alter, Kneifen gilt nicht, und wenn du dir bei der letzten Aventüre das Genick brichst, ist das immer noch besser als sich bei YouPorn dem Herzstillstand entgegen zu sabbern!

Was tun? In meiner Ratlosigkeit bastele ich mir ein Reklameschild mit der Aufschrift »Des Alleinseins müde«, mit dem ich auf der zentral gelegenen Konstablerwache für mich zu werben gedenke. Als ich meinen Nachbarn, ein in Unehren ergrauter, für seinen Bindungsunwillen bekannter Womanizer, in den Plan einweihe, belächelt der alte Routinier mein Vorhaben, mit dem ich eher in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie als in den geöffneten Armen einer sich nach mir verzehrenden Frau landen würde. Stattdessen solle ich mir die grenzenlosen Jagdgründe des World Wide Web erschließen, in denen er schon ohne großen Aufwand so manchen süßen Fang gemacht habe. Als in der Wolle gefärbter Feminist der ersten Stunde finde ich die sexistischen Empfehlungen des senilen Schmierlappens natürlich widerlich, aber warum sollte es mir nicht gelingen, meine Suche nach einem liebevollen weiblichen Mitmenschen unter Wahrung meines hohen, auf Wertschätzung und Respekt gründenden Frauenbildes auf den digitalen Raum auszudehnen?

Das von mir im weiteren Verlauf der Begebenheiten aufgerufene Internetportal wirbt mit der irritierenden Behauptung: »Alle elf Stunden verliebt sich ein Best Ager über FinalDate.« Abgesehen von den wohlklingend-sinnfreien Scheinanglizismen, fand ich die Aussage eher entmutigend. Wenn von den 20 Millionen bundesrepublikanischen Rentnern zwei Millionen ihrer trans-, homo- oder heterosexuellen Erfüllung in Permanenz auf Kreuzfahrtschiffen hinterherjagen und -trippeln, zwölf Millionen in festen Händen sind oder das halbwegs passende Deckelchen gefunden haben, und man ferner die zwei Millionen der über 80-Jährigen abzieht, deren libidinöse Glut als weitgehend erloschen gelten kann, bleiben immer noch vier Millionen übrig, die auf dem Festland miteinander in Konkurrenz treten. An trübsinnigen Tagen kann ich kaum bis drei zählen, aber die halbwegs sichere Prognose, frühestens 2022 noch einmal der Liebe einer Frau teilhaftig zu werden, war ein Schlag ins Kontor. Hinzu kommt die horrende Jahresgebühr von 800 Euro, die nach der Lektüre der AGB aus der diskriminierenden Tatsache resultiert, dass mir als Endsechziger ein Zuschlag für Schwervermittelbare auferlegt wird.

Dann aber kämpfe ich meinen kleinlichen Grübelzwang nieder und mache mich an die Arbeit der Selbstvermarktung. Für die Fotogalerie des Portals lade ich drei Selfies hoch: Am Schreibtisch dichtend und denkend, sturmfest und erdverwachsen auf dem Felsen von Helgoland sowie als gutmütiges Familientier in den bayerischen Alpen mit dem lachenden Enkeltöchterchen auf den im Halbschatten athletisch wirkenden Schultern. Bei der Bildbearbeitung mindere ich den Kontrast und erhöhe die Helligkeit, um das faltige Gitterwerk, mit dem das Leben mein Gesicht gezeichnet hat, in ein etwas milderes Licht zu tauchen. Bei der Wahl des persönlichen Zitats war ich bestrebt, meine Unverwüstlichkeit zu betonen und schwanke stundenlang zwischen den Verlautbarungen der beiden Ex-Boxer René Weller und Ernest Hemingway: »Wo ich bin, ist oben und wenn ich mal unten bin, ist unten oben« oder »Ein Mann kann zerstört werden, aber nicht besiegt.« Als ich die anrührend nostalgischen Aphorismen aus der heilen Welt des Machismo noch einmal überfliege, dämmert mir, dass ich die potenzielle Dame meines Herzens mit diesen Kalendersprüchen für die Mannschaftsunterkünfte der GSG 9 wohl eher verfehlen würde und greife auf den millionenfach kopierten 13. Brief des Apostels Paulus an die Korinther zurück, mit dem man in keiner Lebenslage etwas falsch machen kann: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter allen.«

Die Frage, auf wen oder was ich allergisch reagiere, ist mit Konstantin Wecker, Michel Friedmann und dem Wort zum Sonntag ebenso leicht zu beantworten, wie die nach den Prominenten, die ich gern einmal treffen würde: Barbara Auer, Georg Stefan Troller und Bodo Ramelow. Mit der Rubrik Sport und Freizeit tue ich mich wesentlich schwerer, weil ich neben dem seit vierzig Jahren täglich exerzierten Dauerlauf von Kindesbeinen an zwar schlecht, aber leidenschaftlich gern und regelmäßig Minigolf spiele. Ein extrem kleinformatiges Vergnügen, das aus der Perspektive einer weitblickenden Frau betrachtet, auf eine gewisse Beschränktheit des Horizonts und der Interessen schließen könnte. Also streiche ich schlechten Gewissens die ersten beiden Silben der von mir bevorzugten Sportart und denke, dass ich mich im Ernstfall immer noch mit der Simulierung eines Bandscheibenvorfalls aus der Affäre ziehen könnte. Auch bei der Angabe der Einkommensverhältnisse halte ich es für nicht ratsam, es mit der Wahrheit übertrieben genau zu nehmen und erhöhe meine jährlichen Pensionsansprüche um die runde Summe von 12 000 Euro. Mit einer Frau, die sich bei der ersten Begegnung die Kontoauszüge zeigen ließe, würde es ohnehin zu keiner zweiten kommen, und jeder anderen würde ich im Verlauf unserer behutsamen Annäherung vermitteln können, dass die Notlüge von der Befürchtung diktiert worden sei, mit meiner eher bescheidenen pekuniären Potenz durch das Raster ihrer Aufmerksamkeit zu fallen. 24 Stunden nach Beginn der Aktion habe ich endlich erfolgreich alle Eingabemasken bedient, die Lastschriftermächtigung erteilt und falle in einen traumlosen Schlaf, aus dem ich benommen erwache.

Im Schlaraffenland

Die Sonne scheint, ein Schwalbenpärchen überfliegt mein in der Nähe der A661 gelegenes Dachstübchen, die Rotorblätter der in der Wetterau installierten Kraftanlage muten aus der Ferne an wie friesische Windmühlen, und als ich meinen Posteingang öffne, komme ich mir vor wie ein kleiner Junge, den man nach Ladenschluss versehentlich in der Schokoladenabteilung des Kaufhofs eingesperrt hat: Sage und schreibe 509 Partnervorschläge haben die Heinzelmännchen von FinalDate über Nacht auf meinen Computer gezaubert. Um der Fülle des Angebots Herr zu werden, versenke ich zunächst einmal alle Studienrätinnen i. R. im virtuellen Papierkorb, ein brutaler Akt der Auslese, der der Begründung bedarf. Seit meinem Gastspiel in einem humanistischen Gymnasium des Jahres 1957 hatte mir der vom Staat mit dem höheren Lehramt betraute Personenkreis unabhängig vom Geschlecht mit seiner Pingeligkeit mein junges Leben zur Hölle gemacht. Eine Verletzung, die bei Kontakten in der Phase der postschulischen Sozialisation immer wieder zu Retraumatisierungen führte. Die Fähigkeit, einem wehrlosen Menschen jederzeit und ungefragt zu erklären, was die Welt im Inneren und Äußeren zusammenhält, gepaart mit der Neigung zum uferlosen Zutexten des Gegenübers, ließen mich von dieser Option Abstand nehmen. Die Vorstellung, mich als Liebhaber des Ungefähren in meiner Restlaufzeit an eine Frau zu binden, die drohte, all meine spontanen Lebensäußerungen in roter Tinte zu ertränken, ist ein Albtraum.

Mein Misstrauen gegenüber dem Berufsstand der im Angebot befindlichen Erzieherinnen ist nicht so stark ausgeprägt, aber leider vorhanden. Sie müssen integrieren, inkludieren, Windeln wechseln, Tränen trocknen, den ganzen Tag lieb und gut sein und sich nach Feierabend auf Elternabenden der Attacken hysterischer Sorgeberechtigter erwehren. Aber welche Folgen hat dieses unter Umständen 45 Jahre währende Hantieren mit Schippchen, Förmchen, Eimerchen und anderen Niedlichkeiten für das verbleibende Triebleben der Ruheständlerinnen? Lauschen wir an langen Winterabenden im Schein einer selbstgebastelten Martinslaterne in Löffelchenstellung aneinandergeschmiegt den Klängen von Kuschelrock 12, und ich nenne sie Lillifee und sie mich Mondbär? Gottbewahre!

Es überrascht mich, dass das durchaus ehrenwerte Gewerbe der Friseurin und Kosmetikerin auf der Vorschlagsliste an prominenter Stelle rangiert, weil die im Bereich der Körperpflege tätigen Frauen beziehungsökonomisch ausgedrückt ja eigentlich aus den Vollen schöpfen können. Die ihrer textilen Rüstung und ihres verbalen Blendwerks beraubte männliche Kundschaft ist den kritischen Blicken dieser Handwerkerinnen hilflos ausgeliefert und welcher Altersgenosse weit jenseits der Lebensmitte kann von sich behaupten, dass er im unbedeckten Naturzustand auf der Gegenseite einschlägt wie eine Bombe? Eine unerbittliche Selektion. Die Türkin, der ich meinen Körper alle vier Wochen für die üblichen Wartungsarbeiten anvertraue, übt beide Berufe seit dreißig Jahren in Personalunion aus. Ich unterhalte zu der fülligen Schönheit, die mein aus Köln stammender Vater in seinem unverblümten rheinischen Sprachgebrauch sicher als lecker Mädsche bezeichnet hätte, eine entspannte Arbeitsbeziehung, die durch gelegentliche Entgleisungen nicht zu erschüttern ist. Im letzten Frühling beglückte sie mich mit einer scharfkantigen, ihrer Meinung nach hochmodischen Horst-Wessel-Gedenkfrisur, vor vier Wochen legte sie mir eine glättende Honig-Gurken-Maske auf und ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, dass sie es beim nächsten Mal mit Moltofill versuchen würde. Ich habe zunächst ein wenig verkniffen reagiert, stimmte dann aber in ihr Gelächter ein. Wenn sie mir mit ihren perfekt manikürten Händen Cool Water ins Haupthaar einarbeitet, schwebe ich eine Handbreit über dem Boden ihres Friseursalons und träume vor mich hin. Sie ist geschieden, ich bin verwitwet, die Kinder sind aus dem Haus, why not? Was aber bliebe uns nach einer, um auf der großen Spur des Traums zu bleiben, durchliebten Nacht? Wir trinken bitter-süßen schwarzen Tee aus kleinen Gläsern. Sie blättert im Cosmopolitan und den Lettres Intercoiffeurs, ich quäle mich durch die Frankfurter Rundschau und lege Patiencen. Wer zieht bei dieser Mesalliance auf lange Sicht den Kürzeren? Sie, ich, beide?

Nach dieser trübsinnigen Verzichtserklärung erreiche ich, wie soll ich es einigermaßen gewählt ausdrücken, den Bodensatz des Warenkorbs. Zwölf nach eigenen Angaben blutjunge Russinnen mit abgründig tiefen Dekolletés wünschten mit mir und meinesgleichen in Kontakt zu treten. Das Ganze sieht nach einer konzertierten Aktion aus, weil die Selbstanzeigen bis auf die Vornamen und Ortsangaben nahezu identisch sind: »Bin poor Natascha aus kalt Wolgograd und suche dir für immer. Wenn du schickst 1000 Dollar mit Western Union für Airline und my krank Großmitterchen in Nowosibirsk, ich flieg sofort an breit Brust deine und mach Lieb an dich all Day and all Night.« Bin ich in meiner Einsamkeit denn schon so auf den Hund gekommen, denke ich entsetzt, dass man mir allen Ernstes zutraut, beim Anblick einer vollen Bluse den Verstand zu verlieren? Dann lösche ich die Anzeigen und aktualisiere den Posteingang. 38 Damen sind übrig geblieben und das sind ehrlicherweise mehr, als ein Mann in meinem Alter verkraften kann.

Tiefes Wasser

In dem Volkslied von den zwei Königskindern, die einander so lieb haben, sind es die Tiefe des Wassers und der Sexualneid einer katholischen Geistlichen, die das Paar daran hindern, die Phase der Idealisierung zu überwinden und zu einer wirklichkeitsnahen Einschätzung des aus der Ferne angehimmelten Liebesobjekts zu gelangen. Ich bin kein adoleszentes Königskind, sondern ein zunehmend genervter Kunde einer auf Senioren spezialisierten Partnerschaftsbörse. Selma ist keine verträumte Prinzessin, die überm Rhein oder irgendeinem anderen urdeutschen Flusslauf von früh bis spat ihr güldenes Haar kämmt, sondern eine im Unruhestand befindliche Radiologin aus Saarbrücken. Und was mich daran hinderte, unser unendlich langgestrecktes virtuelles Vorspiel endlich einem Realitätscheck zu unterziehen, waren die Arbeitsniederlegungen der auf Dauerkrawall gebürsteten Angehörigen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer unter ihrem unerträglich sächselnden Häuptling Claus Weselsky. Drei Tage lang belagerte ich inmitten eines Pulks vorwiegend chinesischer Mitreisender den Frankfurter Hauptbahnhof, bis mich das muntere Plappermäulchen vom DB Service Point darauf aufmerksam machte, dass ich die Hauptstadt des kleinen Bundeslandes doch auch ganz mühelos mit dem TGV erreichen könne. Dass ich auf diesen verspäteten Ratschlag ein wenig barsch reagierte, entsprach eigentlich nicht meinem durchweg leutseligen, auf Harmonie geeichten Naturell, aber ich stand unter erheblichem Zeitdruck.

Innerhalb der nächsten 80 Tage habe ich bundesweit mehr als drei Dutzend Erstgespräche mit Frauen zu absolvieren, die mich nach der wechselseitigen Freigabe unserer Fotos und Bände füllender Korrespondenzen über das Internetportal FinalDate in die engere Wahl gezogen haben. Am Tag nach Ablauf dieser Frist würde auf der Kopfzeile meiner digitalen Kontaktanzeige bei der Altersangabe die Zahl 70 aufflammen und damit mein endgültiges Haltbarkeitsdatum überschritten sein. Nach Meinung von Insidern könnte ich mich danach bestenfalls der Huld nekrophiler Pflegekräfte und leichter Mädchen der Gewichtsklasse 60 plus erfreuen.

Zur Optimierung meiner Performance habe ich vor dem Kauf der Bahncard 100 mein ausgebeultes Tweedjacket gegen eine figurbetonte Lederkreation aus dem Hause Hugo Boss und die ausgelatschten Mephisto-Gesundheitsschuhe gegen sündhaft teure Stiefeletten von Tommy Hilfiger eingetauscht und obwohl ich bereits auf der Höhe des Bahnhofs Mannheim spüre, dass ich mir in dem zierlichen Schuhwerk blutige Zehen laufen werde und die modisch aufgepeppte Bikerkutte um die Hüfte ein wenig spannt, bin ich guten Mutes.

Die an mir vorbeifliegende Landschaft liegt im gleißenden Sonnenlicht, das französische Bordpersonal serviert unaufgefordert einen erstklassigen Café au lait und als ich mich mit einstudiert elastischen Schritten unter einsetzenden Schmerzen dem vereinbarten Treffpunkt vor dem Hauptbahnhof Saarbrücken nähere, bleibt mir die Luft weg, weil die Momentaufnahme der Frau auf dem Parkplatz mit dem im Internet eingestellten Werbefoto völlig übereinstimmt. Sie lächelt wie Sharon Stone in ihrem Alterswerk Broken Flowers, und als ich ihr diesen Eindruck nach unserer Begrüßung im Zustand der Verwirrung ungefiltert mitteile, stößt sie sich am Begriff Alterswerk und fragt mich, ob ich wissen wolle, an welchen Charakterdarsteller ich sie erinnere. Ihre tiefe Stimme hat ein warmes Timbre, ich sage zuerst »lieber nicht« und dann »bitte gern, wenn es nicht Anthony Quinn im Glöckner von Notre-Dame ist«. Wir lachen und der Bann scheint gebrochen.

Als ich mich in ihr silbergraues Boxster-Cabrio zwänge, mit dem wir uns auf der Stadtautobahn beängstigend zügig ihrem Wohnsitz nähern, steigen in mir erste Bedenken auf. Würde ich beim Aussteigen genügend körperliche Geschmeidigkeit vortäuschen können, um mich aus dem Schalensitz des tiefgelegten Gefährts in die Vertikale zu stemmen? Mit welcher Reaktion wäre zu rechnen, wenn ich ihr im weiteren Gesprächsverlauf gestehen müsse, dass ich weder über ein Auto noch über einen Führerschein verfüge? Nimmt dieses Fortbewegungsmittel nicht den Rang eines primären Geschlechtsorgans ein, bei dessen Fehlen ein deutscher Mann in den Augen einer deutschen Frau zu einem wesenlosen Neutrum schrumpft? Da uns der Fahrtwind den Atem raubt, habe ich glücklicherweise keine Gelegenheit, diesen autoaggressiven Hirnandrang zur Sprache zu bringen und nach der Ankunft sind andere Impressionen zu verarbeiten. Ihre Behausung erweist sich als eine schneeweiße, inmitten einer fußballfeldgroßen Gartenanlage liegende Bauhausvilla. Vor dem Anwesen bewässert ein freundlich aufblickender Bediensteter die Rosenstöcke, im Eingangsbereich steht eine kleine Kunstmaschine von Jean Tinguely und an der Rückseite des Wohnzimmers hängt ein Ölgemälde von Gerhard Richter: Frau, die Treppe herabgehend. Die weit geöffneten Terrassentüren geben den Blick frei auf einen schmalen, granitgefassten Pool von etwa 25 Meter Länge. Schäfchenwolken überqueren das blaue Himmelszelt, ich starre auf die von der sanften Brise gekräuselte Wasseroberfläche, und als mir die in der Küche hantierende Hausherrin zuruft, dass sie dabei sei, für uns eine Caprese zuzubereiten, komme ich zu mir und muss mir nicht nur eingestehen, dass das Gericht unter dieser Bezeichnung nicht in meinem Kochbuch steht, sondern dass diese Frau eine Klasse für sich ist, eine Klasse, zu der ich nicht gehöre und nie gehören werde.

Sie hat mir im digitalen Vorlauf anvertraut, dass ihr Sohn an einer englischen Eliteuniversität seit 20 Semestern ergebnisoffen vor sich hin studiert und dass ihr Ehemann sie vor zwei Jahren gegen ein Duplikat im Alter ihrer Tochter ausgetauscht habe, der Nachwuchs sei unterwegs. Wir sitzen uns beim Essen unterm Sonnenschirm gegenüber und ich hätte auf sie eingehen, die in ihren Augen- und Mundwinkeln nistende Trauer und Einsamkeit thematisieren müssen, aber stattdessen tue ich das, was ich immer tue, wenn ich ins Schwimmen gerate: Ich fange an zu schwafeln. Obwohl ich von der klassischen Oper nur weiß, dass sie lange dauert und im dritten Akt regelmäßig eine Frau stirbt, greife ich die in ihrem Internetprofil genannte Vorliebe für diese Musikgattung auf und erzähle ihr von der Begeisterung, die Maria Callas als Tosca in der von der BBC im Jahr 1964 aufgezeichneten Fassung bei mir ausgelöst habe: sinnliche Ausstrahlung und stimmliche Präzision auf der Höhe ihres Könnens. Je mehr Bildungskonfetti ich im Verlauf des Nachmittags absondere, desto breiter und unüberwindlicher wird das zwischen uns liegende Gewässer, und als sie mich abschließend auffordert, mit ihr und dem Hund noch einen Spaziergang zu machen, ist klar, dass ich unser Rendezvous vermasselt habe. Bei dem Haustier handelt es sich um einen hochbetagten, halbblinden Rauhaardackel, den die verstorbene Hausangestellte ihrer Obhut anvertraut hat, und während wir verstummt den Uferweg der Saar abgehen, verschwindet das altersschwache Dackelmännchen in einer riesigen Brombeerhecke, aus der es nicht mehr herausfindet. Ich bahne mir den Weg durchs Gestrüpp, befreie den erschöpften kleinen Kläffer aus seiner Notlage und führte ihn an der Leine zu seinem Frauchen zurück. Als ich sie zum Abschied umarme, zittern ihre Schultern und ihre Halsbeuge verströmt den Duft eines exquisiten Parfums: Ambre sultan. Der ergraute Königssohn hat sich unter Preisgabe seines bei Peek & Cloppenburg erworbenen Kettenhemdes durch den Dornenwall gekämpft, wird aber auf dem Weg zum erlösenden Kuss von einer furchtbaren Zivilisationskrankheit niedergestreckt: Logorrhö.

Alt Heidelberg, du feine

Auf dem Foto ähnelt Teresa auf verblüffende Weise der Schauspielerin Katharine Hepburn in African Queen