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Björn Schmidt

Das Leben ist ein Fußballspiel

Dem 1. FC Kaiserslautern verfallen

verlag die werkstatt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

2. Auflage 2009

Copyright © 2008 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-89533-664-1

Inhalt

PrologWarum zum Teufel Kaiserslautern?

I.Fanatikergene?

II.Annäherung an den Betze

III.Mein Stadiondebüt 1987

IV.„Das ist der Betzenberg!“ – Rettung 1988

V.Leidenschaft fürs Mittelmaß

VI.Gerry Ehrmann – ein Freund verfällt dem Teufel

VII.Sommer 1989 – Transfers, Tennis, Tanzversuche

VIII.Zur Hölle mit dem Roggensack

IX.Frühlingserwachen mit Faust und Feldkamp

X.1990/91 – Block 8, Bökelberg und eine Welt, die auf den Kopf fällt

XI.Barcelona und der Fluch der satten Tage

XII.Festgefroren in der Spitzengruppe

XIII.Die Rückkehr der Gedanken

XIV.Der 18. Mai 1996 und die Frage nach der Schuld

XV.„Zehnmal nach Meppen!“ – die zweite Liga

XVI.Alles, was passieren kann, kann passieren – oder: „Mir senn Meischder!“

XVII.Millennium ohne Nachspielzeit

XVIII.Sitzplätze

XIX.Zurück in der Westkurve – Kämpfen und Siegen!

XX.Fritz Walters Erbe

EpilogDer Ball rollt weiter

 Über den Autor

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Prolog

Warum zum Teufel Kaiserslautern?

Manche Leute, die mich kennen, meinen, Fußball passe nicht zu mir. Mir ist nicht klar, ob diese Fehleinschätzung eher darin begründet ist, dass diese Leute die dunklen Seiten meiner unerhört feinsinnigen und schöngeistigen Persönlichkeit nicht wahrnehmen wollen, oder ob sie einfach nur keine Ahnung von Fußball haben.

Ich meine nicht unbedingt von Fußball als Sport, denn der Sport, der sich Fußball nennt, und die Philosophie, die Religion, der Mythos – das sind nicht unbedingt Dinge, die viel miteinander zu tun haben, wenngleich sie einander nicht zwangsläufig ausschließen. Wer beispielsweise den Fernseher einschaltet, um ein gutes Spiel zu sehen oder aus ähnlich zweifelhaften Gründen sogar ins Stadion pilgert und 40 Euro für seinen Sitzplatz hinlegt, nur um das Aufeinanderprallen zweier taktischer Systeme zu analysieren, dem kann man durchaus ein aufrichtiges Interesse am Fußballsport unterstellen. Aber ob er nur einen Funken an echtem Verständnis für die Wucht der emotionalen Wogen, für die Schwingungen des Schicksals aufbringt, die damit einhergehen? Manch einem dieser Fußballfachleute bleibt das Wesen des Spiels für immer verborgen, was hier ohne Mitleid zu konstatieren ist, denn es muss nicht unbedingt von Vorteil sein, sich dem Wesen einer Sache von Angesicht zu Angesicht zu nähern.

Die Menschen jedenfalls, die den „groben“ Fußball nicht mit meinem „filigranen“ Wesen zusammenbringen möchten, gehören wohl weniger zu diesen sportinteressierten Systemanalytikern als vielmehr zu den Menschen, die in Quizshows mit einem Hauch von bildungsbürgerlichem Stolz in der Stimme zugeben, dass sie vor der Fußballfrage am meisten Angst hätten. Sie halten mich, sofern ich mir Mühe gegeben habe, in der Regel für einfühlsam und sensibel und den Fußball für das Opium derjenigen sozialen Schicht, die weder die Rechtschreibung beherrscht noch arbeitet noch in ganzen Sätzen kommuniziert. Dass der Fußball in den letzten Jahren gesellschaftsfähig geworden ist – man mag es mit einer allgemeinen Dekadenz abtun –, hat dazu geführt, dass auch solche Exemplare sich mal in ein Stadion verirren, aber nur selten an diejenigen Stellen in der Arena, in denen man der Wahrheit am nächsten kommt, in die Fankurven nämlich.

Bevor es hier zu soziologisch wird, sollte ich mit der Wahrheit herausrücken: Ich bin, seit ich denken kann, für Kaiserslautern! Dieses Outing mag nicht nur die Intellektuellen irritieren, es macht einem auch in Fußballerkreisen nicht unbedingt Freunde. Interessanterweise gelten nämlich gerade die FCK-Fans als ausgesprochen dumm. Erklären könnte man dies entweder mit der Theorie, dass die Anhänger der Roten Teufel wirklich dümmer sind als die von Mönchengladbach, Dortmund oder Bayern München. Oder aber die Meinung resultiert aus dem verbreiteten Muster, dass Menschen ihr Selbstbewusstsein häufig aus der Anzahl der Mitmenschen beziehen, die mit ihnen dieselbe Stadt bevölkern – Kaiserslautern hat davon relativ wenig, und um Kaiserslautern herum wächst der Pfälzerwald. Dass der von Wald- und Weinbauern abstammende „Provinzpöbel“ in seinem stumpfsinnigen, von Dorfkneipe und Ackerfurche geprägten Alltag nichts anderes im Sinn haben könne als pausenlos über „Betze“ und „Westkurve“ zu debattieren (wenn er nicht gerade abgelenkt ist, weil er Fußball schaut oder sich kurzfristig seinen inzestuösen Neigungen hingibt), liegt für die Anhänger der Großstadtklubs auf der Hand. Es nährt in ihnen das wohltuende Bewusstsein, dass es anderswo andere gibt, deren ödes Leben noch weniger wert sein muss als das eigene.

Warum also gerade Kaiserslautern? Wäre ich in der Lage, darauf eine ernstzunehmende Antwort zu geben, wäre ich kein Fußballfan. Freilich könnte ich vorbringen, dass meine Mutter aus einem Vorort von Kaiserslautern stammt, dass ich also den Betzenberg mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Aber erstens wurde ich, sofern ich den Berichten glauben darf, nicht gestillt, und zweitens ließ sich meine Mutter zu keiner Sekunde ihres Lebens auch nur das geringste Interesse an Fußball anmerken. Bestenfalls hat mir diese Verwandtschaftslinie mit ihren pfälzischen Familienfesten ein Gespür dafür gegeben, wie präsent der 1. FC Kaiserslautern in seinem Umland ist und was er für die Menschen in dieser Gegend bedeutet. Ein Mannschaftsfoto von Briegel & Co. hing in beinahe jeder Gaststätte, huldvoll den Trinker an der Theke bewachend und an den über der Stadt pulsierenden Tempel der ländlichen Leidenschaften erinnernd. Auch habe ich durch meine mütterliche Verwandtschaft den hiesigen Dialekt kennen und lieben gelernt, was mir später in der Westkurve sofort ein Gefühl des Heimischseins vermitteln sollte. Über meinen Vater, einen geschichtskundigen Hunsrücker, lässt sich der Fanatismus, dem ich in manchen Lebensphasen ohne jegliches Gegenkonzept ausgeliefert war, ebenfalls nicht erklären. Ich bin mir zwar sicher, dass in ihm einmal ein großer Kaiserslautern-Fan steckte, doch wusste er es meistens hinter Kriterien der Fairness und des Anstands zu verbergen – sehen wir einmal von seiner Reaktion beim Pokalfinale 1990 ab, als er nach dem 3:0 von Stefan Kuntz die Arme spontan nach oben riss und sich dabei an einem hölzernen Hängeregal verletzte. (Ähnlich emotional erlebte ich ihn – im negativen Sinne – nur nach der Spuckattacke Frank Rijkaards gegen Rudi Völler im WM-Achtelfinale des gleichen Jahres.) Immerhin war es mein Vater, der mich, ohne dass ich ihn danach gedrängt oder auch nur einmal zaghaft danach gefragt hatte, zum ersten Mal mit ins Stadion nahm. Doch auch dies konnte kaum der Anstoß zu meiner rot-weißen Besessenheit gewesen sein, im Gegenteil, das Erlebnis war eher negativ, vermochte aber das Kind, das bereits Jahre zuvor in den Brunnen gefallen war, nicht mehr zu retten.

Zuletzt sei gesagt, dass ich auch nicht Kaiserslautern-Fan wurde, weil es „in“ gewesen wäre („in“ waren Bayern, Hamburg und Mönchengladbach) oder weil die Mannschaft Titel in Serie gewann – genau genommen gewann sie in den frühesten Fragmenten meiner Erinnerung überhaupt keine Titel, spielte aber relativ erfolgreich.

Was ich als Kleinkind fußballerisch dachte und fühlte, weiß ich nicht mehr genau. Angeblich soll ich bereits sehr früh die Worte „Foul“ und „Elfmeter“ gekonnt haben und auf das von mir selbst gesprochene Kommando „Auf die Betze, fertig, plus“ losgerannt sein, aber was Leistungssport betrifft, so stand ich in dieser infantilen Phase bestenfalls auf Formel 1 im Allgemeinen und Niki Lauda im Besonderen. (Formel 1 interessiert mich heute übrigens gar nicht mehr.) Auch den Kindergarten bringe ich heute nicht mehr mit Fußball in Verbindung, obwohl ich andererseits nicht ausschließen kann, damals bereits eine erste zarte Bande zu Kaiserslautern geknüpft zu haben.

Spekulationen tragen aber nicht zur Wahrheitsfindung bei, und da die Kindergartenphase in meinem Leben eines der dunkleren Kapitel darstellt, möchte ich darüber kein Wort mehr verlieren. Höchstens noch, dass wir im Theater „Schneeweißchen und Rosenrot“ sahen und dass wir zur Hochzeit unserer Kindergartenleiterin mit dem Bus fuhren und dort jeder eine Tafel Alpia-Schokolade geschenkt bekam. Zum Glück konnte ich Vollmilchschokolade essen, denn ich war ein äußerst sensibler Esser, schaffte erst mit zwanzig meine erste Banane und habe bis heute keine Gummibärchen, Bonbons oder Kaugummis angerührt. Außerdem schwänzte ich in jedem Jahr aus Ekel vor Kriegsbemalung und panischer Angst vor Platzpatronengeballer die Kindergartenfastnacht, wobei doch Relikte dieser Verhaltensweisen auch in der Fankultur anzutreffen sind. Vielleicht stören sie mich in Fankreisen deshalb weniger, weil sie hier keine pseudolustige Farce sind, sondern den Ernst der Angelegenheit – und Fußball ist eine ernste Angelegenheit – aufs Deutlichste unterstreichen.

Definitiv erinnern kann ich mich allerdings daran, spätestens im ersten Schuljahr ein glühender FCK-Fan gewesen zu sein. Alle anderen waren Mädchen oder für Bayern, Hamburg oder Gladbach. Oder sie waren tatsächlich Mädchen, die auf anbiedernde Weise für Bayern, Hamburg oder Gladbach waren, aber ich rannte in meinem roten T-Shirt mit dem wunderbar vollkommenen Emblem, das aus der kreisförmigen Anordnung der breitflächigen, weißen Zeichen 1, F, C und K bestand, im Sportunterricht herum und war stolz darauf.

Am Ende dieser Saison 1980/81 erreichte der 1. FCK das DFB-Pokalfinale, und dies ist nach dem Europameistertitel Deutschlands ein Jahr zuvor eine der ersten bewussten Fußballerinnerungen, die ich in meinem „unsinnigen“ Fundus abgespeichert habe. Bereits Tage vor dem Spiel war mein – durch wen auch immer – geschürtes Fieber nicht mehr zu bändigen. Das Warten überbrückte ich damit, dass ich auf einer Fläche von etwa vier Quadratmetern, das war der Teppichboden zwischen Wohnzimmertür und Balkontür, mit einem blauen Luftballon am Fuß die Finalpartie Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserslautern simulierte. Dabei schoss ich Tore für beide Parteien, kommentierte dies, wie ich es aus Fernsehen und Radio aufgeschnappt hatte, mit den Nachnamen der Spieler, wobei mir Hölzenbein, Cha Bum und Pezzey genau so geläufig waren wie Hellström, Bongartz oder Funkel, und achtete – als wäre es Zufall – stets darauf, dass meine Mannschaft am Ende ein Tor mehr auf ihrem Konto hatte. Warum war mir als Siebenjähriger ein Fußballspiel so wichtig? Warum „verschwendete“ ich bereits als ABC-Schütze so unendlich viel Lebenszeit und Energie mit dem Herunterbeten von Mannschaftsaufstellungen und der Konzentration auf Ereignisse, in denen nicht ich, sondern eine Schar hochbezahlter austrainierter Erwachsener konzentriert sein sollte? Waren sie meine eigenen Schachfiguren, die ich in jeder Sekunde der Partie im Auge behalten musste, um sie zum Sieg zu führen? Meine Schachkünste müssen zur damaligen Zeit noch sehr ausbaufähig gewesen sein, denn Eintracht Frankfurt gewann das Pokalfinale in einer einseitigen Begegnung mit 3:1. Besonders kurios daran war die Tatsache, dass ich nur die ersten 15 Minuten des Spiels verfolgen konnte, bis meine Mutter mir sagte, es sei nun Zeit für den Kindergottesdienst, und ich ohne ernstzunehmendes Aufbegehren das Schlachtfeld verließ, um zum Tisch des Herrn zu ziehen.

Grundsätzlich ging ich gerne in den Kindergottesdienst unserer kleinen evangelischen Gemeinde in einem katholisch dominierten Dorf an der oberen Nahe, wo man uns in vertrauter Runde Geschichten über Jesus erzählte, aus denen man lernen konnte, dass nicht immer das, was die Mehrheit für richtig hielt, auch das Richtige sein musste. Aber konnte man nicht einmal wegen eines Endspieles – und der FCK war beileibe kein Verein, der alle Tage in einem Endspiel stand, was ich freilich als Siebenjähriger noch nicht in seiner Tragweite erfasst haben konnte – auf solche Jesusgeschichten verzichten? Oder war gerade hier der pädagogisch neuralgische Punkt, an dem man seinem Sprössling zeigen musste, dass es Wichtigeres gab als Fernsehfußball? Ewige Wahrheiten gegen schnelllebiges Tagesgeschäft? Interessant allemal ist aus heutiger Sicht (ich bin mittlerweile selbst Vater und kenne viele Eltern, die bereits Zweijährige permanent fragen, ob sie nun diese oder jene Lebensannehmlichkeit lieber hätten) die Tatsache, dass es überhaupt nicht zur Debatte stand, mich zu fragen, ob ich nun lieber in den Kindergottesdienst gehen oder doch lieber das unendlich wichtige, weltbewegende Pokalfinale 1981 zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Kaiserslautern weiterverfolgen wollte. Meine Mutter, die selbst den Kindergottesdienst leitete, kann ich nicht mehr fragen, warum sie damals kein Auge zudrückte, denn für sie gibt es natürlich überhaupt keinen Grund, sich an den Tag des Pokalfinales, den 2. Mai 1981, noch erinnern zu können. Vielleicht hat sie selbst damals nur gesehen, dass Vater und Sohn gelangweilt auf der Couch sitzend die Wartezeit bis zum Kindergottesdienstbeginn überbrückten. Kann sein, dass da noch irgendeine Sportübertragung lief …

I.

Fanatikergene?

Dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, dass ich zur Heldenverehrung neigte, hätte jeder psychologisch gewiefte Beobachter bereits in den frühen achtziger Jahren erkennen müssen. Meine Leidenschaften waren damals zweigeteilt: Im Winter favorisierte ich den nordischen Skisport, dabei insbesondere die finnischen Athleten und allen voran den Skispringer Matti Nykänen (einen labilen Alkoholiker, der heute mehrfach geschieden und vorbestraft ist, damals aber mit einer Leichtigkeit ins Tal segelte, die nur in seinem blassen Gesicht und dem unendlich langen Kontrollieren des richtigen Sitzes von Skibrille und Bindung ihre Ursache haben konnte) und den Rest des Jahres natürlich meine Roten Teufel vom Betzenberg.

Gewiss kann man auch eine Sache oder eine Person favorisieren, ohne ihr gleich mit Haut und Haaren zu verfallen. So soll es zum Beispiel Menschen geben, die einen bestimmten Künstler gerne sehen oder eine bestimmte Art von Romanen mögen – würden diese Menschen aber morgens mit hämmerndem Herzen den Kulturteil ihrer Tageszeitung aufschlagen, um sich in panischer Selbstvergessenheit den neuesten Verrissen der Werke ihres Lieblingsautors auszusetzen? Und würden diese Menschen erleichtert aufatmen, wenn das Urteil milde ausgefallen war? Ich für meinen Teil schlug immer, ohne Ausnahme immer, zuerst den Sportteil auf, und es erfüllte mich bereits am frühen Morgen mit wohliger Beruhigung, wenn in den am unteren Rande stehenden, klein gedruckten Ergebnislisten ein Weltcup-Sieg Matti Nykänens aus Übersee gemeldet wurde. (Wo war Übersee?) Trotz des enormen Potenzials dieses Skispringers waren seine Siege nämlich niemals Selbstverständlichkeit, denn Matti Nykänen gehörte zu denjenigen Menschen, denen man gerne nachsagte, sie pendelten zwischen Genie und Wahnsinn. Wenn Matti Nykänen also auch in seinen guten Jahren eine Dominanz wie im Fußball Bayern München an den Tag legen konnte, so hatte er doch mit dem „Mir sann mir“ der Bayern wenig gemein. Was ich nicht sage, um Bayern München aufzuwerten – nichts läge mir ferner –, sondern um meine Art der Zuneigung zum 1. FC Kaiserslautern zumindest versuchsweise zu charakterisieren. Hier wie da konnte man nie wissen, woran man war: Es gab unendlich weite Flüge mit Telemark-Landung, wo kein anderer noch hätte stehen können, es gab begeisternde Fußballfeste unter Flutlicht, aber auch Notlandungen bei 80 Metern und trübe 0:5-Klatschen an Novembernachmittagen. All dies ließ ich als des Zeitungslesens mächtiges Schulkind am frühen Morgen noch einmal auf der Toilette Revue passieren, denn die Toilette war der Ort in meinem Elternhaus, an dem das abonnierte Regionalblatt seinen festen Platz hatte, ein Ort, der in etwa auch seinem journalistischen Niveau gerecht wurde. Hier verschlang ich noch vor dem ersten Schluck Kakao des Morgens Randnotizen über Wintertrainingslager, UEFA-Cup-Ergebnisse und Analysen der Wochenendspiele, und es hat sich manche Schlagzeile („Mit Briegel war der Bann gebrochen“ nach einem 4:0-Rückspiel-Sieg über Spartak Moskau 1981 oder „Beim 2:1 klatschten auch Kölner Zuschauer“ als Kommentar zu einer besonders originellen Freistoßvariante mit Torabschluss von Axel Roos aus der Überraschungssaison 1986/87) in mein junges Gehirn eingebrannt und nicht mehr den Weg nach draußen gefunden.

Dass ich schon früh die Anlagen eines Fanatikers in mir trug, wird mir heute bewusst, wenn ich kleine Begebenheiten, denen ich als Kind keine weitere Beachtung schenkte, vor dem Hintergrund der Erfahrungen betrachte, die ich mit mir selbst im Laufe der Jahre gesammelt habe.

Ich denke zum Beispiel an unser Fußball-Dorfturnier mit dem Namen „Kick mal wieder“, ein Name, der nicht ansatzweise die Verbissenheit wiedergibt, mit der in den Gruppen „Mit Aktiven“ und „Ohne aktive Spieler“ um Ruhm und Ehre gekämpft wurde. Bis die Sonne am späten Frühsommerabend hinter den Waldhügeln verschwand, war das halbe Dorf auf den Beinen, stand seriös den Bauch hervorstreckend am Bierpilz oder lümmelte sich auf und um die vereinzelt postierten Klappgarnituren herum. Für uns Grundschulbuben waren diese Tage in mehrfacher Weise berauschend. Zum einen wegen des quasi legitimierten verlängerten Aufbleibens und der fiebrigen Aktivität, die in unserem Provinznest sonst nur selten zu verspüren war, zum anderen wegen der erfreulichen Tatsache, dass die Tore unseres Kleinspielfeldes an diesen Tagen Netze bekamen, so dass wir in den Spielpausen unseren Vorbildern nacheifern konnten, ohne nach jedem erfolgreichen Abschluss den Ball im entfernten Gebüsch suchen gehen zu müssen. Dazu machten frisch gekalkte Seitenlinien unser Glück perfekt.

Nun begab es sich, dass auch mein fast sieben Jahre älterer Bruder eine Hobbymannschaft gegründet hatte, die unter dem nicht unoriginellen Namen „Flamenco Scheißegal“ an den Wettkämpfen teilnahm. Die Mannschaft trug blau-grüne Trikots (mit Trikotwerbung!), kämpfte leidlich, hatte mit der Pokalvergabe wenig zu tun, dafür aber einen Fan: mich. Was an meinem Verhalten fan-artig (besser: fanatisch) war, stand im Widerspruch zu meiner sonstigen zurückhaltenden, in Gesellschaft geradezu schüchternen Persönlichkeit, die es mir auch heute noch schwermacht, in Runden von mehr als fünf oder sechs Leuten, selbst wenn sie mir bekannt sind, das Wort zu ergreifen. Als Fan von Flamenco Scheißegal jedoch ergriff ich das Wort vor Hunderten von Leuten, feuerte lautstark an, schrie, als könnte ich dadurch den Ball ins Tor tragen, und beschimpfte den Gegner mit unflätigsten Worten, so dass mein Vater mich aus Pein über seinen augenscheinlich außer Kontrolle geratenen Sohn zur Raison rufen musste.

Das Bemerkenswerte an der Sache war nicht die Tatsache, dass ich mein Verhalten für die Minuten eines kurzen Fußballspieles geändert hatte, sondern dass mir diese Verhaltensänderung in keiner Weise bewusst war. Zu vertieft war ich in mein Vorhaben, Flamenco Scheißegal zum Sieg zu verhelfen. Und wenn ich dafür robuste Erwachsene, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, als ein falsches Trikot zu tragen, als „Arschlöcher“ titulieren musste, dann diente dies der guten Sache und konnte nicht falsch sein. Mir war nicht klar, dass ich mich in der beschaulichen Idylle eines kleinen Dorfsportplatzes vom Drittklässer in einen Besessenen verwandelt hatte, der tat, was Menschen zu Tausenden in der Anonymität eines Stadions zu tun pflegen: alles um zu siegen. Ich brauchte dazu kein Stadion, ich wusste nur, dass mein Team nicht als Verlierer vom Platz gehen durfte.

Wer dies so genau weiß und empfindet, wie ich es damals tat, der ist ein Fan, und es macht überhaupt keinen Unterschied, ob er im Stadion steht oder sitzt, den Fernseher oder das Radio anbetet, in Videotexttafeln versinkt oder sich in den Momenten des Spieles bewusst mit etwas anderem beschäftigt, ohne jedoch auch nur für Sekunden vergessen zu können, was zur gleichen Zeit Kilometer entfernt im Stadion seiner Auserwählten vonstatten geht.

Die Anspannung, die mich in der Rolle des Zuschauers überkommen hatte, der unbedingte, auch im zermürbenden Sog der Niederlage noch anhaltende Siegeswille, war mir in meinem eigenen sportlichen Tun und Lassen (und bis heute auch in den meisten anderen Bereichen meines Lebens) eher unbekannt. Zwar trat ich bei meinen eigenen Dorfturnierteilnahmen mit den Mannschaften „FC Batsch“ als Zehnjähriger und „Paradoxical Paratroopers“ als junger Erwachsener durchaus in der Absicht an zu gewinnen, doch unterlag mein Kampfeswille in diesen Situationen meist meinem Spieltrieb und der Freude am Umgang mit dem runden Leder, so dass meine persönliche fußballerische Leistung in der Regel als technisch sauber, jedoch zu lasch beurteilt wurde. Gewiss wäre ich keiner gewesen, der die Westkurve im Angesicht des drohenden Untergangs mit einer aggressiven Grätsche aus ihrer Lethargie gerissen hätte. Eher wäre es mir vielleicht gelungen, einen wichtigen Elfmeter zu versenken, doch diese Fähigkeiten waren in unserer Jugendliga, in der die Spiele häufig einen einseitigen Verlauf nahmen, weniger gefragt. So führte ich meine Kämpfe (sollte ich besser sagen: Kriege?) auf abstrakterer Ebene durch, spielte im gelben Trikot meines Heimatvereines meinen samstäglichen Stiefel herunter, war in Gedanken aber bei den Rot-Weißen, deren Tabellenfahrt ich bangen Herzens verfolgte und minutiös dokumentierte.

Diese zweite, etwas bewusstere Stufe des Fanseins hatte ich mit etwa elf, zwölf Jahren erreicht. Zuvor waren meine Samstage noch spielerischer verlaufen. Ich wusste zwar um die Anstoßzeiten der Bundesliga und hörte ab und an auch in die damals von Journalisten wie Dieter Pudenz und Carl Rudolf Menke moderierte Radiosendung SWF 3 Sportreport („vom Betzenberg berichtet Volker Kottkamp“) hinein, viel zu oft verpasste ich allerdings durch Spiel mit Freunden und den obligatorischen Kindergottesdienst während der Schlusskonferenz die entscheidende Phase, die mir Ernst Huberty oder Fritz von Thurn und Taxis am Abend in der Sportschau nachlieferten. Meinem Vater verbot ich stets, mir das FCK-Ergebnis zu nennen, damit ich in meiner Illusion des Sieges nicht schon vor Ablauf des Zusammenschnitts beeinträchtigt wurde. Ein Gefühl, das gerade für einen Fan, der glaubt den Verlauf beeinflussen zu können, überlebenswichtig ist und meinen bis heute vorherrschenden Hang zu Live-Übertragungen erklärt. Bestenfalls ließ ich mich noch auf vage Andeutungen ein, dass im Kaiserslautern-Spiel die meisten Tore des Tages gefallen seien oder die meisten Platzverweise vorgekommen wären – dies waren keine Killerphrasen, denn sie ließen auch bei 0:3 zur Pause noch einen letzten Rest Hoffnung zu.

Was mir als Kind hingegen noch fremd war, war das permanente Kopfrechnen, das einem zur vollen Fanreife gelangten Menschen die Tage zwischen den Spielen zum Martyrium macht. Zwar wusste ich auch damals schon um die Tabellenplätze meines Vereins, doch ohne echtes Verständnis für die Bedeutung von Punkteabständen aufzubringen oder den Spielplan auswendig zu wissen, was ein Einschätzen des wirklichen Ernstes der Lage enorm vereinfacht hätte. Heute sind mir derartige Fakten rund um die Uhr präsent, und sie werden ganz gewiss zu den letzten Dingen gehören, die mir im natürlichen Zerfallsprozess meines Gehirnes einmal Probleme bereiten werden, vorausgesetzt natürlich, der Fußball und damit gleichgesetzt der 1. FC Kaiserslautern werden dann noch existieren, woran ich jedoch nicht ernstlich zweifeln möchte.

Der Schritt vom kindlichen zum erwachsenen Fan ist in meinem Fall in etwa gleichzusetzen mit der Zunahme der Zahl durch Fußball gebundener Gedanken und dem Anwachsen der Intensität, mit der ich mich der Analyse dieser Fakten gewidmet habe. Als Grundschulkind hatte es mir beispielsweise noch passieren können, dass ich während des samstäglichen Gekickes im Gleichaltrigenkreis per Zufall erfuhr, dass meine Roten Teufel ihr Spiel in Braunschweig bereits am Vorabend mit 1:0 gewonnen hatten. Heute von der Ansetzung einer Bundesliga-Begegnung des 1. FC Kaiserslautern nichts zu wissen, wäre schlicht und ergreifend undenkbar, was aber nicht heißt, die Siege und Niederlagen hätten mir früher weniger bedeutet.

Geschärft hat sich mit den Jahren lediglich mein Blick für Details, für statistische Belange etwa oder auch für die allgemeinen Zusammenhänge, innerhalb derer sich das von Bild- und Printmedien permanent begleitete Unternehmen „Profifußball“ tief in unseren Zeitgeist eingegraben hat. Und vor allem: Ich habe gelernt, wie es sich anfühlt, wenn mein subjektiver Wahnsinn mit dem von zigtausend anderen zusammenprallt und sich seinen kollektiven Ausbruch verschafft, der weniger mit der gewaltigen Masse selbst zu tun hat als mit der Gefühlswelt der Individuen, die diese bilden. Einfacher ausgedrückt: Irgendwann habe auch ich, der ich bis zum 13. Lebensjahr still und artig vor dem Radio mitgefiebert hatte, ein Fußballstadion betreten.

II.

Annäherung an den Betze

Der 1. FC Kaiserslautern meiner frühesten bewussten Erinnerungen war eine erfolgreiche Mannschaft, und beinahe schäme ich mich heute dafür, meine erste Liebe in solch guten Zeiten kennengelernt zu haben, was den bitteren Beigeschmack eines „Modefans“ aufkommen lässt, wie sie Bayern München, oder wer auch immer sonst gerade vorne ist, zu Hunderttausenden hat. Gottlob wurden die Zeiten nach dem ersten Abtritt Kalli Feldkamps bald schlechter, so dass ich gestählt durch die drei Jahre der nun folgenden Abstiegskämpfe den Silberstreif am Horizont, den die Saison 1986/87 mit sich brachte, schon zu schätzen wusste.

Es spielten außer Wolfram Wuttke, der charakterlich ein bisschen an Matti Nykänen erinnerte, keine Stars, doch die mittels leerer Vereinskassen rekrutierten Nobodys Harald Kohr und Sergio Allievi schlugen ein, und der junge Ex-Spieler Hannes Bongartz ließ seine noch viel jüngere Mannschaft zur Überraschung aller Experten erfrischenden Offensivfußball spielen.

In diesem Herbst 1986 deutete mein Vater an, am letzten Oktoberabend könne man ja einmal den umgebauten Betzenberg besuchen. Da gastiere Schalke 04, was in freitäglicher Flutlichtatmosphäre gewiss ganz reizvoll werden könne. Ich kann nicht sagen, dass mich diese Ankündigung in helle Aufregung versetzte. Meine Liebe zum Fußball spielte sich in erster Linie tief in mir drinnen ab und verlangte nicht nach dem lauten Getöse eines Stadions, von dem ich vermutete, genauso abgeschreckt zu werden wie von allem anderen, was laut war – seien es nun Sirenen, Platzpatronen oder bellende Hunde. Zudem wusste ich seit der Tragödie im Heysel-Stadion ein Jahr zuvor, dass der Besuch eines Stadions zur tödlichen Gefahr werden konnte, und den Tod wollte ich nicht herausfordern. Im Gegenteil war es mir schon in jungen Jahren ein Anliegen, mein Leben in größtmöglicher Sicherheit zu verbringen – Medienberichte über atomare Waffenarsenale und todbringende Seuchen beeinträchtigten mein Wohlbefinden bereits genug.

Warum wir an jenem Abend dann doch nicht ins Fritz-Walter-Stadion gezogen sind, weiß ich heute nicht mehr genau. Es lag jedenfalls nicht an diesen unausgesprochenen Ängsten meinerseits. Wohl eher an der Tatsache, dass mein Großvater, der in der Nähe von Kaiserslautern wohnte, an diesem Wochenende Geburtstag hatte.

Jedenfalls ärgerte ich mich anschließend, den 5:1-Triumph auf berstend vollem Betzenberg nicht live mitverfolgt zu haben. Alle fünf Tore hatte der Ex-Schalker Frank Hartmann geschossen, anscheinend besonders motiviert durch ein Transparent am Schalker Block mit der Aufschrift „Hartmann verrecke!“. Ich fragte mich damals, wie böse Fußballfans sein mussten, um solche Sprüche zu benutzen, und tröstete mich ein wenig mit dem halbherzigen Gedanken, dass wohl nur die Schalker Fans zu solchen Brutalitäten in der Lage waren. Gott sei Dank hatte ihnen Frank Hartmann das Maul gestopft und meinem reinen, guten, edlen FCK zum glorreichen Sieg über die Mächte der Finsternis verholfen.

Nach diesem Spiel nahm ich die gedrängt stehenden, fahnenschwenkenden Massen in der Fernsehberichterstattung ein wenig intensiver wahr als sonst, denn ich wusste, ein kleiner Punkt in dieser Menge hätte mein Kopf sein können.

Den nächsten Schritt zur Annäherung an den Betzenberg tat ich ein halbes Jahr später, als der 1. FCK im letzten Spiel der Saison den HSV empfing und mit einer sang- und klanglosen 0:4-Niederlage seine zwischenzeitlich überraschend gute UEFA-Cup-Chance verspielte. (Gut acht Jahre später sollte der damalige HSV-Keeper Uli Stein Bestechungsvorwürfe gegen Hannes Bongartz erheben, der vor jenem Spiel gefragt haben soll, was Uli für ein entscheidendes Gegentor verlangen würde.) Ich verfolgte die Begegnung bei meinen nur mäßig fußballinteressierten Großeltern am Radio, war enttäuscht und am Ende dennoch ein wenig stolz auf meine Mannschaft, die eine Saison, in die sie als Abstiegskandidat gestartet war, auf einem nie erwarteten siebten Rang beendet hatte.

Der 1. FC Kaiserslautern hatte mit seinen jungen, großteils aus der Region stammenden Spielern (z.B. Hans-Werner Moser, Axel Roos und Markus Schupp in den ersten Zügen ihrer Karriere) nach Jahren des Frustes wieder Massen ins Fritz-Walter-Stadion gelockt, und in den Medien war damals immer wieder von den „fantastischen Fans“ und dem „zwölften Mann“ die Rede. Das Publikum applaudierte denn auch nach der Niederlage gegen den HSV nicht zu knapp, was in der Öffentlichkeit besonders hervorgehoben wurde und mich nachhaltig faszinierte. Einen Tag später zeigten mir meine Großeltern den Betzenberg.

Meine Großeltern lebten, wie schon erwähnt, in der unmittelbaren Umgebung von Kaiserslautern und gehörten zu denjenigen Menschen, denen der große Fußball nicht viel bedeutete. Natürlich waren sie wie alle Kaiserslauterer geprägt vom 1. FCK, und natürlich waren sie auch stolz darauf, in der Fremde ihre Herkunft mit Hilfe des Fußballs erklären zu können. Doch abgesehen davon hatten sie nicht viel Sinn für die Mechanismen dieses Geschäftes.

Noch heute beneide ich Menschen, die von sich behaupten können, mit dem Fußball nicht viel am Hut zu haben, denn ich sehe darin, aus welchen Gründen auch immer, ein Zeichen von Charakterstärke. Zumindest bei meinen Großeltern sah ich es so. Sie entsprachen dem Bild der kleinen, braven Leute aus der Wirtschaftswunderzeit, taten ihre Arbeit, waren zufrieden mit dem, was sie hatten, wählten SPD (Großvater pflegte zu sagen, die SPD sei die einzige Partei gewesen, die sich nach dem Kriege nicht habe umbenennen müssen) und brachten sich in das gesellige Leben ihres Dorfes ein. Großmutter liebte es, in ihrer beschaulichen Umgebung selbst verfasste Gedichte vorzutragen, Bilder auszustellen, und schreckte gar vor dem Halten von Büttenreden nicht zurück. Eigentümlich an ihr war das augenscheinliche Fehlen jeglicher Selbstzweifel, gestärkt durch die ungebrochene Unterstützung ihres Mannes und gefestigt durch die Erfahrung, für ihr Tun allerorten gelobt worden zu sein. Fußballerisch formuliert war meine Großmutter ein talentiertes Eigengewächs, das nie den Heimatverein verließ und deswegen auch nie die Erfahrung machen musste, anderswo bei den großen Klubs nur noch eine von vielen zu sein. Andererseits schaffte sie durch ihr Verharren im Bekannten auch nie den ganz großen Durchbruch, sondern beschied sich mit den kleinen Freuden ihres kleinen Lebens. Ich denke, ich tue meinen Großeltern, die ich zeitlebens sehr mochte, nicht Unrecht, wenn ich behaupte, sie seien stolz darauf gewesen, nichts Besonderes zu sein.

Wie sehr muss sie allerdings der Kult befremdet haben, der gerade in ihrer ländlichen, normalen Welt, die sie so liebten, um den 1. FC Kaiserslautern mit seinen hochbezahlten Leistungssportlern betrieben wurde. Selbst im heimeligen „Pfälzerwaldverein“, einer Schar wandernder Senioren, gab es Mitglieder, die mit Inbrunst von ihren Erlebnissen in der „Weschtkurv“ erzählten – viel mehr als die Gemeinsamkeit des Wanderns teilten meine Großeltern mit diesen Bekanntschaften nicht. Dabei waren es für sie ja nicht nur die aktuellen Fußball-Millionäre, die den Blick für die Realität verloren hatten. Nein, auch Fritz Walter, der große alte Fritz – das Symbol für kameradschaftlichen Kaiserslauterer Kampfsport – habe, so erwähnte mein Großvater gern, als Jugendlicher nie gegrüßt. Genauso wenig sein Bruder Ottmar, obwohl es doch ihre Pflicht gewesen wäre, schließlich war Großvater Jahrgang 1915 und Fritz, der ältere Walter-Bruder, Jahrgang 1920. Und mit dessen gut gemeinten Fernsehauftritten ging Großvater ähnlich hart ins Gericht wie mit den Neujahrsansprachen Helmut Kohls: „Ach, Fritz …“

Trotzdem zeigten sie mir am Tag nach der 0:4-Heimpleite gegen den HSV den Betzenberg, dem man zwei Jahre zuvor den Namen Fritz-Walter-Stadion gegeben hatte, was damals, als hätte die Umbenennung einen Fluch ausgelöst, eine Serie von Heimpleiten nach sich gezogen hatte. Meine Großeltern zeigten mir den Betzenberg ohne äußeren Anlass, ohne mein Drängen und ohne dafür gelobt werden zu wollen. Großvater fuhr schlicht und einfach eine Runde mit seinem Auto außen herum und ließ mich von der Rückbank aus sehen und staunen. Er besaß damals einen zehn Jahre alten, blaumetallicfarbenen Audi 80, an dessen Heck der mahnende Aufkleber „Tschernobyl 1500 Kilometer – Cattenom 150 Kilometer“ prangte. Ursprünglich hieß es „Cattenom 50 Kilometer“, was Großvater aber so nicht stehen lassen konnte, da die Saarbrücker Verhältnisse in Kaiserslautern nicht galten. Was ich sah, war überraschend viel Beton (hätte ich etwas mehr Bezug zu den Realitäten des Daseins aufgewiesen, hätte mich das nicht überraschen dürfen) und – insbesondere hinter einer der vier Tribünen – eine Unmenge an zu Boden geworfenen Plastikbechern. Diese Art der Müllentsorgung kommentierte Großmutter mit dem gleichsam abwertenden wie triumphierenden, weil „Ich-hab’s-gewusst“-meinenden Wort „Rowdys“, was in mir eine tiefe Scham auslöste.

III.

Mein Stadiondebüt 1987

Am ersten Spieltag der Saison 1987/88 hatte ich meine endgültige Stadionpremiere. Es war kein Ereignis, auf das ich längerfristig vorbereitet worden war. Die Idee kam erneut von meinem Vater und wurde mir im Laufe desselben Vormittags verkündet. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht entsinnen, vermutlich war es ein unverfänglicher Satz wie: „Was hältst du eigentlich davon, heute einmal ein Bundesliga-Spiel live zu sehen?“ Es ist müßig, darüber zu diskutieren, was passiert wäre, wenn mein Vater diesen Satz nie zu mir gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte ihn irgendwann jemand anderes zu mir gesagt, vielleicht ein Schulkamerad, natürlich nicht im gleichen Wortlaut, denn Schulkameraden reden nicht miteinander wie Väter mit Söhnen, denen sie etwas beibringen möchten. Wahrscheinlich wäre es Felix Berger gewesen, mit dem ich seit der fünften Klasse einen regen Austausch über Lautern hielt und der auch schon beim 5:1 gegen Köln in der Vorsaison auf dem Betze war. Aber wann hätte er mich gefragt? In dieser Saison? In der übernächsten? In der Abiturzeit? Und wie hätte ich geantwortet? Es war klar, dass ich meinem Vater die Einladung zu einem Stadionbesuch nicht abschlagen konnte, denn wenn er diese schon aussprach, dann war der Schritt ins Stadioninnere gewiss eine Sache, die ein Mann im Zuge seines Heranwachsens irgendwann hinter sich gebracht haben musste. Aber wenn ein Freund zum anderen sagt: „Wir fahren ins Stadion, fährst du mit?“, lässt sich dann daraus eine ähnliche Verpflichtung ableiten? Und hätte ich jemals aus eigenem Antrieb den Weg in Kaiserslauterns berühmteste Kurve gefunden? Vielleicht, aber vielleicht hätten die gleichen Wege in einer anderen Lebensphase nichts Nachhaltiges mehr in mir auslösen können.

Wir fuhren etwa eine Dreiviertelstunde über die Autobahn, sahen rot-weiße Schals, sahen auch schwarz-weiß-rote, mein Vater erklärte, ließ mich an seinem sozio-geografischen Fundus teilhaben (wo liegt das Haupteinzugsgebiet welches Vereins, und welche Anfahrtswege ergeben sich daraus für die jeweiligen Fangruppen?), fuhr KL-Ost ab (was ich bei kaum einem meiner zahlreichen noch folgenden Stadionbesuche mehr machen sollte), parkte am Messeplatz (was, wie sich herausstellen sollte, keine glückliche Wahl war), bestieg mit mir den Berg zu Fuß (was nicht unwichtig war, um die Bedeutung des Betzenbergs näher zu erfassen), kaufte zwei Sitzplatzkarten (Sitzplatzkarten sollte ich bis heute nur noch bei fünf weiteren Partien erwerben, und erst die letzte davon sollte siegreich enden) und stieg mit mir die Treppenstufen zur Südtribüne empor (ein Aufgang, der in seiner Schlichtheit nicht mehr mit den Einkaufspassagen ähnelnden Sitztribünen heutiger Prägung vergleichbar ist).

Mein erster und zugleich umwerfender Eindruck nach dem Schritt über die Schwelle ins Innere der Arena war: grün!!! Offengestanden bin ich nicht sicher, ob ich bis dahin überhaupt schon einmal einen Rasenplatz gesehen hatte, bestenfalls den einen oder anderen Wiesenacker in der Kreisliga, aber aus der Höhe einer Tribüne betrachtet den lichtdurchfluteten, frühnachmittäglichen, sattgrünen Untergrund auf sich wirken zu lassen, überstieg meine aus etlichen Fernsehübertragungen gespeisten Erwartungen. Das Fritz-Walter-Stadion war seit seinem letztjährigen Umbau des Öfteren als Schmuckkästchen bezeichnet worden, und ähnlich anerkennend äußerte sich auch mein Vater.

Wir setzten uns auf die durchnummerierten Holzbänke – keine Schalensitze – und ließen unsere Blicke schweifen. Uns gegenüber befand sich eine deutlich niedrigere Sitzplatztribüne, die Nordtribüne, unter deren Dach, wie mir mein Vater erklärte, die Fernsehperspektive ihren Ausgang nahm. Rechts und links von uns erhoben sich überdachte Stehtribünen, die mit unserer Südtribüne auf einer Höhe bündig abschlossen. An den Sperrgittern vor der rechten waren, obschon das Stadion noch relativ leer war, zahlreiche Transparente mit Aufschriften wie „Adlerfront“, „Hessenpower“ oder schlicht „Eintracht“ angebracht. Und schließlich zu unserer Linken erkannte ich die Westtribüne mit ihren spitz aufragenden, noch eingerollten rot-weißen Fahnen, die mir bereits im Fernsehen aufgefallen waren. Hier hielten sich zu diesem frühen Zeitpunkt anteilmäßig schon die meisten Zuschauer auf, welche in der Gesamtwirkung ihrer Kleidungswahl einen unübersehbaren rot-weißen Touch hinterließen.

Es war noch zu früh, um großartige Massenchoräle zu erwarten, und doch beobachtete ich fasziniert die Art, in der die verschiedenen Bereiche des Stadions miteinander kommunizierten. Dabei verstand ich beileibe nicht jeden aufdonnernden Applaus, nicht jedes Pfeifen von links oder rechts, doch erregten die Geräusche allemal meine Aufmerksamkeit und weckten in mir das Bedürfnis, ihnen auf den Grund zu gehen. Nicht weit hinter uns saß jemand mit einer der in den achtziger Jahren noch weit verbreiteten Drucklufttrompeten. Man kannte sie von diversen Länderspielübertragungen der deutschen Nationalmannschaft – meist extrem langweilige Partien, bei denen jeder der behäbig vorgetragenen Angriffszüge über Förster, Kaltz oder Magath mit langandauerndem Tröten begleitet wurde. Wie laut die Dinger waren, bekam ich nun am eigenen Leib zu spüren, und ich fragte mich, warum in einem erst zu einem Fünftel gefüllten Stadion, in dem noch lange nicht Fußball gespielt wurde, auf derart nervtötende Weise Krach gemacht werden musste? Doch ich registrierte noch etwas anderes: Von der Westtribüne aus antwortete eine zweite Tröte. Was immer auch diejenige hinter uns von sich gab, die Imitation folgte auf dem Fuß. Wenn man so wollte, handelte es sich dabei um einen Dialog: Die Westkurve sprach mit der Südtribüne und zeigte, dass sie kein abgeschlossener Verband kaltherziger Kollektivkreischer war, sondern offen für Außenstehende, offen für das Leben, für die Welt und für mich.

Bald schon – es war inzwischen voller und lauter geworden – setzte sich ein Mann mittleren Alters zu uns, der mich mit den Worten „Hallo Sportsfreund“ begrüßte. Es war mir sofort klar, dass dieser Mann ein regelmäßiger Stadionbesucher war. Vermutlich besaß er wie der Mann meiner pfälzischen Patentante eine Sitzplatz-Jahreskarte. Vermutlich gehörte er auch zu dem, was die Stadionzeitschrift, die damals noch Hinein hieß und nichts kostete, mit „unserem fairen und objektiven Publikum“ meinte, und ich freute mich darüber, zwischen meinem Vater und diesem fairen und objektiven Dauerkarten-Fan das Spiel verfolgen zu dürfen. Gefallen fand ich an der Wortgewandtheit des Stadionsprechers Udo Scholz, dessen humorvolle Art mir bereits ein gutes Jahr zuvor von einem Nachbarsjungen beschrieben worden war, nachdem dieser, ein Bayern-Fan, beim Spiel FCK–HSV sein erstes väterlich begleitetes Stadionerlebnis hatte. Scholz musste damals, nachdem der HSV uneinholbar in Führung gegangen war, mit den Worten kommentiert haben: „Und da kommt Stimmung auf, auf dem Betzenberg!“ Gefallen fand ich auch daran, den sich aufwärmenden Spielern zuzusehen, von denen ich den einen oder anderen von Weitem erkannte, und fasziniert war ich mehr und mehr davon, den aufbrausenden, durch wogende Bewegungen untermalten Schlachtrufen und Gesängen aus den beiden immer besser gefüllten Fanlagern zu lauschen, die sich gegenseitig überlappend, überlagernd, übertrumpfend („Eintracht!“, „Eintracht!“, „Eintracht!“ – „Oleee Effzekaahaa!“ –„Eintracht!“ – „Oleee, Olee, Oleee, Effzekahaa!“ – „Eintracht!“ –„Oleee, Olee, Oleeeee, Effzekahaa!“) steigerten, bis sie im Fahnenmeer der umjubelten Mannschaftsaufstellungen ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Mein Vater kreuzte im Stadionheft die 22 links wie rechts nominierten Spieler an, Weinrot und Weiß-Schwarz betraten unter allgemeinem Applaus das Schlachtfeld, die Saison 1987/88 hatte begonnen.

An allzu viele Details dieser Begegnung kann ich mich nicht mehr erinnern. Dass der 1. FC Kaiserslautern dominierte, war zwar angenehm, doch im Vergleich zu den zahlreichen Radio-reportagen, bei denen ich nach aufsehenerregenden „Tor“- und „Elfmeter“-Schreien mit angehaltenem Atem auf erlösende oder deprimierende Erläuterungen des Berichterstatters gewartet hatte, wurde mein Nervenkostüm an diesem Nachmittag trotz engen Spielverlaufs nur mäßig auf die Probe gestellt. Zu beschäftigt war ich damit, die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Zu erkennen etwa, wie viel läuferische und taktische Disziplin zwei Profimannschaften beim Verrichten ihres Tagwerkes zeigen müssen, was im Fernsehen durch die stärkere Fixierung auf einzelne Spieler und Spielabschnitte nicht im tatsächlichen Maße offenbar wird. Ich beobachtete die Neueinkäufe und lauschte den anerkennenden oder abschätzigen Kommentaren der unmittelbar um uns herum postierten Zuschauer („Den Schulz haben sie nur geholt, weil er so weit einwerfen kann!“). Schockiert war ich, als Franco Foda, ein Pfälzer mit italienischen Wurzeln, der schon als Jugendspieler den Verein verlassen hatte und nun nach drei Jahren und drei Abstiegen mit drei verschiedenen Klubs wieder zurück zu seinem FCK gekommen war, nach einem harten Ball ins Gesicht benommen am Boden liegen blieb. Ich registrierte den Applaus, den der Frankfurter Superstar Lajos Detari erhielt, als er bei einer Verletzungsunterbrechung den Ball ins Seitenaus spielte und kurz darauf den abermaligen Beifall für den Kaiserslauterer Spieler, der ihn nach der Behandlungspause wieder zurück in die Frankfurter Reihen geworfen hatte. „Die dort unten sind anständiger als die meisten dort drüben“, tönte der faire und objektive Dauerkartenmann zu unserer Linken und wies mit abwertender Geste gen Westtribüne. Wenn man sich wie er näher mit ihr beschäftigt hatte, konnte man sie wohl doch nur als Haufen wilder Fanatiker betrachten, in dessen Inneren es keine Moral gab. (Nie im Leben hätte ich daran gedacht, nur ein dreiviertel Jahr später zum ersten Mal Bestandteil dieses Haufens zu werden und wiederum gut zwei Jahre nach ebendiesem Ereignis, beim ersten Heimspiel der Saison 1990/91, gleichfalls gegen Eintracht Frankfurt, im rasenden Kern dieses Haufens, im Block 8 zu debütieren, wo ich für die nächsten Jahre zum Stammgast werden sollte.)