Carmen Rauscher

Im Banne der Essstörung

Mein Weg zurück ins Leben

ACABUS | Biographie

Rauscher, Carmen: Im Banne der Essströrung. Mein Weg zurück zum Leben, Hamburg, ACABUS Verlag 2008

Originalausgabe

ISBN (Print): 978-3-941404-83-0
Umschlagmotiv: Ulrich Benschen, Diplomica Verlag
Covermotiv © emmi - Fotolia.com

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Von der Bulimie in die Magersucht

Der Weg von der Bulimie in die Magersucht war fließend, man bemerkt es so gut wie gar nicht. Als ich mich damals mit meinen 58 Kilogramm im Spiegel betrachtete, habe ich großen Gefallen daran gefunden. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich schlank und hatte das Gefühl, meinem Ziel immer näher zu kommen. Wenn man bei einer Sache lange Zeit nicht vorangekommen ist und sich endlich kleine Erfolge eingestellt haben, ist man natürlich noch motivierter, daran weiter zu arbeiten, um das Ziel zu erreichen.

Mein Verhalten und die Einstellung zum Essen hat sich immer mehr verändert. Wenn ich mal was gegessen habe, musste es sehr gesund sein. Und trotzdem hatte ich dann das Gefühl, das Essen würde mich von innen heraus vergiften. So langsam habe ich auch angefangen, die Magersucht zu dokumentieren, durch Bilder und Aufschriebe habe ich den Weg in die Magersucht festgehalten. Mein ständiger Begleiter war die Kalorientabelle. Auch mein Verhalten hat sich merkwürdig verändert. Gesundheitlich ging es mir immer schlechter und immer deutlicher konnte ich kleine Einschränkungen an mir bemerken. Wie schon gesagt, man bemerkt kaum, wo der Übergang von der Bulimie in die Magersucht stattfindet. Auf einmal steckt man ganz tief drin und kann sich alleine von der Sucht nicht mehr befreien, weil man zu schwach und hilflos ist.

Anhand von ein paar Verhaltensveränderungen, die ich wie folgt beschreiben werde, konnte man an mir den Übergang von der Bulimie in die Magersucht erkennen. Diese Veränderungen, und es kommen in den nächsten Kapiteln noch mehr dazu, haben sich durch meine ganze Magersucht gezogen.

Mein ständiger Begleiter: die Kalorientabelle

Egal wo ich war, beim Einkaufen, bei meiner Freundin oder bei Verwandten, meine Kalorientabelle war immer bei mir. Ich hatte nicht nur eine, am Schluss waren es vier kleine Bücher. Wenn ich mir Gemüse gekauft habe, habe ich zuerst in den Tabellen nachgeschaut, wie viele Kalorien das jeweilige Gemüse hat. Ich habe mir nur die Sachen gekauft, die am wenigsten Energie und Fette hatten. Zuhause dann habe ich darüber Buch geführt, wie viele Kalorien, Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate ich an einem Tag zu mir genommen habe. Egal, was ich gegessen habe. Zuerst musste ich nachschauen, ob es mir "erlaubt" war, etwas zu essen, ob es in meinen selbst erstellten Kalorienplan noch hineingepasst hat. Nach Hungergefühl oder Genuss bin ich sowieso nicht gegangen. Wenn ich zum Beispiel schon um elf Uhr vormittags mein Limit erreicht hatte, dann gab es halt bis zum nächsten Tag nichts mehr zu essen. Ich war ja selbst schuld. Warum musste ich mich denn auch so gehen lassen, dass ich schon um elf Uhr vormittags meine 600 Kalorien zu mir genommen hatte. Man Bedenke, der tägliche Grundumsatz eines Menschen im Ruhezustand liegt bei 1200 Kalorien. Jedem wird klar sein, dass man bei so geringer Kalorienzufuhr abnehmen muss.

Am Ende vom Tag habe ich dann meine kleinen Zettel, auf denen ich meine Kalorien tagsüber aufgeschrieben habe, zerrissen. "Es könnte ja in falsche Hände geraten", dachte ich mir. Wenn meine Eltern oder meine Geschwister das gesehen hätten, hätten sie mich wahrscheinlich darauf angesprochen und womöglich hätten sie mich zur Rede gestellt und alles wäre aufgeflogen. Das, was ich mir aufgebaut hatte, wollte ich mir auch nicht nehmen lassen, schon gar nicht, wenn ich kurz vor dem Ziel war. Deshalb habe ich alle Zettel vernichtet, damit niemand etwas davon mitbekommen konnte.

Essenszubereitung: aber nicht für mich

Da ich den ganzen Tag über so gut wie gar nichts gegessen habe, musste ich meine Lust auf eine andere Art und Weise befriedigen. Mit Vorliebe habe ich für meine Familie gekocht. Für die Zubereitung der Gerichte habe ich immer extrem viel Fett und energiereiche Nahrungsmittel verwendet. Alles das, was ich mir verboten habe. Alleine schon vom Geruch beim Zubereiten habe ich mich satt gerochen. Die Vorweihnachtszeit war bei mir das Allergrößte, nun konnte ich meiner Lust freien Lauf lassen. Täglich habe ich Weihnachtsplätzchen und einen Kuchen für meine Familie gebacken. Natürlich musste jemand diesen Überfluss an zubereiteten Sachen auch essen. Und es war wirklich zuviel, ich konnte mich einfach nicht zügeln, irgendwie musste ich meine Lust ja befriedigen. Was sehr verrückt war, waren meine Gedanken. Ich habe mir eingebildet, ich könnte alleine schon vom Geruch der Speisen zunehmen. Wenn ich Lebensmittel anfasste dachte ich, die Kalorien könnte ich über die Berührungen auf der Haut aufnehmen.

Natürlich habe ich auch einen anderen Weg gefunden um meine Lust nicht ausbremsen zu müssen. Immer dann, wenn ich wieder mal Hunger hatte - und das kam nicht selten vor - habe ich mir Kochbücher zur Hand genommen. Es war eine große Freude für mich, leckere Buttercremetorten oder in Fett schwimmende Pizzen anzuschauen. Ein Kochbuch hatte ich immer zur Hand. Auch Kochsendungen oder Berichte habe ich zu gern auf Videokassette aufgenommen und diese immer wieder angeschaut und mich daran satt gesehen. Als ich so viele schöne Sachen zubereitet gesehen habe, bekam ich natürlich noch mehr Hunger als ich eh schon hatte. Und was passierte dann? Ich bekam wieder einen Fressanfall mit anschließendem Erbrechen. Allerdings wurden die Fressanfälle zu dieser Zeit immer weniger. Je mehr ich abgenommen habe, desto mehr konnte ich mich zügeln. Mein Wille ist in dieser Sache immer stärker geworden.

Lebensmittelbeschaffungsmaßnahmen

Natürlich musste ich die wenigen Lebensmittel, die ich noch zu mir genommen habe, selbst einkaufen. Es war kein Spaß, einkaufen zu gehen, sondern harte Arbeit. Wenn andere Menschen lustvoll in die Regale greifen, stehen Magersüchtige, so wie ich, empört daneben. "Wie kann es nur sein, dass Menschen so unkontrolliert einkaufen gehen können, ohne auf die Inhaltsstoffe zu schauen", dachte ich mir immer. Wenn andere eine Stunde benötigten, um ihren Einkauf zu erledigen, benötigte ich mehr als das Doppelte der Zeit. Das Resultat: mein Einkaufswagen war nur halb so voll wie derjenige der anderen! Ich habe anders eingekauft. Alles, was ich in die Hände genommen habe, musste ich gründlich auf die Inhaltsstoffe, Kalorien und Fette untersuchen. Nur Lebensmittel mit den geringsten Kalorien habe ich gekauft. Also habe ich alles verglichen und das hat natürlich viel Zeit in Anspruch genommen. Jeden Gang und jedes Regal im Supermarkt musste ich anschauen, in der Hoffnung noch bessere und energieschwächere Lebensmittel zu finden. Nach einiger Zeit war ich ein Vollprofi auf diesem Gebiet. Man hätte mir einen Einkaufskorb hinstellen können und ich hätte über die Inhaltsstoffe, Kalorien, Eiweiß, Fette und Kohlenhydrate der jeweiligen Produkte einen Monolog halten können. Wirklich sehr aggressiv und nervös geworden bin ich dann, wenn jemand mit mir einkaufen gegangen ist. Wenn der jenige mich auch noch gehetzt hat war ich innerlich total wütend, da ich meine Lust nicht befriedigen konnte. Ich hatte nicht mehr viel im Leben, die Sucht war zu diesem Zeitpunkt das Einzige was mir geblieben war, es war meins und keiner durfte etwas daran verändern oder mich beeinflussen.

Kontrollmaßnahmen

Ich hatte immer einige Arbeitswerkzeuge zur Hand. Ohne diese wäre ich total durchgedreht. Ich musste sie immer griffbereit haben, sonst habe ich mich nicht sicher gefühlt und ich hätte die Kontrolle verloren. Zum einen hatte ich die Personenwaage. Mein "bester Freund". Oder auch mein "schlimmster Feind". Die Waage hat mir Auskunft darüber gegeben, ob ich ein guter Mensch oder ein schlechter Mensch war. Hatte ich ein Kilogramm zugenommen, war ich ein böser und schlechter Mensch, weil ich so dumm und doof war und mich gehen ließ. Hatte ich etwas abgenommen, war ich ein guter, erfolgreicher Mensch, weil ich Disziplin und Durchhaltevermögen hatte, nicht so wie die anderen die sich nicht zusammen reißen konnten. Dann dachte ich, ich sei stärker als alle anderen.

Die Waage war ein furchtbarer Gegenstand. Ich musste täglich darauf stehen, es war schon richtig zwanghaft. Nach jedem Toilettengang, nach jeder sportlichen Aktivität, nach jeder Kleinigkeit, die ich zu mir genommen habe, und, und, und, stand ich auf der Waage. Oft ist es vorgekommen, dass ich mich bis zu 20-mal am Tag auf die Waage stellte. Immer von der ständigen, zwanghaften Kontrolle über mein Gewicht begleitet.

Aber nicht nur die Personenwaage war mein ewiges Arbeitswerkzeug. Was immer bei mir sein musste, war ein Kontrollmaßband, etwas zu schreiben und mein kleines Berichtsbuch, wo ich alle Körpermaße aufgeschrieben habe. Jeden Monat, oder alle zwei Wochen, habe ich einen "Vermessungstag" eingerichtet, wo dann alles in meinem Berichtsbuch dokumentiert wurde. Zuerst habe ich das Datum, meine Größe und mein Gewicht aufgeschrieben. Es musste aber immer morgens nach dem Aufstehen sein, da man ja in der Nacht noch an Gewicht verliert. Nun bin ich also hergegangen und habe von oben bis unten so gut wie jede Körperstelle abgemessen und in mein Buch eingetragen. So konnte ich sehen, ob ich erfolgreich war, oder ein totaler Versager.

Abgemessen wurde bei mir: Brustumfang, Unterbrustumfang, Hüfte, Taille, Oberarm, Unterarm, Oberschenkel an zwei verschiedenen Stellen und die Wade. Es war einfach furchtbar, sich so auf das Äußere zu beschränken. Aber hätte ich all das nicht gemacht, hätte ich die totale Kontrolle über mich verloren und das war doch das einzige, das mir geblieben war. Der Gedanke, die Personenwaage wäre kaputt gegangen, oder ich hätte mein Maßband verloren, war für mich unvorstellbar. Wie schon im vorherigen Abschnitt beschrieben war auch die Kalorientabelle eine Kontrolle über die Nahrungsaufnahme. Es wurde nichts dem Zufall überlassen. Die Kontrolle über mich selbst war schon Angst einflößend. Egal zur welcher Tages- oder Nachtzeit, ich konnte sofort sagen wie viele Kalorien, Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate ich zu mir genommen habe und wie viel ich noch zu mir nehmen werde. Auch der nächste Tag wurde von mir am Vortag geplant. Ich plante, wie viel ich mir zu essen "erlauben" darf, ohne dabei auf den Körper und dessen Lust und Bedürfnisse zu hören.

4. Kapitel

Im fortgeschrittenem Stadium der Magersucht

Nach einigen Monaten harter Arbeit konnte ich an mir die ersten "Erfolge" meiner Magersucht feststellen. Es war Dezember 1998 und zu diesem Zeitpunkt wog ich nur noch 46 Kilogramm. Aber so langsam stellte ich fest, dass irgendetwas nicht mehr mit mir stimmte. Physisch passierten merkwürdige Sachen, die ich mir nicht erklären konnte. Alles, was ich getan habe, jede Bewegung wurde immer anstrengender. Auch psychisch habe ich bemerkt, dass ich immer langsamer und immer sensibler wurde. Ich dachte ja, wenn ich abnehme wird dadurch mein Selbstbewusstsein und mein Selbstvertrauen gestärkt und mein Selbstwertgefühl erhöht, aber ich stellte fest: nur bis zu einem gewissen Punkt. Um eine bestimmte Grenze zu nennen: bei mir war es die 50-Kilogramm-Grenze, dann ging es rückläufig.

Natürlich hatte meine Familie inzwischen auch bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmt. An eine Situation kann ich mich noch sehr gut erinnern: Als ich in der Weihnachtszeit ein paar Kundengeschenke für meine Mutter verpackte, stand ich im Wohnzimmer. Als dann meine Mutter hereinkam, hat sie sich riesig darüber gefreut, dass ich ihr geholfen habe. Aus lauter Freude hat sie mich dann in ihre Arme genommen und mir dabei über den Rücken gestreichelt. Ganz erschrocken hat sie mich dann angeschaut und meinte zu mir: "Du bist ja nur noch Haut und Knochen!". Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon drei Pullover an. Ich konnte mit dieser Situation nicht umgehen und habe sie weggestoßen.

Natürlich haben sich meine Eltern Sorgen gemacht, aber sie waren hilflos, sie wussten nicht, was sie tun sollten. Mein Vater hat zum Beispiel überhaupt nicht mit mir darüber geredet. Ich habe schon gemerkt, dass meine Geschwister das Gespräch mit mir gesucht haben, aber ich ließ mich auf keine Diskussion ein. Die Angst davor, kurz vor meinem Ziel alles zu stoppen, war ein Alptraum für mich gewesen. Aber selbst ich wusste nicht einmal, wohin das alles führen sollte. Ich habe nicht darüber nachgedacht und einfach weitergemacht. Zur Unterstützung habe ich mir sogar Fachbücher über Magersucht gekauft, um die Krankheit noch perfekter auszuleben. Ohne darüber nach zu denken in welch lebensgefährlichen Zustand ich mich begebe, habe ich alles daran gesetzt, mein Gewicht noch weiter zu reduzieren.

Wie nun der weitere Verlauf meiner Magersucht war, mit all seinen Zwängen, Ritualen und was sonst noch dazu gehört, werde ich nun auf den folgenden Seiten schrittweise erzählen.

Essensrituale

Die wenige Nahrung, die ich noch zu mir genommen habe, wurde nicht unkontrolliert aufgenommen. Alles, was ich noch gegessen habe - und das war nicht mehr viel - habe ich auf eine bestimmte Art und Weise gegessen. Ich kann mich noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre.

Eine zeitlang habe ich nur Pumpernickel und ein kleines Stück Fetakäse am Tag gegessen. Die Scheibe Pumpernickel habe ich mir hauchdünn mit Fetakäse belegt und diese Scheibe dann in 24 Stückchen geschnitten. Ganz langsam habe ich nun Stück für Stück davon gegessen und Ewigkeiten darauf herumgekaut, so lange, bis fast schon nichts mehr im Mund war. Bis zu einer halben Stunde habe ich an so einer Scheibe herumgekaut, weil es das Einzige war, was ich am Tag zu mir genommen habe, und dieses Stück wollte ich so lange wie möglich auch genießen.

Auch habe ich eine zeitlang nur eine kleine Portion Obstsalat am Tag gegessen. Ich konnte aber nie durcheinander essen. Alles, was ich gegessen habe, hatte eine Reihenfolge. Zuerst alle Trauben, dann die Banane, und zuletzt die Mandarinenstückchen. Ich konnte niemals gemischt essen.

Auch Flüssigkeiten habe ich nicht einfach so getrunken, außer wenn es Wasser oder Kaffee, schwarz und ohne Zucker, war. Die restlichen Sachen habe ich zuerst abgemessen, ausgerechnet, ob es noch in meinen Kalorienplan passt, und dann verzehrt. Wie bei den Nahrungsmitteln hatte ich auch bei den Flüssigkeiten kleine Rituale. Einfach so konnte ich meinen Saft, oder was auch immer ich da hatte, nicht trinken. Mit einem Kaffeelöffel habe ich den Saft ausgelöffelt, er war mir zu schade um ihn einfach in sekundenschnelle herunterzuschütten, deshalb habe ich ihn gelöffelt, um auch davon ewig lange etwas zu haben.

Ein weiteres Ritual war das zuschneiden von Lebensmitteln, bevor ich sie gegessen habe. Eine Scheibe Brot durfte nicht mehr als 20 Gramm wiegen. Selbst wenn das Brot schon zugeschnitten war, habe ich es noch einmal zerlegt, bis es seine 20 Gramm erreicht hatte. Letztendlich waren es nur noch hauchdünne Scheiben, die schon beim anfassen auseinander gefallen sind. Aber ich musste es machen, es war wie ein Zwang. Nur nicht die Kontrolle verlieren, das wäre mein Ende gewesen.

Die Uhrzeit spielte auch eine sehr wichtige Rolle. Meine Essenszeit war immer zwischen 16 und 17 Uhr. Da durfte mich auch niemand stören. Den ganzen Tag freute ich mich nur auf diese eine Stunde. Nach 17 Uhr durfte ich aber nichts mehr essen. Es war unerträglich, nur eine Scheibe Brot am Tag zu essen. Ich habe furchtbaren Hunger gelitten, aber ich konnte die Kontrolle über mich nicht so einfach unterbrechen. In diesem Fall hätte ich auch wieder vermehrt meine Ess-Brech-Anfälle bekommen können. Natürlich habe ich das versucht. Aber ich hatte nur noch geringe Bauchmuskulatur und es war eine höllische Anstrengung, alles wieder hoch zu würgen. Ich hatte auch Angst davor, dass ich es irgendwann nicht mehr schaffen könnte, bei einem Anfall alles zu erbrechen, deshalb habe ich dann zu diesem Zeitpunkt mit den Fressanfällen aufgehört. Nun könnte ich noch viele Beispiele anführen, welche Rituale mich begleitet haben, aber das würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Mir war es wichtig, einfach ein paar Beispiele aufzuführen.

Essen in Gesellschaft

Eigentlich brauche ich nicht darüber schreiben, weil es bei mir so gut wie überhaupt nicht vorgekommen ist, dass ich in Gesellschaft gegessen habe. Aber auch ich, trotz meines derzeitig geringen sozialen Umfeldes, bin auch schon einmal eingeladen worden. Egal zu wem, ich musste immer schon im Voraus wissen, ob es dort etwas zu essen gibt. Wenn ich es wusste, gab es erst einmal zwei Tage zuvor nichts zu essen.

Wenn ich nun bei der Einladung war, habe ich nur gesunde Sachen, wie Obst oder Salat gegessen. Nur Sachen, in denen wenige Kalorien enthalten waren. Aufgrund meines angelernten Wissens über die Kalorien der jeweiligen Lebensmittel war das keine große Anstrengung für mich. Trotz allem habe ich mich immer geschämt, wenn ich etwas in Gesellschaft gegessen habe. Immer habe ich mich beobachtet gefühlt. Ich war der Meinung, ich hätte es nicht verdient, etwas zu essen. Als ich dann zuhause war, habe ich dann versucht, die kleinen Mengen, die ich gegessen habe, zu erbrechen. Auch wenn es schon Stunden nach dem Essen war. Natürlich hätte ich auch gar nichts essen können. Aber womöglich wäre dann meine Fassade aufgeflogen und einer Konfrontation wollte ich aus dem Wege gehen. An mir war sowieso nichts mehr dran. Nur noch Haut und Knochen. Hätte ich nichts gegessen, wäre der Fall für die anderen sofort klar gewesen. Aber wie schon gesagt, wenn ich solche Treffen vermeiden konnte, habe ich sie vermieden.

Ich konnte es auch nicht ertragen, wenn jemand von meiner Familie mich beim Essen gesehen hat. Das kleine bisschen, was ich noch gegessen habe, wollte ich alleine genießen und wenn mich jemand dabei angeschaut hat, dachte ich nur daran, was er jetzt über mich denkt. Das hätte mich viel zu sehr von meiner Sache abgelenkt.

Exzessiver Bewegungsdrang

Eigentlich wären sportliche Aktivitäten bei meinem derzeitigen Gewicht überhaupt nicht mehr nötig gewesen. Aber ich wollte das erreichte Gewicht auf jeden Fall halten, beziehungsweise noch weiter abnehmen. Aber auch der Sport, sowie jede Bewegung, wurde immer anstrengender und mühevoller. Dazu kam noch, dass meine Muskulatur an den Oberschenkeln und Waden auch schon zu verschwinden begann. Selbst ich habe mich gewundert, wie es sein kann, trotz solch geringer Muskulatur noch solche Aktivitäten auszuführen.

Täglich habe ich auf jeden Fall eine Stunde Sport machen müssen, oder sogar noch mehr. Egal ob ich wollte oder nicht, ich musste. Üblicherweise habe ich nur in meinem Zimmer Sport gemacht, dort war ich wenigstens ungestört. Meistens habe ich dazu Musik angemacht, und bin eine Stunde lang auf der Stelle gesprungen. Als dann mein Gewicht die 40 Kilogramm erreicht hatte, ging bei mir überhaupt nichts mehr. Das letzte Mal als ich in diesem Zustand Sport gemacht habe, dauerte es nur 10 Minuten. Ich konnte mich vor lauter Schwäche nicht mehr auf den Beinen halten. Jede Bewegung war ein Kraftakt für mich geworden. Zu diesem Zeitpunkt musste ich begreifen, dass ich keinen Sport mehr machen konnte, weil es mein Körper nicht mehr mitmachte.

Nun war ich ratlos, irgendwie musste ich mich bewegen, ich konnte nicht einfach nichts tun. Also habe ich mir etwas Neues ausgedacht. Egal, was ich nun gemacht habe, es musste im Stehen ausgeübt werden, wenn andere sich hingesetzt haben, bin ich gestanden. Wenn andere zu faul waren etwas zu holen, habe ich es geholt. Irgendwie musste ich mich bewegen und etwas machen. Also habe ich meiner Mutter im Haushalt geholfen. Aber nicht um sie zu unterstützen, sondern ich wollte mich nur bewegen, um noch mehr Kalorien abzunehmen - wenn ich schon keinen Sport mehr machen konnte.

Meine Mutter hat sich gefreut, aber ohne zu sehen, was wirklich dahinter steckte. Was von meiner Seite aus auch kein Vorwurf sein soll. Ich war so unnahbar und verschlossen, dass keiner die Möglichkeit hatte, an mich heranzukommen.

Verhaltensveränderungen

Mein Verhalten wurde immer merkwürdiger. Eines Tages war es bei mir soweit, ich konnte das Haus nicht mehr alleine verlassen. Egal was ich nun außerhalb meines Elternhauses gemacht habe, es musste immer jemand bei mir sein. Alleine habe ich Angst bekommen, fühlte mich extrem beobachtet und auf brutale Art und Weise angreifbar. Ich habe mir eingebildet, mir könnte etwas Schreckliches zustoßen, wenn ich alleine außerhalb des Hauses bin.

Was mir sehr stark aufgefallen ist, war dass, ich mich immer mehr zu meiner Mutter hingezogen fühlte. Wenn ich zu Hause war wollte ich, dass sie in der Nähe, beziehungsweise wenigstens im Haus oder um das Haus herum ist. Doch ich habe ihr nie gesagt, dass ich sie zu der Zeit mehr als jemals zuvor gebraucht habe.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, wieder ein Kind geworden zu sein. Komischerweise habe ich wieder angefangen, Kinderbücher zu lesen und versucht, mich wieder in meine Kindheit hineinzuversetzen. Auch habe ich mir viele Kindermalbücher gekauft und diese ausgemalt. Dabei war ich doch eigentlich schon erwachsen. Aber das ausmalen von Tieren und Gegenständen hat mich auf eine schöne Art und Weise beruhigt und entspannt. Da stellt sich die Frage: wollte ich wieder ein Kind sein? Sicherlich könnte das eine Möglichkeit gewesen sein. "Den Kindern sei das Himmelreich", sagt man ja. Ich glaube schon, das ich wieder ein Kind sein wollte, ohne Probleme und ohne Sorgen, einfach nur genießen. Aber ich war kein Kind mehr, ich war eine erwachsene Frau. Und meine ganze Verzweiflung und innere Zerrissenheit musste ich herauslassen. Zu der Zeit habe ich unwahrscheinlich viel gezeichnet, gemalt und gebastelt, wie ein kleines Kind, das eine wahre Freude daran hat.

Auch das Autofahren hat mir zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Am Anfang bin ich noch gerast, dass es schon nicht mehr normal war. Aber mit zunehmender Krankheit hat sich auch das verändert. Meine Reaktion hat zunehmend abgenommen und ich konnte dementsprechend auch nicht mehr schnell bremsen, wenn es nötig war, also bin ich extrem langsam gefahren. Aber am Schluss konnte ich auch nicht mehr alleine Auto fahren. Auch dort musste immer jemand bei mir sein.

Vorwort

Ich bin eine von tausenden Menschen, die unter einer Essstörung leiden, beziehungsweise gelitten haben. Aber ich bin eine der wenigen, die es tatsächlich geschafft haben, der Krankheit den Rücken zu kehren.

Als ich aus der Krankheit herausgekommen bin, wollte ich nichts mehr von Essstörungen wissen. Nichts mehr von den Fress- und Kotzattacken, und was sonst noch dazu gehört. Ich konnte keine Kalorientabellen und Waagen mehr sehen, aus Angst, ich könnte wieder rückfällig werden. Doch das zeugt nicht von Stärke, sondern von Schwäche. Die Erinnerung an die Vergangenheit wird immer ein Teil von mir sein, zumal die Erinnerung mich fast täglich einholt, in Gesprächen mit essgestörten Menschen und durch Menschen, die an dieser Krankheit leiden und die ich einfach so auf der Strasse sehe.

Nach fünf Jahren erfolgreicher Krankheitsbewältigung habe ich mich weitere zwei Jahre später dazu entschlossen, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen und diese in Form eines Buches niederzuschreiben.

Ich möchte mit diesem Buch all den Menschen, ob essgestört oder nicht, zeigen, wie heimtückisch und lebensgefährlich diese Krankheit doch sein kann, und ich hoffe vor allem, dass ich den essgestörten Menschen durch meine persönliche Erfahrung eine Stütze bei der Krankheitsbewältigung sein kann.

Natürlich möchte ich mit diesem Buch auch den Menschen, die noch nicht oder am Anfang der Krankheit sind, Einblicke geben, damit sie nicht diesen Weg einschlagen und sich dadurch Lösungen für ihre Probleme zu erhoffen.

Soziale Aspekte

Mein soziales Umfeld war zu der Zeit sehr stark reduziert. Ein paar Freundschaften und Bekanntschaften aus der Schule hatte ich noch, und meine allerbeste Freundin. Aber diese Freundschaft hing auch nur noch an einem seidenen Faden. Sie machte zu diesem Zeitpunkt eine Ausbildung zur Krankenschwester. In der Schule wurde bei ihr auch das Thema Ernährungslehre durchgenommen. Für mich war das ein Segen, denn dadurch konnte ich all meine Fragen, die ich über Lebensmittel und deren Wirkung auf den Körper hatte, loswerden. Ich vergaß aber, dass ich sie nur noch als Mittel zum Zweck benutzte.

Nach unserer langjährigen Freundschaft habe ich überhaupt nicht mehr geschaut. Auch sie hat bemerkt, dass ich eigentlich nichts mehr von ihr wissen wollte. Hauptsache, ich konnte meine Fragen stellen. Später, als ich im Genesungszustand war, hat sie mir gesagt, wenn es noch längere Zeit so weiter gegangen wäre, hätte sie mir die Freundschaft gekündigt.

Um die anderen Bekannten und Freunde die ich noch hatte, habe ich mich auch kaum noch gekümmert, ich war viel zu sehr mit meiner Krankheit beschäftigt. Da blieb nur noch sehr wenig oder überhaupt keine Zeit übrig, um mich um Beziehungen zu kümmern. Morgens, wenn ich aufgewacht bin, habe ich ans Essen gedacht, und wenn ich zu Bett gegangen bin habe ich auch ans Essen gedacht. Selbst geträumt habe ich von Lebensmitteln. Die restliche Zeit des Tages musste ich mich um meine Krankheit kümmern, damit mein aufgebautes Eigentum, die Magersucht, nicht zerstört wurde. Da blieb keine Zeit, um sich zu vergnügen, oder um sich um andere Sachen zu kümmern.