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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Renke Eggens stieß einen Pfiff aus.

Die Kisten waren bestens gestaut, gut verschlossen und seefest verzurrt. Sie füllten etwa drei Viertel des Laderaums aus.

„Was, in aller Welt, haben die Polen so sorgfältig durch die Gegend gefahren?“ fragte Eggens mehr zu sich selbst.

Hein Ropers näherte sich mit der Laterne, die einen blakenden Lichtkreis ausstreute. Ihm folgten zwei Männer aus der Crew.

„Hast du jetzt endlich gefunden, was du suchst?“ Ropers hob die Laterne in Kopfhöhe.

„Wir werden gleich wissen, was es ist.“ Renke Eggens gab den beiden Decksleuten einen Wink. „Brecht eine von den Kisten auf. Beeilt euch.“

Sie gingen ans Werk, schweigend und umsichtig, wie es ihre Art war. Eine der oberen Kisten lösten sie aus den Verzurrungen und setzten den Kuhfuß an. Das Werkzeug hatten sie von Anfang an dabei gehabt, denn die Absicht des Ersten Offiziers war es, die in Reval gekaperte Galeone von vorn bis achtern zu inspizieren.

Knarrend lösten sich die Bretter des Kistendeckels. Es war feines nordisches Nadelholz, sauber verarbeitet. Renke Eggens winkte den Bootsmann mit der Laterne näher heran. Die Decksleute wichen beiseite. Glattes Öltuch war jetzt zu sehen. Eggens zupfte es aus der Kiste. Samtweicher, heller Stoff befand sich unter dem Öltuch, zu kleinen Bündeln gerollt. Der Erste hob eins davon auf und rollte es auseinander.

Strahlen brachen sich sternförmig im Laternenlicht.

Das Stück Bernstein hatte die Größe eines Hühnereies, war oval geformt und wies nur wenige Unregelmäßigkeiten auf. In der mattgoldenen Durchsichtigkeit des Steins schwebte ein Insekt, ein schwarz und bläulich schimmernder Käfer.

„Mann, o Mann!“ sagte Hein Ropers staunend. Die beiden Decksleute starrten ihm mit kreisrunden Augen über die Schultern. „Das ist ein Jonny! Was kann der wert sein?“

Renke Eggens überwand seine Verblüffung. Er drehte sich zu dem Bootsmann um.

„Genau weiß ich es nicht, Hein. Aber eins kann ich dir sagen: Deine Heuer für ein ganzes Jahr würde nicht reichen, um das Ding zu bezahlen.“

„Laß mich mal anfassen!“

„Nur mit dem Stoff drumherum.“

Hein Ropers nahm Bernstein und Tuch auf seine rechte Handfläche und hielt mit der Linken die Laterne ganz nah heran. Kaskaden von gleißendem Licht strahlten aus dem Stein, der darin eingeschlossene Käfer war von einem Strahlenkranz umgeben.

„Sieht wirklich aus wie Gold, wie durchsichtiges Gold“, sagte Ropers begeistert.

„Das Gold der Ostsee. Unter der Bezeichnung ist es auch bekannt geworden.“ Renke Eggens nickte.

„Und was ist nun eigentlich das Wertvolle, der Käfer oder der Bernstein?“

„Beides zusammen, Hein. Dieses schwarze Vieh hat bestimmt ein paar hunderttausend Jahre auf dem Bukkel, wenn nicht noch mehr. Natürlich hat auch der Bernstein allein seinen Wert, aber wenn so ein Insekt darin ist, dann steigert das eben den Preis.“

„Verstehe“, sagte der Bootsmann brummend. Er hob den Kopf und sah den Ersten Offizier an. „Nehmen wir mal an, alle diese Kisten sind voll von dem Zeug. Dann haben wir uns ja einen hübschen kleinen Schatz unter den Nagel gerissen, was?“

„Nicht ganz.“ Eine harte Furche kerbte sich um Renke Eggens’ Mundwinkel. „Du vergißt, daß die Polen die ‚Wappen von Kolberg‘ versenkt haben. Wir haben uns nur wiedergeholt, was sie uns weggenommen haben.“

„Klar.“ Hein Ropers grinste. „Die ‚Wappen‘ war mit keinem Bernstein der Welt zu bezahlen.“

Auf Befehl des Ersten Offiziers untersuchten die Männer den gesamten Inhalt der geöffneten Kiste. Dann wurden zwei weitere Kisten aufgebrochen. Alle drei enthielten nichts als Bernstein, ein Stück schöner und wertvoller als das andere. Renke Eggens konnte das einigermaßen beurteilen, denn wie sein Kapitän hatte auch er ausreichende Kenntnisse auf diesem Gebiet.

„Jetzt möchte ich nur wissen“, der Bootsmann schüttelte ungläubig den Kopf, „wem die Polen diesen Schatz geklaut haben.“

Eggens nickte schweigend und nachdenklich. Die Kisten, die etwa zwei mal zwei Fuß in der Fläche und eineinhalb Fuß in der Höhe maßen, hatten keine deutlich lesbare Markierung, keine auf den ersten Blick erkennbare Angabe des Eigentümers oder des Empfängers. Eggens nahm dem Bootsmann die Laterne aus der Hand und sah sich eine der aufgebrochenen Kisten genauer an.

Das aufgebrochene Deckelholz war glatt, ohne jede Kennzeichnung. Und die Seitenwände?

Renke Eggens stutzte. Seine Augen wurden schmal.

Da gab es einen Brandstempel, rechts oben an der einen Wandung. Eggens hastete zu der zweiten Kiste, dann zu der dritten. Bei allen war es das gleiche.

Das Zeichen stellte zwei Pfeilspitzen dar.

Gedankenverloren richtete Eggens sich auf.

„He, was ist los?“ fragte Hein Ropers stirnrunzelnd.

Es dauerte eine Weile, bis der Erste Offizier in die Wirklichkeit zurückfand.

„Wir müssen alle Kisten untersuchen“, sagte er gepreßt, „ich muß wissen, ob sie alle dieses Zeichen tragen.“

Was das Wetter betraf, zeigte sich dieser frühe Morgen des 29. März 1593 von einer passablen Seite. Der Wind hatte schon während der Nachtstunden von Südwesten nach Nordwesten gedreht und verhalf den beiden Galeonen zu rauschender Fahrt über Backbordbug.

Über der Kimm lag ein Dunstschleier, der sich mehr und mehr lichtete. Blaßblau spannte sich der Himmel über dem beginnenden Tageslicht und ließ vermuten, daß die Sonne mit einer schon beträchtlichen Kraft aufwarten würde. Der einsetzende Frühling ließ sich auch hier, im hohen Norden, nicht mehr leugnen.

Arne von Manteuffel beobachtete die „Isabella IX.“, die auf Rufweite im Kielwasser der ehemals polnischen Galeone segelte. Es war ein beeindruckendes Schiff, das sein Vetter führte. Eine dreimastige Galeone von so unkonventioneller Bauweise, wie man sie hier im gesamten Ostseeraum noch nicht kannte. Nun, die Engländer waren im Schiffbau in letzter Zeit mit Siebenmeilenstiefeln nach vorn geeilt.

Arne sah seinen Vetter auf dem Achterdeck der „Isabella“, und unwillkürlich wurde er an jenen denkwürdigen Tag in Wisby auf Gotland erinnert, als sie sich zum ersten Male gegenübergestanden hatten. In der Tat ähnelten sie sich so sehr, als seien sie Brüder.

Nur durch sein blondes Haar unterschied sich Arne von Manteuffel von Sir Philip Hasard Killigrew, den alle Welt auf den sieben Meeren als den Seewolf kannte. Im übrigen, was die eisblauen Augen, das scharfgeschnittene Gesicht und die breitschultrige und schmalhüftige Statur betraf, gab es kaum Unterschiede zwischen den beiden Vettern.

Arne von Manteuffels Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Eilige Schritte waren auf dem Hauptdeck der gekaperten Galeone zu hören. Renke Eggens, drahtig und flink, tauchte auf dem Niedergang zum Achterdeck auf.

„Arne!“ Eggens verharrte keuchend. „Schnell, das mußt du dir ansehen!“

Arne von Manteuffel kniff verwundert die Augen zusammen. Selten hatte er seinen Ersten Offizier so aufgeregt erlebt. Aber er zögerte nicht, auf den Niedergang zuzueilen. Wenn Renke Eggens in Alarmstimmung geriet, dann mußte es einen handfesten Grund dafür geben.

Eggens ging voraus, und sein Kapitän folgte ihm auf die offene Luke zu, die in die unteren Decksräume führte.

Kurz darauf, als sie vor den Bernsteinkisten standen, brauchte Eggens nur auf das Zeichen zu zeigen, das an jeder Kiste an der gleichen Stelle eingebrannt war.

„Das Runenzeichen der Tyndalls“, sagte Arne von Manteuffel betroffen. „Ist dir klar, was das bedeutet, Renke?“

„Eine Riesenschweinerei, soviel steht fest. Weiter habe ich mir die Sache noch nicht durch den Kopf gehen lassen. Es hängt wohl einiges daran, vermute ich.“

Arne nickte. Prüfend betrachtete er ein paar der Bernsteinstücke, die obenauf in den geöffneten Kisten lagen.

„Ich weiß eine Menge über Bernstein“, sagte er leise und gedehnt, „aber ich maße mir nicht an, den Wert dieser Ladung zu beurteilen.“

„Dann sind die Polen wohl doppelt sauer auf uns“, sagte Hein Ropers grinsend, „wenn diese Kisten mehr wert sind als das ganze Schiff, das sie verloren haben.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

„Und wer sind diese Tyndalls?“ fragte der Bootsmann.

„Das Runenzeichen der Pfeilspitze steht für ein ‚T‘“, erklärte Arne von Manteuffel, „in diesem Fall also ein doppeltes ‚T‘ für ‚Thorsten Tyndall‘.“

„Klingt dänisch.“

„Ist es auch. Ich habe von Tyndall etliche Male Bernstein und auch Achat und Jaspis bezogen. Außer mir wußte nur Renke darüber Bescheid, denn wir hatten ja guten Grund, diese Geschäfte so geheim wie nur möglich zu halten.“

„Dann muß dieser Tyndall so etwas wie ein Zwischenhändler in Dänemark sein.“

„Nein, nicht in Dänemark. Thor Tyndall, Thorstens Vater, hat sich 1559 als dänischer Kaufherr in Hapsal an der estnischen Westküste niedergelassen. Damals wurden Ösel, Dagö und Küstenteile am Rigaer Meerbusen an Dänemark verkauft. Das Handelshaus Tyndall ist seither in Hapsal ansässig.“

„Kenne ich. Dieses Hapsal liegt ziemlich genau gegenüber von Dagö und nordöstlich von Ösel. Zwischen den beiden Inseln und der Küste ist der Moon-Sund, und der verbindet den Finnenbusen und den Rigaer Busen. Eine günstige Lage für so ein Handelskontor.“

„Nicht nur wegen des Seewegs“, sagte Renke Eggens, „außer Bernstein wird an den Küsten von Ösel nämlich Achat und Jaspis gefunden. Das sind beides Halbedelsteine.“

„Mhm.“ Hein Ropers kratzte sich am Hinterkopf. „Und diese Pfeilspitzen sind das Firmenzeichen von Herrn Tyndall?“

„So kann man es nennen“, erwiderte Arne von Manteuffel, „es war eine Marotte von Thorstens Vater, und dabei ist es dann nach dem Tod des alten Thor Tyndall geblieben.“

„Wie auch immer“, sagte Renke Eggens mit sorgenvoller Miene, „wir stehen jedenfalls vor einem Berg von Problemen.“

Arne von Manteuffel nickte nachdenklich. Der Fund der Tyndallschen Bernsteinkisten an Bord des ehemaligen polnischen Flaggschiffs änderte die gesamte Situation. An erster Stelle stand die Folgerung, daß Generalkapitän Witold Woyda keineswegs stillhalten würde. Er mußte ganz einfach alles daran setzen, seine Galeone mitsamt Ladung zurückzuerobern.

Arne teilte dem Ersten Offizier und dem Bootsmann seine Überlegungen mit.

„Außerdem gibt es da noch eine entscheidende Frage“, fügte er hinzu, „nämlich: Wie ist unser gemeinsamer Freund, der ehrenwerte Generalkapitän, in den Besitz der Kisten gelangt?“

„Ich weiß, an was du denkst“, sagte Renke Eggens grimmig. „Was mit Jens Johansen in Wisby passiert ist, werden wir alle so bald nicht vergessen. Vielleicht gibt es mit diesen Tyndall-Kisten ähnliche Zusammenhänge.“

„Möglich.“ Arne von Manteuffel preßte die Lippen zusammen. Seine Ahnungen waren düster.

Das Handelshaus Jens Johansen in Wisby auf Gotland war ein alteingesessenes und renommiertes Kontor gewesen – wie das Haus Tyndall in Hapsal. Doch wie Thorsten Thyndall, so hatte auch Jens Johansen illegal mit Bernstein gehandelt. Beide mißachteten den Anspruch jedweder Obrigkeit auf das Bernsteinmonopol, und beide vertraten den Grundsatz, daß das Gold der Ostsee logischerweise dem gehören mußte, der es fand. Und gefunden wurde der Bernstein meist im Wasser oder unmittelbar am Strand, von den Wellen angespült. Also mußte ein solcher Fund auch der Lohn für denjenigen sein, der danach gesucht hatte.

Irgendwelche Landesherren, die weit entfernt auf ihrem Schloß oder ihrer Burg saßen, trachteten nur danach, noch mehr an sich zu raffen. Da war es ihnen nur recht und billig, kurzerhand durch einen Erlaß sämtliche Bernsteinfunde für sich zu beanspruchen. Etwa wie derzeit der schwedisch-polnische König Sigismund III. im fernen Warschau oder Krakau. Ein weltfremder Mensch mußte er sein – nicht nur, was seine sonderbare Bernsteingesetzgebung betraf. Von ihm wurde auch erzählt, daß man nur Zutritt zu ihm habe, wenn es der Kreis jener Jesuiten gestattete, mit denen er sich zu umgeben pflegte.

Für Arne von Manteuffel stand seit langem fest, daß Jens Johansen in Wisby ein Opfer der Machtansprüche König Sigismunds geworden war. Agenten mußten Johansen beobachtet und schließlich ausgekundschaftet haben, daß er unerlaubterweise mit Bernstein handelte. Sigismunds Schergen hatten den Mord an Johansen ausgeführt, in diesem Fall der verbrecherische spanische Kapitän Juan de Gravina, mit dem insbesondere der Seewolf in Wisby aneinandergeraten war.

Arne riß sich von den unangenehmen Gedanken los. Er winkte den Bootsmann und die beiden Decksleute zu sich heran.

„Ich muß genau wissen, was sich in den Kisten befindet. Öffnet sie alle und fertigt mir eine Liste an.“

Hein Ropers und die beiden Männer begannen sofort mit der Arbeit.

„Eins scheint mir ausgeschlossen“, sagte Renke Eggens.

„Und das wäre?“ Arne von Manteuffel zog die Augenbrauen hoch.

„Daß der saubere Generalkapitän oder einer seiner Leute diese Kisten bei Tyndall gekauft hat.“

„Der Meinung bin ich auch. Entweder haben die Polen die Kisten heimlich gestohlen. Oder“, Arne atmete tief durch, „sie haben die Ladung mit Gewalt an sich gebracht. Daß würde aber bedeuten, daß Thorsten Tyndall wahrscheinlich nicht mehr lebt.“

„Man sollte nicht gleich das Schlimmste annehmen.“

„Nein. Deshalb ist es auch unsere Pflicht, ihm die Kisten zurückzubringen. Thorsten Tyndall ist ein anständiger, ehrbarer Kaufmann und ein guter Mensch, kein Schlitzohr von der Sorte dieses Witold Woyda.“

Hein Ropers hatte sich einen ersten Überblick verschafft.

„Wir haben hier insgesamt vierzehn Kisten“, meldete er, „in zwölf davon ist ausschließlich Bernstein, nur in zweien befindet sich dieses andere Zeug.“

„Achat und Jaspis“, sagte Arne von Manteuffel und nickte.

„Dann fangen wir jetzt mit der Liste an.“

Arne und sein Erster Offizier ließen den Bootsmann und die Decksleute im Laderaum allein. Die geänderte Lage erforderte neue Entscheidungen.

2.

„Da wird doch der Hering in der Pfanne verrückt!“

Edwin Carberrys dröhnendes Organ war bis in den letzten Deckswinkel der „Isabella“ zu hören. Die Männer auf der Kuhl und auf der Back wandten die Köpfe und erblickten ihren Profos in völliger Fassungslosigkeit. Auch Hasard und Ben Brighton spähten vom Achterdeck herüber.

Ed Carberry hatte sich vorgebeugt, stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete ungläubig blinzelnd die Szene, die sich unmittelbar von dem offenen Kombüsenschott abspielte.

Plymmie, die Bordhündin, stand mit hängenden Ohren vor der Muck, die ihr der Kutscher als Freßnapf zur Verfügung gestellt hatte. Lustlos schnupperte Plymmie an dem Inhalt der Muck, einem stattlichen Haufen Fleischbrocken, vermengt mit Resten der Bohnensuppe vom Vortag. Im nächsten Moment wandte sich die Wolfshündin demonstrativ ab und ließ sich vor den Zwillingen auf den Planken nieder. Nach einem herzhaften Gähnen legte sie den Kopf zwischen die Vorderbeine, schloß das linke Auge und linste mit dem rechten zu Ed Carberry hoch.