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Ihr Leben hing an einem seidenen Faden

Roman von Patricia Vandenberg

»So, da sind Ihre Impfausweise«, sagte Dr. Norden zu den vier jungen Leuten, die seit einigen Minuten einen rechten Wirbel in seine Praxis gebracht hatten. »Nun kann ich Ihnen nur noch einen schönen, erlebnisreichen Urlaub wünschen. Und kommen Sie gesund zurück.«

»Das wollen wir doch sehr hoffen, nachdem Sie uns so gut versorgt haben, Herr Doktor«, sagte Dolly Kermer fröhlich. »Die meiste Angst hatte Jochen vor den Spritzen, aber er hat alles gut überstanden. Um Tessa brauchen wir uns nun auch keine Sorgen mehr zu machen.«

»Ich hätte es fast aufgegeben«, gestand die bildhübsche Blondine, Jochen Kermers Schwester Tessa, ein. Ihr Verlobter, Henning Horn, warf Dr. Norden einen fragenden Blick zu.

»Keinerlei Bedenken mehr, Herr Doktor?« fragte er.

»Man kann die Reaktionen nie vorausberechnen«, antwortete Dr. Norden. »Aber jetzt bestehen keinerlei Bedenken mehr. Sie dürfen nur nicht vergessen, die Malariapillen regelmäßig einzunehmen. Das möchte ich Ihnen nochmals eindringlich sagen. So manch einer neigt dazu, leichtsinnig zu werden, weil er keinerlei Beschwerden verspürt.«

»Wir werden alle Vorschriften genau einhalten«, versprach Jochen Kermer. »Schließlich wollen wir ja an diesen Urlaub mit geteilter Freude zurückdenken.«

»Wenn Sie nach Nairobi kommen, grüßen Sie Dr. Kerkhoff von mir. Sollten sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen irgendwelche Beschwerden einstellen, werden Sie bei ihm in besten Händen sein.«

»Es kann nicht schaden, dies zu wissen«, sagte Henning Horn mit einem Blick auf seine Verlobte Tessa.

Endlich kehrte wieder Ruhe in der Praxis ein. »Wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute liegt so nah’«, philosophierte Loni seufzend.

»Der Lockruf der Ferne, liebe Loni«, meinte Dr. Norden lächelnd, »aber sie sind jung, die Welt steht ihnen offen. Es ist gar nicht schlecht, wenn sie die Nase hinausstecken und Vergleiche ziehen. Sie sind ein bildungshungriges Quartett. Es ist ja nicht so, daß sie diese Reise nur machen, um sagen zu können, daß sie in Afrika waren.«

»Ich meine es ja nicht so«, sagte Loni. »Bei den Krells ist es anders. Die fliegen heuer nach Bali. Alles müssen sie gesehen haben, und dann meckern sie nur über die Hotels und das Essen. Seinen Bedarf an Schweinebraten und Knödel könnte Herr Krell in heimatlichen Gefilden decken.«

Dr. Norden zwinkerte ihr zu. Sie hatte ihre eigene Meinung, und er ließ sie ihr. Ihm war es ja auch unbegreiflich, daß manche Leute in der Welt herumreisen, die im Grunde überhaupt keinen Sinn für die Sitten und Gebräuche ferner Länder hatten. Sie wollten letztlich doch nur sagen: Wir sind da und dort gewesen, aber für das viele Geld könnte man eigentlich mehr erwarten. Dabei gab es so manche, die ihre Nase dann gar nicht aus dem Hotel heraussteckten, weil ihnen das Klima nicht bekam, unter Magenbeschwerden litten, weil sie heimische Gerichte entbehrten.

Jetzt mußte er sich mit einer Patientin beschäftigen, die als Mutter von sechs Kindern noch nie einen richtigen Urlaub hatte machen können. Er wollte sie in ein Müttergenesungsheim schicken, doch die gute Frau Hafling weigerte sich, weil sie meinte, daß daheim dann doch alles drunter und drüber gehen würde.

»Und wenn Sie mal richtig auf der Nase liegen, wird noch mehr alles drunter und drüber gehen«, sagte er streng. »Sie machen diese Kur. Es ist alles genehmigt. Ihre Kinder sind groß genug, um sich und den Vater mal selbst zu versorgen, und sie werden es erst richtig zu schätzen wissen, was die Mutter alles tut, wenn sie auf manche Annehmlichkeiten verzichten müssen.«

»Ich habe einen guten Mann und anständige Kinder«, sagte Frau Hafling bockig.

»Und allesamt sind einverstanden, daß Sie mal ausspannen. Es gibt kein Zurück mehr. Übermorgen geht die Reise los, Frau Hafling. Sie haben sich die sechs Wochen wirklich verdient.«

»Sechs Wochen«, stöhnte sie, »ich werde mich zu Tode langweilen.«

»Das werden Sie bestimmt nicht. Aber wenn Sie die Kur jetzt nicht machen, garantiere ich Ihnen, daß Sie baldigst mindestens sechs Wochen im Krankenhaus zubringen werden, und dann machen sich Ihre Lieben die bittersten Vorwürfe. Und noch schlimmer kann es kommen, wenn Sie ein Pflegefall werden.«

Entsetzt sah sie ihn an. »Das meinen Sie doch nicht ernst, Herr Doktor.«

»Doch, das meine ich ernst. Jeder Motor versagt mal, wenn er nicht richtig gepflegt wird oder Verschleißerscheinungen zeigt. Die warnenden Anzeichen werden nicht beachtet, aber eines Tages geht es einfach nicht mehr.«

Mit ihr mußte er so sprechen. Sie ging auf die Fünfzig zu und hatte ihr Leben lang geschuftet. Er kannte sie seit sechs Jahren. Da war sie beim Tapezieren von der Leiter gefallen, weil der Kreislauf nicht mehr mitgemacht hatte. Er hatte ihrem Mann Vorwürfe gemacht, aber Herr Hafling hatte gesagt, daß er das ihr beibringen solle, weil sie ja doch meine, daß ohne sie gar nichts ginge.

Jeder Versuch, Frau Hafling klarzumachen, daß sie mit ihren Kräften keinen Raubbau treiben dürfe, war jedoch vergeblich gewesen. Oft genug hatte er von ihr auch gehört, daß sie es sich nicht leisten könne, krank zu sein. Die Kinder müßten schließlich gut versorgt werden. Sie war stolz auf ihre Kinder und Herrn Hafling konnte man auch nichts nachsagen, er war ein fleißiger Mann. Sie hatten sich vor Jahren, als es noch erschwinglicher gewesen war, ein Häuschen gebaut. Wie ein Schwerstarbeiter hatte Frau Hafling mitgeholfen. Dabei hatte sie ihre Kinder anständig erzogen. Die Älteste war mit einem Verwaltungsangestellten verheiratet und erwartete jetzt ihr erstes Baby. Heiner war dreiundzwanzig geworden und Mechaniker. Er war verlobt, verdiente gut und gab daheim auch ab, aber Frau Hafling, die fürsorgliche Mutter meinte, daß er für seinen eigenen Hausstand sorgen solle. Mit Günter, der jetzt zwanzig war, hatten sie einige Sorgen gehabt. Er litt an einer Rückgratverkrümmung, war das Sorgenkind der Familie, aber ein lieber Junge, den Dr. Norden besonders gern mochte, weil er sein Schicksal so tapfer meisterte und er es gewesen war, der zu ihm kam und ihn inständig gebeten hatte, dafür zu sorgen, daß die Mutter mal einen richtigen Urlaub machte.

Nach ihm kam Betty an die Reihe, ein gescheites Mädchen, aber sie bildete sich auch etwas darauf ein, weil sie das Abitur machen konnte. Darauf war Frau Hafling ebenso stolz. Ihre Betty würde mal eine Studierte werden. Natürlich durfte sie auch nicht abstechen von ihren Mitschülerinnen. Da saß die Mutter dann nächtelang und nähte hübsche Kleider.

Die Zwillinge Matthias und Angelika machten das halbe Dutzend komplett. Sie hätten eigentlich gar nicht zur Welt kommen sollen. Ein recht netter, aber anscheinend doch recht sorgloser Arzt hatte Frau Hafling einstmals versichert, daß sie nun keine Kinder mehr bekommen würde.

Dann hatte er angeblich frühzeitige Wechseljahrbeschwerden mit Hormongaben zu kurieren versucht. Das Ergebnis waren dann die Zwillinge gewesen. Auch das hatte Frau Hafling ohne Murren ertragen. Matthias und Angelika waren ein hübsches, inzwischen fünfzehnjähriges Pärchen. Sie gingen auf die Realschule. Ja, Frau Hafling hatte wohl allen Grund, sich als glückliche Mutter zu fühlen, aber darüber vergaß sie sich selbst.

Dr. Norden hatte mit der Familie gesprochen. Jedes einzelne Mitglied hatte er sich vorgeknöpft, und dann hatte er es in die Wege geleitet, daß Frau Hafling eine Kur zugebilligt bekam.

»Übermorgen geht es ab durch die Mitte«, sagte er jetzt, »keinen Widerspruch.«

»Ja, dann muß ich wohl«, sagte sie leise, mit Tränen in den Augen. »Aber Heimweh werde ich haben und erst recht krank werden.«

Seufzend blickte er ihr nach. Er hätte sie auch auf die Insel der Hoffnung schicken können, aber da hätte sie erst recht Hemmungen gehabt, unter diesen »feinen Leuten«, wie sie gesagt hatte. Da hätte sie sich fehl am Platze gefühlt. Sie konnte nur unter ihresgleichen sein, aber in dem Mütterheim würde sie das. Dr. Norden knüpfte seine Hoffnung daran, daß sie Gesellschaft finden würde, denn dort traf sie ja nur Mütter mit den gleichen Sorgen und Nöten und auch solche, die sich vom Schicksal benachteiligt fühlten.

»Wundern würde es mich nicht, wenn sie schon nach zwei Tagen wieder zu Hause wäre«, seufzte Loni.

»Da sei Gott vor«, sagte Dr. Norden. »Sie braucht unbedingt Erholung.«

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Dolly und Jochen Kermer beschäftigten sich mal wieder mit ihrer Reiseroute, während Tessa und ihr Verlobter Henning noch Einkäufe machten.

Ihr Geld mußten sie sich schon einteilen, aber für diese Reise hatte das junge Ehepaar gespart. Henning Horn brauchte nicht zu sparen. Ihm wäre es nur lieber gewesen, Tessa hätte eingewilligt, ihn vorher zu heiraten.

Tessa jedoch meinte, daß diese drei Wochen in Afrika als Bewährungsprobe betrachtet werden könnten. Da würde man sehen, wie man miteinander auskommen konnte, wenn man ganz aufeinander angewiesen war.

»Tessa ist manchmal verdammt nüchtern«, sagte Dolly zu ihrem Mann. »Ihr seid euch überhaupt nicht ähnlich.«

»Kann ich was dafür? Sag das unseren Eltern«, erwiderte er lächelnd. »Aber ich meine, daß sie so reserviert ist, weil Henning so viel Geld hat. Ich bin überzeugt, daß sie ihn liebt, aber sie kann es nicht so zeigen.«

»Wie sie aussieht, könnte sie an jedem Finger zehn haben, die auch viel Geld haben«, meinte Dolly.

»Du verkennst sie, wenn du sie als materiell eingestellt bezeichnen willst.«

»Will ich ja gar nicht. Ich mag Tessa, aber ich finde es halt schöner, wenn ein Liebespaar auch mal schmust.«

»Tessa liegt das nicht. In unserer Familie wurde nicht geschmust.«

»Da bin ich aber doppelt froh, daß du es dennoch kannst«, sagte Dolly neckend. Ihre rehbraunen Augen blitzten schelmisch.

»Bei dir kann man ja gar nicht anders, Schatzilein«, sagte er zärtlich. Und danach war die Reise vorerst mal wieder zur Nebensache geworden. Sie waren seit acht Monaten verheiratet. Drei Monate zuvor hatten sie sich erst kennengelernt, aber sie hatten nicht lange zu überlegen brauchen. Die Ehe war für sie kein Abenteuer, für sie war sie die Erfüllung.

Tessa und Henning kannten sich schon zwei Jahre. Verlobt hatten sie sich erst vor zwei Monaten, an Tessas dreiundzwanzigstem Geburtstag, und mit dem Heiraten wollten sie, nach Tessas Wunsch, auch noch einige Monate warten.

»Mal abwarten, wie wir auskommen, wenn wir Tag für Tag beisammen sind«, hatte Tessa gesagt, als sie die Reise planten.

»Es könnte unsere Hochzeitsreise werden«, hatte Henning gesagt.

»Die machen wir ohne Anhang«, war Tessas Erwiderung darauf gewesen.

Henning widersprach ihr nie. Dolly meinte, daß er ihr mal die Zähne zeigen müsse, aber da redete sie gegen den Wind. Henning Horn liebte Tessa. Er war bereit, alles für sie zu tun, er wollte nichts wagen, wodurch er sie verlieren könnte.

Dolly und Jochen waren mit ihrem zukünftigen Schwager mehr als einverstanden. Sie hatten nichts an ihm auszusetzen. Sie ärgerten sich nur manchmal über Tessas kühl erscheinendes Wesen, und als sich bei ihr die Impfung recht drastisch auswirkte, hatten sie schon gefürchtet, daß sie dazu beigetragen haben könnte, um sich vor der gemeinsamen Reise zu drücken. Doch dann war Tessa niedergeschlagen gewesen, war mehrmals zu Dr. Norden gelaufen und hatte gesagt, daß sie unter allen Umständen mitfahren wolle.

Nun stand dem nichts mehr im Wege. Übermorgen konnte es losgehen. Sie fuhren nicht mit einer Reisegesellschaft, denn sie wollten ungebunden sein und auf eigene Faust ihre Exkursionen unternehmen. Sie wollten auch Freunde von den Kermers besuchen, die in der Nähe von Nairobi lebten, und außerdem wollten sie Studien betreiben. Sie freuten sich darauf, auch Tessa. Als Henning sie danach fragte und sie erwiderte, daß sie nun schon voller Erwartung sei, leuchteten seine warmen Grauaugen glücklich auf.

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Fee Norden sah ihren Mann verblüfft an, als er sie fragte, wohin sie denn in Urlaub fahren wolle.

»Urlaub? Wann machst du mal richtig Urlaub?« fragte sie.

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Wie wäre es mit Afrika oder mit Bali, oder mit einer Weltreise?« fragte er neckend.

Fee lachte auf. »Bist du noch zu retten, Schatz? Wo bleiben die Kinder?«

Genau diese Antwort hatte er erwartet. Und Fee sagte auch sogleich: »Das war ja sicher nur eine Scherzfrage. Jetzt ist wohl die Impferei wieder im Gange?«

»Erraten, Feelein.«

»Und du bekommst Fernweh?«

»Nein, ich nicht, aber dir steht vielleicht doch der Sinn nach fernen, exotischen Ländern.«

»Nein, danke, solche Ambitionen habe ich nicht, aber wenn wir uns mal ein paar Wochen an einen Platz begeben könnten, wo du dich richtig ausruhen kannst, wo es kein Telefon gibt und uns keine Post erreichen kann, würde ich nicht nein sagen.«

»Und was würden Paps und Anne dazu sagen?« fragte er.

»Paps und Anne sollten auch mal einen Urlaub allein machen«, lenkte Fee ab.

»Sag es ihnen, und du wirst zur Antwort bekommen, daß sie auf der Insel das ganze Jahr Urlaub haben.«

»Was ja nun wirklich nicht stimmt, bei dem Trubel, der dort dauernd herrscht. Zugegeben, daß Toni und Linda wirklich eine Entlastung für Anne sind, aber es bleibt immer noch genug an ihr hängen und erst recht an Paps.« Sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Ich hätte nicht gedacht, daß Linda es so lange dort aushalten würde.«

Linda war ein Kapitel für sich, das die Nordens lange genug beschäftigt hatte. Die verwöhnte, exaltierte Tochter des Fabrikanten Ringeis hatte durch eine harte Schule gehen müssen, bis sie zu einem sinnvollen Leben gefunden hatte.

»Linda scheint sich aber sehr wohlzufühlen«, meinte Daniel. »Übrigens will auch Frau Ringeis ein paar Wochen auf der Insel verbringen. Sie hat heute ganz schüchtern bei mir angefragt, ob das möglich sei.«

»Schüchtern?« fragte Fee staunend. »Sie wird doch nicht auch noch vernünftig werden?«

»Es hat den Anschein, und für den geplagten Herrn Ringeis würde es mich freuen.«

»Aber ob das gutgeht, wenn sie Toni dort trifft?« fragte Fee.

»Sie weiß, daß sie Toni treffen wird, und sie weiß auch, daß Linda deshalb Toni keineswegs die Freundschaft kündigen wird. Und schließlich hat Toni doch eine beträchtliche Rolle im Leben ihres Sohnes gespielt und ihm die Stange gehalten.«

Ja, die Geschichte mit Lutz Ringeis, der nun schon ein paar Monate begraben war, war noch nicht vergessen. Einige Unverbesserliche konnten es nicht lassen, in der Vergangenheit zu wühlen. Benno Ringeis suchte Vergessen in seiner Arbeit, aber seine Frau Vera litt unter dem Gerede, das manchmal sehr taktlose Formen annahm, wenn sie sich irgendwo in der Öffentlichkeit zeigte. Für die früher so oberflächliche Frau, die ihre Lebensaufgabe nur darin gesehen hatte, rauschende Parties zu geben und für ihre Tochter einen reichen Mann zu suchen, hatte sich das Leben sehr verändert. Sie mußte viele Abstriche machen. Parties wurden im Hause Ringeis nicht mehr gefeiert. Der Tod des Sohnes Lutz, der aus Leichtsinn und mancherlei unerfindlichen Komplexen heraus manchen Schaden angerichtet hatte, war nicht der einzige Grund. Auch in Zukunft sollte sich nach Benno Ringeis’ Willen ihr Leben in bescheidenen Bahnen gestalten. Gerüchte waren laut geworden, daß er sich scheiden lassen wolle, doch daran dachte er nicht. Irgendwie mußte wenigstens seine Ehe weitergehen, die schon seit fünfundzwanzig Jahren bestand. War er auch verbittert, so zeigte er sich doch bereit, eine versöhnungsbereite Gemeinsamkeit zu suchen, nicht zuletzt wegen Linda, die ihren Läuterungsprozeß erstaunlich gut durchstand. Benno Ringeis war richtig stolz auf seine Tochter, die sich auf der Insel der Hoffnung viel Sympathie erworben hatte und gar nicht daran dachte, Toni, die früher Hausmädchen bei ihnen gewesen war, die kalte Schulter zu zeigen.

Toni dachte noch immer voller Liebe und Trauer an Lutz. Seine Verfehlungen hatten daran nichts geändert. Sie hatte sogar verstanden, in Linda Verständnis für den Bruder zu wecken, der viel Kummer über die Familie gebracht hatte.

Das einfache Mädchen vom Lande und die verwöhnte Fabrikantentochter waren Freundinnen geworden. Vera Ringeis gewöhnte sich an den Gedanken, und besonders deshalb brachte Dr. Norden ihr jetzt mehr Verständnis entgegen, als dies früher der Fall gewesen war, was ihm allerdings nicht mal seine Frau hatte verdenken können.

Vera Ringeis hatte sich in maßloser Arroganz über alle und jeden mokiert und sich selbst für unfehlbar gehalten. Daniel Norden hatte sie mal sehr hart ein klatschsüchtiges Weib genannt, das an maßloser Selbstüberschätzung ersticken würde. Aber sie hatte in den vergangenen Monaten viel einstecken müssen.

Waren die anderen, die in diese böse Affäre verstrickt gewesen waren, jetzt auch vollends glücklich und ohne Groll, in Vera Ringeis fraß solcher noch immer, wennschon sie sich hütete, ihn laut werden zu lassen.

Dr. Norden war ihr Arzt. Er mußte sich mit ihr befassen. Er wollte ihr auch helfen, da er wußte, daß sie guten Willens war, sich helfen zu lassen.

Vera Ringeis würde also am Anfang nächster Woche zur Insel der Hoffnung fahren. Und Fee Norden wünschte sich einen ruhigen Urlaub mit ihrem Mann und ihren Kindern. So gern auch sie auf der Insel der Hoffnung weilte, sie konnte dort noch nie ganz für sich sein.

»Wie wäre es denn mal mit der Ostsee?« fragte sie ihren Mann. »Da droben hatten sie die letzten Jahre einen viel schöneren Sommer als wir.«

»Wenn wir losfahren, dann ist dort bestimmt auch gleich schlechtes Wetter«, meinte Daniel.

»Hab’ Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit, ob der Himmel voller Wolken und die Erde voller Leid«, sagte Fee.

»Das sind kluge Sprüche, mein Schatz, aber für den Urlaub wünsche ich mir keine Stürme, keinen Schnee und kein Leid, nur ein paar Wolken werden in Kauf genommen.«

»Und ich würde mich schrecklich ärgern, wenn hier bei uns schönes Wetter ist und wir im Regen sitzen dort oben. Wie wäre es denn mal mit Niederbayern? Da gibt es so schöne, warme Quellen. Und weit ist es auch nicht, wenn es uns nicht gefällt, sind wir gleich wieder zu Hause.«

»Was habe ich doch für eine praktisch denkende Frau«, lachte Daniel. »Aber es wäre zu überlegen. Nach Lonis Wahlspruch, daß man nicht in die Ferne schweifen solle, wenn das Gute so nahe liegt.«

»Und wenn man gar nicht lange zu fahren braucht«, warf Fee ein. »Lenni und Loni kommen auch mit, und wir sind rundherum zufrieden.«

»Du bist umwerfend, Fee. Wann habe ich dir das eigentlich zum letzten Mal gesagt?«

»Vorgestern, als ich die frische Ente gemacht habe, die dir so gut geschmeckt hat«, erwiderte sie lächelnd.

»Sie war köstlich.«