Seelentraum

Seelentraum

Das schlafende Wolkenvolk

Liane Mars

Drachenmond Verlag

Für Zwergnase

Inhalt

1. Von Schafen, Drachen und Himmelsstädten

2. Von Typen, die Wolkenkrieger sind

3. Von Flitzewolken und wirklich doofen Ideen

4. Von wütenden Vätern und hysterischen Müttern

5. Von Wahrheiten, die wir nicht hören wollen

6. Von fiesen Inquisitoren und mieser Seekrankheit

7. Von Funken, die tot und doch lebendig sind

8. Von Lebensenden und Neuanfängen

9. Von Rache und Trauer

10. Von Briefen, die noch mehr Fragen aufwerfen

11. Von Schulakten, die man nicht lesen sollte

12. Von Messern,die tödlich sind

13. Von Seelenträumen und Wolkenschafen

14. Von einer Erde, die untergeht

15. Von Wolkenmädchen, die nicht fliegen können

16. Von neuen Plänen und coolen Fähigkeiten

17. Von Königinnen und seltsamen Wendungen

18. Von der Vergangenheit und der Gegenwart

19. Von einem Seelentraum, der sehr schnell träumte

20. Von einer Königin, die ihren Halt verlor

21. Von einer Tochter, die etwas anders dachte

Danksagung

Kapitel 1

Von Schafen, Drachen und Himmelsstädten

Der Eisdrache hatte uns entdeckt und griff direkt an. Ich sah die letzten Sonnenstrahlen auf seinen glitzernden, fast durchsichtigen Schwingen tanzen. Ein Farbenspiel aus Hellblau, Saphir und Azur. Jede Bewegung seiner Muskeln war ein faszinierendes Spektakel. Wie Eis, das in der Sonne flimmert. Funkelnd und geheimnisvoll.

Erst als ich in seine tiefblauen Augen sah, wurde mir die Gefahr richtig bewusst. Augen. Ich konnte sie sehen. Das hieß, dass der Eisdrache direkt auf mich zukam. Bereit, zu töten. Entschlossen, uns endgültig loszuwerden.

Er duckte sich tiefer, schlug noch kräftiger mit den gigantischen Flügeln. Dabei war er schnell. Schneller als jedes andere Geschöpf, das ich kannte. Messerscharfe Krallen sausten auf mich zu. Ich entging ihnen nur durch Zufall, denn eine Wolke riss genau unter mir auf. Ich sackte ein und die Klauen verfehlten meinen Körper um Haares­breite. Die letzte Kralle erwischte noch den Zipfel meines Hemdes, riss es auf. Schreiend machte ich mich ganz klein.

Der Drache brüllte wütend, weil er mich nicht geschnappt hatte. Er versuchte umzudrehen und flog dabei einen weiten Kreis. Das gab mir Zeit zum Reagieren.

»Runter von der Wolke«, schrie ich meinen Wolkenschafen zu. Wir hatten das Manöver schon unzählige Male geübt, bislang jedoch keine Verwendung dafür gehabt. Im Allgemeinen war die Wolkenwelt friedfertig und sicher. Nur in der Nähe von fliegenden Wolken­festungen musste man aufpassen. Die wurden von Eisdrachen bewacht.

Ich hatte darauf spekuliert, dass dieser Wächter uns akzeptieren würde. So wie vor zwei Jahren, als ich schon einmal in der Nähe der Himmelsfestung Siedengrad gewesen war. Damals hatte der Drache lediglich Scheinangriffe auf uns ausgeführt und war dann verschwunden. Heute sah das leider anders aus. Ganz anders.

Er wollte uns töten. Das sah ich an der Wut in seinen blauen Eisaugen. An jeder seiner Bewegungen. Entweder er oder ich.

Während die Wolkenschafe mich noch verwirrt anglotzten, war mein Hütehund Fluse schon in voller Aktion. Sie zwickte Donnerwetter in die Hinterbeine, woraufhin er einen erschrockenen Hüpfer nach vorne machte. Der Rest der Herde folgte dem nachtschwarzen Leithammel in die gewünschte Richtung. Fort von der Festung, rüber auf eine andere Wolke.

Falls sie es bis dahin schafften.

Der Eisdrache hatte mittlerweile umgedreht und kam zurück. Diesmal flog er langsamer und zielte besser. Mist! Ich sprang in letzter Sekunde zur Seite und versank ein ganzes Stück in der Wolke. Sofort quiekte ich erschrocken auf und hielt die Luft an. Nicht abstürzen. Bitte nicht. Die watteweichen Schwaden waren einfach nicht dafür ausgelegt, einen Menschen bei Sprüngen zu tragen. Man musste sich vorsichtig bewegen. Das Gewicht ausbalancieren. Nur so konnte ein Hirte in dieser Welt überleben. Einer Welt, die für uns ungeeignet war.

Im Gegensatz zu den Schafen war ich nicht in der Lage, im Notfall zu fliegen, sondern musste auf die magische Wolle an meinen Füßen vertrauen. Sie war ein Hilfsmittel, ein Trick, um über Wolken zu wandern. Für schnelles Laufen oder gar Hüpfen war sie jedoch unbrauchbar. Sie benötigte einen Moment, um sich zu festigen. Erst dann hatte sie sich vollkommen verankert, festgesogen. Wenn ich nicht abstürzen wollte, musste ich mich langsamer bewegen.

Bei einem angreifenden Drachen kam das einem Todesurteil gleich. Die Frage war also: Weiter so schnell rennen und den Tod riskieren oder sich die Ruhe antun und vom Drachen gefressen werden? Tolle Optionen.

»Nicht hinfallen. Auf den Füßen bleiben«, hörte ich die mahnende Stimme meines Bruders Aiden. Er war einer der besten Wolkenschafhüter unserer Akademie. Während die meisten seines Jahrganges schon längst in den Tod gestürzt waren, lebte er weiterhin bei seiner Schafherde im Himmel. Er wusste, wie man überlebte. Sobald ich in Gefahr geriet, vernahm ich seine ruhige Stimme im Kopf. »Durch­atmen. Langsam bewegen. Nicht krabbeln!«

Ich kam auf die Beine und registrierte dabei, dass meine Schafe in eine andere Richtung als ich flohen. Fluse trieb sie gnadenlos an und sorgte dafür, dass sie den Abstand zu mir vergrößerten. Clever. Der Drache hatte es nur auf mich abgesehen und ließ die Schafe in Ruhe.

Das war natürlich schön für sie, allerdings weniger schön für mich.

Wie immer bildete Sonnenbogen das Schlusslicht. Die Schafdame war nicht dazu geschaffen, schnell zu reagieren. Sie war eine Träumerin. Eine Trödlerin. Eines Tages wurde ihr das garantiert mal zum Verhängnis.

Apropos Verhängnis.

Da ich keineswegs vorhatte, die nächste Mahlzeit des Drachen zu werden, entschied ich mich fürs Rennen, natürlich in entgegen­gesetzter Richtung zu meiner Herde. Als gute Hirtin musste ich alles daransetzen, meine Schafe zu schützen. Sie waren das Wichtigste in meinem Leben. Ich hatte meiner Familie geschworen, sie zu verteidigen, denn sie waren das Kostbarste, was mein Vater besaß.

Zeit also, meinen Wert unter Beweis zu stellen.

Die Wolke endete hundert Schritte vor mir. Sie gehörte zur Kategorie »fluffig und pilzartig« und war somit eine der sichersten der Wolkenwelt. Bei ihr waren Anfang und Ende gut zu erkennen. Die Ränder waren glatt und fest – anders als bei den fast durchscheinenden Schleierwolken.

Ich wusste, dass sich unter meiner Pilzwolke genau solch eine hauchdünne Wolke befand. Normalerweise benutzte ich sie nicht als festen Untergrund. Mied sie wie die Pest. Man konnte nie sicher sein, wo sich Löcher auftaten, wo die Wolke auseinanderriss.

Heute hatte ich keine Wahl. Ich sprang über den Rand der Pilzwolke und fiel gut zwei Meter in die Tiefe. Die Krallen des Drachen verfehlten mich nur um Millimeter. Doch zu früh gefreut. Ich fiel weiter. Wie ein Stein. Mein Magen zog sich vor Schreck zusammen. Bitte, flehte ich in Gedanken. Halte meinen Sturz auf, liebe Schleierwolke.

Noch im freien Fall wechselte ich die Wolle. Ich trug die verschiedenen Sorten an der Brust, wie alle Hirten. Sie pappten an durch einen bestimmten Saft klebrig gemachten Stellen, damit ich sie jederzeit erreichen konnte. Um die Wolle auseinanderzuhalten, war sie in unterschiedlichen Farben eingefärbt. Momentan trug ich die rote Wolle. Sie sorgte für guten Halt, war zum Rennen nur leider eher ungeeignet. Auf einer dünnen Schleierwolke brachte sie ohnehin nichts.

Die blaue Wolle nannte ich Schlittschuhwolle und um ehrlich zu sein, hatte ich sie außer bei einer Übung noch nie benutzt. Noch im freien Fall pappte ich sie unter meine Füße. Keine Sekunde zu früh.

Ich prallte auf der Schleierwolke auf – und strauchelte sofort. Hilfe! Die Schlittschuhwolle machte ihrem Namen alle Ehre. Anstatt mir Halt zu geben, schlitterte ich unkontrolliert auf der Wolke herum. Warum war die denn auch so abschüssig?

Ich kreischte vor Schreck, während ich in Schlangenlinien herum­kurvte. Wenigstens hatte der Drache Schwierigkeiten, mich auf diese Weise zu erwischen. Mir wäre ein kontrolliertes Hakenschlagen lieber gewesen, aber das Ergebnis war dasselbe: Ich lebte noch, und der Drache knurrte genervt.

Netterweise brachte mich die Schleierwolke näher an die Wolken­festung heran. Das war das Coole an den fliegenden Städten. Sie zogen Wolken magisch an. Alle Wege führten also dorthin, was ich zurzeit nur begrüßen konnte.

Ich hatte tatsächlich einen Plan, um diesen Tag zu überstehen. Zumindest theoretisch. Er war bei näherer Betrachtung leider doof, aber momentan hatte ich keine Zeit für eine großartige Pro-und-Kontra-Liste. Es ging ums nackte Überleben. Nicht mehr und nicht weniger.

Mittlerweile hatte sich mein Körper an alte Schlittschuhzeiten erinnert. Ich fand einen gewissen Rhythmus, um das Gleichgewicht zu halten. Schön sah das nicht aus, war jedoch effektiv.

Hinter mir spürte ich die Präsenz des Drachen. Er hielt sich auf meiner Höhe. Bereit, mich beim kleinsten Fehler zu verschlingen. Dank meiner rasanten Fahrt hatte er Schwierigkeiten, mich einzuholen, was seine Wut noch weiter anstachelte. Ich spürte sie wie ein loderndes Feuer im Rücken.

Noch fünfhundert Schritte Schleierwolke lagen vor mir, dann war sie zu Ende und ich am Arsch. Aber ich hatte Glück. Oberhalb von ihr formte sich eine hübsche neue Pilzwolke, praktischerweise direkt unter der Festung. Diese ruhte auf einer gewaltigen Wolken­formation, die anders als normale Wolken Bestand hatte. Diese Schwaden waren so fest wie Granit und lösten sich erst nach Jahren auf. Genau dorthin wollte ich.

Und genau für solche Fälle hatte ich meine Harpune. Die Retterin in der Not.

Beim Versuch, sie von meinem Rücken zu angeln, stürzte ich beinahe. Ich kam dem Abgrund gefährlich nahe und rettete mich erneut in wilde Kurven. Dadurch wurde ich langsamer, was der Drache nutzte. Dieses Mal schnappte er mit den Zähnen nach mir. Sein heißer Atem streifte mich. Er roch nach Aas, Feuer und Tod.

In letzter Sekunde duckte ich mich und bekam endlich die Harpune zu fassen. Am Ende des Gerätes war ein Seil befestigt, das wiederum mit einem Geschirr um meinen Oberkörper verbunden war. Verloren wir Hirten den Halt, schossen wir die Harpune ab und hofften, dass sich der Pfeil in einer Wolke festbiss. Klappte nicht jedes Mal, aber manchmal. Es war jedenfalls die einzige Möglichkeit, sich im Falle eines Absturzes vielleicht doch noch zu retten.

Zeit zum vernünftigen Zielen hatte ich nicht. Ich peilte grob die Pilzwolke oberhalb von mir an, schoss und hoffte, dass der Pfeil festen Halt fand. Vorne an der Spitze hatte ich die beste Haltewolle befestigt, die es zu kaufen gab. Sie war ein Vermögen wert und hatte sich schon mehrere Dutzend Male rentiert.

Ja! Geschafft! Der Pfeil blieb wie gewünscht stecken. Blöderweise hatte ich meinen eigenen Schwung vergessen. Sobald ich das Ende des Seils erreicht hatte, riss es mich von den Füßen und ich schlitterte über den Rand der Schleierwolke. Der Abgrund gähnte unter mir. Ich schrie panisch auf und klammerte mich am Seil fest, das zu meinem Glück fest mit der Pilzwolke verbunden war.

Bevor ich jedoch den Mechanismus an der Harpune bedienen konnte, der mich am Seil hinaufbeförderte, war der Drache da! Ungebremst und mit vollem Elan. Er schnappte nach mir. Ich quiekte, zog mich mit eigener Kraft am Seil hoch und entging damit seinen Zähnen. Sein Atem roch nach Fleisch und Tod, war heiß und unfassbar eklig. Danach krachte der Rest des Drachenkörpers gegen mich.

Keine Ahnung, wie ich das überlebte. Ich schaffte es, mich mit beiden Beinen von seinen Schuppen abzustoßen. Von seinem Hals? Oder seinem Kopf? Jedenfalls hatte ich für wenige Sekunden festen Halt unter meinen Füßen, bekam das wild herumtrudelnde Seil fester zu packen und machte einen Satz nach oben, weg vom Drachen. Der schoss pfeilschnell unter mir her und brüllte vor Wut. Ich war wendiger, als er erwartet hatte. Keine einfache Mahlzeit, denn so leicht war ich nicht umzubringen. Ha!

Endlich erwischte ich den so wichtigen Hebel an der Harpune. Zieh mich rauf, flehte ich, als sich zunächst nichts tat. Mein Bruder hatte mir mal erklärt, wie das System funktionierte, doch damals hatte ich kaum zugehört. Mir war nur wichtig, dass es mich im Ernstfall in die Höhe beförderte. Und genau das tat es. Erst mit einem Ruckeln, dann immer schneller und schneller.

Wenige Sekunden später erreichte ich den Pfeil mit dem Haken und durchbrach die Wolkendecke, zog mich mühsam hoch. Zeit, die Wolle zu wechseln. Mit Schlittschuhwolle kam ich hier nicht weit.

Im gleichen Atemzug durchbohrte der Drache die Wolke, zerfetzte sie zu einem schauerlichen Schwall aus weißen Stücken. Ich wurde nach vorne gerissen und kam dadurch auf die Füße. Nicht umsehen, dachte ich panisch. Dann rannte und rutschte ich los. Am linken Fuß hatte ich die Schlittschuhwolle, am rechten die neue Haltewolle. Das war wirklich kompliziert, damit zu laufen. Zum Glück hatte ich es nicht weit. Vorausgesetzt, ich schaffte es bis zum Ziel.

Noch zwanzig Hüpfschritte. Ich spürte, wie der Drache auf meine Höhe ging, direkt hinter mir her. Diesmal war ich viel, viel zu langsam. Er würde mich jede Sekunde einholen. Keine Möglichkeit, auszuweichen. Keine Chance, mich vor den zupackenden Zähnen in Sicherheit zu bringen.

Da sah ich endlich meine Rettung. Der Mechanismus, wegen dem ich vor zwei Jahren fast gestorben wäre. Damals hatte ich mich ein wenig umgesehen. Ein tödlicher Fehler. Denn wer auf die kaum zu sehenden dunkleren Bereiche der Wolken trat, hatte ein Problem.

Und genau auf dieses Problem setzte ich meine letzte Hoffnung.

In der Sekunde, in der mich der stinkende Atem des Drachen einholte, warf ich mich nach vorne, Beine voran. Im Fallen erwischten meine Zehen den Mechanismus. Ich hörte das seltsam mechanische Schnappen. Im ehemals glatten Stein der Festung taten sich plötzlich Löcher auf. So groß wie mein Kopf. Daraus schoss etwas hervor, was so lang war wie ich. Ein Pfeil. Riesig und tödlich.

Der Rest meines Körpers folgte meiner Sturzbewegung und die Waffe sauste knapp über mich hinweg. Eisig und mörderisch. Der Drache registrierte sie ebenfalls, denn er brüllte auf und wollte sich aus der Bahn werfen. Unmöglich.

Mit einem dumpfen Geräusch drang der gewaltige Pfeil in den Kopf des Drachen ein, zerstörte Panzerplatten, Schuppen und Gehirn. Blut regnete auf mich herab, als das Tier vom Schwung des Geschosses zurückgerissen wurde. Ich sah noch, wie seine Flügel alle Kraft verloren, wie der zerfetzte Schädel sich senkte. Dann stürzte das Wesen wie ein Stein nach unten. Trudelnd und reglos.

Tot. Ich hatte einen Drachen erledigt. Und hatte es überlebt.

Ich lag schwer atmend auf dem weißen Untergrund und blickte in den blauen Himmel über mir. Dass ich Halt hatte, konnte nur eins bedeuten: Ich hatte die festeren Wolken der Festung erreicht. Mich in Sicherheit gebracht.

Und dabei einen Eisdrachen umgebracht.

Der Gedanke erfreute mich keineswegs. Das Geschöpf hatte mehr ein Anrecht, hier zu sein, als ich. Es musste uralt gewesen sein. Ich war in sein Hoheitsgebiet eingedrungen, hatte ihn herausgefordert. Zum zweiten Mal. Dass er dafür mit seinem Leben bezahlte, hatte ich nicht gewollt. Leider galt auch hier: fressen oder gefressen werden. So war die Natur.

Trotz dieser simplen Tatsache kämpfte ich mit meinem schlechten Gewissen. Mir war bewusst, dass es dumm gewesen war, hierherzukommen. Es stand ja sogar in den Regeln. Meide die Wolken­festungen. Hätte ich mich dran gehalten, würde der Eisdrache noch leben. Auf der anderen Seite war mir keine Wahl geblieben. Ein Unwetter war aufgezogen und hatte mich umzingelt. Nur um die Wolken­festungen herum herrschte gutes Wetter, als würden Gewitter­fronten sie meiden. Ich war hierhergekommen, um meine Schafe in Sicherheit zu bringen.

Man hat grundstätzlich eine Wahl, hörte ich die strenge Stimme meiner Mutter in meinen Ohren. Diese Worte hatte sie oft zu mir gesprochen. Sehr oft. Ihrer Meinung nach waren Regeln dazu da, das Leben einfacher zu machen. Ich fand, sie machten alles viel komplizierter.

Wieso nur fiel es mir so schwer, mich an die Gesetze zu halten? Andere hatten bedeutend weniger Ärger als ich und lebten trotzdem noch. Ich hingegen … ich seufzte leise. Schluss mit der Selbst­kasteiung. Dafür war es ohnehin zu spät.

Ich wollte mich mühsam hochstemmen, um nach meinen Schafen zu sehen, als ich den Schrei hörte.

So laut, so eindringlich, so menschlich, dass sich meine Nackenhaare aufstellten.

Ein Mann. Vielleicht auch ein Junge. Unmöglich. Meine Sinne mussten mich narren. Das Problem daran war nämlich: Ich war das einzige menschliche Wesen weit und breit. Zumindest sollte ich das sein. Meiner Meinung nach.

Wer, bei allen Wolkenschafen, schrie dann so verzweifelt?

Kapitel 2

Von Typen, die Wolkenkrieger sind

Verwirrt sah ich mich um, musterte die schwarze Mauer vor mir. Das fiese Loch, durch das der Pfeil geflogen war, war verschwunden. Glatter Stein. Kalt und unheimlich wie der Rest der gesamten Festung. Sie war riesig. Zehn Hauslängen hoch. Mindestens. Ihre gezackten Zinnen sahen aus wie die Zähne eines Ungeheuers. Keine Fenster. Nichts.

Ich wusste, dass schon viele Flugschiffe versucht hatten, diese Mauern zu überwinden. Doch die Steinwände wuchsen mit. Egal wie hoch das Schiff auch kam: Da war stets dieser undurchdringliche, alles dominierende Wall.

Der Schrei war eher seitlich gekommen. Von rechts. Ich drehte mich im Liegen um und musterte die Gegend.

Die Oberfläche der Wolke war hubbelig wie eine Hügellandschaft und strahlend weiß wie frisch gefallener Schnee. Ich spürte den Regen in ihrem Inneren rumoren. Sie war vollgesogen mit Wasser. Dass sie dabei eine riesige Festung auf dem Buckel trug, behinderte sie nicht sonderlich.

Alles wirkte so, wie es sein sollte. Blauer Himmel, weiße Wolke, finstere Mauer. Nur hockte mittendrin eine dunkle Gestalt.

Ich stutzte. Sah genauer hin. Tatsächlich. Da saß jemand an der Stelle, wo eigentlich die Eisskulptur stehen müsste. Ich hatte sie bei meinen vorherigen Besuchen bewundert. Ein gruseliges Ding. Es zeigte einen Mann auf Knien, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und gen Himmel schrie.

Statt der Figur hockte da jetzt … ein Mann? Ein Junge? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall war er ganz in Schwarz gekleidet, was ihn jetzt nicht unbedingt vertrauenserweckender aussehen ließ. Mal ganz davon abgesehen, dass er schrie.

Hatte er Schmerzen? Nein. So klang das weniger. Eher wie Wut. Oder Trauer?

Was er auch fühlen mochte und aus welchen Gründen er so fürchterlich schrie: Er jagte mir damit eine Heidenangst ein. Es war ein Laut, der hier fehl am Platz war. Ein Laut, der aus den Tiefen seiner Seele hervorbrach.

Ich sah ihm eine Weile reglos dabei zu. Er kniete, sodass seine Beine von den wabernden Wolkenfetzen verschluckt wurden. Die Arme hatte er ausgebreitet, als wollte er fliegen. Da er zum Himmel blickte, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, doch das war ohnehin nebensächlich.

Er schrie nämlich weiterhin. Wenn ich dachte, er hörte auf, fing er erneut an.

Mir wurde es unheimlich. Und zwar noch unheimlicher, als mir sowieso schon zumute war. Diese Festung hatte einst dem Wolkenvolk gehört. Das gab es allerdings längst nicht mehr. Hier sollte also niemand mehr sein.

Vor siebzehn Jahren waren die Bewohner wie Regen vom Himmel gefallen. Einer nach dem anderen. Über Wochen. Tage. Sie waren meilentief gestürzt und unten auf der Erde aufgeschlagen. Kein einziger hatte diesen Sturz überlebt. Ich war damals noch ein Säugling und kannte »den großen Blutsturz« nur aus Erzählungen. Doch schon allein die Erinnerungen an die Geschichten ließen mein Blut zu Eis werden.

Es müssen gruselige Wochen gewesen sein.

Von einem Tag auf den anderen hörten die Stürze schließlich auf. Mein Vater war der Meinung, dass alle Himmelsmenschen gefallen waren. Es gab niemanden mehr, der hätte stürzen können. Meine Mama vertrat, wie so viele, die These, das Wolkenvolk sei einfach verschwunden. Puff. Wie so manche Wolke, die sich in den heißen Sonnenstrahlen auflöste. Für sie war es unvorstellbar, dass wirklich ein ganzes Volk in den Tod gestürzt war. Blieb die Frage: Wo war es dann abgeblieben?

Der Grund für den Absturz der Himmelsleute blieb jedoch ein Rätsel.

Seit siebzehn Jahren standen die Wolkenstädte leer. Geheimnisvolle tote Mahnmale einer längst vergangenen Zeit. Wir vom Erdenvolk hatten danach einen Teil des Himmels erobert. Hatten uns angepasst. Möglichkeiten entdeckt, in dieser feindlichen Welt zu überleben. Alles dank der Wolle unserer Wolkenschafe.

Die Tiere waren das Einzige, was vom Wolkenvolk übrig geblieben war. Erdenbewohner hatten sie Wochen nach dem großen Blutsturz auf einer Wolke gefunden. Einhundertzweiundsechzig Schafe. Zunächst konnte niemand etwas mit ihnen anfangen. Es muss ein schwieriges Unterfangen gewesen sein, die ersten Tiere einzufangen. Aber dann entdeckten Wissenschaftler das Geheimnis der Wolle – und für uns Erdenbewohner stand der Himmel frei.

Mir waren die vielen Löcher in der Geschichte stets ein Dorn im Auge. Zeit meines Lebens stellte ich ungemütliche Fragen: Wie waren wir ohne Wolle hoch zu den Festungen gelangt? Wer hatte die Idee gehabt, die Schur auf diese Weise zu verarbeiten? Ich hatte mir jedes Mal eine Menge Ärger eingehandelt, wenn ich nachgebohrt hatte. Die Reaktion meiner Umgebung hatte mich dabei noch miss­trauischer werden lassen.

Das war jedoch noch lange nicht das einzig Rätselhafte.

Bis heute hatte niemand die Wolkenstädte betreten. Das war viel zu gefährlich, wie man an meinem Beispiel gut sehen konnte. Außerdem kam auch niemand rein. Es gab keine Eingänge.

Nur glatte schwarze Mauern. Bei jeder der sechs Himmelsfestungen.

Das Wolkenvolk war tot, und seine Festungen bewahrten das Geheimnis seines Niedergangs. Bis heute.

Ich schluckte, als ich allmählich die Tragweite meines Problems begriff. Ich kannte jeden Hirten. Jeden Menschen, der in die Kunst der Wolle eingeführt worden war. Wirklich jeden, der hier oben herum­spazieren konnte.

Der Typ hingegen war mir unbekannt. Folglich konnte er kein Erdenmensch sein. Und folglich …

Unfassbar!

Nur zögernd richtete ich mich auf. Zum einen hatte ich Angst, plötzlich von einem riesigen Speer aus den unheimlichen Festungsmauern durchbohrt zu werden. Zum anderen wollte ich lieber nicht die Aufmerksamkeit des mysteriösen Mannes auf mich ziehen. Obwohl er kaum älter aussah als ich.

Was, wenn er mich angriff? Glaubte man den Erzählungen, hatten wir vom Erdenvolk vor dem großen Blutsturz nichts mit dem Wolken­volk zu schaffen gehabt. Sie waren auf uns gefallen. Mehr Berührungspunkte hatte es nicht gegeben.

Dieser Typ war jedoch äußerst real, selbst wenn er sich momentan wie ein Irrer benahm und auch so aussah. Um ehrlich zu sein, war ich momentan alles andere als scharf darauf, mich mit einem wütenden Wolkenbewohner auseinanderzusetzen. Klar. Solch eine Zusammenkunft war garantiert historisch. Einzigartig. Das war ein Eisdrache aber auch. Und dem war ich gerade schon über den Weg gelaufen. Das reichte mir fürs Erste mit Begegnungen der Kategorie »extrem unheimlich«.

Ich musste ein Geräusch gemacht haben, denn der Mann hörte abrupt mit der Schreierei auf und wirbelte herum. In der gleichen Bewegung kam er auf die Füße, was gruselig aussah. Als sei er eine Marionette, die an ihren Fäden hochgezogen wurde. Erst jetzt bemerkte ich, dass er einen langen, dunklen Mantel trug, der wie Seide um ihn herumfloss und wie Rabenfedern schimmerte. Schön und schrecklich zugleich.

Waren das Eiskristalle, die da von ihm abfielen? Und was zur Hölle zog er da hervor? Scheiße! Ein Schwert!

Ich kam hoch, hob hastig die Arme und trat einen großen Schritt zurück. »Hey, hey«, sagte ich mit meiner besten Hirtenberuhigungsstimme. »Ganz langsam. Ich tu dir nichts.«

Die Frage war ohnehin, wer hier wem was tun wollte. Ich war siebzehn Jahre. Zierlich. Im Vergleich zu ihm winzig und eher schwach.

Denn jetzt, als der Typ stand, sah er aus, als könnte er mit einem einzigen Handschlag Bäume fällen und dabei Tee trinken, ohne was zu verschütten. Hatte ich erwähnt, dass er Furcht einflößend war?

Wir starrten uns an. Da wir noch gut zehn Schritte auseinanderstanden, konnte ich seine Augenfarbe nur undeutlich erkennen. Blau? Ich bemerkte die zotteligen dunkelbraunen Haare, den dunklen Bartschatten auf seinen Wangen und den irren Blick. Besonders den irren Blick.

Wäre er ein Schaf, hätte ich jetzt sanft gegurrt und Dinge wie »Alles wird gut, mein Kleiner« oder »Na, na, wer wird denn gleich so garstig sein?« gesagt. Angesichts des komischen Eisschwertes in seinen Pranken nahm ich von dieser Art der Beruhigung Abstand und machte mich stattdessen ganz klein. Süß und knuffig auszusehen half in dem Fall besser als jedes noch so sanft gesprochene Wort. Ich hätte mich eh nur um Kopf und Kragen geredet. Wie immer. Außerdem hatte mir meine Mama eingebläut, nicht mit Fremden zu sprechen. Und dieser Typ hier war definitiv völlig fremd. Fremder ging nicht.

Sein schwarzer Mantel war ein scharfer Kontrast zum weißen Untergrund. Es waren tatsächlich kleine Eiskristalle, die sich in seinen Haaren verfangen hatten. Auch seine Haut wirkte wie aus Glas. Sie war etwas heller als bei uns Erdenmenschen. Zum Glück glitzerte er nicht wie der Eisdrache. Dann wäre ich kreischend weggelaufen.

Mir war nur allzu bewusst, dass wir uns an der Stelle der Eis­skulptur befanden. Der schreiende Mann. Ein Kunstwerk. Doch das war … weg. Einfach fort. Stattdessen hockte dort dieser Typ.

Nein! Ich weigerte mich, diesen Gedanken wirklich in Betracht zu ziehen. Es war albern. Lebendig werdende Eisskulpturen gab es nicht. Auf der anderen Seite gab es auch keine Leute mehr vom Wolkenvolk – und hier hockte einer von ihnen. Oder?

Was war denn schlimmer? Atmende Eisskulpturen oder lebendige Leute vom Wolkenvolk?

Bitte, flehte ich in Gedanken. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ich hatte schon eine Menge merkwürdiger Dinge erlebt und gesehen, aber das war eine ganz neue Stufe.

Ehrlich gesagt war der Mann vor mir schön. Auf eine fremde, seltsame Art. Theoretisch mochte ich markante Gesichtszüge eher weniger, aber bei ihm passte das Gesamtkonzept. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich.

Im Gegensatz zu mir hatte er riesige Augen, für die jede Frau töten würde. Darüber lange, dunkle Wimpern und perfekt geschwungene Augenbrauen. Kein Vergleich zu meinen struppigen Büschen. Ich hatte es aufgegeben, sie bändigen zu wollen. Hier oben gab es andere Probleme als mein Aussehen. Außerdem sah mich eh niemand.

Bis jetzt.

»Ich bin Aya Teufelsbraut von der Hirtengilde, Tochter von Sinus Münzentanz, Vorsitzender der Händlergilde«, stellte ich mich schließlich steif vor. Ich machte eine Mischung aus Knicks und Verbeugung und kam mir dabei reichlich dämlich vor.

Wenigstens erreichte ich, dass er langsam sein Schwert sinken ließ, bis die tödliche Spitze von der Wolke verschluckt wurde. Hilfe! Das Teil war fast so lang wie ich. Wie konnte er das überhaupt heben?

Eine Pause entstand, in der mich der junge Mann von oben bis unten musterte. Er analysierte meiner Meinung nach, wie gefährlich ich war. Kein besonders angenehmes Gefühl. Erst dann atmete er tief ein und ließ sich langsam auf die Knie sinken. Als hätte er keine Kraft mehr, sich auf den Beinen zu halten.

»Wehe, du fängst wieder mit deinem Gebrüll an«, warnte ich ihn streng. Hatte ich erwähnt, dass ich plappere, sobald ich nervös werde? Ein Umstand, der mir schon die eine oder andere Prügelei eingehandelt hatte. Wolkenschafhirten waren normalerweise harte, raue Kerle. Das mussten sie auch sein, um so lange allein in dieser unwirtlichen Welt zu überleben. Ich war ein weiblicher Paradiesvogel unter den Hirten. Das hieß nur keineswegs, dass sie mir alles durchgehen ließen. Besonders wegen meines nervtötenden Geplappers war es schon öfter ungemütlich für mich geworden.

Der seltsame Typ warf mir auch einen entsprechend irritierten Blick zu. Ich störte mich nicht daran, denn ich hatte mein Ziel erreicht: Er blieb stumm.

In einer Kinderfibel hatte ich gelesen, dass man Raubtieren auf Augenhöhe begegnen sollte. Deshalb ließ ich mich langsam auf die Knie sinken, um ungefährlich zu wirken. Möglichst unauffällig schob ich mir dabei die grüne Wolle unter die Knie. Reine Haltewolle. Mit ihrer Hilfe hielt ich mich des Nachts im Schlaf an Ort und Stelle. Sie pappte schlimmer als jedes Kaugummi.

Der Kerl schien meine Bewegung gesehen zu haben, denn seine Augen wurden größer. Er starrte die Wolle an, dann mich, dann wieder die Wolle.

Anschließend ging alles unglaublich schnell. Innerhalb eines Lidschlags war er auf den Beinen, überwand den Abstand zwischen uns mit fünf Schritten und riss mich um. Ich spürte die Kälte des Eisschwertes an meiner Kehle und seinen heißen Atem im Gesicht.

Dass ich nicht rücklings durch die Wolke plumpste, lag nur an seinem festen Griff. Er hatte sich meinen Kragen geschnappt und schüttelte mich.

»Woher hast du das?«, brüllte er. Vor Wut stahl sich ein Hauch Farbe in sein kristallenes Gesicht.

Ich erstarrte vor Angst und hielt die Luft an. Trotzdem schnitt die scharfe Klinge in meine Haut ein. Nur ganz leicht, aber es reichte, um meinen Puls ins Nirvana zu schießen.

Verdammt, war der schnell. Verdammt, war der unheimlich. Und verdammt – wäre ich doch nur weggelaufen, anstatt ein Pläuschchen zu halten. Und was zum Teufel meinte er? Die Wolle?

Er schüttelte mich erneut, was die Klinge automatisch tiefer in meine Haut trieb. Jetzt spürte ich Blut, das mir am Hals entlanglief. Das Adrenalin in meinen Adern sorgte dafür, dass ich keinen Schmerz verspürte. Gleichzeitig ging ich verzweifelt meine Möglichkeiten durch.

Die waren … eingeschränkt.

Ich wollte mich soeben buchstäblich um Kopf und Kragen reden, als es neben uns knurrte. So finster, so bedrohlich, dass wir beide den Kopf wandten und direkt in Fluses wutfunkelnde Augen blickten. Sie sah aus wie ein Hund, hatte allerdings die Furcht einflößenden Pupillen einer Katze. Geschlitzt und leuchtend, egal ob Tag oder Nacht. Ihr schneeweißes Fell war gesträubt, sodass sie noch größer als sonst wirkte. Dabei ging sie mir schon im Normalfall bis zur Hüfte.

Hinter ihr stand meine Herde und starrte den jungen Mann mindestens genauso empört an wie Fluse, wobei das bei Schafen nur halb so dramatisch aussah. Am finstersten sah dabei Leithammel Donnerwetter aus: Er senkte seine beeindruckenden Hörner und wirbelte wie ein Stier in der Arena mit dem Vorderhuf die Wolken auf.

Ich hatte jetzt mit vielen Reaktionen gerechnet. Dass mich der Typ als Geisel nahm oder nach Fluse schlug und mich dabei zu Boden stieß. Mein Todesurteil. Doch er tat etwas völlig anderes. Wie in Hypnose ließ er meinen Kragen los, machte einen Bogen um Fluse und eilte zu meinen Wolkenschafen.

Fassungslos beobachtete ich, wie sich meine Schafe um ihn scharten und ihn beschnüffelten. Wären sie Hunde gewesen, hätten sie vor Begeisterung mit den Schwänzen gewedelt. Als Schafe begnügten sie sich damit, ihn anzustupsen.

Was …?

Auch Fluse gefiel das wenig, denn sie knurrte böse. Bevor sie ihm allerdings in den Hintern beißen und sich eine Schlacht mit seinem Schwert liefern konnte, legte ich ihr mahnend eine Hand auf den Nacken. Ruhig Blut, sagte ich ihr damit. Sie hatte ein noch hitzigeres Temperament als ich, was im Allgemeinen keine gute Kombination war. Wir galten als gefürchtetes Hirtenduo. Zu Recht.

»Die Wolle kommt von denen da«, beantworte ich schließlich mit einiger Verspätung die Frage des Fremden. Er hockte auf den Knien und hatte meinem Leithammel einen Arm um den Hals geschlungen, sein Gesicht in seine dicke Wolle gedrückt. Donnerwetter ließ es zu und wirkte dabei sogar noch erfreut. Verräterschafe. Allesamt.

Meine gesamte Herde scharte sich jetzt um den Fremden und ließ sich streicheln. Hallo? Wer war hier ihr Hirte? Er oder ich?

Erneut glimmte pure Wut in mir auf, doch ich kämpfte sie nieder. Es war total albern, neidisch oder zornig auf den Typen zu sein. Dumm und kindisch. Und dennoch … mir gefiel das alles nicht. Hinzu kam, dass sich die Wolke unter mir anders verhielt als normal. Sie vibrierte ganz leicht. Als zitterte sie. Senkte sie sich ein Stück ab? Verrutschte die Festung um einen Millimeter? Ich war unsicher. Was es auch sein mochte: Es war jedenfalls ein unangenehmes Gefühl.

Ich warf der Mauer neben mir einen scharfen Blick zu. Da rührte sich nichts. Anscheinend spielten mir meine Nerven schon Streiche.

Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf den Fremden. Der tätschelte erst jedes einzelne Schaf, bevor er sich mir zuwandte. Er starrte mich an, als sähe er mich mit neuen Augen. Dann nickte er.

»In Ordnung, Aya Teufelsbraut von der Hirtengilde. Ich lasse dich leben.«

»Wie nett von dir.« Ich hoffte, er verstand Ironie und deutete mit einem Zeigefinger auf Fluse. »Sie dich auch, wenn du dich ab jetzt benimmst. Erst fragen, dann die Antwort abwarten. Wenn du sie doof findest, kannst du mich erneut angreifen, wobei ich dir das in keinster Weise empfehlen würde. Fluse hat spitze Zähne und unfassbar schlechte Laune.«

Er musterte den Hirtenhund, der ihm dramatisch die besonders tödlichen Fangzähne zeigte. Er sah eher unbeeindruckt aus. »Fluse«, wiederholte er leise. Dann sah er mich an. »Du hast eine Festungs­bestie Fluse genannt?«

Festungsbestie? Ich hatte keinen Schimmer, was das sein sollte. »Keine Festungsbestie«, stellte ich richtig. »Sie ist ein Hütehund. Und ein sehr guter.«

Er ignorierte meine Worte und steckte stattdessen sein riesiges Schwert weg, indem er es unter seinen Mantel stopfte. Wie, bei allen Schafen dieser Welt, passte das darunter? Und wo verstaute er das Ding?

Nachdem die Waffe aus meinem Blickfeld verschwunden war, entspannte ich mich. Dem Fremden musste es ähnlich ergehen, denn er lehnte sich an Donnerwetter. Der ließ das zu, was wirklich bemerkens­wert war. Das durfte noch nicht mal ich!

Ich ahnte natürlich, warum die Tiere und der Fremde so vertraut miteinander waren. Den Gedanken fand ich jedoch viel zu schauderhaft. Wolkenschafe. Die Tiere stammten von hier. Offenbar waren sich meine Schafe und der Mann schon mal begegnet.

Erst jetzt registrierte ich, dass sein Gesicht mit jeder verstreichenden Minute weniger kristallen wirkte. Es nahm menschlichere Züge an. Das hieß nur nicht, dass er dadurch gesünder aussah. Die Haut war jetzt statt bläulich eben grau. Kränklich. Als wäre er vollkommen erschöpft.

Ich ließ die Stille einen Moment zu, um mich zu sortieren. Dann nahm ich einen weiteren Anlauf, um mein Gegenüber besser kennen­zulernen. »Wie heißt du?« Ich rechnete eher weniger mit einer Antwort, aber da irrte ich.

»Enron.« Er sprach seinen Namen leise und eher zögernd aus. Als hätte er ihn schon lange nicht mehr benutzt.

Ich wartete, ob er noch einen Nachnamen oder seine Gildenzugehörigkeit hinzufügte, doch er schwieg. Stattdessen schloss er die Augen und legte den Kopf in Donnerwetters Wolle ab.

Ich überlegte eine Millisekunde, ob die nächsten Fragen klug waren. Da mir allerdings ohnehin klar war, dass ich sie so oder so stellen würde, konnte ich das auch gleich tun. Stets mit der Tür ins Haus fallen. So kannte man Aya Teufelsbraut.

»Bist du vom Wolkenvolk? Woher kommst du? Wie lange lebst du schon hier auf dieser Wolke? Wieso habe ich dich noch nie gesehen? Und, was bei allen Wolkenschafhintern dieser Welt, machst du hier so allein?«

Die Frage, die ich umging, war: Bin ich schuld daran, dass du auf einmal hier herumspazierst? Bei meinem Pech hatte ich versehentlich etwas gesagt oder getan, was ihn … ja, was? Durch die Zeit geschleudert hatte? Wiederbelebt hatte? Eine Eisskulptur lebendig gemacht hatte?

Ich kramte kurz im Gedächtnis herum, aber außer dass ich den Drachen abgeschossen hatte, fiel mir nichts ein. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Und wenn ja: Wieso passierten nur mir solche Sachen?

Enron öffnete ganz kurz die Augen, um mich zu mustern. Sie waren hellbau mit weißen Einsprengseln darin. Eisaugen. Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich, als müsste er sich eine fiese Antwort verkneifen. Die Stille wurde unangenehm.

»Du siehst scheiße aus«, sprach ich schließlich das Offensichtliche aus. »Bist du krank?«

Er überging meine Provokation und starrte lediglich trüb vor sich hin. »Wo sind sie alle?«, flüsterte er stattdessen.

Meinte er das Wolkenvolk? Mein Magen zog sich zusammen. Wusste er das nicht? »Keine Ahnung«, sagte ich vorsichtig. Ich ließ mich in einigem Abstand zu ihm nieder und spielte nervös mit einem Wolkenfetzen. »Die Wolkenfestungen sind verlassen. Schon sehr lange.«

Seine Züge entgleisten. Er wirkte erschrocken, verwirrt. »Wie lange?«

Ich zögerte mit meiner Antwort. Woher kam er, wenn er solche Fragen stellte? »Das Wolkenvolk fiel vor siebzehn Jahren vom Himmel. Es gab keine Überlebenden. Zumindest dachten wir das. Du bist der erste Himmelsmensch, der mir begegnet ist.«

Er starrte mich an, als wäre ich verrückt geworden. Das wenige Blut, das sein bleiches Gesicht menschlicher gemacht hatte, sackte ihm in die Füße. Er wurde beinahe durchscheinend.

Ihn so zu sehen war erschütternd. Gerade noch war er ein gefährlicher Krieger gewesen, der mich hatte töten wollen. Jetzt wirkte er einsam. Allein.

»Verloren«, flüsterte er. »Wir sind verloren.«

Mit diesen Worten sank er zur Seite, als hätte er keinerlei Kraft mehr in sich. Einige Wolkenfetzen flogen beim Aufprall hoch wie aufgewirbelter Staub. Dann lag er da. Vollkommen reglos. Die Augen geschlossen. Wie tot.

Kapitel 3

Von Flitzewolken und wirklich doofen Ideen

Okay, Enron, so geht das nicht weiter.« Ich hockte mich zum bestimmt hundertsten Mal vor ihn und stupste ihn an. Seit zwei Tagen ging das jetzt schon so. Manchmal öffnete er die Augen, um mich trübe anzublicken. Manchmal reagierte er überhaupt nicht. Es war, als hätte er sich dazu entschlossen, hier und jetzt zu sterben.

Theoretisch konnte mir das egal sein, doch verdammt, es war mir alles andere als egal. Ich war eine Lebensbejaherin. Jemand, der selten aufgab. Ihn so zu sehen machte mir Angst. Es ließ mich den Tod spüren. Sein Schweigen zerrte zusätzlich an meinen Nerven. Er musste mir meine Fragen beantworten, verdammte Hammelhaxe! Stattdessen fragte ich mich immer öfter, was ich im Namen von Donnerwetters Zotteln mit ihm machen sollte. Am ersten Tag hatte ich ihn noch mit Fragen überhäuft. Mittlerweile hielt ich die Klappe. Ich verkniff es mir sogar, mit meinen Schafen zu reden. Das war mir in seiner Anwesenheit peinlich.

Unter keinen Umständen wollte ich als arme, einsame Schafhirtin gelten, die nur ihre Tiere zur Gesellschaft hatte. Wobei das weniger armselig war, als sich zu Tode zu hungern.

Enron aß und trank nichts. Er lag lediglich reglos auf der Wolke. Das Einzige, was er tat, war atmen. Und das auch nur flach. Ich hatte mich schließlich sogar getraut, seinen Puls zu fühlen. Am Ende war er schon längst tot und ich hatte das nur übersehen.

Er lebte. Wenn auch nur eben so.

Als der dritte Morgen anbrach, saß ich dicht vor ihm und starrte ihn an. Dabei erbebte und zitterte die riesige Wolke der Festung erneut. Als quälte sie sich mit ihm. Mittlerweile war ich mir auch sicher, dass die Wolke ein Stück abgesackt war. Nur ein wenig. Es war jedoch nicht wegzudiskutieren. Das toppte selbst die beklemmende Anwesenheit eines Wolkenkriegers. Die Festungswolken galten als die ältesten ihrer Art. Sie konnten der Sonne standhalten, veränderten sich nicht, rührten sich kaum von der Stelle. Diese hier sackte aber ab. Und mit ihr die Festung.

Wieso sie das tat, war mir schleierhaft. Eins wusste ich allerdings genau: Ich musste hier weg. Ganz dringend. Und ich musste meinem Vater Bescheid geben. Der wusste bestimmt, was zu tun war. Denn wenn diese Wolke abstürzte, dann riss sie die Festung mit sich. Undenkbar, sollte sie auf die Erde stürzen.

Sobald ich daran dachte, versuchte ich, das Naheliegende zu verdrängen. Unmöglich. Dass ich auf einmal einen Wolkenmann – in Enrons Fall wohl besser: Wolkenkrieger – entdeckte und gleichzeitig die Festung ihren Halt verlor, konnte kein Zufall sein. Ich wünschte, es wäre so, doch so naiv war ich nicht.

Verdammt. Wenn ich meinen Vater warnte, würde er garantiert unbequeme Fragen stellen. Und ich war so unglaublich schlecht im Flunkern. Verschweigen war aber auch keine Option. Ich seufzte tief auf. Alles Hadern half nichts: Ich musste die Erwachsenen warnen und mir meinen strafenden Blick abholen.

Doch was machte ich mit Enron?

Viele Möglichkeiten standen mir nicht zur Verfügung. Ich konnte ihn zurücklassen und nie wieder an ihn denken. Was kümmerte mich ein seltsames Wesen, das schwieg, Essen verweigerte und sich ansonsten feindselig verhielt? Oder ich könnte zur Erde zurückkehren und Hilfe holen. Vermutlich wäre er bei unserer Rückkehr längst tot.

Oder …

Ich musterte Fluses breiten Rücken, ihre muskulösen Hinterbeine und schätzte ihre Kraft ein. Sie bemerkte meinen Blick natürlich und zeigte mir schon mal provisorisch die Zähne. Vergiss es, wollte sie mir damit sagen.

Ich legte den Kopf schief und ignorierte ihre drohend zurück­gelegten Ohren. »Wir könnten ihn zur nächsten Stationswolke hinter uns herziehen und ihn runter zur Erde bringen. Vielleicht wissen die, was mit ihm ist«, erklärte ich ihr.

Ihre Ohren verschwanden fast in ihrem Nackenfell, so dicht legte sie sie an. Sie fand die Idee doof. Und zwar richtig doof.

Ich hingegen erwärmte mich dafür. Alles war besser, als hier rumzusitzen. Das Gewitter war längst abgezogen, die Gefahr gebannt. Mittlerweile empfand ich die düsteren Mauern neben mir weniger als beschützend, sondern als einengend. Bedrohlich. Außerdem hatten die Schafe die gesamte Wolke abgegrast, sodass sie bedenkenswert dünn geworden war.

Es war Zeit, weiterzuziehen.

Nur ob mit oder ohne Enron – das war hier die Frage.

Ich stupste ihn mit dem Zeh gegen die Brust. Keine Reaktion. Er lag auf der Seite, die Knie leicht angezogen, den Arm als Kissen benutzend. Auf den ersten Blick wirkte er schlafend, doch der Schein trog. Er atmete flach und viel zu schnell. Ein feiner Schweißfilm lag auf seiner Haut, die kränklich grau aussah. Ein paar Eiskristalle waren zurückgekehrt, was alles noch gespenstiger machte. Es ging ihm ganz und gar nicht gut. Aber was hatte er?

Ich traf eine Entscheidung und kam auf die Beine, pappte die Halte­wolle wieder an meine Brusthalterung und legte die rote an. Meine Lieblingswolle, da sie alle guten Eigenschaften in sich trug: zuverlässig haltend, nachgiebig und beweglich. Die Schafe spürten meine Aufbruchsstimmung und sprangen auf. Die meisten hatten noch wiederkäuend herumgelegen, dicht aneinandergedrängt. Stets in der Nähe von Enron. Als wollten sie ihn schützen.

Donnerwetter, der wie die letzten Tage direkt neben Enron gelegen hatte, erhob sich ebenfalls, allerdings würdevoller als der Rest. Erwartungsvoll sah er mich an.

»Wir bringen ihn auf die Erde«, sagte ich zu ihm, als könnte er mich verstehen. Er reagierte nicht auf meine Worte, wohl jedoch Fluse. Sie hüpfte neben mich und bellte wütend. Ich ignorierte sie wie immer, wenn sie sich wie eine Verrückte benahm.

Stattdessen hakte ich meinen Brustgurt ab, entfernte das Seil von der Harpune und sah sie auffordernd an. »Du ziehst ihn. Keine Widerrede!«

Dass sich Fluse sträubte, war die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie zwickte mich sogar, doch alles Knurren und Jammern half ihr nicht. Ich zwängte sie erbarmungslos in den Brustgurt, zog ihn stramm und band das Ende des Seils um Enrons Oberkörper. Gleichzeitig überlegte ich, wo die nächste Stationswolke überhaupt lag.

Ich kannte die Wolkenwelt wie die Wolle meiner Schafe. In der Nacht nutzte ich die Sterne, um meine Position genau zu lokalisieren. Am Tage genügte mir oft ein Blick nach unten. Die gewaltigen Berghänge des Dunstgebirges sah man aus jeder Höhe. Ihre Spitze zeigte mir stets an, wo Norden lag. Direkt daneben lag meine Heimatstadt. Siedengrad. Die Häuser waren sternförmig angelegt, sodass das Zentrum der Stadt sogar aus der Höhe zu erkennen war. Dort stand das riesige Rathaus. Herz der Händlergilde. Stützpunkt der Inquisitoren. Lebensader der Wollmanufakturen.

Bildete ich in Gedanken eine Gerade zwischen der Spitze des Dunstgebirges und dem Stadtzentrum, fand ich den Hof meines Vaters. Er lag etwas abseits von Siedengrad am Rand des ersten Gebirgsausläufers. Eine kleine Stadt in sich, denn hier wurde die gesamte Wolle der Wolkenschafe zur Weiterverarbeitung vorbereitet.