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John Locke zur Einführung

Walter Euchner

John Locke zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Lockes intellektuelle Statur

2. Die Herausbildung der Erkenntnistheorie

3. Der »Essay Concerning Human Understanding«

Stoßrichtung und Argumentationsstruktur

Die Ideen und ihre Formen als Grundlagen des Erkennens und Denkens

Die Erkenntniskraft auf naturphilosophischem und anthropologischem Gebiet

Die Erkenntniskraft auf dem Gebiet von Moral und Naturrecht

4. Die politische Theorie

Die Kontroverse mit Sir Robert Filmer

Naturzustand, Naturrecht und Sozialvertrag

Eigentum

Politische Institutionen und Gewaltenteilung

Toleranz

Widerstand und Revolution

5. Die politische Ökonomie

6. Der Pädagoge

7. Die Theologie

8. Positionen der aktuellen Locke-Diskussion

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

John Locke scheint heute hauptsächlich unter dem Aspekt der politischen Theoriegeschichte gelesen zu werden. Dies ist nicht erstaunlich, denn im Jahrhundert der totalitären Regime mußte ein Autor, der vor dem Mißbrauch politischer Gewalt warnte und Toleranz forderte, Aufmerksamkeit erregen.

Locke selbst hat seinen Beitrag zum politischen Denken wohl eher als Nebenprodukt seines geistigen Wirkens begriffen. In erster Linie ging es ihm darum, die Reichweite des menschlichen Verstandes auszuloten – dies aber nicht nur in theoretischer, sondern durchaus auch in lebenspraktischer Hinsicht. Er war ein Mann des aufgeklärten »gesunden Menschenverstandes«, den er auf allen Wissensgebieten angewandt sehen wollte. Was Ökonomie, Theologie und Pädagogik betrifft, so hat er selbst Proben davon gegeben.

Mein Bemühen galt einer möglichst ausgewogenen Darstellung der Facetten des Lockeschen Werkes. Daß der politische Aspekt vielleicht doch überwiegt, wird man, wie ich hoffe, dem Politikwissenschaftler nachsehen. Natürlich wäre ich froh, wenn die Lektüre allen Leserinnen und Lesern nützen könnte, gleich von welcher Disziplin aus sie sich Locke nähern wollen.

Mit Rat, Tat und Kritik haben mich Wiebke Schuler, Kathrin Wiebe und Gerald Willms unterstützt, nicht zu vergessen Fabian Euchner, der mir auch am häuslichen Computer zur Seite stand. Annerose Baumann wirkte mit bewährtem Engagement an der komplizierten Zusammenstellung der Schlußfassung mit. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank.

Göttingen, im November 1995
Walter Euchner

Vorwort zur zweiten Auflage

Das Interesse an Locke ist seit dem ersten Erscheinen dieser Einführung ungebrochen geblieben. Die wichtigsten Forschungsrichtungen haben sich durchgehalten, vor allem die politische Philosophie und die darin eingebettete Eigentumstheorie, die hauptsächlich unter dem Aspekt des Vorrangs privater Eigentumsrechte vor der staatlichen Wohlfahrtspolitik diskutiert wird. Auffallend ist ferner die große Beachtung, die Einzelfragen der Lockeschen Erkenntnistheorie in der akademischen Philosophie finden. Sie stellt die verbreitete Auffassung in Frage, diese sei überholt und deshalb uninteressant geworden.

Glücklicherweise erleichtert eine Vielzahl von Bibliografien und umfangreichen Sammelwerken, die den Ertrag der Locke-Forschung dokumentieren, den Zugang zum Denken Lockes. Hierbei ist insbesondere der von Roland Hall herausgegebene „Locke News Letter“ hervorzuheben, der seit dem Jahr 2001 unter dem Titel „Locke Studies“ fortgesetzt wird. Er enthält neben neuesten Forschungsbeiträgen eine laufende Bibliografie der Neuausgaben von Werken Lockes und der Neuerscheinungen und Aufsätze zu Locke und zu allen Fragen, die mit seinem Denken zusammenhängen.

Göttingen, im Februar 2004
Walter Euchner

1. Lockes intellektuelle Statur

Zu Recht gilt John Locke als Klassiker der Philosophie. Doch diese Aussage charakterisiert seine Bedeutung nur unzureichend. Locke war ein Intellektueller, der die geistigen, politischen und wirtschaftlichen Tendenzen seiner Zeit erkannte – doch er interpretierte sie nicht nur, sondern stand als Berater von Politikern und Inhaber von Staatsämtern selbst im politischen Leben. Vielleicht erfaßt man sein Wirken am besten, wenn man ihn als Gentleman-Philosophen und Gentleman-Politiker sieht.

Auf eine ausführliche Darstellung seines Lebens soll hier verzichtet werden, da hierüber an anderen, bequem zugänglichen Stellen nachgelesen werden kann.1 Locke, 1632 geboren, stammte aus einem puritanischen Elternhaus, zog es jedoch vor, sich zur anglikanischen Staatskirche zu bekennen, vielleicht, um Schwierigkeiten, die die Zugehörigkeit zu einer religiösen Sekte mit sich gebracht hätte, aus dem Wege zu gehen. Seine akademische Karriere am Christ Church College in Oxford, in das er zwanzigjährig als Stipendiat eintrat, ließ sich gut an; bald galt er als ein zu den schönsten Hoffnungen berechtigender junger Mann.

Der junge Locke hatte ein Gespür für die Entwicklung des modernen Denkens. Er verwarf die aus dem Mittelalter überkommene Scholastik seiner akademischen Ausbildung und wandte sich Fragen der empirischen Naturerkenntnis und der Medizin zu. Er brachte es zum praktischen Arzt, der prominente Patienten mit Erfolg behandelte.2

Lockes naturwissenschaftliche Interessen brachten ihn mit dem gleichfalls in Oxford wirkenden, renommierten Naturwissenschaftler Robert Boyle in Kontakt; er experimentierte zusammen mit ihm und beobachtete für ihn das Wetter. Boyles Korpuskulartheorie machte Locke sich zu eigen.

Als Locke bereits in London lebte, knüpfte er Beziehungen zu Thomas Sydenham, einem der führenden Mediziner seiner Zeit; 1668 wurde er zum Mitglied der berühmten naturphilosophischen Gesellschaft Englands, der Royal Society, gewählt. Naturforscher und Naturphilosophen, darunter Isaac Newton, akzeptierten Locke als gelehrten Gesprächspartner.

Zu Lockes Aufgaben als Dozent am Christ Church College gehörte der Unterricht in Moralphilosophie. Diese war Bestandteil der »Praktischen Philosophie«, zu der auch Fragen der Politik bzw. des Verhältnisses von Politik und Religion gezählt wurden. Zu Beginn der sechzigerJahre, d.h. am Beginn der Restauration der Stuarts nach dem Cromwell-Regime, griff Locke die Frage der staatlichen Regelung des Gottesdienstes auf. Er befürwortete sie, im Unterschied zu seiner späteren Auffassung, weil er unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges sektiererisches Verhalten für friedensgefährdend ansah. Über dieses Problem schrieb er um das Jahr 1660 zwei Abhandlungen; ein Publikationsplan zerschlug sich. Das philosophische Problem der Voraussetzungen systematischer Erkenntnis auf politischem Gebiet verfolgte er weiter. Als Grundlage hierfür wurde damals die Fähigkeit der Vernunft angesehen, die Prinzipien der Gerechtigkeit und einer ihr entsprechenden politischen Ordnung erfassen zu können – eine Sichtweise, die der aus der Scholastik überkommenen Naturrechtslehre entstammte. Locke widmete dieser Frage zwischen 1663 und 1664 mehrere gründliche Essays, die gleichfalls unveröffentlicht blieben. Aus ihnen läßt sich erkennen, daß Locke bei der Behandlung dieses Problems seine naturwissenschaftlichen Erfahrungen nutzbar machte, die seinen Blick für erkenntnistheoretische Fragen geschärft hatten. Diese Fragen rückten bald ins Zentrum seines philosophischen Interesses. Obwohl Lockes Untersuchungen politischer und naturrechtlicher Themen nicht veröffentlicht wurden, blieben sie nicht unbekannt, denn nach damaligem Brauch ließ er seine Manuskripte im Kreise seiner akademischen Gesprächspartner zirkulieren.

Locke empfahl sich Mitte der sechziger Jahre als ein junger Gelehrter, dem höhere Aufgaben anvertraut werden konnten. 1665 wurde er dazu ausersehen, den englischen Gesandten Sir Walter Vane als Sekretär nach Kleve zu begleiten, dem damaligen Sitz des Kurfürsten von Brandenburg, der für die Zeit der englisch-niederländischen Auseinandersetzungen von einer englandfeindlichen Position abgehalten werden sollte. Kaum zurück, wurde Locke die Stelle eines Sekretärs beim englischen Botschafter in Schweden angetragen. Er verzichtete, doch die Politik sollte ihn bald um so stärker beschäftigen. Locke machte nämlich die Bekanntschaft eines der wichtigsten englischen Politiker jener Tage, des Lord Ashley, des späteren Grafen von Shaftesbury, in den sechziger und siebzigerJahren Inhaber höchster Staatsämter, als First Lord Chancellor für einige Zeit faktisch Regierungschef. Ashley holte Locke nach London, also ins Zentrum des politischen Geschehens, wo Locke ihm als Sekretär, Berater und Leibarzt diente.3

Ashley war Whig, d.h. ein Vertreter jener Gentry genannten Schicht aus Landadel und Bürgertum, die sich in Opposition zum Königshaus der Stuarts befand. Seine Politik orientierte sich hauptsächlich an den Interessen der Kreise, die Handel und Gewerbe, nicht zuletzt durch koloniale Expansion, vorantreiben wollten. Innenpolitisch vertrat Ashley einen liberalen Kurs, d. h., er trat für die Tolerierung der puritanischen Sekten ein, da er zu Recht der Auffassung war, daß deren Mitglieder besonderen Gewerbefleiß entfalteten. Man würde Ashley jedoch verkennen, sähe man in ihm ausschließlich den machtbewußten Interessenpolitiker. Er besaß durchaus Neigungen zur Philosophie, Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie und versprach sich gerade darin Anregungen von der Zusammenarbeit mit dem brillanten Intellektuellen Locke. Ashley ermunterte Locke, Fragen der religiösen Toleranz und der Währungspolitik zu durchdenken, und ließ ihm bewußt Muße für seine erkenntnistheoretischen Überlegungen, an denen er Anteil nahm. Zudem war Locke an der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für die Kolonie Carolina in Amerika beteiligt; ferner wurde er zum Staatssekretär des Amtes »Presentation of Benefits« und schließlich für den einflußreichen »Council of Trade and Plantations« (des Handels- und Kolonialministeriums) bestellt. Seinen Einblick in wirtschaftliche Zusammenhänge nutzte er zu gewinnbringenden Geldanlagen – eine Praxis, die er bis ins höchste Alter beibehielt. Nicht verschwiegen werden soll, daß der Vorkämpfer liberalen Denkens auch am Sklavenhandel verdiente.4

Folgenreich für Lockes Entwicklung als politischer Theoretiker war der Umstand, daß Shaftesbury im Abwehrkampf gegen die mögliche Thronfolge eines katholischen Mitglieds des Königshauses, des Herzogs von York, auf Lockes Fähigkeiten zur politischen Analyse zurückgriff. Ende der siebzigerJahre begann Locke, sich mit der Position eines Verfechters der absolutistischen Königsgewalt, Sir Robert Filmers, auseinanderzusetzen. Resultat dieser politiktheoretischen Untersuchung war ein dickleibiges Manuskript, das er nach der »Glorious Revolution« unter dem Titel Two Treatises of Government anonym publizierte. Es scheint, daß Locke von Shaftesbury zur Abfassung dieser Schrift – eine »Gelegenheitsarbeit«, wie gesagt worden ist – aufgefordert wurde.5 Sie hat Locke ein für alle Mal in den Rang eines Klassikers des politischen Denkens erhoben.

Die Two Treatises thematisieren die verhängnisvollen Auswirkungen absoluter Herrschaft auf das politische und gesellschaftliche Leben. Unter dieser Herrschaftsform hatten Shaftesbury, aber auch Locke zu leiden, die sich in Opposition zu den Stuarts und deren Gefolgsleuten befanden. Shaftesbury wurde politisch verfolgt, saß sogar über ein Jahr im Tower und war schließlich 1682, nachdem er gegen den König konspiriert hatte, gezwungen, nach Holland zu emigrieren. Auch Locke war der Gefahr der politischen Verfolgung ausgesetzt. Im Jahr 1675, als Shaftesbury zum ersten Mal in politische Schwierigkeiten geriet, entzog Locke sich möglichen politischen Belästigungen durch eine Reise nach Frankreich, von der er sich zudem eine Linderung seines Asthmaleidens erhoffte.

Locke nutzte diese Reise, die ihn hauptsächlich nach Montpellier und Paris führte, dazu, die Bekanntschaft bedeutender Gelehrter, Naturwissenschaftler und Mediziner zu machen. Er hatte nunmehr Muße, wieder stärker seinen erkenntnistheoretischen Interessen nachzugehen, wie die Eintragungen in seinen berühmten, von ihm als »Common place Book« bezeichneten, enzyklopädisch angelegten Tage- und Notizbüchern, die reizvoll zu lesen sind, zeigen. In ihnen kommt seine Ablehnung bestimmter Positionen Descartes’ und seine Nähe zu Auffassungen des neoepikureischen Philosophen Pierre Gassendi zum Ausdruck. Dessen Schüler François Bernier, Arzt wie Locke, zugleich ein weitgereister Mann von Welt, lernte er persönlich kennen. Locke wurde in jenen Jahren zu einem anerkannten Mitglied der internationalen »Gelehrtenrepublik«, der »république des lettres«, d.h. jener Gelehrter überall in Europa, die miteinander korrespondierten, sich z.T. persönlich kannten, ihre jeweiligen Positionen publizistisch kommentierten und sich so gegenseitig inspirierten.

Lockes Frankreichreise dauerte bis 1679. Doch die Zeit seines Aufenthalts in England – in die die Arbeit an den Two Treatises fiel – sollte nicht lange währen. 1683 floh er, wie kurz zuvor Shaftesbury, vor den Nachstellungen seiner königstreuen Gegner nach Holland. Auch dort begegnete er bedeutenden Gelehrten, z.B. dem Theologen Philipp van Limborch, der ihn anregte, sein altes Thema der Toleranz in Glaubenssachen wieder aufzugreifen. An Limborch ist die Epistola de Tolerantia (Brief über Toleranz, publiziert 1689) gerichtet, die zu den klassischen Dokumenten der aufgeklärten und humanistischen Einforderung von Toleranz in Religion und Politik gehört.

In Holland griff Locke – neben seiner Arbeit am Essay Concerning Human Understanding – ein Gebiet auf, das einem eingefleischten Junggesellen eher fern steht: die Pädagogik. Doch Locke konnte als akademischer Lehrer für »undergraduates«, d.h. für noch nicht examinierte Studenten, am Christ Church College einschlägige Erfahrungen sammeln, gleichfalls auf seiner großen Frankreichreise, da er sich dort für einige Monate um den Sohn eines Bekannten, dem er Land und Leute zeigen sollte, zu kümmern hatte. Dazu kam seine Praxis als Erzieher von Ashleys Sohn und Enkelkindern. Zudem verfolgte er die pädagogische Literatur jener Zeit. Lockes Schrift Some Thoughts Concerning Edusation ging aus Briefen an die befreundete Familie Clarke hervor, die seinen Rat für die Erziehung ihrer Kinder erbeten hatte. Dieses Buch, 1692 zunächst anonym erschienen, war in ganz Europa ein Erfolg. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts wurde es unzählige Male nachgedruckt und in so gut wie alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt.6 Es beeinflußte die Entwicklung des pädagogischen Denkens nachhaltig.

Nach der Glorious Revolution wurde Locke das Amt eines Botschafters beim Kurfürsten von Brandenburg angetragen. Er lehnte ab, übernahm jedoch das Amt eines Commissioners in dem wichtigen Handelsrat (Board of Trade). Über befreundete Whig-Abgeordnete verfügte er über einen Draht ins Parlament. Er fungierte als Ratgeber offiziöser Kreise auf dem Gebiet der Währungspolitik – kurz, er spielte die Rolle einer grauen Eminenz.

Auf intellektuellem Gebiet im engeren Sinn wurde Lockes Lebensabend von hartnäckig geführten Kontroversen ausgefüllt. Es ging um erkenntnistheoretische Probleme, um Fragen der Währungspolitik, die er in seiner 1692 herausgebrachten, aber bereits in seiner Zeit als Shaftesburys Sekretär verfaßten Schrift über den Geldzins diskutierte, und, nicht zuletzt, um die theologischen Positionen, die er in seiner Toleranzschrift und in seinem Buch über die Vernünftigkeit des Christentums aus dem Jahre 1695 vertreten hatte. Locke starb am 28. Oktober 1704.

Ein Klassiker der Geistesgeschichte, der nicht nur auf dem Gebiet der Philosophie, sondern auch der politischen Theorie, der Theologie, der Ökonomie und der Pädagogik Werke verfaßt hat, die heute noch studiert werden – dazu noch über eine medizinische Ausbildung verfügte –, läßt sich so leicht nicht finden. Sicherlich: Locke war kein überragender Erneuerer, kein philosophischer Gründervater wie Platon und Aristoteles, kein philosophischer Alleszermalmer wie Kant und kein Umwerter aller Werte wie Nietzsche. Er war vielmehr ein abwägender, kluger Kopf, eine Personifikation des perfektionierten gesunden Menschenverstandes, »le sage Monsieur Locke«, wie Voltaire ihn nannte.7 Den Vorzügen und Mängeln dieses Denkens nachzuspüren, ist nach wie vor eine reizvolle und gewinnbringende Methode, unser eigenes zu schärfen.

2. Die Herausbildung der Erkenntnistheorie

Locke argumentiert in seinem ersten theoretisch bedeutsamen Text aus dem Jahr 1660, den Abhandlungen über die Obrigkeitsrechte in religiösen Fragen, naturrechtlich. Locke nahm an, Gottes Wille sei in einem natürlichen Gesetz enthalten, das von der Vernunft erkannt werden könne. Es lehre, daß unbeschränkte Freiheit unmöglich sei und der Monarch als Stellvertreter Gottes auf Erden das Recht haben müsse, Einzelfragen des Gottesdienstes zu regeln. Nur so könne der innerstaatliche Frieden bewahrt werden.8

Locke knüpfte also an die überkommene Manier der scholastischen Tradition an, der er Denkmuster aus dem Repertoire der damals modernen Sozialvertragslehre hinzufügte.9 Doch seine Kenntnis naturwissenschaftlicher Fragestellungen mußte ihn an der verbreiteten Auffassung, die Grundelemente des natürlichen Gesetzes oder gar des Wissens überhaupt seien dem menschlichen Geist »angeboren« oder »eingeschrieben«, zweifeln lassen. Denn träfe dies zu – so führte Locke in seinen Essays on the Law of Nature aus dem Jahr 1663/64 aus –, könnten die moralischen Ansichten und die entsprechenden Verhaltensweisen, die in der Menschheitsgeschichte und bei jetzt lebenden Völkern zu finden seien, nicht derart auseinanderklaffen. Die eigentliche Grundlage der Erkenntnis, also auch der naturrechtlichen, seien vielmehr die »Sinne« (sensus), deren Eindrücke freilich durch »Vernunft und Argumentationsfähigkeit« (ratio et argumentandi facultas) zu Schlüssen verarbeitet werden müßten.10

In seinen weiteren Ausführungen folgt Locke wieder der Argumentationsweise der naturrechtlichen Tradition. Die Sinneseindrücke, vernünftig betrachtet, verhülfen dem Menschen zur Erkenntnis der Existenz Gottes und seiner Schöpfung, dessen Teil er sei, weshalb die Schöpfungsordnung ihn verpflichte. Aus der Erhabenheit der Schöpfung sei abzuleiten, daß der Mensch diese sowie sich selbst erhalten und zu diesem Zweck die Gesellschaft anderer Menschen suchen müsse. Gleichfalls erkennbar sei, daß Gott Mord und Diebstahl verboten habe. Schließlich deutet er an, daß auf Übertretung der gottgegebenen natürlichen Gesetze himmlische und irdische Strafen stünden.11 Das Vorwärtsweisende in dieser noch überwiegend traditionalistischen Argumentation ist seine konsequent erkenntnistheoretische Fragestellung und sein Beharren auf der Priorität sinnlicher Erfahrung.

Einen erneuten Anlauf zum Studium der Erkenntnistheorie unternahm Locke erst wieder im Jahre 1671. Ashley hatte ihn ermuntert, in seinem Hause seine naturwissenschaftlichen Experimente und philosophischen Forschungen fortzusetzen, die freilich nicht kontinuierlich verliefen, weil sich Locke im politischen Tagesgeschäft zu engagieren hatte. Trotzdem gelang es ihm, einen – übrigens hochkarätig besetzten – Gesprächskreis um sich zu scharen, der auch sein altes Interessengebiet, nämlich die »Prinzipien der Moral und der Offenbarung«, diskutierte und sich dabei entschloß, die Frage nach der Reichweite der menschlichen Erkenntniskraft systematisch aufzugreifen.12 Dieses Problem war für Locke wichtig, weil er nicht nur die scholastische Erkenntnismethode verwarf, sondern auch die denkerischen Innovationen Descartes’, dem er eingestandenermaßen viele Anregungen verdankte, kritisch beurteilte.13

Das Papier, das Locke als Diskussionsvorlage für diesen Gesprächskreis entwarf, bildet die Keimzelle des Essays Concerning Human Understanding. Lockes erweiterte und erhalten gebliebene Ausarbeitung dieses Papiers ist bekannt als Draft A, in dem die meisten Denkmotive des Essay aufgegriffen oder angedeutet werden.14

Erkenntnis erfordert demnach Begriffe und Sätze – doch was sind die Voraussetzungen der Fähigkeit, diese bilden zu können? In den Essays on the Law of Nature hatte Locke den Geist (animus) als »leere Tafeln« (tabulae rasae) bezeichnet.15 Deshalb, so wiederholt er in Draft A, müßten es wohl die Sinneseindrücke sein, die allem Wissen zugrunde lägen. Aufschlußreich ist, daß Locke gleich in den ersten Sätzen des Draft A neben »sense« als gleichwertige Erkenntnisquelle die aktive Verarbeitung der bloßen Eindrücke bezeichnet, die er »sensation« nennt und wenig später als »experience of the operations of our owne mindes« definiert. Es handelt sich also noch nicht um die Denkkraft des menschlichen Geistes (die er später »reflection« nennt), sondern um eine aktive, Sinneseindrücke ordnende und bestimmte Vorstellungen erzeugende Fähigkeit, deren Wirksamkeit beobachtet werden kann.16

Die Sinneseindrücke und ihre Verarbeitung bewirken in unserem Geist »einfache Vorstellungen« (simple ideas), z.B. von Hitze und Licht, hart und weich, von bestimmten Farben und Geschmäcken usw. Sie sind die elementaren Bausteine des Erkennens, »the first objects of our understandings«.17 Die von uns betrachteten Dinge werden aber zumeist nicht mit einer einzigen, sondern nur mit einer Bündelung vieler »einfacher Vorstellungen« erfaßt, die Locke »compound« und »complex ideas« nennt. Beispiele hierfür sind Mensch, Pferd, Sonne, Wasser, Eisen usw. Diese treten häufig in regelmäßig wiederkehrenden und beständigen Kombinationen auf, so daß sie mit Namen oder Wörtern benannt werden, deren Nennung im Geist der Hörenden sofort die entsprechende Vorstellung hervorruft.18

Die Bildung von Namen und Wörtern bedeutet freilich eine Abstraktion von den eigentlichen, durch »einfache« und »zusammengesetzte Vorstellungen« erfaßten Erscheinungen. Aus dieser Abstraktion ergibt sich eine Reihe von Gefahren. Die Erkenntnis von »einfachen Vorstellungen« ist zwar so elementar, daß sie immer gewiß ist: niemand verwechselt Kälte mit Härte usw. Doch schon die Bildung von »zusammengesetzten Vorstellungen« kann irrtümlich erfolgen; ein Kind z.B. kann Katzengold für echtes Gold halten. Auch kennt man nicht alle »einfachen Vorstellungen«, die ein Ding konstituieren, so daß beispielsweise unentscheidbar werden kann, ob eine Fledermaus ein Vogel ist oder nicht. Sätze, die aus unzulänglich gebildeten Begriffen (names) zusammengesetzt werden, können zu falschen Aussagen und zu Mißverständnissen zwischen Disputierenden führen.19 Hinzu kommt, daß wir annehmen, die verschiedenen »einfachen Vorstellungen«, die die Vorstellung eines Gegenstandes konstituieren, besäßen eine gemeinsame Substanz, die nach Lockes Überzeugung korpuskular oder atomar strukturiert ist. Doch diese Struktur bzw. deren »Wirkweise« (modus operandi) können wir mit unseren Begriffsbildungen und logischen Operationen nicht erschließen.20 Locke ist skeptisch, ob die Naturwissenschaft auf diesem Gebiet Erkenntnisfortschritte erzielen könne.21

Locke wirft der Scholastik erkenntnistheoretische Illusionen vor. Sie habe nicht erkannt, daß Disputationen mit »Allgemeinbegriffen« (general words) wie »Sein«, »Wesen«, »Seele« oder »Substanz« zu keiner Erkenntnis eines realen Sachverhaltes führen. Sätze, die mit ihnen gebildet werden, seien bloß »verbal« und deshalb nicht »instruktiv«, umgekehrt aber seien alle instruktiven universalen (über Naturqualitäten informierenden) Sätze »ungewiß«.22

Die Menschen müßten sich deshalb sehr häufig mit »wahrscheinlichem Wissen« begnügen. Locke verwendet viel Mühe darauf zu zeigen, wie viele Grade von Wahrscheinlichkeit, von wohlbegründeten, gemeinsamen Überzeugungen aller Menschen bis zu bloßen Vermutungen, es gibt. Freilich sei es für die praktischen Lebensbedürfnisse der Menschen oftmals gleichgültig, ob sie über exakt definierte Begriffe und sichere Erkenntnis verfügten. Ob ihnen die Dinge nützten oder schadeten, könnten sie auch ohne solche Subtilitäten erkennen. Lockes in Draft A deutlich erkennbare Orientierung an lebens- und gesellschaftspraktischen Fragen verstärkte sich in seinen späteren Aufzeichnungen noch, z.B. in den Tagebucheintragungen seiner Frankreichreise, wo er das Erfordernis arbeitssparender Erfindungen und Maschinen hervorhebt. Hierfür reichten die menschlichen Erkenntniskräfte aus; deshalb könne man verschmerzen, daß weite Bereiche der ungeheuren Schöpfung im dunkeln blieben.23

Locke nennt jedoch Gebiete, in denen sichere, ja gewisse Erkenntnis möglich ist. Es handelt sich dabei zunächst um Gegenstände, die wir selbst hergestellt haben. Eine Uhr oder eine Pistole sind besser zu definieren als ein Mensch oder ein Pferd. Sichere Erkenntnis ermöglicht uns auch ein Modus der Existenz, den Locke »relation«, Beziehung zwischen Dingen, nennt. Locke untersucht die Frage, welche Arten von Relation es geben kann. Von besonderem Interesse sind für uns jene, die Locke »moral relations« nennt, d.h. die Beziehung einer Handlung zu einer moralischen Regel, die erkennen läßt, ob ein Verhalten gut oder verwerflich ist.24

Locke macht darauf aufmerksam, daß derartige Urteile im Bereich bloßer Begrifflichkeit bleiben, d.h. keine Realaussagen enthalten. Andererseits ist diese Erkenntnis gewiß, wenn sie von exakt definierten Begriffen ausgeht (und dies ist möglich, da derartige Relationen ja von Menschen geschaffen sind). Freilich müsse man sehen, daß diese Begriffe häufig auf traditionellen Moralvorstellungen und Gewohnheiten in bestimmten Ländern beruhten, also nicht gut definiert seien und folglich zu Fehlschlüssen verleiteten. Im übrigen komme es, wolle man die logischen Eigenschaften von moralischen Relationen klären, nicht darauf an, ob eine Regel richtig oder falsch sei, sondern nur auf deren Eigenschaft, Regel zu sein.25

In einer kurzen Passage korrigiert Locke freilich diese rein formalistische Betrachtungsweise, indem er darauf verweist, daß es durchaus wirkliche (properly and truly) Regeln für Gut und Böse gebe, nämlich das Gesetz der Natur, das nicht von den Menschen, sondern von Gott geschaffen worden ist.26

Diese Aussage charakterisiert den damaligen Stand von Lockes denkerischer Entwicklung. Locke ist, wie wir gesehen haben, von einer Untersuchung materialer politischer und naturrechtlicher Fragen ausgegangen. Doch obwohl er auch in Draft A sagt, daß moralische Relationen für seine gegenwärtige Absicht besonders wichtig seien27, ist seine Betrachtungsart völlig formalistisch geworden. Es geht ihm um das menschliche Erkenntnisvermögen in den verschiedenen Seinsbereichen. Um sie zu erforschen, entwickelt er eine Denkweise, die man als Konstruktivismus oder Kombinatorik bezeichnen kann. Erkenntnis geht von elementaren Bausteinen aus, den auf Sinneseindrücken beruhenden »simple ideas«. Sie können zusammengesetzt, verglichen, gezählt und gemessen werden, sie bilden das Material sinnvoller Abstraktionen. Sinnvoll sind diese Abstraktionen dann, wenn sie den Kontakt zu den sinnlich erworbenen »einfachen Vorstellungen« nicht verlieren. Auch die Mathematik beruht nach Lockes Auffassung letztlich auf sinnlichen Erfahrungen; deshalb sind ihre Aussagen informativ, was auf universale Sätze, die allein auf verbalen Definitionen beruhen, nicht zutrifft.28 Die Vorstellung, daß solche Aussagen doch gehaltvoll sein könnten, weil es »angeborene Ideen« (innate ideas) gäbe, weist er zurück. Allgemeine Aussagen (general propositions) können nur solange für wahr gehalten werden, wie sie von allen Versuchen oder Beobachtungen bestätigt worden sind.29

Der Draft A ist eine interessante Lektüre, weil Lockes lebendige Skizzen die Probleme umreißen, die ihm bei seiner ersten systematischen Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen wichtig erschienen. Locke hat noch im Herbst 1671 diesen Entwurf geglättet, diese als Draft B bekannte Überarbeitung aber nicht publiziert, vermutlich, weil er sich seiner Sache noch nicht sicher war.30

Locke fand erst während seines Frankreichaufenthalts von November 1675 bis April 1679 wieder Muße, sich philosophischen Grundfragen zuzuwenden. Seine Tagebucheintragungen zeigen zwei Stoßrichtungen seines Denkens: Zum einen sondieren sie Grundkategorien der Naturphilosophie Descartes’ wie Raum, Ausdehnung, Dauer, Unendlichkeit usw. gemäß seiner empiristischen Anschauungen, zum anderen dokumentieren sie seine verstärkte Orientierung an der Philosophie Gassendis, deren Spuren sich bereits in den Essays on the Law of Nature und den Drafts finden. Die neoepikureische Philosophie Gassendis gilt als hedonistisch, weil sie davon ausgeht, daß das Hauptmotiv menschlichen Handelns das Streben nach Lust und Vermeiden von Unlust sei. Für Locke war dieser Gedanke wichtig, weil er den Plan, die Naturrechtslehre auf eine plausible empirische Grundlage zu stellen, noch nicht aufgegeben hatte.31 Auch Fragen der Religion und Theologie, die nach seiner Auffassung nur durch vernünftige Einsichten, dagegen nicht auf Grund angeblicher »Inspirationen« zu beantworten seien, werden im Tagebuch aufgegriffen. Eine besondere Rolle spielt der Gottesbeweis, denn die Existenz Gottes bildet einen Eckpfeiler seiner Vorstellungen von Naturrecht und Moral.32

Locke führte die Manuskripte, aus denen schließlich der Essay entstand, auf seinen vielen Reisen mit sich; immer wieder griff er spezielle Probleme in seinem Tagebuch auf. Im holländischen Exil fand er Zeit, den Essay abzuschließen. Aus dieser Zeit stammt ein dritter Entwurf (Draft C), der im wesentlichen Teil I und II des Essays umfaßt. Locke ergänzte ihn durch eine Klärung der geistigen Voraussetzungen der Erkenntnis, d.h. der Verarbeitung der Sinneseindrücke durch Benennung (words, names) und des Zustandekommens der Schlußfolgerungen, die zu gehaltvollen Sätzen oder Aussagen führen. Die Ergebnisse dieses erneuten Anlaufes finden sich in Buch III und IV des Essays 1689, im Jahr der Glorious Revolution, die ihm die Rückkehr nach England ermöglichte, lag schließlich die druckreife Fassung vor. Im Dezember jenes Jahres erschien die Erstauflage des bis heute weltberühmten Werkes in London.33

3. Der »Essay Concerning Human Understanding«

Stoßrichtung und Argumentationsstruktur

Kritik veralteter Auffassungen und Entwurf einer neuen Theorie des Erkenntnisvermögens – so kann das Programm des Essays charakterisiert werden. Den Kern des überholten Denkens bildete für Locke die Vorstellung von der Angeborenheit von Ideen, gegen die sich seine Polemik zuallererst richtete. Sodann ging es ihm darum, seine alternative Konzeption zu entfalten, nämlich die Auffassung, daß sich alles menschliche Wissen auf zwei Quellen, nämlich auf Sinneswahrnehmung und Wahrnehmung der Operationen des Geistes bei deren Verarbeitung, zurückführen läßt. Zudem galt es zu zeigen, wie durch Wahrnehmung und Reflexion zustandegekommene Bewußtseinsinhalte, die Ideen, in Erkenntnisse transformiert werden, oder genauer, welche Arten von Ideen dabei auftauchen und welche Rolle sie in den jeweiligen Denkprozessen spielen. Zu diesen Ideen gehören Grundanschauungen wie Raum und Zeit, daneben aber auch eine Vielfalt von einfachen und komplizierten Begriffen, deren typische Formen Locke herausarbeiten möchte.

Locke thematisiert ferner die Zeichen, die zum Festhalten und zur Weitergabe der Ideen benötigt werden, d. h. die Funktion der Wörter. Erkenntnisse werden in Aussagen oder Sätzen (propositions) formuliert und vermittelt; diese können jedoch nur dann wahr sein, wenn die benützten Ideen der Sache, wofür sie stehen, adäquat sind. Schließlich möchte Locke zeigen, daß nicht auf allen Erkenntnisgebieten sicheres Wissen zu erreichen ist. In weiten Bereichen müssen wir uns mit Wahrscheinlichkeit zufriedengeben. Locke greift auch das Problem des Glaubens auf, den er als eigenständige geistige Erfahrung begreift, die der Vernunft nicht widerspricht.

Locke skizziert im letzten Kapitel des Essays die »Einteilung der Wissenschaften«. Er unterscheidet im Rückgriff auf die in die Antike zurückreichende Tradition zwischen »Naturphilosophie«, d.h. dem »Wissen von Dingen, so wie sie sich ihrem eigenen Sein nach darstellen« (Locke benützt auch den griechischen Begriff physikè), »praktischer Philosophie« (praktikè), d.h. »der Kunst, unsere eigenen Fähigkeiten und Handlungen zum Zwecke der Erlangung guter und nützlicher Dinge richtig anzuwenden«, wozu hauptsächlich die Ethik gehöre, und schließlich der »Lehre von den Zeichen« (»doctrine of signs«, semeiotikè); man könne auch von Logik (logikè) sprechen. Für Locke bedeutet nämlich Logik nicht nur die Kunst des Schlußfolgerns mit definierten Begriffen, sondern auch die Untersuchung von Zeichen oder Wörtern in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten von Bewußtseinsinhalten, d. h. von Ideen. (EHU IV, 21, 2ff.)34

Locke war allerdings weit davon entfernt, diese althergebrachte Einteilung zum Gliederungsprinzip des Essays zu machen. Denn es ging ihm nicht um ein philosophisches System, sondern um eine gezielte und spezielle Untersuchung der Voraussetzungen und Operationen des Erkennens. Es ist ihm allerdings nicht gelungen, seinen Stoff elegant zu gliedern. Er behandelt seinen Gegenstand in vier Büchern: Buch I, »Weder Prinzipien noch Ideen sind angeboren«, Buch II, »Über die Ideen«, Buch III, »Von den Wörtern«, Buch IV, »Vom Wissen und von der Wahrscheinlichkeit«. Das Problem, mit dem Locke vergeblich kämpfte, liegt darin, daß die Ideen in Wörtern fixiert werden müssen – doch dies bedeutet noch nicht Erkennen, denn hierfür bedarf es der Verarbeitung der Wörter zu Aussagen. Da Locke aber seine Ideenanalyse zunächst isoliert entwickelt, sie sodann in ihrer Wortfassung betrachtet und schließlich noch einmal die Transformation von Wörtern als Repräsentanten bestimmter Ideenarten in Aussagen behandelt, kommt es zu langatmigen Wiederholungen, die nur dadurch erträglich werden, daß immer wieder in brillanten Passagen das Temperament des Aufklärers durchbricht, der das Hohelied des gesunden Menschenverstands singt.

Unsere Darstellung folgt deshalb weder der überkommenen Einteilung der Wissenschaften noch der Lockeschen Gliederung des Essays. Vielmehr sollen die Gegenstände zu Themenkomplexen zusammengefaßt werden, in denen die Ideen-, Wort- und Aussageaspekte nicht als entscheidende Gliederungsprinzipien fungieren, sondern das Hauptgewicht auf inhaltlichen Gesichtspunkten liegt.

Die Ideen und ihre Formen als Grundlagen des Erkennens und Denkens

Locke hielt es für überflüssig, seinen Zentralbegriff »Idee« im philosophiegeschichtlichen Zusammenhang zu erörtern.35 Er definiert ihn als »das, was das Objekt des Verstandes (understanding) ist, wenn ein Mensch denkt«, gleichgültig, ob es sich um ein »Trugbild (phantasm), einen Begriff, eine Vorstellung oder was sonst auch immer den Geist beim Denken beschäftigt«, handelt – kurz, Idee kann jeder beliebige Bewußtseinsinhalt im Prozeß des Denkens sein. (EHU Einl. 8; II, 1, 1)

Nach dieser – verglichen mit der bedeutungsschweren Begriffstradition – minimalistischen Definition beginnt Locke seinen recht grobschlächtigen Generalangriff auf die scholastische Lehre von den angeborenen Ideen, die gelegentlich in der zeitgenössischen Theologie und Philosophie sowie vom Cartesianismus vertreten wurde.36 Angeborene Ideen könne es nicht geben, weder im Bereich des spekulativen noch des praktischen (moralischen und theologischen) Denkens, auch nicht in der Form von »Maximen«, von evidenten, unmittelbar einleuchtenden Prinzipien (EHU 9 I, 1, 17ff.; I, 2).

Was die spekulativen Prinzipien betreffe, so müßten sie, wären sie angeboren, bei Personen nachweisbar sein, deren Geist weder durch Vorurteile noch durch Lehrmeinungen verbildet worden ist, z.B. bei Kindern und Geistesschwachen (idiots – wohl kein überzeugendes Beispiel !); dies sei aber nicht der Fall. (EHU I, 1, 5/14/26f.; I, 1, 2, 3) Locke nennt ferner logische Gründe. Wenn Wahrheiten in Form von Sätzen angeboren wären, so müßten dies auch die dazugehörenden Begriffe sein, sogar die Folgerungen aus diesen Sätzen. Derartige Annahmen dehnten den Bereich angeborener Begriffe und Sätze aber ins Unübersehbare aus. Und was die Maximen angehe, so enthalte die These, die spontane Zustimmung – z.B. zu dem Denkgesetz »ein Ding kann unmöglich zugleich sein und nicht sein« – beweise ihr Angeborensein, einen Denkfehler. Denn spontane Zustimmung bedeute, daß die Maxime zuvor nicht gewußt worden sei – eine angeborene Idee sei aber immer geistig präsent. (EHU I, 1, 16)37