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Ryoko Sekiguchi
Nagori

Die Sehnsucht
nach der
von uns gegangenen
Jahreszeit

Aus dem Französischen
von Karin Uttendörfer

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Inhalt

Prolog

1. Vier Jahreszeiten, vierundzwanzig Jahreszeiten, zweiundsiebzig Jahreszeiten?

2. Alles Fließende, alles Blühende hinterlässt den Abdruck seiner Wellen

3. Jenseits der Mauern

4. Immer wiederkehrende Jahreszeiten, für immer vergangene Jahreszeiten

5. Die organischen Gestirne

6. Gewalttätige und politische Jahreszeiten

7. Neue Begegnungen, Neuanfänge

Werde ich noch einen neuen Frühling erleben?

Anhang · Diner mit 100 Zutaten
Das Menü · Die begleitenden Weine
Danksagung

Prolog

Schon oft hat ein wie zufällig gehörter Satz oder ein aufgeschnapptes Wort mir den Anstoß für eines meiner Bücher über den Geschmack gegeben, dieses Mal war es die Äußerung eines Küchenchefs, die mich auf die Idee brachte, über die Jahreszeiten zu schreiben.

Eines Abends vor ungefähr sechs Jahren war ich in einem Bistro, in das ich immer ging, wenn ich nach Japan zurückkehrte. Ich mochte es, dort am Tresen zu sitzen, dem Küchenchef, der um die sechzig gewesen sein muss, genau gegenüber. Jedes Mal war es ein Schauspiel und eine regelrechte Kochstunde für mich. Es hieß, früher habe er als Küchenchef in einem berühmten Gourmetrestaurant gearbeitet, doch inzwischen führte er dieses populäre, immer gut besuchte Bistro in einem Vorort von Tōkyō, vielleicht, um an einem Ort, der zu ihm passte, »seine eigene Küche« zu verwirklichen. Die von ihm angebotenen Speisen sahen nicht nur fantastisch aus; in der Finesse der geschmacklichen Verbindungen spiegelte sich eine solide Ausbildung wider und überdies die profunde Kultur seiner Persönlichkeit. Auch seine eigenen Ausführungen zeugten von einer großen Vertrautheit mit der klassischen kulinarischen Literatur.

Als ich also wieder einmal am Tresen dieses Bistros namens »Kyūshō« sitze, wie immer dem Küchenchef Mitsuo Fujinaga gegenüber, serviert mir dieser ein Gemüsegericht, das schon nicht mehr zur Jahreszeit zu passen scheint. Etwas verwundert frage ich nach, und er antwortet mir: »Mademoiselle, da ich sehr viel älter bin als Sie, weiß ich nicht, ob ich dieses Gemüse auch im nächsten Jahr noch genießen darf.«

Wenn es um Nahrungsmittel geht, drängt sich unweigerlich die Frage nach den Jahreszeiten auf. Dass man saisonale Produkte verwenden und konsumieren soll, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber was genau ist das eigentlich, ein »saisonales Produkt«? Das Produkt, wie es bei uns auf den Märkten zu finden ist? Oder wenn es zum ersten Mal im Jahr geerntet wird? Aus welcher Region? Wie lange darf der zurückgelegte Weg sein, um noch von einer »saisonalen« Frucht sprechen zu können? Und ab wann sind Wurzelknollen und Zitrusfrüchte, die sich über Monate aufbewahren lassen, nicht mehr »saisonal«? Zu welchem Zeitpunkt ist eine Fischart »saisonal«, und wie sollte man das definieren? Der Begriff der »Saison« könnte durchaus komplexer sein, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

In Gefilden, die verschiedene klimatische Jahreszeiten kennen, existiert der Begriff der Saison unhinterfragt. Dabei wird häufig vergessen, dass er sich erst dann auf Nahrungsmittel beziehen lässt, wenn es möglich ist, die Saison zu verlegen und zu verschieben, kurz, mit ihr zu spielen. Es hat eine Zeit gegeben, als man sich nur mit dem versorgen konnte, was die Natur gerade anbot. Damals existierte ein »außerhalb der Saison« im Grunde nicht. Man sprach im Übrigen eher von einem »wider die Saison«, was nicht das bezeichnet, was sich »außerhalb« der Saison befindet, sondern das, was »widernatürlich« ist und folglich beunruhigend, ja sogar verdammenswert. Kalte oder heiße Jahre und ihre Auswirkungen auf die dadurch verzögerten oder verfrühten Getreide-, Gemüse- und Obsternten und die Weinlese, zudem stark schwankende Erträge, die so niedrig ausfallen konnten, dass eine Hungersnot ausbrach – all das gehörte zum »Rhythmus der Natur« und zu seinen Risiken. Man war den Jahreszeiten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass heute überall ein saisongerechter Konsum gepredigt wird, gerade in einer Zeit, wo es theoretisch möglich ist, das ganze Jahr über Obst und Gemüse zu züchten und aus allen Ecken der Welt zu importieren. Natürlich ist dieser Anspruch keineswegs unbegründet. Nur wird er allzu oft als eine unumstößliche Notwendigkeit verstanden, der es ohne Wenn und Aber zu gehorchen gilt. Als ob man im Gleichschritt mit der jahreszeitlichen Saison zu marschieren hätte. Doch ist eine Saison alles andere als ein Metronom oder ein Bataillon; die Vorstellung, schnurgerade Ränge zu bilden, aus denen kein Kopf herausragen darf, ist ihr völlig wesensfremd.

Wir haben manchmal eine starre Auffassung von der Dauer einer Saison, als ob diese durch eine Verordnung festgelegt oder wie ein Schulkalender organisiert sei; doch lässt sich eine jahreszeitliche Saison nicht – und ließ sich nie – in eine solche Ordnung zwängen.

Heutzutage ist es paradoxerweise zum Luxus geworden, saisonale Produkte zu kaufen, denn diese Bezeichnung schließt Tiefkühlwaren, Konserven und Erzeugnisse aus der industriellen Landwirtschaft aus.

Man denke aber an all die Märchen, für Kinder wie für Erwachsene, in deren Mittelpunkt die Suche nach einem Produkt außerhalb »seiner Saison« steht. Wie es mir der Küchenchef im »Kyūshō« ins Bewusstsein rief: Ein bestimmtes Gemüse am Ende seiner Saison zu servieren, kann ein Luxus an sich sein. Und der Zweifel, ob man in seinem Leben noch einmal die eine oder die andere Jahreszeit erleben wird, bedeutet, dass man sich schon nach der Jahreszeit sehnt, die man noch nicht erlebt hat, oder dass man die Jahreszeit verlängern möchte, die sich gerade dem Ende zuneigt.

Die Saison zu verschieben, den Ablauf der Zeit und der Jahresabschnitte zu durchbrechen, das ist der Ausdruck eines großen Wunschtraums für uns Sterbliche, die wir gezwungen sind, dem Zeitenlauf zu folgen, der nur in eine Richtung geht. Während wir ein solches Produkt kosten, befreien wir uns von unserer eigenen Zeitlichkeit. Im Hochsommer nach einer Orange zu verlangen, bedeutet, den Winter erleben zu wollen und nicht bereit zu sein, aus der Gegenwart die »letzte Saison« zu machen.

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Vier Jahreszeiten, vierundzwanzig Jahreszeiten, zweiundsiebzig Jahreszeiten?

Manchmal glauben wir, gewisse Konzepte, die wir als wesentlich für das Leben an sich erachten, seien universell, und sind erstaunt zu erfahren, dass sie nicht überall gelten. Dies betrifft zum Beispiel die Begriffe »Gesellschaft«, »Freiheit« oder »Liebe«, die es im Japanischen erst seit der Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert gibt, als aus den europäischen Sprachen übersetzte Konzepte. Was bei Nicht-Japanern immer große Verwunderung auslöst.

Und ebenso vergessen wir, wenn wir in einem Land mit deutlich verschiedenen Jahreszeiten leben, nur allzu leicht, dass dies nicht in allen Gegenden der Welt der Fall ist.

In zahlreichen Ländern gibt es nur zwei Jahreszeiten: die warme und die kalte. Oder zwei eher durch die Höhe der Luftfeuchtigkeit oder die Niederschlagsmenge als durch die Temperaturen (die sie als Nebeneffekt begleiten) charakterisierte Jahreszeiten. So in der tropischen Savanne: Regenzeit und Trockenzeit. Dasselbe gilt für die Monsunzeit in Indonesien, auf Martinique oder in Miami. Alternativ kann der klimatische Einfluss auch zu drei Jahreszeiten führen, wie zum Beispiel in Myanmar: kühle Jahreszeit, heiße Jahreszeit, Regenzeit; oder aber im Süden Thailands: trockene Jahreszeit, heiße Jahreszeit und Regenzeit.

Früher bin ich regelmäßig nach Mali gereist. Ende November, wenn die Regenzeit zu Ende geht, scheint dort den ganzen Tag über die Sonne, die Temperatur steigt jeden Tag schrittweise und ziemlich kontinuierlich an, der Boden wird zunehmend trockener, der Wasserstand der Flüsse sinkt allmählich, das Grün verschwindet entsprechend, und binnen fünf Monaten ist der Zyklus vollendet, der Regen kehrt zurück. Nach einem ersten Starkregen findet der erfrischte Boden neue Kraft, und schon zeigen sich die ersten Schösslinge, bis die zu mächtig gewordenen Regenfälle zu einem Anstieg der Gewässer und manchmal zu Überschwemmungen führen.

In Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien, scheint die Temperatur im Großen und Ganzen unverändert zu bleiben. Sie variiert über das Jahr im Durchschnitt zwischen achtzehn und einundzwanzig Grad, mit Nebel an zwei von drei Tagen. Um andere Temperaturen und andere jahreszeitliche Wetterlagen zu erleben, muss man sich in vertikaler Richtung fortbewegen, den Charakteristika des alpinen Klimas folgend. Je höher man kommt, desto tiefer sinkt die Temperatur, und je tiefer man ins Flachland hinabsteigt, desto milder wird es.

Daran ist nichts Außergewöhnliches: Genau das hat man uns in der Schule im Geografieunterricht beigebracht. Dennoch haben wir die größten Schwierigkeiten, es zu erfassen oder, um mich genauer auszudrücken, es in unseren Körper, in unsere konkrete Vorstellung zu integrieren.

Die Wirtin eines anderthalb Stunden von Kyōto entfernt liegenden Gasthauses hat mir einmal erklärt: »Hier bei uns kommt der Frühling später als in der Stadt, wir liegen am Fuß eines Berges, bei uns ist es kälter. Doch die Kyōter Gäste vergessen, dass sich in anderthalb Stunden Zugfahrt das Klima ändern kann, und sind sehr erstaunt, wenn ich eine Gemüsesorte serviere, deren Saison für sie bereits vorüber ist. Ich entschuldige mich dann bei ihnen und bitte sie, Nachsicht mit der Natur zu haben.«

In Frankreich regt man sich leicht darüber auf, dass heute schon im März Erdbeeren oder im April aus dem Süden importierte Aprikosen und im Winter Tomaten angeboten werden. Insofern sie den faden Geschmack und die Methoden der industriellen Landwirtschaft anklagt, oder aber den unnötig weiten Transportweg aus dem Ausland importierter Früchte, halte ich die Empörung für vollkommen gerechtfertigt. Aber empfinden wir nicht in Wahrheit zuallererst eine fast instinktive Abneigung angesichts dieser Früchte »außerhalb der Saison«, deren Anblick uns, im Namen der Jahreszeit, der wir die jeweilige Frucht zuordnen, anstößig scheint? Befälltuns nicht ein Unbehagen, weil die Frucht aus dem Rahmen herausfällt, mit dem wir sie in unserer Vision der vier Jahreszeiten verbinden?

Meine Hypothese lässt sich einfach belegen, wenn man zum Beispiel an die sogenannten »exotischen« Früchte denkt. Niemand von uns ist schockiert über das ganzjährige Angebot von Bananen auf den Märkten, und nur wenige bringen die CO2-Bilanz von Mangos oder Ananas ins Spiel, wie es bei Erdbeeren oder Kirschen üblich ist, oder nehmen Anstoß daran, sie »außerhalb der Saison« zu essen. Wer von uns weiß, wann Kiwis Saison haben, und mehr noch, wen kümmert es überhaupt? Und darf man sich etwas wünschen, wenn man die erste Kiwi des Jahres isst? In unserer Vorstellung ist die Kiwi nämlich eine exotische Frucht. Dabei wird sie in großem Umfang in Europa, und sogar in Frankreich, angebaut. Dass sie ganzjährig auf dem Markt angeboten wird, liegt daran, dass sie sich lange – über zwei oder drei Saisons hinweg – hält. Doch in welcher Jahreszeit haben Kiwis dann letztlich »ihre Saison«?

Das Verhältnis zwischen Produkten und Jahreszeiten ist zufällig und hoch symbolisch. Allem Anschein nach gebührt manchen Produkten die Ehre, den Gesetzen einer unumstößlichen Saisonalität gemäß behandelt zu werden (Kirschen, Feigen, Spargel oder grüne Erbsen … in Frankreich vor allem Obst und Gemüse des Frühlings oder Sommers: die Jugend der vier Jahreszeiten), während sich andere jeglicher jahreszeitlichen Symbolik beraubt finden (Avocados, Äpfel, Bananen, Ingwer …). Wer kann schon die Geschmacksvariationen der Avocado je nach Jahreszeit und nach Herkunftsgebiet erschmecken?

Den Japanern wird oft nachgesagt, sie besäßen eine besondere Sensibilität für die Jahreszeiten. Sie selbst rühmen sich dieser Qualität. Alle schwärmen davon, dass der traditionelle japanische Kalender vierundzwanzig, ja sogar zweiundsiebzig Jahreszeiten zählt, von denen jede eine eigene, den jeweiligen Moment des Jahres veranschaulichende Bezeichnung trägt. Das bedeutet gewissermaßen: Je mehr Jahreszeiten es gibt, desto besser!

Es versteht sich von selbst, dass sich ein Kalendersystem mit dem Konzept von Jahreszeiten nicht genau decken kann. So zählt in einem Mondkalender wie dem islamischen das Jahr nur 354 Tage, die sich jahreszeitlich verschieben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wer nach solch einem Kalender lebt, keine Vorstellung von Jahreszeiten besitzt. Die meisten Kalender beziehen sich auf religiöse Riten, auf astronomische und natürliche Phänomene oder auf eine Kombination von beiden. Dabei scheinen jene Kulturen, die den traditionellen landwirtschaftlichen Kalender übernommen haben, mit den Jahreszeiten besser in Einklang zu stehen.

Tatsächlich wurde das japanische System der Einteilung des Jahres in vierundzwanzig oder zweiundsiebzig Zeitabschnitte (also immer noch auf vier Jahreszeiten basierend), das als Gipfel an Raffinesse und Ausgereiftheit angesehen wird, gar nicht in Japan erfunden. Es stammt aus China, wo seine Entstehung dem Bedürfnis entsprang, den sich von Jahr zu Jahr verschiebenden Mondkalender anzupassen. Eigentlich ist es niemals wirklich dem japanischen Klima angeglichen worden.

Natürlich ergibt es keinen Sinn, den Wert eines Kalenders nach der Vielzahl seiner Unterteilungen zu bemessen.1 Hätten die Franzosen den Revolutionskalender beibehalten, dann stünde ihnen tagtäglich der Name einer Frucht oder eines Tieres zu!