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Hilferuf!

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Eine gelbe, eine weiße, eine schwarze, eine graue, eine blaue und noch zwei schwarze, die alle eindeutig nicht zusammengehörten. Finn schaute auf die Socken, die er auf seinem Bett aufgereiht hatte, und seufzte. Nur Einzelstrümpfe!

Er hatte ja gleich keine Lust gehabt, bereits jetzt zu packen. Bis zur Abreise war noch eine ganze Woche Zeit! Aber seine Mutter hatte gesagt, er solle »schon mal seine Sachen zusammensuchen«. Suchen! Genau darauf lief es hinaus.

Finn öffnete die Tür seines Zimmers und brüllte durch die Wohnung: »Mama? Ich finde meine zweiten Socken nicht!«

Die Antwort kam aus dem Badezimmer: »Was für zweite Socken?«

Finn erklärte das Problem.

»Dann musst du halt verschiedenfarbene tragen!«, rief seine Mutter.

Finn schloss die Tür seines Zimmers, zuckte einmal kurz mit den Schultern und rollte jeweils zwei Socken ineinander. Eine schwarze blieb übrig.

›Noch eine Woche Zeit!‹, ging es ihm wieder durch den Kopf. Erst dann würde er seinen Vater und seine Schwester Joanna in Florenz besuchen. Seit einem halben Jahr wohnten die beiden dort. Mama und Papa hatten sich zuvor mal wieder gestritten und wie meistens war es dabei auch ums Geld gegangen. Finns Vater arbeitete als Kunstmaler, was ihm bei allen Freunden und Verwandten große Bewunderung einbrachte. Außer bei Finns Mutter. Denn Finns Vater konnte zwar wirklich hervorragend malen und zeichnen, das bezweifelte auch Finns Mutter nicht, nur fand er für seine Bilder leider nie irgendwelche Käufer. In der Folge war Papa ständig pleite, Mama musste das Geld allein verdienen. Und schon gab es wieder Zoff zwischen den beiden.

Da traf es sich gut, dass Finns Vater vor einem Jahr ein Stipendium in Florenz angeboten worden war. Stipendium bedeutete: ein Jahr lang ein regelmäßiges Einkommen! Es hieß aber auch: ein Jahr Trennung zwischen Mama und Papa.

»Der Abstand wird uns guttun«, hatte Mama gefunden.

»Abstand« kannte Finn von der Autobahn. Den musste man einhalten, damit ein Wagen nicht auf den anderen knallte. Vielleicht war es bei seinen Eltern ähnlich. Wenn sie sich zu nah kamen, führte das auch leicht zu einem Crash.

Joanna hatte sofort entschieden, zusammen mit Papa nach Florenz zu ziehen. Joanna liebte Papas Bilder. Und noch mehr liebte sie sein Atelier, weil sie selbst gern malte. Gesagt aber hatte sie: »Dort kann ich Italienisch lernen!«

Mama hielt es für übertrieben, mit dreizehn Jahren schon Italienisch lernen zu wollen, und fand, Joanna solle sich doch lieber erst mal auf Englisch und Französisch konzentrieren. Doch auch dafür hatte sich Joanna eine Antwort parat gelegt: »Als Jugendliche lernt man Sprachen viel leichter als ein Erwachsener!«

Genau das hatte Mama auch schon mal in einer Zeitschrift gelesen. Dort hatte zwar gestanden, dass man als Kind am leichtesten lerne, doch so weit ging dann Joannas Durchsetzungswille doch nicht, dass sie sich deshalb als Kind bezeichnet hätte. Immerhin war sie fast vierzehn, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte. Das Argument genügte auch so. Mama hatte zugestimmt. Joanna hatte schon immer gewusst, wie sie bekam, was sie wollte. Das musste Finn ihr lassen.

So waren Papa und Joanna also vor einem halben Jahr nach Florenz gezogen. Und bisher war immer etwas dazwischengekommen, wenn sie sich besuchen wollten. Entweder hatten Finn oder Joanna keine Ferien, oder Mama wegen ihrer Arbeit keine Zeit, oder die Flüge waren gerade zu teuer, oder Mama und Papa hielten es für richtig, sich noch nicht zu besuchen, oder Ähnliches. Doch jetzt stand endlich der erste Besuch an. In einer Woche würde Finn gemeinsam mit seiner Mutter nach Florenz fliegen. Er freute sich bereits riesig darauf.

Finn setzte sich an seinen Computer. Vielleicht hatte sich Joanna überlegt, was sie zusammen in Florenz unternehmen konnten, und ihm eine Mail geschickt? Regelmäßig mailten und chatteten die beiden. Nur in den letzten drei Tagen war keine Nachricht von Joanna mehr gekommen, was Finn als höchst ungewöhnlich einstufte. Voller Hoffnung öffnete er sein Mailprogramm. Und tatsächlich, Joanna hatte geschrieben! Doch bevor er die Mail lesen konnte, ging die Tür seines Zimmers auf und seine Mutter steckte den Kopf herein.

»Und? Gefunden?«, fragte sie.

Finn drehte sich zu ihr um. »Hä? Was gefunden?«

»Deine zweiten Socken!«, erinnerte sie Finn an seine Suche.

Finn zeigte auf die zusammengerollten Socken auf seinem Bett. »Du hast doch gesagt, ich soll verschiedene tragen!«

Seine Mutter quiekte kurz auf und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das war ein Scherz!«

Finn verzog den Mundwinkel, Mama und ihre Scherze!

»Die Zweiten können ja nicht weg sein!«, behauptete seine Mutter.

Finn kannte das schon. Es gab Dinge, die nicht weg sein konnten und die er trotzdem schon seit Monaten suchte – wenn nicht seit Jahren. Sein Baseballcap von den New York Yankees zum Beispiel. Ein Geschenk seines besten Schulfreundes Bastian zu Finns elftem Geburtstag vor zwei Monaten: seit der Geburtstagsfeier spurlos verschwunden.

»Such deine Socken!«, befahl seine Mutter, zog den Kopf aus dem Zimmer und schloss die Tür.

»Mach ich!«, rief Finn ihr hinterher. Und widmete sich wieder seinem Computer. Er öffnete Joannas Mail und wäre fast vom Stuhl gekippt, als er sie las:

Ich brauche Deine Hilfe!

Du musst SOFORT kommen!

Chat 15 Uhr

Und: Kein Wort zu Mama!

Finn schaute auf die Uhr. 14 Uhr 30. Noch eine halbe Stunde. Er sprang auf und schimpfte: »Oh Mann, Joanna!«

Noch eine halbe Stunde. Wie sollte man eine solche Spannung aushalten? Wieso sagte sie nicht gleich, was los war? Das war ja mal wieder typisch, fand er. Die beiden verstanden sich zwar prächtig, aber es gab Situationen, da brachte sie ihn schlicht auf die Palme. Dies war so eine. Wieso sollte er warten?

Finn überlegte, was seiner Schwester passiert sein konnte. Warum war es ihr nicht möglich, jetzt zu chatten, sondern erst in einer halben Stunde? Außerdem: Was war mit Papa? Der hatte sein Atelier doch in der Wohnung und war mehr oder weniger immer zu Hause. Wieso fragte Joanna nicht ihn um Hilfe?

Oh Mann, was war da los? »SOFORT kommen?« Was meinte Joanna damit und wie stellte sie sich das vor? In einer Woche kam er doch sowieso. Und wie sollte er ihr helfen? Wobei? Finn warf einen weiteren Blick auf die Uhr: 14 Uhr 31. Na toll! Die Zeit verging nicht.

Erneut kam seine Mutter zur Tür herein. Finn schloss blitzartig das Mailprogramm. Was immer Joanna wollte, sie hielt es für besser, dass Mama zunächst nichts davon erfuhr.

»Und?«, fragte seine Mutter.

»Nicht gefunden!«, antwortete Finn, was ja nicht geschwindelt war. Schließlich hatte er auch gar nicht gesucht.

Seine Mutter presste die Lippen zusammen und zog die oberste Schublade seiner Kommode auf, in die eigentlich die Socken hineingehörten.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, schimpfte sie. »Die ist ja voll mit schmutzigem Sportzeug!« Mit spitzen Fingern zog sie ein schlammverkrustetes Fußball-Trikot aus der Schublade.

»Gestern beim Spiel hat’s geregnet«, erklärte Finn.

»Ach, und jetzt fault das nasse Shirt hier fröhlich vor sich hin, oder wie?« Sie ließ das Trikot zurück in die Schublade fallen. »Ausräumen und alles in die Waschmaschine.«

»Ja.«

»Sofort!«

»Ja!«

»JETZT!«

»Jaha!« Finn erhob sich von seinem Schreibtischstuhl, während er auf die Uhr des Bildschirms linste: 14 Uhr 36. Plötzlich hatte die Zeit begonnen zu rasen.

Er schaufelte mit den Händen den gesamten Inhalt aus der Schublade heraus, warf ihn auf den Boden und begann zu sortieren. Seine Mutter blieb hinter ihm stehen und sah ihm dabei zu, was Finn ärgerte. Er hockte sich auf den Boden vor den Wäschehaufen. Links neben sich warf er die schmutzigen Sportsachen, rechts die sauberen Unterhosen, Socken und Shirts.

»Finn!«, mahnte seine Mutter.

»Was?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Vom Boden aus konnte er seinen Wecker sehen, der neben dem Bett stand: 14 Uhr 43. Seine Nervosität stieg.

»Willst du die blauen Shirts nicht nach Florenz mitnehmen?«, fragte seine Mutter. »Das sind doch deine Lieblingsshirts.«

»Ja!«

»Na, dann pack sie gleich in den Rucksack!«

»Oh Mann!«, wiederholte Finn. »Nicht jetzt!«

»Wann denn sonst? Nachher wirst du wieder nicht rechtzeitig fertig und vergisst die Hälfte. Du weißt doch …«

Weiter kam sie zum Glück nicht, weil das Telefon klingelte. Seine Mutter verließ das Zimmer. Finn dankte dem Himmel für diesen Anruf. Er griff sich den gesamten Haufen schmutziger Wäsche, schleppte ihn, so schnell er konnte, in die Küche, warf alles in die Waschmaschine, raste zurück in sein Zimmer, packte den auf dem Boden liegenden Haufen mit der sauberen Wäsche und stopfte alles in den Rucksack. Der Boden war frei, keine Wäsche mehr zu sehen. Seine Mutter hatte keinen Grund mehr, über irgendetwas zu meckern.

Dann schaute er kurz in den Flur und horchte. Seine Mutter saß mittlerweile im Wohnzimmer und telefonierte wohl mit einer ihrer Freundinnen. Das würde dauern. Finn hatte freie Fahrt!

Er schloss die Tür seines Zimmers, setzte sich auf seinen Stuhl und öffnete das Chatprogramm. 14 Uhr 48.

Schon eine halbe Minute später sah er, dass auch Joanna bereits online war.

Hi Joanna

Was ist los?

tippte er eilig ein.

Die Antwort kam prompt:

Hi Finn

Eine Katastrophe:

Papa ist weg!

Finn starrte auf den Monitor. Und verstand nicht, was er dort las. Es konnte nicht sein, was Joanna schrieb. Ihr Vater würde doch nicht so einfach …?

Er spürte, wie seine Finger ein wenig zu zittern begannen, als er nachfragte:

Was heißt: weg?

Papa haut doch nicht

so einfach ab!!??

Er biss sich auf die Lippen, während er gespannt auf die Antwort wartete.

»Finn?«

Finn stöhnte auf. Ausgerechnet jetzt meldete sich seine Mutter! Wieso telefonierte die nicht mehr?

»Finn, gehst du mal bitte zur Tür? Es hat geklingelt!«

»Oh nein!«, schimpfte Finn.

»Finn?«

»JA, ich komm ja schon!« Finn erhob sich, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. Wieso brauchte Joanna so lange für ihre Antwort?

»Finn!«

»JA!«, brüllte Finn. Ein letzter Blick auf den Bildschirm, aber noch immer keine neue Zeile von Joanna. Dann sauste er aus seinem Zimmer, düste durch den Flur und riss die Wohnungstür auf. Vor ihm stand – niemand!

Finn trat einen Schritt hinaus ins Treppenhaus und hörte von unten das Klappern der Briefkästen.

»Verdammt!«, fluchte er. Nur ein Werbeprospekt-Verteiler, der einen Dummen zum Öffnen der Haustür gesucht hatte. »Blödmann!«, schimpfte Finn vor sich hin und ballerte die Tür zu.

»Wer ist denn da gekommen?«, fragte seine Mutter aus dem Wohnzimmer heraus.

»Werbung!«, rief Finn ihr zu und rannte zurück in sein Zimmer. Inzwischen musste Joanna längst geantwortet haben.

Natürlich ist Papa nicht abgehauen.

Was denkst Du denn?

Papa ist seit drei Tagen verschwunden!! Deshalb musst Du ja kommen.

Wir müssen ihn suchen – und finden,

bevor Mama kommt!

Finn hielt den Atem an. Mit jedem Wort, das er von Joannas Mitteilung las, schlug sein Herz ein bisschen schneller. Was war bloß passiert? Wie konnte sein Vater einfach so verschwunden sein? Der verlief sich doch nicht. Er war auch nicht reich, sodass ihn jemand hätte entführen wollen, um Lösegeld zu verlangen. Sein Vater war weder Bergsteiger noch Extremsportler. Wie sollte ein ganz normaler Künstler in einer Stadt wie Florenz spurlos verschwinden? Finn konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Doch seine Verwunderung wurde noch größer, als er den nächsten Satz las, den Joanna ihm schickte:

Papa hat einen Schatz gefunden.

Finn schnappte nach Luft. Und schrieb:

Einen WAAAAAAS?

Joanna hatte offenbar bemerkt, dass ihre letzte Nachricht zweideutig war. Und ergänzte:

Einen Schatz!

Also nicht ne andere

Frau, sondern einen echten Schatz.

Wertvoll. Versteckt. Geheim.

Leider weiß ich nicht, wo.

Finn ließ sich gegen die Stuhllehne fallen und stöhnte laut auf. Er verstand nur Bahnhof. Was er allerdings begriff, war, weshalb Joanna ihn gebeten hatte, Mama kein Wort zu erzählen. Was auch immer dort in Florenz passiert war, ganz offensichtlich hatte Papa irgendeinen Unfug angestellt. Das war nicht das erste Mal. Für eine verrückte oder vollkommen durchgedrehte Idee war ihr Vater immer zu haben. Ein weiterer Punkt, über den sich Mama gern mit ihm stritt. Joanna und Finn hingegen mochten diese Eigenschaft an ihrem Vater. Sie sorgte dafür, dass bei ihnen zu Hause eigentlich nie Langeweile aufkam. Auch deshalb hatten sich Joanna und Finn schon vor einem halben Jahr fest vorgenommen, alles dafür zu tun, dass ihre Eltern wieder zueinanderfanden. Der Florenz-Besuch sollte die Sache einen wichtigen Schritt in diese Richtung voranbringen. Und nun das! Ihr Vater war auf Schatzsuche gegangen und seitdem verschwunden.

Ebenso wie Joanna konnte Finn sich lebhaft vorstellen, was das für einen Wirbel und Ärger geben würde, wenn Mama davon Wind bekäme. Sie wäre sofort wieder sauer auf Papa, und der Plan, die beiden näher zueinanderzuführen, wäre dahin. Joanna hatte recht. Sie mussten ihren Vater finden, bevor Mama nach Florenz fuhr. Nur: Wie sollte Finn vor seiner Mutter in Florenz ankommen? Er konnte unmöglich sofort und allein dorthin reisen.

Diese Gedanken schien sich auch Joanna bereits gemacht zu haben. Mit ihrer nächsten Meldung versetzte sie Finn erneut in ungläubiges Staunen:

Beende den Chat!

SOFORT!

Mama kommt gleich zu Dir rein!

Ich warte!

Hä? Woher wollte Joanna wissen, was seine Mutter gerade tat?

Beende den Chat! SOFORT!

wiederholte Joanna.

Im selben Moment öffnete sich die Tür seines Zimmers. Blitzartig klickte Finn den Chat weg. Seine Mutter kam herein.

»Warum hast du mir denn gar nichts gesagt?«

Finn schwieg. Wovon redete sie?

»Am Telefon eben, das war Joanna. Sie hat mir von dem Zeltwochenende an ihrer Schule erzählt. Toll, dass sie an dich gedacht hat und du mitfahren darfst.«

Finn starrte seine Mutter an. Zeltwochenende? Mitfahren?

Seine Mutter kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Ich weiß gar nicht, ob ich den Flug umgebucht bekomme. Es geht ja schon übermorgen los.«

Finn erschrak. Was hatte Joanna da angerichtet? Jetzt wollten sie schon übermorgen fliegen? Bis dahin würde sie doch ihren Vater niemals wiederfinden können!

Mit einer kleinen Sorgenfalte auf der Stirn schaute seine Mutter Finn an. »Traust du es dir zu, allein zu fliegen?«

Finn versuchte, sich zusammenzureimen, was sie wohl meinen könnte. Aber »allein fliegen« klang schon mal gut. Erleichtert atmete er aus und antwortete: »Tja … öh … klar!«

Seine Mutter hatte also gar nicht mit einer Freundin telefoniert, sondern mit Joanna. Und während er mit ihr gechattet hatte, hatte sie ihre Mutter irgendwie davon überzeugt, dass Finn sofort und allein nach Florenz kommen müsse.

Ein Zeltlager von Joannas Schule? Davon hatte Joanna ihm nichts erzählt. Ob das nur eine Erfindung von ihr war? Zutrauen würde Finn ihr so eine Schwindelei auf jeden Fall. Wie gesagt: Joanna fand immer einen Weg, das zu bekommen, was sie wollte.

»Für den Fall, dass es klappt, kannst du schon mal packen. Uns bleibt nur wenig Zeit«, stellte seine Mutter fest. Und ergänzte nach kurzer Überlegung: »Seltsam, dass Papa mir nichts davon gesagt hat. Na, ich ruf ihn nachher noch mal an.«

Auweia! Daran hatte Joanna offenbar nicht gedacht! Es war doch logisch, dass Mama mit Papa sprechen wollen würde, bevor sie Finn das erste Mal allein in ein Flugzeug setzte. Er befürchtete, dass genau wegen dieses Anrufs ihr Plan am Ende auffliegen würde. Gerade wollte er das Chatprogramm öffnen, um Joanna danach zu fragen.

Doch da pfiff seine Mutter ihn schon wieder an: »Finn! Jetzt ist keine Zeit, um am Computer zu spielen. Pack deine Sachen! Ich rufe die Fluggesellschaft an wegen der Umbuchung.«

Finn sprang auf und packte seine Sachen. Jetzt drängte ja die Zeit. Bereits übermorgen würde er fliegen, um gemeinsam mit seiner Schwester ihren Vater zu suchen. Finn stopfte alles in den Rucksack, was ihm an Klamotten in die Finger kam. Die unterschiedlichen Strumpfpaare, ein paar Unterhosen, Shirts, Shorts, eine lange Hose. Er achtete nicht darauf.

Seine Gedanken galten einzig und allein dem Abenteuer, das ihm bevorzustehen schien. Was würde er dafür benötigen? Sicher eine gute Taschenlampe. Ein Taschenmesser würde nicht schaden. Was war mit einem Fernglas und einem größeren Messer? Alles rein in den Rucksack. Ihm fiel ein, dass er dann auch eine kleine Tasche brauchte. Seinen Schulrucksack am besten. Finn zerrte ihn unter dem Schreibtisch hervor, kippte ihn auf dem Boden aus und wühlte in den Schulsachen herum. Er fand darin nichts, was er seiner Meinung nach in Florenz brauchen würde.

Das war ja mal wieder klar, fand er. Täglich schleppte man sich mit den Schulsachen ab, aber wenn es darauf ankam, konnte man nichts davon gebrauchen. Nicht mal den Schulatlas. Stattdessen aber sein Handy. Zum Glück ein Smartphone.

Finn sprang zurück an seinen Schreibtisch und begann, das Internet nach nützlichen Dingen zu durchsuchen: Stadtkarte von Florenz, Stadtführer zum Downloaden, ein Wörterbuch Deutsch-Italienisch.

»Hat geklappt! Übermorgen um 9 Uhr geht der Flieger und …«, rief seine Mutter, brach beim Blick in Finns Zimmer ab und stützte die Hände in die Hüften: »Du sitzt ja schon wieder am Computer! Du sollst doch packen!«

»Tu ich doch!«, versicherte Finn. »Heutzutage packt man eben anders als ihr alten Leute!«

Mama schnappte nach Luft: »Alte Leute! Na hör mal!« Entrüstet verließ sie das Zimmer.

Finn wusste: Bestimmt postete sie jetzt auf Facebook, dass ihr Sohn gesagt hatte, sie wäre alt. Er grinste vor sich hin. Für einen Moment würde er seine Ruhe haben.

FLORENZ!

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Finn kam sich total bescheuert vor. Er saß am Abfertigungsgate des Flughafens und trug diesen blöden Brustbeutel, in dem sein Ausweis und seine Bordkarte steckten, damit sie nicht verloren gingen. An einem Band um den Hals gehängt wie eine Hundemarke! Als ob er zu dämlich wäre, einen Ausweis in seiner Tasche aufzubewahren.

»So sehen die Flugbegleiter gleich, dass du abgeholt werden musst«, hatte seine Mutter ihn zu beruhigen versucht. Aber genau das war ja das Schlimme. Er trug einen Brustbeutel, damit JEDER sofort sah, dass er eine Begleitperson brauchte. Unfähig, sich allein zurechtzufinden. Wie ein Baby, das im Kinderparadies eines Möbelhauses nach seiner Mami schrie!

Finn überlegte gerade, ob er den Brustbeutel nicht einfach zusammenknüllen und in die Hosentasche stecken sollte, als schon eine Flugbegleiterin mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam und säuselte: »Du bist Finn?«

Die Versuchung war groß, mit »Nein!« zu antworten. Er war, soweit er es überblickte, der einzige Junge, der ohne Begleitung mit dieser Maschine flog und einen entsprechenden Brustbeutel um den Hals trug. Wer also sollte er wohl sonst sein als eben Finn Martens, gebucht auf die Maschine um 9 Uhr nach Florenz? Finn antwortete nicht, sondern folgte ihr einfach nur stumm wie ein Geheimagent, den man kurz vor seinem Abflug doch noch festgenommen hatte und nun abführte.

Er bekam einen Sitzplatz am Fenster in der dritten Reihe. Wenigstens ein guter Ausblick. Es war nicht sein erster Flug. Er war mit seiner Familie schon öfter in den Urlaub geflogen: nach Mallorca, Paris, Faro und nach Antalya.

Leider noch nie nach New York oder Kanada, wohin Joanna am liebsten mal fliegen würde. Er würde, wenn er einen Wunsch frei hätte, gern mal nach Südafrika reisen.

Aber nun erst mal nach Florenz. Die Vorfreude, die er seit Wochen empfand, seine Schwester und seinen Vater wiederzusehen, war nun weitgehend der Aufregung und auch Angst gewichen. Gemeinsam mit Joanna musste er herausfinden, was mit seinem Vater passiert war!

Die Flugbegleiterin reichte ihm ein Spielzeugflugzeug und einen kleinen Malkasten.

»Kann ich ’ne Cola bekommen?«, fragte Finn, während er das Geschenk der Fluggesellschaft für Kleinkinder mit einer Handbewegung ablehnte.

»Später«, versprach die Frau mit dem Halstuch in den Farben der Fluglinie, steckte das Geschenk ein und bot ein anderes an: »Kopfhörer?«

»Gern!«, freute sich Finn und wollte zulangen.

»2 Euro 50!«

Finn verzog das Gesicht. ›Dumme Nuss!‹, dachte er und schaute aus dem Fenster. Währenddessen schoben sich die restlichen Fluggäste ins Flugzeug.

Auf die beiden Plätze neben ihm setzten sich ein Junge, den Finn ein bisschen älter schätzte als sich selbst, vielleicht in Joannas Alter, und – so vermutete Finn – dessen Vater.

»Hallo«, begrüßte Finn ihn knapp.

»Ciao!«, antwortete der Junge.

Finn war verwundert: Hieß »Ciao« nicht so viel wie »Auf Wiedersehen«? Der Kellner in der Pizzeria jedenfalls verabschiedete sich immer so. Aber der Junge war doch gerade erst gekommen?

Finn sah wieder aus dem Fenster. Doch der Junge tippte ihm gegen den Arm. »Andrea!«

Finn schaute sich um. Hatte der Typ auch eine Schwester? Finn konnte kein Mädchen entdecken. Trotzdem sagte er: »Meine Schwester heißt Joanna!«

»Andrea!«, wiederholte der Junge.

Finn nickte. Schon klar!

Der Junge schüttelte den Kopf. »Mi chiamo Andrea!« Dabei tippte er mit dem Finger stolz gegen seine Brust.

Finn verstand. Aber was war mit dem Typ los? Machte der alles umgekehrt? Zur Begrüßung sagte er »Ciao« und er trug einen Mädchennamen! Finn versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und sagte nur: »Ich bin Finn!«

»Finne?«, fragte der Junge und grinste.

Finn verzog das Gesicht. Sollte das jetzt ein müder Witz sein? »Nee, alter Schwede!«, antwortete er. Sollte Mister Alles-Umgekehrt doch denken, was er wollte. Finn schaute wieder aus dem Fenster. Die Maschine startete.

Andrea, der auf dem Mittelplatz saß, versuchte über Finn hinweg ebenfalls einen guten Blick aus dem Fenster zu erwischen. Finn presste sich so weit wie möglich in die Rückenlehne. So konnten sie beide gemeinsam hinausschauen und sehen, wie das Flugzeug abhob und die Stadt unter ihnen immer kleiner wurde. Bis sie schließlich die Wolkendecke durchbrochen hatten, die den Blick auf die Stadt versperrte. Es war, als würden sie durch ein Meer aus Watte fahren, über dem nichts als blauer Himmel und Sonne zu bewundern waren.

»Grandioso!«, strahlte Andrea und bedankte sich bei Finn dafür, dass der den Blick aus dem Fenster mit ihm teilte. »Grazie!«

Dann ließ er sich in seinen Sitz zurückfallen und nahm sich die Fußballzeitschrift vor, die es am Eingang des Flugzeugs gratis gegeben hatte. Eine deutsche Zeitschrift. Finn konnte eindeutig erkennen, dass Andrea sich nicht nur die Fotos ansah, sondern auch den Text las.

»Du sprichst Deutsch?«, fragte Finn.

»Na klar!«, antwortete Andrea.

»Aber …« Finn brach ab, überlegte kurz. Und begann seine Frage erneut: »Aber du hast die ganze Zeit Italienisch gesprochen!«

»Naturalmente!«, antwortete Andrea. »Wir fliegen gerade nach Florenz, oder nicht? Italien! Da man spricht Italienisch!«

›Pappnase!‹, dachte Finn und verzog das Gesicht. Das hätte Andrea ihm aber auch gleich sagen können, dass er zweisprachig war.

Doch im Laufe des Flugs entpuppte sich Andrea doch noch als netter Sitznachbar. Andrea wohnte bei seinem Vater in Deutschland und nutzte nun die Ferien, um mit ihm gemeinsam seine Mutter zu besuchen.

Also genau andersherum als bei Finn. ›Sag ich doch‹, dachte Finn, ›der Typ macht alles umgekehrt.‹

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, tauschten die beiden ihre Adressen aus, und zwar sowohl ihre deutschen als auch die italienischen.

Finns Vater wohnte gar nicht weit von Andrea’s Mutter entfernt, wie Andrea mit einem Blick auf den Zettel feststellte. Er kannte sich in Florenz bestens aus, denn so, wie Joanna nur für ein Jahr in Florenz lebte, war Andrea erst seit einem Jahr in Deutschland und würde auch nur noch ein halbes Jahr bleiben.

Vielleicht war da doch was dran, dass Kinder oder Jugendliche schneller Fremdsprachen lernten als Erwachsene, dachte Finn. Er war gespannt, ob Joanna schon halb so gut Italienisch sprechen konnte wie Andrea Deutsch. Er selbst war sogar im einfachen Englisch-Unterricht eine ziemliche Niete.

Das Flugzeug landete, und da Finn nur knapp vierzehn Tage bleiben wollte, trug er nur Handgepäck bei sich. Allerdings hatte er dafür zu Hause so wichtige Dinge wie sein Taschenmesser wieder aus dem Rucksack auspacken müssen. Das würde seine Mutter ihm nachbringen. Die hatte sich gewundert, wie man für fast zwei Wochen so wenig Gepäck benötigen konnte. Weil sie es sich gar nicht hatte vorstellen können, hatte sie sogar noch kontrolliert, ob er wirklich genug frische Unterhosen, Socken und Shirts dabeihatte. Das hatte er, laut dem Urteil seiner Mutter, nicht.

Doch Finn hatte abgewinkt. »Papa hat doch eine Waschmaschine! Wozu also so viel mitschleppen?«

Das hatte seine Mutter überzeugt, obwohl Finn nicht vorhatte, seine Kleidung während der Reise zu waschen. Das behielt er aber für sich.

Er brauchte also nicht am Gepäckband zu warten und konnte sofort hinausgehen. Wenn er nur nicht diesen blöden Brustbeutel tragen müsste! Denn die Flugbegleiterin hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn zu eskortieren, bis sie gemeinsam Finns Vater getroffen haben würden. Aber das ging nicht! Sein Vater wartete natürlich nicht am Ausgang. Genau deshalb war er ja bereits jetzt und allein nach Florenz geflogen. Um seinen verschollenen Vater zu suchen. Das wiederum durfte er natürlich niemandem erzählen. Was sollte er tun?

Ihm fiel nichts Besseres ein als das, was er in der Schule immer tat, wenn er sich mal schnell verdünnisieren musste: Er ging aufs Klo. Die Flugbegleiterin wartete draußen vor der Toilettentür.

Finn schaltete sein Handy wieder ein, rief Joanna an und schilderte ihr das Problem.

»Okay«, sagte Joanna nur. »Ich regle das. Komm in zehn Minuten heraus.«

»Zehn Minuten?«, fragte Finn entsetzt. »Was soll ich denn zehn Minuten lang auf dem Klo machen?«