Christina Viragh

Im April

Roman

Mit einem Nachwort
von Péter Nádas

Dörlemann

Die Originalausgabe »Im April« erschien erstmals 2006 im Ammann Verlag, Zürich.
  
  
  
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-974-4
www.doerlemann.com

 

Im April

I

Es ist ein Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre, erstaunlich warm, das Wohnzimmerfenster steht offen, hin und wieder blähen sich die Nylonvorhänge herein, die Luft riecht nach dem schwelenden Feuer hinter dem Haus, weiß Gott, was die da angezündet haben, der Blumenduft, wie nicht reiner Mandelhonig, kommt von den weißen Zweigen in einer Vase, Spirea, die in diesem April auch schon blüht. Halb acht, es ist nicht dunkel, die Blüten des hinter dem Haus stehenden Kirschbaums treten in der dichter werdenden Dämmerung deutlicher hervor. Da und dort schweben Blütenblätter zur Erde, auch das sieht man deutlich und ist an den Schnee erinnert, der noch vorletzte Woche fiel, kurz bevor es ungewöhnlich warm wurde. Der Rauch vom kleinen Feuer riecht immer mehr nach angesengtem Haar, da ist wahrscheinlich etwas drin, das nicht richtig brennt.

Derselbe Aprilabend Anfang der Zwanzigerjahre, auf der Höhe des Wohnzimmers ist nur Luft, feuchte Luft von dem Nieselregen, der hier auf eine links und rechts von je einem Mietshaus eingegrenzte Wiese fällt. Die Blüten des Löwenzahns auf der Wiese sind geschlossen und bräunlich. Der Kirschbaum besteht aus einem etwa meterhohen, gegabelten Zweig, der von einem Stock gestützt wird. Die Luft riecht nach Schnee.

Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts befinden sich im Wohnzimmer noch zwei Gegenstände, die in den Sechzigerjahren beim Einzug in den Neubau hier platziert worden sind, nämlich ein Kerzenhalter aus Zinn und außen am Fenster ein Thermometer, das an diesem Aprilabend fünfzehn Grad anzeigt. Das Wetter ist nicht so schlecht, bedeckt, aber trocken. Das Fenster steht einen Spaltbreit offen, die hereinströmende Luft hat einen metallischen Beigeschmack. Im Zimmer ist auf der niedrigsten Stufe geheizt. In einer Vase stehen nicht Frühlingsblumen, sondern Astern.

An diesem Aprilabend des Jahres 1415 macht eine laubgeschmückte Reitergesellschaft auf der Wiese hier Rast. Das Buchenlaub steckt seitlich am Stirnband des Zaumzeugs der Pferde, an den Kopfbedeckungen der Reiterinnen und der Reiter und auch zu Kränzen gewunden auf ihrem Haar oder um ihren Hals. Eine Trompete gibt das Zeichen zum Absteigen, die Pferde werden zu einer Gruppe zusammengenommen und auf der Höhe des späteren Zwischenraums zwischen Lift und Treppenhausgeländer nebeneinander aufgestellt. Einige werden an der Brust rückwärts gestoßen, damit die Reihe gleichmäßig steht.

An diesem Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre lässt die Straßenbahn, die im Sechsminutentakt an der Vorderfront des Hauses hält und anfährt, den Spireazweig in der Vase kaum merklich zittern. Kleine runde weiße Blütenblätter fallen auf den sechseckigen Couchtisch aus hellbrauner Esche.

Die Astern des einundzwanzigsten Jahrhunderts stehen neben dem Sofa, auf einem niedrigen Glastisch mit Rädern. Ein graugelb vertrocknetes, an seinem ausgezackten Rand eingekrümmtes Blatt liegt auf der Glasplatte, die anderen, ebenfalls weitgehend vertrockneten Blätter sitzen noch an den Stielen, die dunkelroten Blüten sehen frisch aus.

Der Haargeruch vom schwelenden Feuer ist im Sechzigerjahrewohnzimmer im hinteren Teil mit dem Esstisch, ebenfalls aus Esche, stärker zu riechen als beim Fenster, wo die hereinströmende Luft die Gerüche verdünnt. Riecht wirklich komisch, denn jetzt mischt sich noch etwas Herbsüßes hinein, wie von Holz, das mit Duftöl durchtränkt ist. Zwischendurch riecht es von den Stummeln im Aschenbecher auf dem Tisch.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert steht ein Aschenbecher auf dem Fenstersims. Er ist aus türkisblauem Steingut und stammt aus einem nordamerikanischen Indianerreservat. Auch er ist voller Stummel.

Zwanzigerjahre, scheußlich, dieser Aprilabend, keinen Hund würde man bei dem kalten Nieselwetter hinausjagen. Tatsächlich liegt er in seiner Hütte. Das Nieseln sieht wie dünner Nebel aus. Es ist trotz des bedeckten Himmels immer noch hell. Die Wiese ist dunkelgrün vor Nässe, das Gras steht nicht hoch, das Mähen kann man noch eine gute Weile vergessen. Die rostigen Sensen und Rechen sind in einem Schuppen neben der Hundehütte untergebracht, daneben steht ein einstöckiges Bauernhaus auf der Wiese, unten verputzter Stein, oben rot bemaltes Fachwerk.

Aus diesem oberen Stock des Bauernhauses kommt heute Abend in den Sechzigerjahren von Zeit zu Zeit ein Dröhnen, das von den hinten um die ehemalige Wiese stehenden Vierzigerjahremietshäusern widerhallt, sodass man jeden Schlag doppelt hört. Es klingt, als versuchte jemand den Holzboden des oberen Stockwerks durchzuschlagen. Vom Kirschbaum fallen Blütenblätter, vielleicht wegen der Schallwellen, die drei Birnbäume vor dem Haus blühen noch nicht. In einem der hinteren Mietshäuser wird ein Fenster zugeworfen, wahrscheinlich aus Protest gegen den Lärm. Vom großen Nussbaum, der ebenso wie der Kirschbaum ins Hintergärtchen des Neubaus integriert ist, fliegt mit kurzgehackten Rufen eine Amsel auf.

Es ist still, man hört zwei Amseln, die in dem Wäldchen, das sich vom hinteren Rand der Wiese den Hang hinaufzieht, einander antworten, und man hört auch das Kauen der Pferde an den Trensen. Eins hat den Buchenlaubschmuck des Nebenpferdes erwischt, aber der Zweig wird ihm von einem Burschen aus dem Maul gezogen. Die Instrumente, die den heutigen Ausritt, Frühjahr 1415, begleitet haben, liegen nebeneinander auf einer roten Decke. Auch das den ganzen Tag wiederholte Rezitieren von Frühlingsgedichten hat aufgehört.

Das dröhnende Klopfen im oberen Stock des Bauernhauses ist im Moment, jetzt in den Sechzigerjahren, nicht zu hören, in einem der Vierzigerjahremietshäuser wird ein Fenster, wahrscheinlich dasselbe wie vorhin, wieder aufgerissen. Wie gesagt, diese älteren Mietshäuser stehen hinten auf dem Grundstück, an den Hang gebaut, während der Neubau an der Straße steht und das Grundstück nach vorn abschließt. Das erwähnte Wohnzimmer geht nach hinten, also auf das Grundstück hinaus, und das wieder einsetzende Dröhnen ist hier deutlich zu hören. In den straßenseitigen Wohnungen des Neubaus hingegen hört man es nur dumpf, dafür lässt hier die Straßenbahn von Zeit zu Zeit die Scheiben vibrieren.

Dass die immer etwas zu lärmen haben müssen. Auch jetzt, an diesem Aprilabend in den Zwanzigerjahren, kracht es aus dem Bauernhaus, als wäre etwas Schweres, Kompaktes umgefallen, zum Beispiel eine Nähmaschine mitsamt ihrem schmiedeeisernen Fuß. Erschreckt fliegt von einem der Birnbäume eine Meise auf. Jetzt kommt aus dem Haus Kindergeheul. Jetzt bricht es ab. Jetzt, ebenfalls von Kinderstimmen, ein Psalmodieren: Regen, Regen, Segen, Segen, Regen, Regen, Segen, Segen. Auch das bricht ab. Auf der Asphaltstraße vorn fährt ein Automobil stadtwärts, in der Villa jenseits der Straße geht ein Fenster auf und gleich wieder zu. Jetzt wird unter dem Dachgiebel ein kleines Fenster geöffnet, und das Ende eines Fernrohrs erscheint. Es stellt sich auf die Höhe ein, auf der im Sechzigerjahreschlafzimmer die Nachttischlampe mit ihrem plissierten Schirm die Sicht versperren würde. Jetzt, da sich auf dieser Höhe nur Nieselregenluft befindet, kommt der Schuppen in Sicht. Davor eine Pfütze, in der zusammengeknüllte Lumpen liegen. Das Fernrohr im Giebelfenster wird wieder zurückgezogen, das Fenster zugemacht.

Jetzt steht das Giebelfenster der Villa wieder offen, wir haben den Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre, das Ende des Fernrohrs ragt unbewegt heraus. An der Straßenfront des Neubaus sind die Vorhänge zugezogen, da und dort die Lamellen-Rollläden heruntergelassen. Im Wohnzimmer an der Rückseite des Hauses kommt durch den bewegten Vorhang wieder ein Schwaden von dem komisch riechenden Feuer. Was zum Teufel verbrennen die da? Auf der Straße vorn fährt die Straßenbahn an, der Spireazweig in der blauweißen Porzellanvase zittert ein wenig, ein paar der Blütenblätter fallen ab, auch vom Kirschbaum draußen schneit es Blütenblätter. Jetzt ist es still, keine Autos auf der Straße, auch kein Dröhnen aus dem ehemaligen Bauernhaus. Ein schöner, erstaunlich warmer Aprilabend. Der Mann, der auf einen der Esstisch-Stühle gestützt hinten im Wohnzimmer steht, muss kurz lachen.

An der Stelle, wo er steht, befindet sich im einundzwanzigsten Jahrhundert nur ein heller, gesprenkelte Spannteppich, sonst kein Mobiliar. Auf Kopfhöhe hängt ein pseudoantiker Spiegel an der rauverputzten Wand, spiegelt das nur von zwei Baumwollvorhängen umrahmte Fenster und dahinter die undeutliche Masse des größeren, höheren Baus, der seit 1965 an Stelle des Bauernhauses in der Mitte des Grundstücks steht. Der grünliche Fleck im Spiegel gibt den Topfbambus auf einem der Balkone wieder. Erstaunlich, dass er den Winter und die Stürme des Vorfrühlings überlebt hat.

Gestürmt hat’s, das kann man wohl sagen, ein genauso stürmischer Sechzigerjahre-Vorfrühling. Nächtelang hat das Wellblechdach des halbverfallenen Schuppens geklappert. Dann hat es geschneit, und niemand hätte gedacht, dass so bald darauf die Kirschbäume blühen würden. Sie blühen besonders schön, ohne Blätter, die plötzliche Wärme hat die Knospen an den dunkelbraunen Zweigen auf einmal geöffnet. Sie blühen besonders schön, sagt der im Wohnzimmer stehende Mann zu sich selbst. Könnte sich ja eigentlich ans offene Fenster stellen, um den Kirschbaum besser zu sehen. Er steht hinten im Zimmer auf die Lehne des Esstisch-Stuhls gestützt, betrachtet die sich blähenden Vorhänge, spielt mit einem geschlossenen Taschenmesser in der anderen Hand.

Nachdem die Frühlingslieder und -gedichte dieses Ausflugs vom Frühjahr 1415 verstummt sind, bleibt es bei den Rufen der sich antwortenden Amseln, dem Kaugeräusch der Pferde, dem metallischen Klicken, wenn sie sich so nahe aneinanderdrängen, dass die Steigbügel zusammenstoßen. Der rotblau gekleidete junge Mann, der in der Nähe etwas im Gras sucht, macht kein Geräusch. Später würde er in der Luft schweben, denn er geht an der Stelle hin und her, wo sich im Sechzigerjahreneubau das Treppenhaus atriumartig zum Kellergeschoss hin öffnet.

Hier liegt jetzt in den Zwanzigerjahren ein Kotflügel im Gras, schon lange, schon seit dem Winter, schon oft betrachtet von der Villa her, mit bloßem Auge und mit dem Fernrohr. Wäre das Wetter besser, würde das schwarzglänzende Metallding aus der blühenden Wiese herausstehen, aber jetzt ist es nur eine der grauen, undeutlichen Formen. Aus dem Bauernhaus kommt wieder die Regen, Regen, Segen, Segen-Leier, man hört es auch an der Straße vorn. Herrgott noch mal, jetzt sind tatsächlich schon Schneeflocken zwischen den Tropfen. Es riecht noch stärker nach Schnee als vorhin, der Geruch des Herdfeuers im Bauernhaus wird in Richtung der Straße getrieben. Die Eingangstür des Bauernhauses wird von innen aufgerissen und wieder zugeschlagen, der Hund kommt aus seiner Hütte, verkriecht sich wieder. Jetzt das Nähmaschinenkrachen und Kindergeheul. Aufhören, brüllt eine Männerstimme, das Geheul bricht ab. Von einem der Birnbäume fliegt eine Amsel mit ihrem abgehackten Winterruf auf. Jetzt ist es wieder still. Motorengeräusch vom Stadtrand her, zwei Automobile kommen gefahren, das Giebelfenster der Villa geht auf, das Fernrohr erscheint, und auch im Mietshaus links von der Wiese wird eine Balkontür geöffnet, eine Frau tritt heraus und blickt den beiden Wagen nach. Es schneit, man kann’s nicht anders sagen, im Wäldchen oben am Hang sind die Wipfel der höchsten Tannen schon weiß. Das Fernrohr schwenkt von der Straße weg und richtet sich wieder auf den Schuppen. Dabei rührt sich dort gar nichts. Jetzt wird vom Stadtrand her Hufgetrappel hörbar, klatschend auf dem nassen Asphalt, das Fernrohr schwenkt nach links, wartet, bis das Fuhrwerk in Sicht kommt. Der Schnee fällt in großen Flocken, der Wagen muss bereits in der Nähe sein, aber man sieht ihn kaum. Die Wiese ist auch schon weiß, auf eine löcherige Art, einzelne Grasbüschel stehen heraus. Der schwarze Kotflügel, von dem die Schneeflocken abrutschen, hebt sich jetzt besser ab.

An dieser Stelle wäre dem Fernrohr der rotblaue Suchende im Weg, der jetzt hier im Gras kauert und mit beiden Händen auf dem Boden herumtastet. Die neun Pferde starren mit gespitzten Ohren zu ihm hin. Ein zweiter rotblau gekleideter junger Mann, der ein Stück Brot essend bei den Pferden steht, hört zu kauen auf und blickt ebenfalls zu ihm. Der Suchende steht auf, klopft sich die Erde von den Händen, dreht sich um. Die Pferde entspannen sich, der andere Rotblaue beginnt wieder zu kauen. Der Suchende geht auf die Pferde zu.

Damit würde in den Zwanzigerjahren die Sicht auf den Kotflügel wieder frei, nur hat sich das Fernrohr, das jetzt und in alle Ewigkeit, nein, das vielleicht nicht, aber immerhin bis in die Sechzigerjahre auf Posten ist, im Moment zurückgezogen, das Giebelfenster ist geschlossen.

Andererseits geht der Rotblaue geradewegs auf die spätere Lifttür zu, die an diesem erstaunlich warmen Aprilabend Anfang der Sechzigerjahre von einem neunjährigen Mädchen vorzeitig aufgerissen wird, sodass der Lift etwa zehn Zentimeter über dem Boden stehen bleibt. Das Mädchen steigt ein und drückt auf den Knopf für den dritten Stock. Tralilala, der Lenz ist da, singt sie, der Lift ist schon fast im zweiten Stock, sie tritt auf die Metallschwelle des Liftbodens, was den Lift blockiert, mehr als zehn Zentimeter unterhalb des Stockwerkbodens, die Tür lässt sich nicht öffnen. Das Mädchen drückt auf den Knopf für den dritten Stock, fährt von dort in den zweiten zurück, wartet diesmal ab, bis der Lift von sich aus hält, steigt aus. Sie bleibt vor der graugestrichenen Wohnungstür rechts vom Lift stehen, starrt darauf und beginnt jetzt die Klinke langsam und lautlos hinunterzudrücken. An dem Punkt, wo die unverschlossene Tür nachgibt, lässt sie die Klinke langsam wieder hochkommen, die Tür geht mit einem leisen Klick wieder zu, das Mädchen läuft auf den Zehenspitzen zur Treppe und mit Sprüngen über je zwei Stufen hinweg ins Erdgeschoss. Der Sprung, mit dem sie dort ankommt, würde die aufgereihten Frühlingspferde auseinandertanzen lassen, jetzt erschreckt er eine auf den Lift wartende Nachbarin, denn er geht über vier Stufen und schleudert das Mädchen aus dem Gleichgewicht, sodass sie mit den Handflächen auf den schwarzgrauen Steinboden klatscht. Klar, die Nachbarin muss gleich loslegen mit Ermahnungen, nicht beachten, das Mädchen steht auf und rennt aus dem Haus. Ein schöner, erstaunlich warmer Aprilabend, an dem das Fernrohr im Giebelfenster der Villa auf den Neubau gerichtet bleibt. Das Mädchen steht mitten im Blickfeld. Sie bückt sich, um ihre Schuhe fester zu binden, hinter ihr, hinter dem Glas der Eingangstür, erscheint das Gesicht der Nachbarin, verschwindet wieder. Das Mädchen richtet sich auf und läuft aus dem Bild. In der Glastür spiegelt sich der Verkehr, der sich im Moment vor allem stadtauswärts bewegt. Was die wohl hinter dem Haus angezündet haben, man riecht den süßlichen Haargeruch auch hier vorn an der Straße, das Mädchen, das jetzt an der Hausecke steht, hält sich die Nase zu.

An der Stelle dieser Hausecke wächst das Gras kürzer und dichter als auf dem Rest der Wiese, was man anno 1415 kaum bemerkt, hingegen in den Zwanzigerjahren von allen drei Stockwerken des links von der Wiese stehenden Mietshauses deutlich sehen kann, sodass man sich jeden Frühling die Frage stellt, warum wohl auf diesem Fleck nie eine Blume wächst und ob man da nicht einmal den Boden umgraben sollte. Hu, nein, dafür müsste man den Vater Schacher um Erlaubnis bitten, der auch schon, als die Mietshauskinder auf der Wiese Gänseblümchen pflückten, mit dem Gewehr erschienen ist.

Jetzt, in den Sechzigerjahren, schwenkt das Fernrohr kurz auf diese Stelle, wo sich, wie gesagt, die Hausecke befindet. Mari, das Mädchen, kommt in Sicht. Sie hat die Unterlippe vorgeschoben. Jetzt rennt sie zur Haustür zurück. Geht hinein, drinnen folgt der Lifttrick, der auch wieder gelingt, zehn Zentimeter Niveau-Unterschied, da geht die Lifttür noch auf, und diesmal funktioniert es auch im zweiten Stock oben, Mari tritt im richtigen Augenblick auf die Schwelle und steigt aus. Starrt auf die graue Wohnungstür, drückt langsam und lautlos auf die Klinke und öffnet die Tür so, dass sie eng angelehnt bleibt. Geht rückwärts, nimmt Anlauf, tritt die Tür mit dem Fuß auf. Sie schlägt innen gegen die Flurwand, an eine Stelle, wo der Verputz schon weg ist. Mari betritt die Wohnung.

Jetzt steckt doch jemand im Lift fest, weil die vor etlichen Jahren, wir haben den Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, zusätzlich angebrachte innere automatische Tür nicht aufgeht. Zum Glück ist der stecken gebliebene Herr von Gugelau nicht klaustrophobisch, aber jetzt geht auch noch das Licht aus, und er beginnt gegen die Tür zu poltern. Dieses Poltern hört man im ganzen Haus. Man hat auch schon die Alarmklingel gehört, auf die Herr von Gugelau zuerst gedrückt hat. Es stehen schon mehrere Leute im obersten, vierten Stock vor dem nicht zu öffnenden Lift. Vom Oberlicht wird die Gruppe hell beleuchtet, heller eigentlich, als es diesem bedeckten Aprilabend entspricht. Im vierten Stock ist immer schönes Wetter, hat gerade Herr von Gugelau, der jetzt im Lift Mantel und Jackett auszieht, einmal gesagt. Er hört, wie man zu ihm hereinruft, der Liftservice sei alarmiert, aber jetzt poltert er trotzdem wieder gegen die Tür.

Das kommt wirklich nicht oft vor, dass ein Aprilabend so schön und warm ist wie heute in den Sechzigerjahren um halb acht. Wäre da nicht der komische Feuergeruch, könnte man auch im Neubau den Erdgeruch riechen, der aus den Gärten und von den Feldern in der Umgebung kommt. Vor einem Augenblick, bevor die Wohnungstür gegen die Flurwand schlug, hat der Mann im Wohnzimmer an die auch schon blühenden Forsythien und Feuerbüsche gedacht. Jetzt erschreckt ihn die Tür so, dass er schreit: Sie blühen auch schon, und er lässt das Taschenmesser, mit dem er vorhin gespielt hat, fallen. Sag das nicht, schreit Mari zurück. Sie schreit es dreimal, beim dritten Mal knallt sie die Wohnungstür von innen zu. Jetzt ist es still. Sag das nicht, schreit Mari noch einmal und geht in ihr Zimmer, das mit dem Rollladen verdunkelt ist. Sie schließt hinter sich ab und zündet auf ihrem Schreibpult das Licht an.

Die aus dem Brockenhaus stammende Schreibtischlampe von undefinierbarem Alter und großer Hässlichkeit würde ungefähr die Spitze der Stange bilden, die jetzt anno 1415 in die Wiese gerammt ist. So viel ist im letzten Winter vom Mord an Herrn Meier die Rede gewesen, dass die Frühlingsreiter absichtlich hierhergekommen sind, an den von einer Stange gekennzeichneten Tatort. Lange Stangen hat man zwar schon den ganzen Tag auf Wiesen und Feldern stehen sehen, aber Herr Rufus hat gesagt, das ist der Ort, hier müsste man suchen. Alle haben gelacht. Es geht um Münzen, Plättchen und Medaillen aus Gold, die sich hier angeblich im Gras finden und gleich nach der Schneeschmelze zum Vorschein kommen sollten, wie es im Winter geheißen hat. Der Mörder sei nicht auf Raub aus gewesen. Weder auf Raub noch auf Mord, sagt Herr Lukas. Alle lachen wieder. Man lagert um die Stange im Gras, der Rotblaue sucht jetzt weiter links. Lacht ihr nur, denkt er. Wieder beobachten ihn die Pferde mit gespitzten Ohren. Die beiden Amseln im Wäldchen sind jetzt weiter voneinander entfernt und verwandeln mit ihrem Gesang die Wiese in einen großen, gewölbten Raum, wie Frau Dorothea sagt. Wie ist das?, fragt Herr Lukas. Wenn man die Augen schließt und nur auf die Amseln hört, ist man in einem großen, gewölbten Raum, wiederholt Herr Rufus. Frau Dorothea denkt: Ich darf nichts sagen.

Wenn die Brockenhauslampe die Spitze der Stange bildete, wäre sie in der Aprilabenddämmerung weitherum ein Signal. Jetzt kommt ihr Licht nicht weiter als bis zur braungestrichenen Platte von Maris Schreibpult, auf dem ein halb beschriebenes Blatt Papier liegt. Mari schreibt einen Brief an ihren Vater, den Mann, der im Wohnzimmer auf dem Stuhl sitzt, auf den er sich bisher gestützt hat. Das Dröhnen aus dem Bauernhaus setzt wieder ein. Was machen die da, denkt er, wird das die ganze Zeit so gehen? Der Wohnzimmervorhang hängt im Augenblick still, es ist etwas dunkler geworden, das Weiß des Kirschbaums hebt sich noch deutlicher ab. Ein schöner Frühlingsabend, auf dem Nussbaum singt eine Amsel in das Dröhnen hinein, scheint sie nicht zu stören. Auch die Straßenbahn, die jetzt auf der Straße vorn gefahren kommt und mit einem Scheppern hält, stört sie nicht. Aber jemand sollte nachsehen, was die da verbrennen.

Jetzt, im einundzwanzigsten Jahrhundert, ist an diesem Aprilabend die Wohnung leer, Herrn von Gugelaus Poltern verhallt ungehört im Flur, den der Luftzug vom Wohnzimmerfenster auch schon unterkühlt hat. Das Wetter müsste besser sein, Vorfrühlingsstürme deuten auf einen schönen Frühling, wie es doch heißt. Zumwalds sollten das Fenster nicht offen lassen, solange die Heizung läuft. Wahrscheinlich sind sie auf den Wetterbericht hereingefallen, etwas von Aufhellungen am Abend. Davon kann nicht die Rede sein, auch wenn jetzt bei fallender Dunkelheit der Himmel nicht mehr so eindeutig grau ist. Der Frühling kommt spät dieses Jahr, im Vorgärtchen der einstmaligen Villa mit dem Fernrohr, Weider’sche Villa genannt und heute das Bürohaus einer Immobilienfirma, sind die Tulpen nur knapp herausgekommen, auch die Osterglocken sind noch zu, obwohl Ostern vorbei ist.

Immerhin ist das Wetter nicht so scheußlich wie an diesem Aprilabend in den Zwanzigerjahren, der Schnee liegt schon als glasige Matschschicht auf der Straße. Man hat das kalte Zeug sofort in den Schuhen, wie Herr Blank merken muss, der jetzt aus dem linken Mietshaus tritt, um mit dem letzten Omnibus zu seiner Geliebten in die Altstadt zu fahren. Unnötig zu fragen, wie er zurückkommen will, er kommt nicht zurück, er bleibt über Nacht in der Altstadt. Seine Frau sitzt in der Küche am Tisch auf das Wachstuch gestützt. Es ist mir gleich, denkt sie. Im Bauernhaus hinten zielen die Kinder mit dem Gewehr des Vaters auf Herrn Blank vorn auf der Straße. Das Fernrohr im Giebelfenster der Villa bleibt hingegen auf den Schuppen gerichtet, Herr Blank geht von ihm unbeobachtet zur Omnibus-Haltestelle, obwohl man das Schluckgeräusch seiner Schritte im Schneematsch weitherum hört.

Nur dieser Frühlingsabend von 1415 nimmt es punkto Wetter mit dem schönen Sechzigerjahreabend auf. Er ist zwar etwas kühler, aber dafür heller, weil sich die Lichtreflexe von den zwei Seen, zwischen denen die Wiese auf einer kleinen Anhöhe liegt, von keinen Bauten behindert verbreiten. Die Reitergesellschaft lacht wieder, wer sucht, der findet nicht, hat jemand gesagt. Jetzt im schwindenden Licht erst recht nicht. Man beobachtet zwischen den Pferdebeinen hindurch die roten und blauen Beine der rotblau gekleideten Burschen, die jetzt beide etwas suchen, beide am vorderen Rand der Wiese. Wieder hat eins der Pferde Buchenlaubschmuck erwischt, das ihm niemand aus dem Maul zieht, die Rotblauen sind zu beschäftigt, das Pferd schlägt den Zweig seinem Nachbarn gegen den Hals, umsonst, das elastische Holz lässt sich so nicht brechen. Friert Euch nicht?, fragt Herr Rufus Frau Dorothea. Frau Dorothea wendet den Kopf ab. Ich darf nichts sagen, denkt sie. Tatsächlich, es ist schon ziemlich kühl. Hej, ruft Herr Lukas und klatscht in die Hände, das Pferd mit dem Buchenzweig im Maul ist unruhig geworden, es stößt gegen seinen Nachbarn, der rückwärts auszuweichen beginnt. Das ausweichende Pferd ist Ketsuron, der Braune von Herrn Bernhard. Die Rotblauen kommen gelaufen und richten die Pferde wieder so aus, dass sie über das rotgestrichene, oben mit schwarzem Plastik eingefasste eiserne Treppenhausgeländer hinweg in das offene Kellergeschoss des Sechzigerjahreneubaus hinuntersehen würden.