Swati Acharya

Fantasie als Allegorie

Machtverhältnisse in Satyajit Rays Trilogie DIE ABENTEUER VON GUPI UND BAGHA

Satyajit Ray gehört zu den bekanntesten Filmemachern Indiens und hat zur internationalen Rezeption des indischen Kinos wesentlich beigetragen. Gegenwärtig wird die indische Filmproduktion global in erster Linie unter dem Label Bollywood wahrgenommen und es besteht das Vorurteil, dass auf dem Subkontinent vor allem Mainstreamfilme produziert wurden und werden. Dass dem nicht so ist, bewies Satyajit Ray durch seinen mehrfach ausgezeichneten Film PATHER PANCHALI (APUS WEG INS LEBEN – 1: AUF DER STRASSE, 1955). Rays Filme sind beseelt von dem Drang, die realen Zwänge des Alltags, besonders in Bengalen, zu verbildlichen, dem Land seiner Herkunft. Gleichzeitig sind sie Zeugnisse eines legendären Künstlerlebens. Ray entstammte einer hoch gebildeten, kreativen Familie, die der reformistischen Brahmo-Ideologie1 folgte. Dieser gehörten progressiv denkende Intellektuelle an, die an die Gleichheit der Menschen glaubten und nicht religiös gesinnt waren. Bereits Rays Großvater, Upendrakishore Ray, war ein vielseitig talentierter Mann. Er sammelte Volksmärchen und arbeitete diese für Kinderzeitschriften um. Zugleich war er ein begabter Sänger. Im Jahr 1914 publizierte Upendrakishore Ray in der Zeitschrift Sandesh die Geschichte eines etwas dümmlichen, aber harmlosen Duos, der Naivlinge Goopy*, einem Sänger, und Bagha, einem Trommler.2 Die Erzählung zog den achtjährigen Satyajit in ihren Bann und ließ ihn bis zu seinen schöpferischen Jahren als Filmemacher nicht mehr los. Den entscheidenden Anstoß bekam Ray jedoch von seinem Sohn Sandip, als dieser sich von seinem Vater einen leichten Kinderfilm wünschte, der nicht so ernst wie dessen andere Filme inszeniert sein sollte. Sandip regte also die Konzeption jener Trilogie an, welche er im letzten Lebensjahr seines Vaters vollenden sollte. An der Entstehung der fantastischen Trilogie waren demnach drei Generationen beteiligt.

Der erste Film GOOPY GYNE BAGHA BYNE (DIE ABENTEUER VON GUPI UND BAGHA, 1969) bezauberte das bengalische Publikum und wurde zum erfolgreichsten Film des Jahres. Filmkritiker in Indien und aus der ganzen Welt rühmen ihn bis heute als einen Kultfilm, der zum Volksgut der bengalischen Kultur gehört. 1980 erschien die Fortsetzung HEERAK RAJAR DESHE (DAS KÖNIGREICH DER DIAMANTEN, 1980) und 1991 vervollständigte Sandip Ray die Trilogie mit dem Film GOOPY BAGHA PHIRE ELO (DIE RÜCKKEHR VON GUPI UND BAGHA, 1991). Der dritte Film lief kurz vor dem Tod Satyajit Rays in den indischen Kinos. Diese Trilogie ist zugleich ein Beispiel für die fluide Erzählform des Märchens und die Strategie, das Fantastische als unterschwellig politische Allegorie einzusetzen. Die Diskussion über die drei Filme berührt außerdem stilistische Aspekte der Genrehybridität sowie der möglichen gesellschaftskritischen Subversivität von Kinderfilmen. Das in allen drei Filmen zentrale Element der Magie bildet den roten Faden, fungiert als Mehrzweckwaffe und bewegt sich mühelos durch verschiedene Erzählformen wie die Allegorie, die Parodie, die Satire oder die Slapstickkomödie. Mit der Progression des Erzählstromes nimmt die Magie bisweilen sogar surrealistische oder realistische Erzählformen an, obwohl diese eigentlich unvereinbar sind. Dadurch verwandelt sich die ursprüngliche Form des Märchens in eine politische Satire über die Gegenwart und einen sozialkritischen Kommentar zur Dominanz der religiös angehauchten Heuchelei, die sich im dritten Teil der Trilogie bis zur Nekromantie steigert. Es ist anzumerken, dass diese in Indien äußerst erfolgreichen musikalischen Märchenfilme Satyajit Rays im Westen unbeachtet geblieben sind. Die humorvolle Seite des Filmemachers, der international als das ikonische Gesicht des ernsten indischen Autorenfilms gilt, wurde von seinen Kritikern zum großen Teil außer Acht gelassen. Marie Seton allerdings, die erste Biografin Rays, erkannte diese Mehrschichtigkeit des ersten Films GOOPY GYNE BAGHA BYNE und das »Erbe« des Humors, das von Rays Großvater Upendrakishore Ray und seinem Vater Sukumar Ray auf ihn übergegangen war: »Two qualities strongly developed in Satyajit’s father and grandfather find renewed expression in him: humor is woven as a natural thread through the texture of all Ray’s films (…) grandfather’s story Goopy Gyne Bagha, as expanded by Satyajit, carries the qualities of fantasy and the comic on to a more complex level. Ostensibly a fairy tale, the dual heroes, two young musicians, bring, by their tricks, an end to the disease of the ages – war.«3

I. GOOPY GYNE BAGHA BYNE (DIE ABENTEUER VON GUPI UND BAGHA, 1969)

Den ersten Teil der Trilogie konnte Satyajit Ray wegen eines sehr bescheidenen Budgets nur in Schwarz-Weiß filmen. Das Gesamtkonzept schien dennoch unkompliziert realisierbar zu sein. Als Adaptation der Geschichte seines Großvaters primär an Kinder und Jugendliche gerichtet, war der Film als ein Experiment mit Musik und Tanz und technischen Trickeffekten konzipiert. Die Lieder verfasste und komponierte Ray selbst. Vor allem die Verfilmung des Geistertanzes galt für die damalige Zeit als kinematografisches Wagnis, das im Ergebnis noch immer als sehr gelungen gilt.

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Goopy blamiert sich im Thronsaal

Der Film erzählt die Geschichte eines recht leichtgläubigen Duos, des Sängers Goopy und des Trommlers Bagha. Beide wollen als musikalische Talente anerkannt werden, sind aber frei von jedweder künstlerischen Begabung. Die beiden bilden ein geradezu ideales Narrenpaar und finden durch ihren einfachen und ärmlichen Familienhintergrund sofort eine breite Resonanz unter den Massen, besonders bei den unteren Schichten. Die Geschichte enthält dabei viele Elemente eines populären Märchens. Die Mittellosen gewinnen durch magische Tricks und die Götter bzw. Geister stehen auf der Seite der Schwachen. Die Narren haben Erfolg und indem sie Unterhaltung anbieten, gelingt ihnen der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär.4 Goopy ist der Sohn eines Bauern namens Kanu Kayne und besessen von der Idee, als Sänger berühmt zu werden. Nachdem er bei einem Musiklehrer allerlei Fronarbeit leisten musste, bekommt er von diesem eine Tanpura, ein Begleitinstrument zum klassischen Gesang, geschenkt. Goopy ist begeistert und möchte seine Gesangskunst einigen alten Brahmanen im Dorf vorführen. Schon hier beginnen die Machtspiele zwischen den Mächtigen und den Machtlosen. Die Mächtigen erkennen Goopys fehlendes Talent und schicken ihn aus Bosheit zum König. Der leichtgläubige Goopy träumt schon von seinem Glück, muss aber stattdessen den Zorn des Königs auf sich nehmen. Zur Strafe für sein schlechtes Musizieren setzt man ihn auf einen Esel und treibt diesen aus dem Dorf hinaus. Bald darauffindet Goopy seinen Gefährten Bagha, den Trommelbesitzer, der sein Dorf aus ähnlichen Gründen verlassen musste. Um einen in der Gegend lauernden Tiger zu verscheuchen, fangen die beiden an zu musizieren. Der Tiger zieht sich zurück, die beiden Musikanten aber beglücken durch ihre Kunst den im Wald nistenden Geisterkönig. Dieser gewährt ihnen drei Wünsche und schenkt ihnen außerdem zwei Paar Zauberschuhe. Goopy und Bagha können jetzt nach Lust und Laune schmackhafte Speisen genießen, elegante Kleidung tragen, reisen, wohin sie möchten, und mit ihrer Musik alle beglücken. Zum Zaubern müssen Goopy und Bagha lediglich gleichzeitig in die Hände klatschen. Mit diesen frisch erworbenen magischen Kräften gehen die beiden an den Hof des Königs von Schundi, gewinnen einen Wettbewerb und werden zu dessen Hofmusikern ernannt. Als sie erfahren, dass der Nachbarkönig aus Halla Kriegspläne schmiedet, versprechen sie dem König von Schundi, den bevorstehenden Krieg abzuwenden, und machen sich mit ihren Zauberschuhen auf den Weg nach Halla. Der »böse« König entpuppt sich nicht als der eigentliche Bösewicht. Vielmehr hat dessen machtgieriger Minister ihn mithilfe eines Zaubertranks und der Tricks eines Hexenmeisters namens Barfizum Krieg gegen Schundi verleitet. Die Armee von Halla besteht jedoch aus mageren, ausgehungerten Soldaten, die samt ihrer Tiere – Kamele und Pferde – überhaupt nicht zum Kämpfen bereit sind. Genau im Augenblick des Angriffs lassen Goopy und Bagha Süßigkeiten vom Himmel regnen und die hungrigen Soldaten finden eine wohlgefällige Ablenkung. Der Krieg findet nicht statt und den Narren wird eine außergewöhnliche Belohnung zuteil: Sie heiraten die Töchter des Königs und werden so zu dessen Schwiegersöhnen. Mit dem Happy Ending wird das Märchen zum idealtypischen Kinderfilm. Aber der oberflächliche Schein eines Kinderfilms verschleierte den sozio-politischen, kritischen Duktus des Films nicht und fand bei den Erwachsenen als Rekonstruktion und kritische Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen in der indischen Gesellschaft unmittelbar Anerkennung. Die Figurenkonstellation – die aus der Unterschicht stammenden Naivlinge, der Geisterkönig mitsamt seiner als Priester, Kolonialoffiziere, Richter, Gelehrte und Laien klassifizierten Geister, die beiden Könige, der gierige Minister und der hinterlistige Hexenmeister – verkörpert nicht nur die ungleichen sozialen Verhältnisse, sondern entlarvt auch die Ausbeutung der Machtlosen durch die Mächtigen.

Den kinematografischen Höhepunkt des Films bildet der sechseinhalb Minuten dauernde Tanz der Geister. Für Satyajit Ray stellte diese Sequenz eine tricktechnische Herausforderung dar. Da die Geschichte von Upendrakishore keine Einzelheiten zu den Geistern enthält, konnte Ray sie frei gestalten. Er schuf vier »Klassen« der Geister, »(…) since we have so many class divisions, the ghosts would have the same«.5 Die Anspielung auf das Vierkastenmuster im Hinduismus ist offensichtlich, und trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Rays kritischer Blick über die vier Grundkasten hinausreicht. Die Geister teilen sich in die Klassen der Könige und Krieger bzw. Kolonialoffiziere (auch sahibs genannt) auf. Letztere wurden im Gegensatz zu allen anderen Rollen, welche von menschlichen Schauspielern verkörpert wurden, als Silhouetten dargestellt. Dazu kommen die »dicken« Geister, zu denen die Gelehrten, Priester und Richter gehören, und schließlich die Laien. Entscheidend für die Wirkung der Szene ist die von Ray selbst komponierte Musik, für die er ausschließlich indische Schlaginstrumente wie Mridangam, Tabla, Ghattom und Kanjira einsetzte, weil er die Wirkung eines tal vadya kacheri, eines südindischen rhythmischen Schlaginstrumentenkonzertes hervorrufen wollte. Auf melodische Effekte verzichtete er absichtlich, denn »melody suggests sophistication«.6 Der Tanz offenbart die verschiedenen Konflikte zwischen den Klassen: Der christliche Priester mit einem Kreuz um den Hals streitet mit dem Hindu-Gelehrten und der weiße sahib lehnt den hookah, die Shisha-Wasserpfeife, seines Dieners ab, was auf die Überheblichkeit der Kolonialherren hindeutet. Damit thematisiert Ray sowohl die Konflikte der inneren als auch der äußeren Kolonisation. Der Geistertanz wirkt mesmerisierend durch das ansteigende Tempo und stellt am Ende die Ordnung der vier Klassen auf den Kopf. In dem quasi als Coda wirkenden Bild stehen die Laien nun ganz oben. Die Spannungen und Risse in den Machtverhältnissen werden zudem durch eine Reihe von Gegensatzpaaren symbolisiert, dazu gehören nach Bansari Mitra Licht und Schatten, Prinzen und Bauern, Geister und Menschen, Wälder und Leerräume, Kämpfe und freundliche Gesten, Standbilder und Bewegungen, Lumpen und königliche Roben.7

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Das ersehnte Festmahl

Der Geisterkönig gewährt Goopy und Bagha drei Wünsche. Es ist bedeutsam, was die beiden als Höhepunkt des Glücks verstehen. Als Erstes wollen sie sich satt essen und gut anziehen können. Schon als Kind wird jedem Inder in der Schule beigebracht, wie wichtig Obdach, Nahrung und Kleidung als elementare Grundbedürfnisse des Menschen sind. Dem folgend hätten die beiden ihre drei Wünsche äußern können, und sie verlangen auch zuerst nach Nahrung und Kleidung, dann aber wollen sie vor allem reisen, um Land und Leute kennenzulernen. An dritter Stelle wünschen sie sich ein musikalisches Talent, das alle Zuhörenden bezaubert. Diese drei Wünsche reflektieren Satyajit Rays sozio-politische Einstellung und heben den Film von der Kategorie des Kinderfilms ab. Nahrung und Kleidung gelten vor allem anderen in Indien als existenzielle Notwendigkeit. Für einen Filmemacher aus Bengalen spielt natürlich auch die historische Erinnerung an die lange Dürrezeit eine Rolle.8 Der zweite Wunsch nach der Bewegungsfreiheit geht nicht nur von der Freiheit des Reisens aus, sondern schließt den uneingeschränkten Kontakt mit fremden Menschen und Kulturen ein. Der dritte Wunsch schließlich unterstreicht die Freiheit des Künstlers und die besondere Rolle der Künste als ästhetische Nahrung im menschlichen Leben. Die eigentliche Herausforderung für das Musikerduo besteht in der Aufgabe, den Krieg zwischen Schundi und Halla zu verhindern. Der König und sein hinterlistiger Hexenmeister sind die stärksten Vertreter im Machtgefüge. Satyajit Ray setzt das Motiv der Magie dabei auf ambivalente Weise ein. Während der Geisterkönig durch seinen Zauber den beiden Musikern das Leben erleichtert bzw. bereichert, macht der lebende Hexenmeister den Mittellosen das Leben noch schwerer. Wenn Goopy und Bagha mittels ihrer Zauberkräfte den Krieg verhindern, überschreitet der Film die Grenzen zwischen den Genres Fantasy, Kinderfilm und politische Satire und verstärkt seine Botschaft der Absurdität des Krieges. Der Film bekennt sich offen gegen die Politiker, die Menschen dazu verführen, ihre eigenen Brüder zu töten. Durch die gegenwärtige, von Terror und Gewalt gezeichnete, weltpolitische Lage erhält Rays Film eine neue Aktualität. Die zahlreichen Bombenangriffe und Terroranschläge sind neue Formen des Krieges, die zwar in ihren modi operandi anders verlaufen, aber in ihrer Absurdität und Zwecklosigkeit den alten Kriegen verwandt sind.

II. HEERAK RAJAR DESHE (DAS KÖNIGREICH DER DIAMANTEN, 1980)

Der zweite Film der Trilogie steigert noch die Genrehybridität des ersten Films und überschreitet die Grenzen des Kinderfilms in vielfacher Weise. HEERAK RAJAR DESHE erzählt seine Geschichte mit den Mitteln der politischen Satire entlang des roten Fadens des Hungers, der Not der Massen und deren Unterdrückung durch Könige bzw. Höflinge. Die Protagonisten Goopy und Bagha übernehmen eine Vertretungsfunktion. Sie sind das Gesicht der Massen und treten zugleich als eine Art – mit magischen Kräften ausgestatteter – Rettungsdienst auf. Die politischen Untertöne sind auffälliger als im ersten Film. Die Figuren der Könige lassen sich gedanklich leicht durch gegenwärtige Politiker ersetzen. Trotzdem behält die Märchenform ihre Gültigkeit, denn »political satire, a sophisticated literary genre, can be masked by the fairy tale form simply because the fantasy makes impossible things happen and resolves disasters into quick, happy endings. Moreover, satire, a very incisive weapon, can be thinly disguised as witty allusion. However, what lurks under cover of laughter and fun is really an unmitigated exposure of vice and corruption in political leaders. (…) Thus Hirak Rajar Deshe becomes more complicated than an ordinary tale of adventure and fun.«9

Die Maskierung bzw. Verschleierung als Fantasyfilm ist absichtlich transparent gestaltet, sodass sich die Botschaft auch nach vielen Jahren in neuen zeitgenössischen Kontexten noch entziffern lässt. Die Absurdität und Zwecklosigkeit des Krieges wird im zweiten Film durch ein weiteres brisantes Thema ersetzt. Die Strafen der Mächtigen werden immer bedrohlicher. In HEERAK RAJAR DESHE haben Goopy und Bagha keine Verpf lichtungen mehr, als königliche Schwiegersöhne kämpfen sie nur noch mit der Überwindung der Langeweile. Um ihrem ennui zu entkommen, planen sie in das Königreich der Diamanten zu reisen, das sie mithilfe ihrer magischen Schuhe problemlos erreichen. Dort angekommen, treffen sie nur auf stumme, schweigende Bewohner, denn der König ist ein Tyrann und beherrscht das Land mit Gewalt. Diese Figur lässt sich als transnational gültiges Modell eines politischen Diktators verstehen. Quelle seines Reichtums sind die Diamantenminen, die von Zwangsarbeitern bearbeitet werden. Alle Bürger sind mit hohen Steuern belastet, obwohl sie bereits in verarmten Verhältnissen leben. Der König und seine Minister dulden keinerlei Widerstand – so geraten etwa ein armer Bauer, ein Minenarbeiter und ein Sänger in Gefangenschaft, weil sie gegen die brutalen Lebensbedingungen im Königreich aufbegehren. Aber zum wirklich ernsthaft gefürchteten Gegner des Königs wird ein Dorflehrer namens Udayan10. Er betreibt Aufklärung unter den Leuten, ermutigt sie dazu, gegen das Unrechtsregime zu kämpfen. Auf Befehl des Bildungsministers werden die Schulen geschlossen. Der Dorflehrer flüchtet vor den Soldaten des Königs und versteckt sich in einer Höhle, wo er von Goopy und Bagha entdeckt wird. Er enthüllt den beiden den wahren Charakter des Königs und berichtet vom Leid des Volkes. Die beiden Narren unterstützen ihn mithilfe ihrer magischen Kräfte dabei, den ungerechten König zu entthronen. Dem Genre eines Märchens angemessen überrascht es kaum, dass die Geschichte ein Happy Ending hat.

Rays politisches Bewusstsein drückt sich in subtilen Anspielungen auf den politischen Hintergrund der Zeit zwischen 1975 und 1980 aus, in der er den Film HEERAK RAJAR DESHE drehte. Die zynischen Aussagen des Ministers – »wer viel lernt, stirbt vor Hunger; das Wissen ist unendlich, also kann man es sowieso nicht lernen« – verweisen offensichtlich auf politische Phänomene dieser Jahre. Vom 25. Juni 1975 bis zum 21. März 1977 dauerte die Phase des Notstands an, welcher von der damaligen Premierministerin Indira Gandhi ausgerufen worden war. Der Notstand gilt als eine der schlimmsten Phasen der politischen Unterdrückung, der Zensur und Diktatur in Indien. Mithilfe des damaligen Präsidenten Fakhruddin Ali Ahmed ließ Indira Gandhi über Nacht allen Zeitungsredaktionen den Strom abschalten und unterdrückte jede Form von politischer Opposition. Oppositionelle wurden verhaftet, viele führten eine Existenz im Untergrund. Der Film HEERAK RAJAR DESHE ref lektiert auf unverstellte Weise diese diktatorischen Verhältnisse während des Notstands, wenngleich seine Geschichte zweifelsohne auch im internationalen Kontext auf andere politische Zustände übertragen werden kann. Sanjay Gandhi, der jüngere Sohn Indira Gandhis, wurde zu einer kontroversen Figur wegen seiner Sterilisationsprogramme und der Verlagerung der Slums, beides ethisch hochgradig problematische Maßnahmen, die zur Beseitigung der Armut (garibi hatao) führen sollten. In Form einer politischen Satire prangert Ray die Diktatur Indira Gandhis an. Benn Nyce versteht den Film als »an angry response to the emergency decreed by Indira Gandhi in 1975–77, in which censorship and police control were severe and intolerable to most Indian intellectuals. The anger is barely masked by the entertainment.«11

Die Figur des Dorflehrers Udayan steht für die Intellektuellen sowie die zahlreichen Schüler und Studenten an den Universitäten des Landes, die für ihren Protest bestraft wurden. Die Bücherverbrennungsszene im Haus des Lehrers weckt im internationalen Zusammenhang deutliche Assoziationen zum Nationalsozialismus und zur Unterdrückung der oppositionellen Stimmen in Deutschland. Udayan wird zur emblematischen Figur, die – aufgrund ihres Protests – das politische Bewusstsein der anderen weckt. Weitere Szenen in HEERAK RAJAR DESHE beziehen sich auf konkrete Ereignisse während der Notstandszeit. Viele Slums in der Nähe der Jama Moschee in Delhi wurden mit Baggern abgetragen. Auch in Kalkutta gab es eine vergleichbare Sanierungsaktion: Elendshütten wurden gewaltsam entfernt, damit sie keinen schlechten Eindruck auf die russischen Staatsgäste machen konnten. Ein Sinnbild der repressiven Machtmechanismen verkörpert die brainwashing machine: Der König hat einen Wissenschaftler eingestellt, der in seinem Labor an einer Methode experimentiert, die er bald erfolgreich anwenden wird. Er prägt Menschen in einer Gehirnwäsche Sätze ein und löscht ihre Unzufriedenheit über den König einfach aus. Stattdessen sollen sie – wie Roboter – immer wieder die neuen Gedanken aussprechen. Die Figur des Wissenschaftlers, Gobeshok Gobochondro, erinnert an den Wissenschaftler Rotwang aus dem Stummfilm METROPOLIS (1927) von Fritz Lang. Eine derartige Ambivalenz in der Darstellung des technologischen Fortschritts steht im Zentrum vieler Science-Fiction-Filme und prägt auch Rays satirische Fantasy-Trilogie. Auf der einen Seite vertritt der Wissenschaftler Gobochondro das böse Gesicht der (fehlgeleiteten) wissenschaftlichen Praxis, auf der anderen Seite stellt er Papierblumen her, die angenehm duften.

Der Erfolg der beiden Filme GOOPY GYNE BAGHA BYNE und HEERAK RAJAR DESHE war so groß, dass Ray von vielen Kindern und Erwachsenen gebeten wurde, einen dritten Teil zu drehen. Also kündigen Goopy und Bagha bereits am Ende von HEERAK RAJAR DESHE ihre Wiederkehr feierlich an.

III. GOOPY BAGHA PHIRE ELO (DIE RÜCKKEHR VON GUPI UND BAGHA, 1991)

Goopy und Bagha mussten also auf die Leinwand zurückkehren. Der dritte Film, GOOPY BAGHA PHIRE ELO, wurde jedoch von Rays Sohn Sandip realisiert. Mit der Fortsetzung änderten sich die Kernthemen, die das Böse verkörperten. Waren dies im ersten Film Armut, Hunger, Not und die ungerechte Herrschaft der Mächtigen, so setzte sich der zweite Film mit der gewaltsamen Unterdrückung oppositioneller Stimmen und dem Missbrauch von Wissenschaft und Technologie auseinander. Der dritte Film ist dunkler und grotesker, denn er handelt von Nekromantie. Die Genrehybridität tritt immer deutlicher zutage. Sandip Ray bleibt dem Urduktus seines Vaters zwar weitgehend treu, verändert aber wichtige Aspekte. So verlieren nun sogar die beiden Protagonisten ihre Unschuld und Selbstlosigkeit – sie werden gierig. Die Trilogie schließt mit einem wahrhaft ominösen Film. Der Böse in GOOPY BAGHA PHIRE ELO wird nun von einem Priester namens Brahmananda Acharya verkörpert, der sich der Praktiken des Tantra, der schwarzen Magie und sonstiger unheilvoll wirkender Kräfte bedient. Der Film wurde kurz vor dem Tod Satyajit Rays fertiggestellt. Aber eine böse Vorahnung bzw. Todesangst ist bereits omnipräsent. In diesem Sinne verwandelt sich das Märchen in einen Schauerfilm – als Kinderfilm eignet sich GOOPY BAGHA PHIRE ELO nicht mehr. Zwischen der Produktion der Filme GOOPY GYNE BAGHA BYNE und GOOPY BAGHA PHIRE ELO waren mittlerweile viele Jahre vergangen und dies spiegelt sich auch in der Handlung wider. Das Duo Goopy und Bagha trifft auf den Priester Brahmananda Acharya, der unsterblich werden möchte. Er hypnotisiert Knaben und zwingt sie zur Fronarbeit. Goopy und Bagha, inzwischen entsprechend gealtert, wünschen sich ihre Jugend zurück und vertrauen darum auf die falschen Versprechungen von Brahmananda Acharya. Wenn sie ihm wertvolle Juwelen bringen, werde er beide um 20 Jahre verjüngen. Darum begehen Goopy und Bagha den Juwelendiebstahl in seinem Auftrag, aber kurz bevor der Pakt mit dem Teufel endgültig ist, erscheint ihnen der Geisterkönig im Traum und weist sie daraufhin, dass sie auf einen gefährlichen Weg zu geraten drohen. Er belehrt sie darüber, dass gerade ein hohes Alter seine eigenen Qualitäten habe und die gelebten Jahre wertvolle Erfahrungen und Wissen mit sich bringen würden. Schließlich tötet einer der Jungen namens Kanu (alias Vikram) den bösen Brahmananda, bewahrt auf diese Weise Goopy und Bagha vor der Sünde und befreit die anderen Knaben aus der Gefangenschaft.

Zwischen den drei Filmen, die von Bansari Mitra als »Triumvirat«12 bezeichnet wurden, besteht eine Reihe von Zusammenhängen. Goopy und Bagha sind durchgängig die Hauptfiguren, die Mächtigen missbrauchen ihre Macht und unterdrücken die einfachen Leute. Dabei werden die Träger magischer Kräfte entweder zu Handlangern der Mächtigen oder sie unterstützen Goopy und Bagha in ihrem Kampf auf der Seite der Machtlosen. Der Hexenmeister Barfi, der Wissenschaftler Gobeshok Gobochondro, der schwarze Magier Brahmananada Acharya und nicht zuletzt der Geisterkönig verkörpern verschiedene Manifestationen des Übernatürlichen, das in allen drei Filmen auftritt. Nur der Geisterkönig aus dem Reich der Toten – und hierin zeigt sich einmal mehr die Ironie – steht immer auf der Seite der Guten, bleibt konsequent freundlich und sensibel und handelt stets ethisch korrekt. Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die moralisch gefährdet sind und ihre Prinzipien und Werte gelegentlich zu vergessen drohen. Im Vergleich zur säkularen Inszenierung der ersten beiden Zauberer/Wissenschaftler, sticht die Gestalt, Kleidung und Identität des Hindu-Priesters heraus. Mit der bösen Inkarnation des Nekromanen steigert sich schließlich der allgemeine Verfall der Werte erheblich. Die Protagonisten erliegen der Versuchung ewiger Jugend und verlieren auf diesem Wege beinahe ihre moralische Unschuld. Die Angst vor Alter und Tod zieht sich durch den dritten Teil der Trilogie. Goopy und Bagha verlieren im Laufe der Zeit ihr joie de vivre und werden nicht nur ernster, sondern auch egozentrischer. Sandip Rays Film setzt die aufklärerisch-didaktische Botschaft der beiden ersten Teile, die sein Vater gedreht hat, fort. Im Zentrum seines Films steht die Warnung vor den Heuchlern, die im Namen der Religion Unschuldige ausbeuten.

Die Trilogie um die Abenteuer von Goopy und Bagha gehört zu den Klassikern der indischen Filmgeschichte und gilt bis in unsere Zeit als Inspirationsquelle für Nachwuchsfilmemacherinnen und -filmemacher, wobei das ursprüngliche Märchen des komischen Duos Goopy und Bagha durch seine Faszination auf den Zuschauer dominiert. 2013 produzierte die Filmemacherin Shilpa Ranade aus Mumbai einen Animationsfilm mit dem Titel GOOPI GAWAIYA, BAGHA BAJAIYA (DIE WELT VON GUPI UND BAGHA, 2013)13 auf Hindi, der Nationalsprache Indiens, um die breite Masse in Indien ebenso wie die im Ausland lebende indische Diaspora zu erreichen. Auch diese Umsetzung des Stoffes wurde mehrfach ausgezeichnet und erzielte weltweit große Erfolge bei Kindern und Erwachsenen.

Auch wenn die Kinderfilme von Satyajit Ray besonders im Westen bis heute immer noch wenig kritische Aufmerksamkeit erfahren haben, besteht die Hoffnung, dass Goopy und Bagha mithilfe ihrer magischen Schuhe irgendwann auch Europa erobern werden. Und wenn sie nicht gestorben sind, so zaubern sie bald vielleicht auf der ganzen Welt.