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Mami
– 1791 –

Liebe Schwester Barbara

Eva-Maria Horn

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-95979-322-3

  Fabian Wollenweber konnte nicht rasch genug die Etagentür hinter sich schließen. Achtlos ließ er den kleinen Koffer in der Diele stehen, ging in sein Wohnzimmer hinein und machte sich nicht einmal die Mühe, den Mantel auszuziehen.

  Fabian fühlte sich erbärmlich. Er warf sich in den Sessel, schloß die Augen. Nicht einmal das Sonnenlicht, das ungehindert durch das große Fenster fiel, konnte er ertragen.

  Er wurde die Bilder nicht los.

  Fabian sah sich wieder auf dem Friedhof stehen. Er hatte nicht auf die beiden Särge gesehen, die in die Gruft hineingelassen wurden.

  Er hatte nur Augen für Philip gehabt.

  Er stöhnte verzweifelt. Herrgott, wie grausam konnte das Leben sein. Philip, sein kleiner Neffe, ein verwöhntes, behütetes Kind, von seinen Eltern über alle Maßen geliebt, war nun ein Waisenkind.

  Das Telefon klingelte. Fabian

ignorierte es einfach. Aber der Anrufer war beharrlich. Nach dem sechsten Klingeln nahm er den Hörer ab. Er hätte wissen müssen, daß es Nadja war.

  »Endlich, Fabian, ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Wo hast du denn so lange gesteckt?«

  Er hielt den Hörer ans Ohr und starrte durch das Fenster auf den Himmel. Eine große weiße Wolke verdeckte für einen Augenblick die Sonne. Als Kind hatte er geglaubt, daß Tote auf Wolken ihren Platz bekamen, bevor sie in den Himmel durften.

  »Aber ich habe dir doch gesagt, daß ich nach Hamburg fahren mußte, ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht sagen konnte, wie lange ich bleibe.«

  »War es sehr arg, Fabian?« Dank ihrer zärtlichen Stimme löste sich der Panzer ein wenig, der sich um sein Herz gelegt hatte.

  »Ja.«

  »Armer Fabian. Soll ich zu dir kommen? Es wird mir leichtfallen, dich auf andere Gedanken zu bringen.« Er hörte das Locken in ihrer Stimme, aber jetzt stieß es ihn nur ab.

  »Nein, sei nicht böse, Nadja, aber mir ist gar nicht nach Gesellschaft. In einer solchen Stimmung, in der ich bin, bleibt man besser allein.«

  »Ich will dir doch nur helfen, Liebster. Es ist hart für dich, deinen einzigen Bruder zu verlieren. Du hattest auch mit deiner Schwägerin ein gutes Verhältnis, nicht wahr? Sie waren beide wirklich liebenswert. Aber durch Traurigkeit machst du sie nicht wieder lebendig.«

  »Das weiß ich auch«, knurrte er gereizt. »Es ist so… ja, dieser Unfall ist so sinnlos, so unerklärlich. Herrgott, Nadja, ich werde das Gesicht von Philipp nicht los. Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Der Kleine war wie gelähmt vor Entsetzen. Er wird das ganze Ausmaß seiner Situation noch gar nicht begriffen haben. Ich habe ihn gestern abend zu Bett gebracht, ich bin bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen war. Er wird jetzt bei den Neuhaus’ wohnen.«

  »Sie ist die Schwester seiner Mutter«, warf sie zögernd ein. »Ich habe sie nur einmal gesehen.«

  Fabian biß die Zähne zusammen, so heftig, saß sein Kiefer schmerzte.

  »Sie ist zwar Renates Schwester, aber größere Gegensätze gibt es nicht. Philipps Mutter war fröhlich, warmherzig, sie war meinem Bruder eine wunderbare Frau und Philipp eine tolle Mutter. Als mein Bruder Ernst sie zu uns nach Hause brachte, habe ich mich unsterblich in sie verliebt, ja, du kannst ruhig darüber lachen. Man mußte sie einfach gern haben.«

  »Adele ist eine sehr schöne Frau, Fabian.«

  »Ja, das ist so eine Spitzfindigkeit von Mutter Natur. Sie sieht noch immer gut aus, aber sie hat ein Herz aus Stein. Ich halte sie für gefühlskalt. Kein Wunder, daß ihr Mann Robert sich ständig mit anderen Frauen tröstet. Und bei ihnen wird Philipp leben müssen.«

  Philipps Worte dröhnten in Fabians Ohren:

  »Bitte, bitte, Onkel Fabian. Nimm mich mit zu dir. Ich will nicht zu Tante Adele. Vati mochte sie auch nicht. Als sie uns einmal besuchte, ist er sogar verreist. Ich will da nicht wohnen.«

  Er hatte die Worte unter Schluchzen und Weinen ausgestoßen, sie waren kaum zu verstehen gewesen.

  »Quäl dich doch nicht so, Fabian. Kinder vergessen schnell, sie finden sich mit Situationen schneller ab als Erwachsene. Du darfst dir auch nicht zuviel Gedanken machen.«

  »Er schlief erst ein, als ich ihm versprochen hatte, ihn mit in unseren Urlaub zu nehmen.«

  Stille. Er hörte ihren Atem und mußte sich zwingen, nicht gereizt zu reagieren.

  »Das ist doch wirklich das wenigste, was ich für ihn tun kann, Nadja.«

  »Aber Fabian. Du hättest zum mindesten vorher mit mir darüber sprechen müssen. Wir wollten doch eine Kreuzfahrt machen. Was soll denn so ein kleines Kind tagelang auf einem Schiff? Er wird sich ja zu Tode langweilen. Das war ein sehr voreiliges Versprechen, mein Lieber. Sieh nur zu, wie du es rückgängig machen kannst.«

  »Das will ich ja gar nicht.« Er legte die Füße auf den Glastisch und achtete nicht einmal darauf, daß der Aschenbecher auf den Teppich fiel. »Die Kreuzfahrt können wir immer noch machen, wenn er keine Lust dazu hat. Philipp ist neun Jahre, er ist kein Kleinkind mehr. Mein Bruder und Renate haben ihn immer mitgenommen, er hat in seinem Alter schon einiges von der Welt gesehen.«

  »Wie schön für ihn«, bemerkte sie spitz. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, wird Philipp also unser nächstes Urlaubsziel aussuchen.«

  »Hör auf, Nadja. Ich bin müde, traurig, ich bin einfach nicht ich selbst. Mir ist, als hätte man den Boden unter meinen Füßen zum Wanken gebracht. Es ist nicht nur, weil ich zwei wertvolle Menschen, die zu meinem Leben gehörten, verloren habe. Es geht um den Jungen. Er wird bei den Neuhaus’ ein freudloses Leben führen, er kann sich dort einfach nicht wohlfühlen. Weißt du, woran ich gerade dachte? An einen Ausspruch von Renate. Sie meinte damals, der Himmel hätte ein Einsehen, daß er diese Ehe kinderlos ließ. Und dort muß der Junge jetzt leben!«

  »Ich wußte gar nicht, daß du einen Hang zum Drama hast, mein Lieber. Vielleicht tut es den beiden sogar gut, daß sie sich um den Jungen kümmern müssen. Das wird sie von sich selbst ablenken. Du wirst es sehen, Fabian, alles wird besser, als du jetzt glaubst. Du bist eben in einer rabenschwarzen Stimmung und siehst alles grau in grau. Ich komme jetzt zu dir, und wenn ich auf deinem Schoß sitze, wird es mir ganz bestimmt gelingen, dich auf andere Gedanken zu bringen.«

  »Nein. Ich möchte jetzt allein sein. Wenn ich auf andere Gedanken komme, ist Philipp noch lange nicht geholfen.«

  »Und du glaubst, ihm helfen zu können, indem du Trübsal bläst? Damit hilfst du weder ihm noch dir. Aber ich gebe dir einen guten Rat, Fabian. Rufe ihn nicht an, schreibe ihm auch nicht. Er muß wissen, daß er jetzt zu den Neuhaus’ gehört, nur so kannst du ihm helfen. Er darf nicht das Gefühl haben, ein Hintertürchen zu besitzen.«

  »Das Hintertürchen soll wohl ich sein«, spöttelte er.

  »Wenn du darüber nachdenkst, wirst du wissen, daß ich recht habe. Er wird dort nichts ausstehen, er lebt bei den Neuhaus’ ja nicht in einem Waisenhaus. Er wächst behütet auf, er wird alles bekommen, was ein Kind braucht. Klar, der Anfang wird schwer für ihn sein, aber eine gewisse Härte hat noch keinem Kind geschadet. Er darf nur nicht das Gefühl haben, wenn es mir hier nicht paßt, dann gehe ich einfach zu Fabian. Dann wird er sich auch keine Mühe geben, sich einzuleben.«

  »Wenn man dich reden hört, hat man das Gefühl, daß du etwas von Kindern verstehst. Du hast nur etwas sehr Wichtiges vergessen: In erster Linie braucht ein Kind Liebe. Liebe ist wichtiger als alles andere. Ich habe eine Frage, Nadja. Sie kommt mir gerade in den Sinn. Wenn wir beide verheiratet wären, könntest du dich an den Gedanken gewöhnen, Philipps Mutter zu sein?«

  »Wir könnten längst verheiratet sein, das weißt du hoffentlich. Daß wir es noch nicht sind, liegt nicht an mir. So, jetzt lasse ich dich in deinen trüben Gedanken, wenn du dir nicht helfen lassen willst. Ruf mich an, wenn du wieder der alte bist.«

  Sie legte auf. Er hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand. Auf seine Frage hatte sie ihm keine Antwort gegeben.

*

  Fabian Wollenweber war ein vom Schicksal verwöhnter junger Mann. Er besaß eine behagliche Junggesellenwohnung inmitten der Stadt. Sie war großzügig und geschmackvoll eingerichtet. Wenn er wollte, konnte er sogar zu Fuß zur Bank gehen, aber für gewöhnlich holte er seinen schnittigen Sportwagen aus der Garage, da er meistens am Abend eine Verabredung hatte. Im letzten Jahr allerdings verbrachte er beinahe alle Abende in Nadjas Gesellschaft. Sie besuchten Freunde, gingen häufig ins Theater, sie führten ein geselliges, abwechslungsreiches Leben. Kein Wunder, daß Fabian mit seinem Leben sehr zufrieden war und nicht die Absicht hatte, es zu ändern.

  Ganz anders Nadja. Fabian war nicht nur ein sehr gutaussehender junger Mann, als Bankdirektor konnte er ihr zudem das Leben bieten, das sie sich erträumte. Als seine Frau gehörte sie zur guten Gesellschaft der Stadt. Immer wieder machte Nadja Fabian die Ehe schmackhaft, sie zeigte ihm Villen, die ihren Ansprüchen gerecht wurden, schleppte ihn, so oft es ging, zu Häusern, die zum Verkauf angeboten wurden. Aber Fabian ging ständig mit heiterer Gelassenheit darüber hinweg. Nadja war klug genug, ihn nicht zu bedrängen, obwohl es ihr immer schwerer wurde, ihren Ärger zu verbergen.

  Der Tod des Bruders und seiner Schwägerin war für Fabian der erste große Kummer in seinem Leben. Es fiel ihm schwer, die Gedanken an Philipp aus seinem Kopf zu bekommen. Anfangs dachte er beinahe ständig an den Jungen. Er rief bei den Neuhaus’ an. Aber er ließ nie Philipp an den Apparat rufen. Nadja hatte ihn noch einmal eindringlich davor gewarnt.

  »Es geht ausgezeichnet«, versicherte ihm Adele in ihrer kühlen Art. »Man merkt den Jungen kaum. Wir sehen ihn bei den Mahlzeiten, und ich erkundige mich natürlich immer wieder, wie es ihm geht. Nett von dir, daß du dich erkundigst, aber zur Sorge besteht kein Anlaß.«

  Als er das Nadja erzählte, lachte sie erfreut. »Siehst du, das habe ich dir gesagt. Kinder vergessen rasch. Vermutlich genießt er es, daß er mehr Freiheit hat als bei seiner Mutter. Ich glaube, seine Mutter hat ihn wie ’ne Glucke beschützt.«

  »Ich werde ihn zu seinem Geburtstag besuchen«, nahm Fabian sich vor. Nadja sagte nichts. Sie hatte bei Fabian übernachtet, was sie am Wochenende häufig tat. In seinem Badezimmer standen ihre diversen Tuben und Flaschen. Fabian schüttelte oft den Kopf, wieviel Dinge Frauen für ihre Schönheit brauchten.

  Fabian nahm ein Fläschchen vom Bord, öffnete den Korken und roch daran. Es war das Parfüm, das von Nadja nicht wegzudenken war. Behutsam stellte er es zurück.

  »Ich gehe heute nachmittag ins Museum«, rief sie ihm aus dem Wohnzimmer zu. »Hast du Lust mitzukommen? Die Bergers und die Schönfelders werden auch dort sein.«

  Fabian betrachtete sich im Spiegel und überlegte, ob er sich rasieren mußte oder nicht.

  »Nein, ich gehe zum Golfplatz. Ich bin in der Woche nicht dazu gekommen. Geh’ du nur allein. Du kannst mir ja erzählen, was es zu bewundern gibt.«

  Ich bin viel zu blaß, dachte Fabian und musterte sich kritisch. Zum Friseur könnte ich auch wieder gehen. Plötzlich war ihm, als sehe sein Bruder ihm über die Schulter. Er zuckte zusammen, schloß die Augen und öffnete sie wieder. So oft überfiel ihn die Erinnerung an Ernst. Ernst und er waren sich sehr ähnlich gewesen, manchmal hatte man sie sogar für Zwillinge gehalten, obwohl Ernst drei Jahre älter war als er. Ernst hatte braune, dichte Haare, genau wie Fabian. Als Kinder hatten sie sich geärgert, daß sich die Haare lockten, und mit allen möglichen Mitteln hatten sie versucht, die Krause herauszubekommen. Fabians braune Augen waren dunkel vor Kummer. Er preßte den gut geschnittenen Mund zu einem Strich zusammen, wie immer, wenn er sich um Beherrschung bemühte.

  »Du und dein dummes Golfspielen«, lachte Nadja gutmütig. »Was du nur daran findest, über den Platz zu laufen. Ich werde diesen Sport nie begreifen.«

  »Weil du dir keine Mühe gibst«, behauptete Fabian nachsichtig. »Dabei gibt es in unserem Club beinahe genauso viel Damen wie Herren.«

  Nadjas Absätze klapperten wie Kastagnetten auf dem kunstvoll verlegten Parkettboden.

  »Du solltest deiner Putzfrau sagen, daß sie die Fenster putzt, Fabian. Soll ich es ihr aufschreiben?«

  »Das laß, das mache ich.« Er warf noch einen Blick in den Spiegel und ging ins Wohnzimmer. Sie stand vor dem Fenster, eine gertenschlanke, prachtvoll gewachsene junge Frau. Er war stolz auf sie. Er zeigte sich gern mit ihr. Es hatte schon viele Freundinnen in Fabians Leben gegeben, aber keine war so schön gewesen wie Nadja. Die roten Haare hatte sie geschickt hochgestellt, dadurch wirkte ihr Gesicht noch rassiger. Manchmal verglich er sie mit einer griechischen Göttin, die Raffael gemalt hatte. Raffaels Ziel war es gewesen, die ebenmäßige Schönheit der Göttin festzuhalten. Nadja hätte ihm Modell stehen können.