Toskanisches_Erbe_G-KB_RLY_cover-image.png

Uta-Maria Heim

Toskanisches Erbe

Kriminalroman

390453.png

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

429381.png Instagram_Logo_sw.psd Twitter_Logo_sw.jpg 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Konstiantyn / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6546-8

Widmung

In memoriam Renate, Michaela, Oskar

Zitate

This above all: to thine own self be true,

And it must follow, as the night the day,

Thou canst not then be false to any man.

William Shakespeare,
Hamlet, Act I, Scene 3

*

Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir.

Karoline von Günderrode,
Brief an Gunda Brentano, 1801

*

All extremes of feeling are allied with madness.

Virginia Woolf,
Orlando

0

»Gehen Sie ruhig rein.«

Der junge Arbeiter sprach Giulia Franca auf Deutsch an, weil er sie für eine Touristin hielt. Obwohl sie seit drei Dutzend Jahren in Florenz lebte und genauso italienisch redete, kochte und träumte wie die Einheimischen, blieb sie fremd. Sie war blond und heimatlos. Das wurde ihr nirgendwo bewusster als auf dem Cimitero delle Porte Sante oberhalb des Piazzale Michelangelo, wo seit Jahrhunderten über der Stadt viele verdienstvolle Florentiner Bürger begraben lagen.

Die wurmstichige Tür stand offen. Sie war mit schmiedeeisernen Ornamenten versehen und hing schief in ihren Angeln. Die Glasscheibe war zersprungen. Zögernd betrat Giulia die Cappella Colleoni, die inmitten einer verwahrlosten Totenstadt lag. Sie war im 19. Jahrhundert im Stil der toskanischen Frührenaissance erbaut worden, wich aber in vielen Details davon ab. Die Fassade aus schwarz-weiß-roten Mosaikrauten ähnelte jener ihrer berühmten Namensschwester, der Cappella Colleoni auf dem Domplatz von Bergamo. Ob die florentinischen Colleonis mit der Familie des lombardischen Generals Bartolomeo Colleoni verwandt waren, wusste Giulia nicht. Doch die Grabstätte in Florenz war eine verspielte Kleinkopie der Kapelle in der Lombardei aus dem 15. Jahrhundert. Drinnen wirkte es prunkvoll, aber düster. Zerschlissene Bänder in den florentinischen Farben Grün, Weiß und Rot schmückten den reich verzierten Innenraum, die Kuppel war mit verblichenen Fresken ausgemalt. Über allem lag eine dicke Staubschicht und zwischen den Spinnweben zogen sich Risse an den Wänden entlang. Auch die Bodenplatten waren mehrfach gesprungen. Es roch nach Moder und war kühl.

Giulia blickte sich um. Sie las Namen und Jahreszahlen. Roberto war nicht darunter. Obwohl die Beerdigung schon ein Vierteljahr zurücklag, besaß seine Gruft noch keine eigene Inschrift. Offenbar musste die Kapelle erst renoviert werden. Das ganze Friedhofsviertel wurde saniert. Orangefarbene Bänder sperrten die Wege ab und gelbe Signalschilder wiesen darauf hin, dass das Betreten der Gräberfelder streng verboten war: »Pericolo di caduta«. In einem Dreieck daneben das Piktogramm eines Männchens, das in ein Loch fiel. Es warnte vor der Gefahr, auf den Marmorplatten einzubrechen.

Als Giulia die Cappella Colleoni verließ, schlug ihr draußen grelles Tageslicht entgegen. Der Himmel war makellos blau, die Temperatur fast frühsommerlich und zu warm für Mitte März. Sie setzte sich auf eine Bank, schaute auf eine chaotische Ansammlung von schiefen Kreuzen und lauschte dem Geräusch einer Säge, das den Vogelgesang übertönte. Bis auf die Arbeiter, die außer Sichtweite hantierten, war sie allein. Die Touristen, die am Fuß des Friedhofs die Klosterkirche San Miniato al Monte besuchten, verirrten sich nur selten in die südliche Hälfte des Hügels, die von der Stadt abgewandt lag. Lieber genossen sie vom Vorplatz den Traumblick nach Nordwesten, über den Arno auf Firenze.

Giulia war gekommen, um sich von Roberto zu verabschieden. Dass er einer der privilegiertesten florentinischen Familien angehörte, war ihr nicht bewusst gewesen. Er hatte es ihr verschwiegen. Und nun hatte sie sowieso nichts mehr davon. Im Gegenteil. Unfassbarerweise machten diese Leute nur Ärger. Giulia war ziemlich am Rand. Nach all den Jahren hatte sie keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Ihr Kunstgeschichtsstudium, das sie Mitte der 1980er-Jahre nach Florenz geführt hatte, war zu nichts nütze gewesen. Ihr geschiedener Mann besaß eine neue Familie, ihre beiden erwachsenen Söhne waren aus dem Haus und studierten. Ihr Lebensgefährte Roberto war unter rätselhaften Umständen verschwunden und zu Tode gekommen. Er hatte ihr ein Ristorante vermacht, das »Da Roberto« in Marina di Santo Stefano, weiter südlich am Tyrrhenischen Meer. Aber die Colleonis forderten das Erbe zurück, weil Giulia und Roberto nicht verheiratet gewesen waren. Die Papiere, die ihr der Notar gegeben hatte, waren keinen Pfifferling wert. Und Giulia mochte nicht um den Besitz streiten. Ihre Agentur in Florenz, die Agenzia Azzurro Vacanze Verde, wollte sie aber auch nicht mehr weiterführen. Es war ein Kraut-und-Rüben-Geschäft aus allem Möglichen, was mit Bildungsreisen, Urlaub, Ferienunterkünften und Immobilien zu tun hatte. Seit sich ihr Partner, der Makler Carlo Scarivari, vor fast drei Jahren abgesetzt hatte, betreute sie das Büro in der Via Porta Rossa zwischen Via dei Calzaiuoli und Via de’ Tornabuoni allein. Die Ladenmiete verschlang Unsummen, und den Betrieb ausschließlich über Internet zu organisieren, ergab keinen Sinn.

Unterm Strich war sowieso alles sinnlos. Wofür lebte man eigentlich? Doch nicht dafür, dass man wartete, bis die Söhne anriefen. Sie brauchten Geld, aber das war noch lange kein Grund, ewig so weiterzumachen wie bisher, und ihr Vater hatte ohnehin genug davon. Den Kater Carlo würde zur Not die Mutter nehmen. Klara Kerner wohnte im Grünen, sie bewirtschaftete ein großes Haus in gepflegter Stuttgarter Halbhöhenlage. Bislang war sie noch bestens beieinander, aber sie vereinsamte zunehmend, und ein wenig Ansprache würde ihr guttun.

Zeit für was Neues. Giulia lächelte. Sie würde alles kündigen, aufgeben und verscherbeln und die Toskana verlassen. Mit Mitte 50 würde sie nochmals bei null anfangen.

Plötzlich begriff sie, wieso die Grabflächen vor ihr so klein waren. Sie saß an einem Kinderfriedhof. Ein schmutzig weißer Engel starrte streng auf sie nieder. Seine leeren Augenhöhlen wirkten makaber, der erhobene Zeigefinger war moosbewachsen. Ein brauner Flügel war gebrochen. Abrupt stand Giulia auf und lief davon. Sie kam an einem gläsernen Sarg vorbei, in dem der lebensgroße Jesus Christus lag. Er thronte auf einem Sarkophag, der mit einem Relief des Wappens von Florenz ausgestattet war. Im Übrigen erinnerte er ein wenig an die Holzfigur in der Basilica di Santa Maria Novella, die Klara an Weihnachten so beeindruckt hatte, war aber vermutlich aus Gips. Durch eine Lücke im Deckel hatte jemand einen Plastikblumenstrauß zwischen Jesu Waden geworfen. Sein rechtes Fußgelenk wurde von einer roten Rose und einer rosaroten Nelke bedeckt. Giulia machte einen Schritt nach vorn, um die Blüte zu betrachten, die unter seinem linken Fuß lag. Dabei verließ sie den Schotterweg und trat auf den rissigen Marmor. Die Platte rutschte unter ihr weg, und sie glitt durch den Spalt in die Tiefe. Giulia versuchte, sich an den Wänden festzukrallen, doch da waren nur Stein und Dreck. Vergeblich bemühte sie sich, Tritt zu fassen. Ihre Füße fanden nirgendwo Halt. Strampelnd glitt sie immer weiter hinunter, bis oben der Boden nachgab und das Erdreich sich über ihr schloss.

1

Ich werde sterben wie wir alle, das ist mir abstrakt klar, auch wenn ich es gerne verdränge. Es kommt mir unwirklich vor, nicht mehr da zu sein, weil es doch mein Bewusstsein ist, das die Welt erschafft. Ohne die Gewalt meiner Sinne herrschen nur Leere und Schwärze um mich her, und alles ist zur Gänze verstummt. Vielleicht ist es so, wie man sich das Universum vorstellt: kalt, düster, endlos. Blickdicht und luftleer. Dabei beständig. Und dann treibe doch wieder ich in der Mitte, treibe einen Schlund hinunter, einen Trichter, einen Brunnen. Einem Licht entgegen. Selbst im Tod bin ich nicht totzukriegen, weil ich es mir einfach nicht vorstellen kann, nicht zu sein. Schon als Kind war ich überzeugt, dass sich ein Leben nur lohnt, wenn es ewig währt, aber ich spürte nichts in mir, was bleibende Spuren hinterlassen könnte. Weder hatte ich große Begabungen noch Tugenden. Beizeiten fühlte ich in mir das Mittelmaß, unter dem ich gar nicht unbotmäßig litt. Das Erdulden des Durchschnitts gehörte zu meinem Spießertum. Am Ende schaffte ich nicht mal meinen Hochschulabschluss, Germanistik und Kunstgeschichte, ich brach das Studium einfach ab und ging nach Italien. Damit war die letzte Hoffnung auf Nachruhm beerdigt, denn aus mir wurde eine Hausfrau, verheiratet mit einem florentinischen Zahnarzt, und nacheinander bekam ich zwei Söhne, Diego und Simone. Sie sind ausgezogen, meine Ehe ist längst geschieden, Tommaso hat eine neue Familie, und mein Lebensgefährte Roberto ist tot. Er wurde erschossen, ich war dabei. Meine betagte Mutter und ich waren Zeuginnen eines Mordanschlags, der nun ein Vierteljahr zurückliegt und bislang nicht aufgeklärt wurde. Obwohl sich das Ganze auf dem belebten Bahnhofsvorplatz von Firenze Santa Maria Novella abspielte, hat niemand den Schützen gesehen. Eigentlich war Roberto schon zweieinhalb Jahre früher für tot erklärt und feierlich bestattet worden, aber daran habe ich nie wirklich geglaubt. Ich habe immer gefühlt, dass er noch am Leben ist.

Roberto starb mit einem ungläubigen Staunen im Gesicht, als sei er gänzlich unvorbereitet. Das konnte eigentlich nicht sein, weil sie schon jahrelang hinter ihm her waren. Wenn ich »sie« sage, dann kann ich das nicht näher bezeichnen. Ich weiß nicht, wer »sie« sind. Ich nehme an, die Mörder gehören zur toskanischen Mafia, zur Fraternità, und es waren vermutlich mehrere Männer an der Tat beteiligt. Frauen sind eher nicht darunter. Aber auch das weiß ich nicht sicher. Ich nehme an, dass Carlo, mein ehemaliger Büropartner, ebenfalls zu diesen Leuten gehört. Und nun soll auch ich sterben – und das womöglich schon vor der Heiligen Woche.

Vierzehn Tage ist es jetzt her. Es war am Valentinstag. Eine Frau, die sich nicht näher zu erkennen geben wollte, hat mich gewarnt. Sie hat mich auf meinem Telefonino angerufen und mir mitgeteilt, dass ich ganz oben auf der Liste stehe, auf der Todesliste der Fraternità. Die hiesige Mafia hat die Madonna als Schutzpatronin und gebärdet sich streng katholisch. Es gehe darum, sagte die Unbekannte, dass ich Mariä Verkündigung noch mitnehmen, doch das Auferstehungsfest des Erlösers nicht mehr erleben solle. Das heißt, mein anvisiertes Sterbedatum würde auf Ende März bis Mitte April fallen. Damit wurde die Bedrohung, die ich seit bald drei Jahren gespürt hatte, endlich konkret. Komischerweise war ich überhaupt nicht verwundert. Kein bisschen schockiert. Im Gegenteil, ich fühlte mich geradezu erleichtert. Da es offenbar unabwendbar war, würde ich mich meinem Schicksal stellen.

Eigentlich hatte ich gehofft, dass dieser Spuk irgendwann aufhört, aber das ist natürlich eine Illusion. Es wird erst Ruhe sein, wenn Carlo tot ist oder wenn ich tot bin oder wir beide. Dabei ist das Drama vollkommen überflüssig. Ich weiß nämlich nichts, und ich verstecke auch nichts. Es gibt nichts, was man unter Folter aus mir herauspressen kann, und kein Geheimnis, das geschützt wird, wenn man mich eliminiert. Vielleicht würden sie mich auch umbringen wollen, wenn sie das wüssten. Aus schierer Wut darüber, dass bei mir nichts zu holen ist. Kann sein, dass das schon reichen würde. Ich weiß nicht mal, hinter was sie her sind. Dass Carlo und Roberto in mafiöse Geschäfte verwickelt waren, habe ich erst erfahren, als beide verschwunden sind. Ich habe nicht geahnt, dass sie sich näher kannten.

Die Frau sprach fließendes Italienisch mit Akzent. Es war kein deutscher Akzent, eher was aus dem Osten. Osteuropa. Von wo genau, hat sich mir nicht erschlossen. Ich habe versucht, der Unbekannten begreiflich zu machen, dass meine Auslöschung nichts nützt, und sie händeringend gebeten, meine Unzuständigkeit an das Himmelfahrtskommando weiterzugeben. Selbst in dieser prekären Situation habe ich noch Humor bewiesen, was freilich daneben war und obendrein geschmacklos. Die Frau beendete das Gespräch, ohne auf meine Bitte einzugehen. Kurz dachte ich daran, meine Mutter anzurufen, aber das hätte wenig Sinn gehabt, denn auch sie würde mir nicht glauben, dass ich in nichts involviert bin. Es war besser, wenn sie nichts von der Warnung erfuhr. Sie ist und bleibt tough. Sie würde meine Lage als akute Gefährdungslage einschätzen und entsprechend handeln. Ich hatte Angst davor, dass die Situation dann sofort eskaliert. Lieber nahm ich mein Schicksal selbst in die Hand.

Es war schon seltsam, dass ich ganz ruhig blieb. Nachdem ich das Telefonino zurück in die Tasche gesteckt und sich das leise Zittern meiner Finger gelegt hatte, kehrte in mir eine Ruhe ein, die ich zuletzt als Kind gespürt hatte. Wenn sich mir damals eine Macht näherte, der ich nicht gewachsen war, nahm ich die Drohung als unabwendbar hin, versuchte aber gleichzeitig, mich ihr zu stellen. Der Unterschied zum Heute lag allerdings darin begründet, dass die potenziellen Angreifer durchaus habhaft waren. Zumindest rein theoretisch wusste man früher, mit wem man es zu tun hatte. Und gegen wen man kämpfen musste. Praktisch zeigte sich hingegen keiner.

Der einzige Mensch, den ich kannte und dem ich zugetraut hätte, dass er mir eine Waffe besorgt, war der Anwalt Alfonso Cazzotto aus Porto Santo Stefano am Tyrrhenischen Meer. Aber der lebte nicht mehr, und deshalb war ich auf meine Intuition angewiesen. Ich fragte meine Freundin Camilla um Rat, die in Marina di Santo Stefano wohnt, direkt am Meer und ganz in der Nähe von dem Strand, an dem Roberto sein Ristorante hatte. Ich weihte Camilla nicht in die näheren Umstände ein, ich sagte ihr bloß, dass ich eine Waffe brauche, eine Pistole oder einen Revolver, ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus. Sie stellte keine Fragen, und eine Woche später bekam ich ein Päckchen.

Es war eine Handfeuerwaffe von Heckler & Koch, wie sie in Deutschland von der Polizei beim Anti-Terror-Einsatz benutzt wird. Das habe ich gegoogelt, und im Netz fand ich auch eine Anleitung, wie man eine solche Waffe bedient. Man konnte sie nicht als zierlich bezeichnen. Sie war größer und schwerer, als ich mir das gewünscht hätte, aber sie fiel nicht auf in meinem Rucksack. Zunächst habe ich mich nicht getraut, damit Schießübungen zu machen, obwohl ich es unbedingt tun wollte. Ich war in die Umgebung unterwegs, Richtung Settignano, um außerhalb der Stadt auf Pinien zu schießen. Dann wurde mir jedoch der Rucksack geklaut, noch mitten in Florenz, auf der Via Nazionale im fließenden Verkehr, vom Gepäckträger meiner Vespa. War das Zufall? Oder hatte es mit meinem Vorsatz zu tun?

Ich habe nicht versucht, mich neu zu bewaffnen. Ich probiere nun eher, wachsam zu sein. Den Feind zu finden, ehe er mich überwältigt. Ich habe mein Apartamento in der ehemaligen Klosteranlage im San-Lorenzo-Viertel mit einer Alarmanlage ausgestattet, außerdem filmt eine Videoanlage den Kreuzgang. Ich kann die Bilder auch unterwegs abrufen. Da neben meiner Wohnung ein Bed and Breakfast untergebracht ist, erscheint die Kamera ziemlich sinnlos. Es gehen dauernd fremde Leute aus und ein, die offenbar einen Schlüssel haben, denn das Kloster ist durch zwei Tore gesichert, ein großes am Eingang und ein weiteres am Seitenaufgang. Obwohl es wenig bewirkt, meine ich, mich damit schützen zu müssen. Ansonsten bin ich ruhig. Alarmierend ruhig. Ich hätte nie gedacht, dass ich so besonnen reagiere. Beinahe gleichgültig. Wo ich doch immer Angst vor dem Sterben hatte, vor dem Nichts.

Nun werden sie mich finden. Jederzeit und überall. Ich werde mir nichts anmerken lassen. Auch gegenüber meiner Mutter nicht. Bis zuletzt werde ich so tun, als sei nichts. Und ich glaube erstaunlicherweise, dass ich sie zur Strecke bringen kann. Wer auch immer sie sind. Es wird mir nichts ausmachen, jemanden, der sein Zielfernrohr auf mich richtet, zu töten. Das ist eine abstrakte Idee, aber ich bin fähig dazu. An mir entdecke ich ganz neue Seiten. Und falls sie mich doch hinrichten und schlachten, werde ich zwar nicht berühmt, aber immerhin bekannt. Ich werde im Internet ein Nachleben haben. Als Opfer der Mafia. Mit Namen und ein paar Fehlern in der Biografie.

Diese machistischen Mafia-Rituale sind fast so alt wie die Menschheit. Sammler und Jäger. Jäger vor allem. Ein paar Hieroglyphen an der Wand: Feuer, Schlangen, Wildschweine. Die Welt geht unter, und wir leben noch immer in der Steinzeit. Klimakatastrophe, Verkehrschaos, Mobilitätswahn, Atomtod, verspätete Energiewende. Ungeziefer und Seuchen. Millionen Menschen ertrinken im Mittelmeer, werden in neue Kriege gejagt, rasen in die Menge oder sprengen sich in die Luft. Der Femminicidio – der Mord an Frauen, weil sie Frauen sind –, geschundene Tiere, von Klerikern massenhaft missbrauchte Kinder. Mafiahandel mit Plastikabfällen, verfolgte Völker, sterbende Vogelarten und ausgerottete Fische. Die unfassliche italienische Regierung, die reaktionäre Bewegung, deren fünf Sterne leuchten, ob die rote Sonne gerade auf- oder untergeht; überall Populismus, Rechtsradikale, Paranoide, Terroristen, Irrsinn Europa, Wahnsinn weltweit. Die mondsüchtige Generation meiner Mutter hat den kleinen, entscheidenden Schritt der Menschheit getan und die Umwelt und den Kosmos vernichtet. Das Universum verschwindet im Orkus. Das Internet frisst die letzten Brosamen Verstand. Dabei tragen wir das globale Wissen in der Hosentasche, und das wird dann gegendert. In meiner Kindheit wäre das unvorstellbar gewesen. Wir haben Bibliotheken gebraucht, es waren von Männern beherrschte und bestückte Bibliotheken, die von Statikern ausgerechnet wurden und eingestürzt sind. Es nützt nur nichts. Wir sind dem Verderben anheimgegeben und allesamt verloren.

Das ist die offizielle Version, die man uns angedeihen lässt, weil die Medien ihren Spaß haben wollen. Ich hingegen glaube nicht, dass es derzeit noch schlimmer wird. Es war schon immer schlimm, und manchmal war es noch schlimmer. Viel schlimmer sogar. Ich sage A. Ich sage B. Auschwitz-Birkenau. Dazu fehlen uns die Worte. Wir machen uns nur wichtig, wenn wir vom zeitgeistigen Weltuntergang reden. Das Ende der Welt stand stets bevor, und der Schlussakkord war absehbar. In der quartären Aussterbewelle der letzten Kaltzeit fand ein Massenaussterben zahlreicher Tierarten statt. Auf verschiedenen Kontinenten verschwanden immens viele Großsäuger, dazu zählten unter anderem die Säbelzahnkatzen. Schuld daran war bereits vor 50.000 Jahren das Auftauchen des modernen Homo sapiens, der gegen das Paradies einen Blitzkrieg führte. So ging das dann munter weiter. Spätestens bei den alten Römern fand die Menschheitsgeschichte zu ihrem unmelodischen Ausklang, und nicht erst Beethoven räumte der Coda den entscheidenden Stellenwert ein. Nun ist das definitive Endspiel näher gerückt, wie auch mein persönliches Finale. Ist es das wirklich? Nein, ich glaube, sie kriegen mich nicht.

Keine Ahnung, woher ich diesen kühnen Standpunkt nehme. Wie gesagt, ich war nie eine Heldin, mir fehlt die Gnade.

Es wird Abend, es dämmert, ich sitze bei Licht in meinem Sessel, ich sinniere und lese, und draußen vor dem Fenster huscht eine Gestalt vorbei. Wieder und wieder. Immer dieselbe Person. Es könnte ein Tourist sein, der seinen Schlüssel verloren hat und nun den Kreuzgang absucht. Aber der würde wohl kaum stehenbleiben und in meine Wohnung spähen. Ich bewaffne mich mit meinem Küchenmesser, das ich hinten in meine Jeanstasche stecke, und reiße die Tür auf. Draußen steht eine Frau. Eine sehr attraktive Frau: groß, schlank, Pagenkopf, ebenmäßiges Gesicht. Sie erinnert mich an jemanden. Ich laufe ein paar Schritte auf sie zu.

Sie streckt mir die Hand hin. »Luisa Zampone.«

»Sie sehen aus wie Luigi. Luigi Zampone. Sagt Ihnen das was?«

Luigi Zampone, dieser dubiose Ermittler oder Agent. Ob er bei der Polizei oder bei einem Nachrichtendienst arbeitet, habe ich nie zweifelsfrei herausgefunden. Polizia di Stato, Carabinieri oder Sekretär von Kardinal Stendal, dem Chef des Vatikanischen Geheimdiensts Pro Deo Due; möglicherweise ist er da und dort aktiv. Sie sieht ihm verdammt ähnlich. Bestimmt ist sie mit ihm verwandt.

Luisa lächelt. »Ich bin gekommen, um dich zu beschützen, Giulia.«

Sie duzt mich. Müssten wir uns kennen? Ich meine nicht, lasse mir nichts anmerken und gebe ihr die Hand. Offenbar ist die ganze Familie getauft und verbeamtet. Katholizismus und Staatsdienst. Luigi schickt mir seine Schwester sicher nicht, damit wir zusammen Socken stricken. Ich klopfe die Taschen ihres schicken Kostüms ab, Prada oder so, fahnde nach den Umrissen meiner verhinderten Tatwaffe.

»Sie haben nicht zufällig meine Heckler & Koch entwendet?« Ich kann es nicht lassen. Diese Frage muss erlaubt sein.

»Nun«, meint Luisa, »wir sind dazu da, Schlimmeres zu verhindern.«

Neben dem Du gibt es jetzt auch ein Wir. Das Ich ist abgemeldet. Ich reihe mich in dieses Wir, in den Kreis der Guten, ein und bedanke mich mit einer höflichen Verbeugung. Vielleicht sollte ich einen Knicks machen.

»Wie stellst du dir das vor? Und wieso muss ich beschützt werden?« Ich gehe auch zum Du über, alles andere ergibt in Anbetracht der Umstände keinen Sinn. Wir werden uns noch öfter begegnen, und je länger man das Du, das in Italien unter Vertrauten gang und gäbe ist, hinauszögert, desto umständlicher wird es.

»Nun«, beginnt Luisa wieder, stockt dann und sagt nichts mehr. Vielleicht muss sie meine Fragen erst mal verdauen. Oder sie hat andere Probleme. Geht es um das Wort »Schlimmeres«? Was schließt es ein? Welche Arten des Dahinsiechens, was für Formen der Folter? Soll ich sofort dahingestreckt werden, und wenn ja, wozu? Wenn ich tot bin, können sie sowieso nichts mehr aus mir herauspressen außer ein paar Liter Leichensaft. Ich denke an das Küchenmesser in meiner Gesäßtasche. Ich bin bewandert im Umgang mit Küchenmessern. Auch mit dem unerlaubten Umgang. Ich weiß, wo Luisas Herz liegt, wenn ich ihr das Messer zwischen die Rippen stecke. Es ist so ähnlich wie bei einer Melone. Oder bei einem zarten Kürbis. Der Gedanke daran tut mir nicht weh. Nicht, dass ich es schon einmal getan hätte. Aber es ist nicht schwierig. Und wer sagt mir, dass diese Kuh auf meiner Seite steht? Ich würde eine Seidenbluse zerstören. Ein Blutfleck würde sich darauf ausbreiten. Mehr nicht.

Ich bin keine Psychopathin. Beileibe. Ich bin eine durchschnittliche Mittfünfzigerin südwestdeutscher Herkunft. Ich komme aus Schwaben, bin in Stuttgart aufgewachsen, aber dann wollte ich zum Studium unbedingt nach Florenz. Und bin kleben geblieben. Leider ist hier nicht alles glatt gelaufen. Die Toskana hat mich gelehrt, dass ich mich wehren muss. Und Luisa wird mir letztlich nicht erklären, warum sie hier ist.

Während wir hier stehen – sie draußen im Kreuzgang, ich in der Tür, beide auf Fluchtdistanz im Dämmerlicht – und nicht weiterkommen in unserem Diskurs, frage ich mich, wohin das führen soll. Ich bin echt genervt. Freilich tue ich Luisa nichts. Ich bin froh, dass sie mir ihrerseits nicht übelwill. Aber wir reden nicht miteinander. Das muss sich ändern. »Wie geht es nun weiter?«

»Ich werde da sein«, sagt Luisa. »Ich stehe an deiner Seite, auch wenn du mich nicht siehst.«

»Das ist tröstlich.« Schon wieder flüchte ich mich in eine unangebrachte Ironie. Luisa hat keinen osteuropäischen Akzent. Sie ist nicht die Signora vom Telefonino.

»Du brauchst Schutz«, eröffnet Luisa Zampone. »Und wir geben ihn dir.«

Sie ist jünger als ich. Deutlich jünger. Und durchtrainierter. Ich sehe die Muskeln unter ihren Markenklamotten. Die Waffe trägt sie im Höschen. Oder sie hat sie an den Rücken geklebt. Da ist nichts, was sich ausbeult.

»Wer ist ›wir‹?« Ich wage es, die Frage zu stellen.

»Die Rechtgläubigkeit.«

Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. Ah. Der Vatikan. Der Katholizismus. Der noch nicht korrumpierte italienische Staat. Vielleicht auch Gott und die Weltengemeinschaft persönlich. »Gehörst du zu einem Antimafiaprogramm?«

»Ich bin Feministin.«

Als ob das etwas erklären würde. Es nachtet ein, und wir stehen in der Finsternis des Kreuzgangs. Wir sehen einander kaum noch. Unten wird das Tor aufgeschlossen und ein Motorino brettert herein. Ich warte darauf, dass Carlo auftaucht, mein Kater. Ich sehe ihn selten, aber er frisst mein Futter.

»Ich bin nicht einfach so Feministin geworden.« Luisa stockt. »Es war ein langer Weg. Und er hat mir Schmerzen bereitet. Ich habe gesehen, was in diesem Land schiefläuft. Und weltweit. Das habe ich körperlich gespürt. Und ich war in der Lage, darauf zu reagieren. Es war mir ein Bedürfnis. Es hat mir Welten eröffnet.«

»Du redest nur von dir.« Ich sage das trocken. Muss schlucken. »Was hat dein Werdegang als Feministin mit mir zu tun?«

»Du tätest gut daran, einmal nachzudenken. Über deinen Weg. Und wie du ihn zu Ende gehen willst.«

»Danke für diesen famosen Vorschlag. In Anbetracht der Umstände.«

»In deiner Situation sind Tausende von Frauen in Italien. Millionen weltweit. Nicht alle haben einen Schutzengel.«

»Okay. Was willst du? Geld?«

»Keine schlechte Idee.« Luisa lacht. »Du könntest etwas spenden.«

»Papst Franziskus?«

Luisa lacht lauter.

Am Abend denke ich lange über diese Begegnung nach und kann sie nicht einordnen. Ich bin nie in Italien angekommen, in all den Jahren nicht, nicht einmal in der Toskana und schon gar nicht im Vatikan. Dennoch gehöre ich zu den Frauen, die man im Visier hat. Ob ich es begreifen mag oder nicht. Und ich habe eine alte Mutter, die beim Verfassungsschutz war, die mit Mitte 80 immer noch bestens beieinander ist und mich hier raushauen könnte. Wer hat das schon? Ich will aber nicht. Ich möchte endlich erwachsen werden, dastehen und sagen: Geht doch. Hab ich selber geschafft. Ist mir gelungen.

Es ist dunkel geworden. Ich zünde keine Kerze an, obwohl ich Kerzen im Haus hätte. Ich mache die Lampe an und höre keine Musik. Einfach nur dasitzen. Es fühlt sich komisch an, wenn man auf einer Abschussliste steht. Und sich wehrhaft fühlt, obgleich man das nicht ist. Diese Ruhe. Dieses Ziel. Die Gewissheit, dass man sich wehren wird. Ich werde aufbegehren gegen meinen Tod. Ich werde zuschlagen. Zustechen. Zuhauen. Schießen. Wie auch immer. Mit der bloßen Faust. Mit dem Messer, mit der Axt, mit dem Gewehr, wenn ich eins habe. Sie werden mich nicht kriegen. Und ich brauche Luisa nicht. Obwohl ich ihr beinahe traue. Soll sie tun, was sie für nötig hält.

Ich werde mich verbergen. Keinem zeigen, wie es um mich steht, wozu ich fähig bin. Das ahnt keiner. Ich werde alle umschmeißen, die mir ans Leder gehen. Bevor ich selber krepiere. Elend sterben muss. Auf natürliche Weise, nicht durch deren Hand. Wegen denen nicht.

Ob ich im Netz etwas über mich finde? Ich schnappe mir meinen Laptop und geh online. Wenn die eigene Pfade haben, über die sie sich verständigen, komme ich da garantiert nicht hin. Über den Tod von Roberto gibt es nichts Neues, und egal, welche Suchbegriffe ich eingebe, Carlo bleibt ein unbeschriebenes Blatt. Das ist eigentlich ein ungehöriges Kapitel im Zeitalter der unumschränkten Geschwätzigkeit. Virtuell finde ich über Carlo Scarivari nichts, was über seine Maklertätigkeit bis vor drei Jahren hinausreicht. Das ist nicht zu fassen, denn es müsste doch Artikel darüber geben, dass er verschwunden ist und gesucht wird. Die Presse hat das nie aufgegriffen. Immer mal wieder habe ich danach geschaut, aber niemand hat drüber geschrieben. Oder es wurde wieder gelöscht.

Ich muss eingenickt sein, denn ich werde von einem Geräusch geweckt. Jemand poltert an der Wohnungstür. Mir ist klar, dass es nichts Gutes zu bedeuten hat. Es ist wie in einem Film. Oder in einem Alptraum. Zunächst suche ich nach einer vordergründigen Erklärung: Kater Carlo ist endlich heimgekommen, er ist wieder mal seit Tagen abtrünnig und trägt seinen Namen nicht umsonst. Gemeinhin geht sein nächtliches Erscheinen allerdings lautlos vonstatten; wenn er auf sich aufmerksam machen will, miaut er. Das ist nachts zwecklos, weil keiner ihn füttert. Es gibt keine Katzenklappe; also wartet er bis zum Morgen draußen. Daran ist er gewöhnt. Und Carlo würde nie derart an der Tür rumpeln, wenn er rein will. Wobei offenbar alles getan wird, um Diskretion walten zu lassen. Es ist ein verhaltener Krach, wie wenn ein Stapel Eierkartons umkippt, gefolgt von einem Schleifen und Schaben. Ein gebremster und dadurch umso aufdringlicherer Lärm, weil man die Ohren spitzen und zugleich vor Angst verschließen muss. Streift da ein Anorak an der Tür entlang? Oder ein Mantel? Auf alle Fälle ein Stück Stoff. Als ob ein halb Ohnmächtiger vor der Tür kreucht und im langsamen Sinken alle Kraft zusammennimmt, um möglichst lautlos aufzuprallen. Die Abfolge der Töne ist zutiefst unheimlich. Man kennt das aus dem Kino, wenn ein Opfer von einem Profi mit asiatischer Höflichkeit final niedergestreckt wird. Vielleicht sollte ich mir ein Herz fassen, zu einer x-beliebigen Waffe greifen, aufstehen und die Wohnungstür öffnen. Aber ich wohne im ersten Stock. Falls die Begegnung missglückt, gibt es kein Entrinnen. Bis ich über den Kreuzgang und den Seitenaufgang in den Hof hinunterkomme und von dort durch das große Tor fliehen kann, vergehen möglicherweise mehrere Minuten. Falls mir nicht schon an der Schwelle zu meinem Zuhause eine Leiche entgegenfällt.

Dann versucht jemand, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Es nützt alles nichts. Ich reiße die Tür auf. Unbewaffnet. Vor mir steht mein Sohn Simone, neben sich eine Einkaufstasche. Er hat vergeblich nach dem Lichtschalter getastet und im Dunkeln versucht, den Türklopfer zu betätigen, ist dabei aber abgerutscht.

»Ach, du bist es«, sage ich. Wir reden Deutsch miteinander. Ich klinge nicht erleichtert, eher außer Atem, als hätte ich einen kurzen Sprint hinter mir.

»Wer sonst?« Simone kommt herein und küsst mich auf beide Wangen. »Wir sind verabredet, Mamma. Wir wollten um neun zusammen essen. Schon vergessen?«

»Nein, nein.« Ich bin wirr im Kopf und fühle mich komisch. Mir ist schwindlig, ich muss mich am Tisch festhalten. »Ich hatte vorhin einen seltsamen Traum. Ich bin kurz eingeschlafen und sah alles ganz deutlich vor mir. Es war, als sei ich überwach und würde scharf wahrnehmen und glasklar denken. Ich muss einiges erlebt haben in diesem Zustand. Aber mir fällt nicht mehr ein, was das gewesen sein soll.«

Simone geht wortlos durch bis zur Küchenzeile und legt alles auf die Arbeitsplatte: Tomaten, Auberginen, Zucchini und Petersilie. Außerdem hat er frisches Brot, gebackene schwarze Oliven und eine Flasche Vernaccia di San Gimignano mitgebracht. Er besucht mich nicht oft, aber seit ich im vergangenen Spätherbst in die Altstadt gezogen bin, kommt er ab und an vorbei. Er bewegt sich in der Wohnung ganz zwanglos, und wieder einmal staune ich, wie zierlich und geschmeidig er ist. Seine Bewegungen sind elastisch, die Finger feingliedrig, die Haare lang und sehr blond. Er ist noch zarter geworden. Er kommt nach mir, nicht nach seinem Vater. Ein wenig sieht er aus wie die junge schmale Frau, die ich vor langer Zeit gewesen bin. Sein älterer Bruder Diego hingegen ist Tommaso wie aus dem Gesicht geschnitten und hat auch dessen kräftige Statur. Wir hatten seit Ende letzten Jahres keinen Kontakt mehr, auch Tommaso hat sich nicht mehr gemeldet.

»Was macht Salvatore?«, frage ich, habe aber kein gutes Gefühl dabei.

»Wir haben uns getrennt«, antwortet Simone mit emotionsloser Stimme. Er dreht sich zu mir um, sein Gesichtsausdruck ist leer.

»Das tut mir leid.« Was soll ich sagen? Mit Anfang 20 wird Simone eine neue Liebe finden. Bis es so weit ist, wird er sich in sein Studium stürzen und seinen Abschluss machen. Wirtschaftswissenschaften, glaube ich, ich habe es nie ganz begriffen. Die Welt geht wegen dieser Trennung jedenfalls nicht unter. Ich nehme Simone trotzdem in den Arm, und er beginnt zu weinen. Offenbar geht er davon aus, dass ich sehr viel mehr Empathie aufbringe, als dies der Fall ist. Wichtig ist, dass ich ihn festhalte und dass er mich spürt. Für ihn ist nicht entscheidend, was in mir vorgeht. Ich hoffe, dass ich meinen Söhnen immer genug Wärme geschenkt habe, aber sicher bin ich mir nicht. Die meiste Zeit habe ich sie allein großgezogen. Oft genug war mein Kopf ganz woanders. Vom Gefühl ganz zu schweigen. Ich frage mich, ob andere Mütter sich auch diese Vorwürfe machen, ein Lebtag lang. Nicht zu genügen. Natürlich genügen wir nicht.

Nach einer Weile macht Simone sich frei, putzt sich die Nase, wäscht sich die Hände am Spülbecken und trocknet sie ab.

»Hat er dich verlassen?«, frage ich, während ich das Gemüse inspiziere und überlege, was wir damit kochen können.

»Nein«, sagt Simone. Er schüttelt den Kopf. »Ich bin derjenige, der geht. Ich habe es nicht mehr ausgehalten.«

»Ein neuer Mann?« Dabei will ich gar nicht alles wissen.

»Nein.« Wieder schüttelt Simone den Kopf. »Eine neue Ideologie. Ich habe es dir nicht erzählt, aber Salvatore hat sich in den letzten Monaten verändert. Es fing um Weihnachten herum an, doch da habe ich noch nichts bemerkt. Er ist konservativer geworden. Ich würde behaupten, er ist stramm konservativ inzwischen. Restlos rückschrittlich. Das hat sich angekündigt, es ging schon eine ganze Weile so. Und wurde immer schrecklicher. Aber ich wollte die Warnzeichen lange nicht sehen.«

»Was heißt das denn?« Ich wasche die Tomaten. »Möchtest du Ratatouille oder lieber was mit Tagliatelle? Ich hätte auch Buchweizen da.«

»Ein veganer Eintopf reicht.« Simone winkt ab. »Ich kriege eh nichts hinunter.«

Ich greife nach dem Messer und würfle die Tomaten, während sich Simone über das restliche Gemüse hermacht.

»Er tritt wieder in die katholische Kirche ein.«

»Oh.« Ich schlucke.

»Er demonstriert gegen Abtreibung. Im Winter war er noch aktiv bei der Kampagne gegen Femminicidio und hat gegen die Tötung von Frauen protestiert, jetzt schützt er das werdende Leben. Er behauptet, das sei kein Widerspruch, und er sei schon immer für die Ehe gewesen. Das stimmt wohl sogar. Ich wollte es bloß nicht hören.«

Genau hier liegt das Problem, denke ich. Wir wollen es alle nicht hören. Wir hören einander nicht zu, und wir biegen uns die Wirklichkeit so zurecht, wie es uns passt. Da kommt nichts Gescheites dabei heraus. Ich höre meinem Sohn ja auch nicht zu, selbst wenn er den größten Katzenjammer hat. Und wahrscheinlich habe ich auch Carlo und Roberto nicht zugehört, sonst hätte ich spitzgekriegt, was sie sich Kriminelles geleistet haben. Und Luisa, die mich retten will? Habe ich ihr zugehört? Vermutlich nicht, sonst hätte ich vielleicht verstanden, was ich tun muss, um der Misere zu entrinnen.

»Ich kann mit jemandem, der derart reaktionäre Ansichten hat, keinen guten Sex haben. Das klingt vielleicht komisch, aber es ist so pervers, als ginge man mit einem Priester ins Bett.«

»Ich mochte Salvatore sowieso nicht besonders.« Ich sage das, obwohl es nicht stimmt. Ich konnte ihn bloß nicht einschätzen. Allerdings habe ich mir um ihn nie für fünf Cent Gedanken gemacht.

»Warum nicht?«

Ich entkorke den Wein und hole zwei Gläser. »Er hat etwas Windiges an sich, etwas Verschlagenes.«

»Wie kommst du denn darauf? Also, Mamma!« Simone schlägt sich an den Kopf. »Hinterlistig oder gerissen ist Salvatore bestimmt nicht. Im Gegenteil, er ist eher ein Tölpel. Doch die Einfalt entschuldigt seine gedanklichen Fehler letztlich auch nicht. Wobei er halt vieles in einen Topf schmeißt und falsch macht.«

»Und das führt dazu, dass du ihn nicht mehr lieben kannst?«

Simone überlegt. »Ja«, meint er dann. »Die Liebe ist eine Konstruktion, und sie muss mit anderen Konstrukten gefüttert werden. Sonst stirbt sie.«

2

Fischer konnte nicht fassen, dass er sterblich war. Dass er wie alle anderen auf dem Friedhof enden sollte, kam ihm ungeheuerlich vor. Er hatte sich bereits als Kind nicht damit abfinden können, dass er sterben musste. Schon damals hatte er nicht wirklich geglaubt, dass man in den Himmel kam. Trotzdem war aus ihm ein katholischer Pfarrer geworden. Er hatte begeistert Theologie studiert und versah sein Amt nach einigen Wirren wieder gewissenhaft. Die vergangenen Jahre waren allzu bewegt gewesen, arg bunt und zugleich voller Prüfungen und Krisen, bis Fischer beschlossen hatte, darunter einen Schlusspunkt zu setzen. Bei der Trennung von Reinhild hatte er erkannt, dass er für die irdische Liebe nicht geschaffen war. Sein Paradies war die himmlische Liebe, das Himmelreich auf Erden. Die sexuelle Abstinenz war für ihn selbstverständlich. Er war asexuell. Das war vermutlich angeboren. Fischer hatte sich nie dafür interessiert, obwohl ihm Sex keine Angst machte. Mit Mitte 40 war die viel jüngere Reinhild seine erste Partnerin gewesen. Er hatte sich in sie verliebt, das Pfarrhaus verlassen, war mit ihr ins verwaiste Haus der Großeltern eingezogen. Eine Weile pflegten sie eine romantische Beziehung. Sie gefiel ihm, aber er fand sie nicht attraktiv. Ein ästhetischer Körper löste in ihm kein Verlangen aus. Sie jedoch erwartete Intimität. Zwar konnte er mit ihr schlafen, es klappte sogar ganz hervorragend und sie war zufrieden mit ihm, doch es bedeutete ihm nichts.

Die einzige Frau, die vor Reinhild versucht hatte, ihn zu verführen, war seine toskanische Freundin Giulia gewesen. Ihre Annäherungsversuche hatten ihn kurz irritiert, letztlich aber kaltgelassen.

Er war anders als die meisten Männer, auch anders als die Mehrzahl der Gottesmänner. Sie mussten sich ihre Sexualität verkneifen, sie heimlich ausleben, sie umlenken oder sie abspalten. Fischer verspürte nichts dergleichen. Das schürte Misstrauen in der Gesellschaft, denn war das vollkommene Fehlen der Lust nicht die größere Krankheit? Mit Sicherheit nicht, dachte Fischer, auch wenn es sich um eine eher seltene Veranlagung handelt. Er war gesund, und er verspürte keinen Leidensdruck. Er war lediglich erleichtert, dass er der Verpflichtung, sexuell aktiv sein zu müssen, nicht länger nachkommen musste.

Für die Brüder, die sich an Minderjährigen vergingen, empfand er nicht das geringste Verständnis. Und hegte keinerlei Toleranz. Er war bereit, sich für sie die schlimmsten Strafen auszudenken, aber nicht, wegen ihnen die katholische Kirche anzuprangern oder sie gar zu verlassen. Keine Sekunde zweifelte Fischer an den Grundfesten einer über zwei Jahrtausende gewachsenen und globalen Institution, in der es stets Sünder und Verirrte gegeben hatte. Gnade und Erbarmen schienen ihm fehl am Platz, wenn es darum ging, zu verhindern, dass eine schützenswerte Einrichtung, die Milliarden Menschen ein Dach bot, verunglimpft, zersetzt und zerstört wurde. Es brauchte Reformen, ja. Dazu gehörten gleiche Rechte für Frauen, die Abschaffung sozialer Ungleichheit, die Gleichstellung Andersseiender, die Entmachtung des Apostolischen Stuhls und die Abschaffung des Zölibats.

Wegen Reinhild hatte Fischer seine Berufung befristet an den Nagel gehängt. Anstatt als Pfarrer hatte er nur noch als Religionslehrer gearbeitet, und die Messen wurden von Aushilfen gehalten. Dass er die St.-Katharinen-Kirche verlassen hatte, war kein Opfer gewesen, sondern eine Notwendigkeit und seine freie Entscheidung.

Dann war es mit der Liebe schiefgegangen, und die Gemeinde hatte seine Rückkehr gefordert. Sie war ihm treuer als Reinhild, scheinbar zumindest. Dem Vernehmen nach hatte sie ihn verlassen, aber war es in Wahrheit nicht umgekehrt? Er hatte zurückgewollt in sein Zuhause, heim ins Reich Gottes. Der Zölibat bot ihm den Freiraum, den er für seine Zwiesprache mit Gott brauchte. Er stand unter seinem Schutz. Fischer hegte keine übertriebene Gottesfurcht, doch er pflegte sein Gottvertrauen. Nun war er froh, dass er nicht geheiratet und seine Beziehung zu Reinhild nicht an die große Glocke gehängt hatte. Nicht reumütig, aber entschlossen war er in seine St.-Katharinen-Kirche zurückgekehrt. Hatte das stattliche alte Haus der inzwischen verstorbenen Großeltern in der Zollernstraße verlassen, das von der Erbengemeinschaft zum Verkauf stand, und wohnte wieder im Pfarrhaus. Das barocke Fachwerkhäuschen, das mitten in der Altstadt am Ende der Katharinengasse lag, hatte keinen Tag leer gestanden. Die Geflüchteten, die dort mietfrei gewohnt hatten, waren soeben in eine schöne, bezahlbare Wohnung umgezogen, denn sie sehnten sich nach Selbstständigkeit.

Keiner fragte ihn, wo er gewesen war. Die Gemeinde glaubte an einen Burn-out, und damit hatte es auch angefangen. Fischer hatte sich selbst in die Psychiatrie eingeliefert. Vor einer halben Ewigkeit. Die Symptome waren längst überwunden. Die Geschichte mit Reinhild, die sich daran angeschlossen hatte, war ein Fehler gewesen. Doch auch sie war aus und vorbei. Alles war wieder wie früher und blieb von nun an beim Alten. Seit einem Vierteljahr herrschte Ruhe. Justus Fischer fand endlich seinen Frieden.

Seine anders begabte, zwölf Jahre jüngere Schwester Sarah hatte die betreute Wohngruppe verlassen und war mit ihrem Baby zu ihm zurückgekehrt. Sie führte ihm wieder den Haushalt, so gut sie es konnte, und kümmerte sich zusammen mit Marcelina aus Polen um den neun Monate alten Noah. Fischer genoss den geordneten Alltag. Es ging ihm gut, und er wollte an diesem Zustand festhalten.

Es war der Samstag vor Palmsonntag, der Lazarussamstag, an dem die anstrengende Karwoche begann. Im Johannesevangelium wurde die Auferweckung des Lazarus als Hauptgrund für die Kreuzigung und als Vorbote der Auferstehung von Jesus Christus angeführt, doch nur in den orthodoxen Kirchen wurde der Lazarussamstag begangen. Bei den Römisch-Katholischen verlief der Tag vergleichsweise ruhig. Der Nachmittag war traditionell dem Sakrament der Beichte gewidmet, aber die meisten Gläubigen zogen es vor, erst am Karsamstag zu kommen, wo sie dann in Serie abgefertigt wurden. Das hatte den Vorteil, dass es schnell ging. Und dass sie an Ostern beim Empfang der heiligen Kommunion noch relativ rein und ohne Sünde waren. Denn welcher Erdenbürger schaffte es schon, sich mehr als eine Woche an die Zehn Gebote zu halten und dem Willen des Schöpfers zu gehorchen?

Um sich zu stärken, hatte Fischer das Gespräch mit Gott gesucht. Er hatte bewusst gebetet, was er selten tat, weil all sein Denken Gebet war. Er bat inständig darum, Gott der Vater möge ihm die Kraft schenken, nicht zu urteilen. Restlos neutral zu bleiben und sich auf keinerlei Parteinahme einzulassen, war fast übermenschlich schwer. Noch schwerer war es, sich den Wunsch nach Bestrafung zu verkneifen, denn keine Bestrafung bedeutete Verzicht auf Gerechtigkeit – und verbot jenen fadenscheinigen Ausgleich, der anerzogen und lasterhaft war. Im Willen zur Vergeltung erkannte Fischer eine Abart des Bösen. Er war selber nicht frei davon.

Jetzt saß er in der Sakristei und versuchte, sich auf Beate Lachnicht zu konzentrieren. Er verstand, dass Eltern, die Lachnicht hießen, ihre Tochter Beate tauften. Beate, die Glückliche. Er begriff sogar, dass Beate ihren spaßbefreiten Mädchennamen nach der Scheidung wieder angenommen hatte. Sie wollte nicht länger so heißen wie ihr Ex-Mann: Vogelsang. Beate Lachnicht gehörte zu den aktiven Gemeindemitgliedern und kam alle acht Wochen zum offenen Beichtgespräch, das nicht im Beichtstuhl stattfand, sondern in der Sakristei, in einer gemütlichen Sitzgruppe auf den Polstermöbeln der Großeltern. Es gab ein Sofa und drei Sessel. Fischer hatte eingeführt, dass Familien und Kleingruppen gemeinsam beichten konnten. Ob der Vatikan das erlaubte, juckte ihn kaum.

Er trug bei diesen Gelegenheiten kein Priestergewand, sondern lediglich dunkle, gedeckte Kleidung, die von seiner auffallenden Erscheinung ablenken sollte. Fischer war sich bewusst, dass er für Mitte 40 ungewöhnlich attraktiv wirkte. Er war schmal und sportlich wie sein Vater, allerdings um einiges größer. Seit dem Winter ließ er sich die Haare wachsen. Mit seinem graumelierten Wuschelkopf hatte er etwas von einem reiferen Lausbub an sich; seine Nase war harmonisch, der Mund fein geschwungen und sinnlich, die ausdrucksvollen, verschmitzt dreinblickenden grauen Augen wurden durch seine randlose Brille noch betont und vergrößert. Er wirkte wie ein Intellektueller, der sich weigerte, erwachsen zu werden, wie ein genießerischer Filou; dabei predigte er Demut und Erbarmen. Und versuchte, sich dem Charismatiker anzunähern, der er gern gewesen wäre.

»Ich will dieses Leben nicht«, erklärte Beate Lachnicht, nachdem Fischer sie freundlich aufgefordert hatte, ihre Sünden zu bekennen. »Ich will es nicht, und ich fürchte, das verstößt gegen Gottes Gesetz.«

Fischer dachte nach. »Wo steht in den Zehn Geboten, dass man sein Leben gutheißen muss?«

»Überall. Das sind die Gebote, Herr Stadtpfarrer Fischer. Gott hat uns nach seinem Bildnis geschaffen, und wir müssen mit dem haushalten, was er uns an die Hand gibt. Wenn wir unser Dasein nicht akzeptieren, dann handeln wir wider die Schöpfung. Wir verraten das Wesen der Evolution.«

Was hätte der Opa in so einem Fall gesagt? Fischer fehlten die Diskussionen mit ihm sehr. Er hatte ausgefuchst argumentiert. Dabei war er kein Gottesmann gewesen, sondern ein Schulmeister.

»Worin haben Sie denn sonst gesündigt, Beate?« Fischer siezte seine Schäfchen meistens, sprach sie aber mit Vornamen an. Es erinnerte ihn an die Oberstufe im Gymnasium und an alte amerikanische Filme – Sam [lying]: »I don’t know what you mean, Miss Ilsa« –, aber sie wollten es so.