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Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Guy de Maupassant

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-69-5

null-papier.de/692

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Va­ter Mi­lon und an­de­re Er­zäh­lun­gen

Vor­wort des Über­set­zers

Va­ter Mi­lon

Am Früh­lings­abend

Der Blin­de

Der ver­häng­nis­vol­le Ku­chen

Der Schä­fer­sprung

Aus al­ten Ta­gen

Ma­gne­tis­mus?

Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit

Die To­ten­wa­che

Träu­me

Eine Beich­te

Mond­schein

Eine Lei­den­schaft

Brief­wech­sel

An­ge­führt

Yve­li­ne Sa­mo­ris

Freund Jo­sef

Das Pfle­ge­kind

Bel Ami

Teil 1

Teil 2

Das Haus Tel­lier und An­de­res

Das Haus Tel­lier

Der Kirch­hof Mont­mar­tre

Auf dem Was­ser

Ge­dan­ken des Oberst La­por­te

Ber­t­ha

Die Ge­schich­te ei­ner Bau­ern­magd

Im Fa­mi­li­en­krei­se

Si­mons Papa

Ein Men­schen­le­ben

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

Yvet­te und An­de­res

Paul’s Ver­hält­nis

Eine Land­par­tie

Im Früh­ling

Mam­sell Fifi

Fett-Kloss

Zwei Freun­de

Ein Stück­chen Bind­fa­den

Das Zieh­kind

Die Rück­kehr

Mar­ro­ca

Mo­ham­med Cri­pouil­le

Der Wald­hü­ter

Der letz­te Spa­zier­gang

Zwei Brü­der

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Der Hor­la

Der Hor­la

Das Loch

Ge­ret­tet

Clo­chet­te

Der Mar­quis von Fu­me­rol

Das Zei­chen

Der Teu­fel

Drei­kö­nigs­tag

Im Wal­de

Eine Fa­mi­lie

Jo­sef

Das Wirts­haus

Der Land­strei­cher

Lie­be – Aus dem Ta­ge­buch ei­nes Jä­gers

Mont Ori­ol

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Herr Pa­rent

Herr Pa­rent

Bel­hom­mes Vieh

Zu ver­kau­fen

Die Un­be­kann­te

Das Ge­ständ­nis

Die Tau­fe

Un­vor­sich­tig­keit

Ein Wahn­sin­ni­ger

Länd­li­che Ge­richts­ver­hand­lung

Die Haar­na­del

Eine Ent­de­ckung

Die Sch­nep­fen

Auf der Ei­sen­bahn

Ça ira

Ein­sam­keit

An Bet­tes Rand

Die bei­den klei­nen Sol­da­ten

Dick­chen

Dick­chen

Der Bur­sche

Al­lou­ma

Hau­tot Va­ter und Hau­tot Sohn

Ein Abend

Die Steck­na­deln

Duchoux

Das Stell­dich­ein

Die Tote

Nutz­lo­se Schön­heit

Nutz­lo­se Schön­heit

Das Oli­ven­feld

Die Flie­ge

Der Er­trun­ke­ne

Die Pro­be

Die Mas­ke

Das Bild

Der Krüp­pel

Die fünf­und­zwan­zig Fran­ken der Obe­rin

Ein Schei­dungs­grund

Wer weiß!

Schnaps-An­ton

Schnaps-An­ton

Freund Pa­ti­ence

Der Schnurr­bart

Das Bett No. 29

Bom­bard

Das Haar

Der alte Mon­gi­let

Der Schrank

Zim­mer No. 11

Die Ge­fan­ge­ne­nen

Die Mit­gift

Ro­gers Mit­tel

Das Ge­ständ­nis

Die Teu­fe­lin

Der Pro­tek­tor

Theo­dul Sa­bots Beich­te

Die klei­ne Ro­que

Die klei­ne Ro­que

Das Wrack

Der Ein­sied­ler

Fräu­lein Per­le

Ro­sa­lie Pru­dent

Frau Pa­ris­se

Ju­lie Ro­main

Der alte Ama­ble

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Schwes­tern Ron­do­li

Die Wir­tin

Der Fall Lu­neau

Selbst­mor­de

On­kel Sosthè­ne

Das Fäss­chen

Er?

Der Rie­gel

Der Or­den

An­dre­as’ Lei­den

Der Re­gen­schirm

Das Sün­den-Brot

Die Be­geg­nung

Der Wei­se

Châ­li

Der Lieb­ling

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Stark wie der Tod

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Tag- und Nacht­ge­schich­ten

Die Mo­ri­tat

Rosa

Der Va­ter

Das Ge­ständ­nis

Der Schmuck

Das Glück

Der Alte

Ein Feig­ling

Der Säu­fer

Die Blut­ra­che

Coco

Die Hand

Der Krüp­pel

El­tern­mord

Der Lum­men-Fel­sen

Der Klei­ne

Tim­buc­tu

Eine wah­re Ge­schich­te

Adieu

Erin­ne­rung

Die Beich­te

Un­ser Herz

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Miss Har­riet

Miss Har­riet

De­nis

Kell­ner, ein Bier!

Auf der Rei­se

Ein Idyll

Die Erb­schaft

Der Esel

Der Strick

Die Tau­fe

Reue

On­kel Ju­li­us

Mut­ter Sau­va­ge

Ein Men­schen­le­ben

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Mond­schein

Mond­schein

Ein Staats­s­treich

Der Wolf

Das Kind

Weih­nachts­mär­chen

Kö­ni­gin Hor­ten­se

Die Ver­zei­hung

Le­gen­de vom Mont Saint-Mi­chel

Eine Wit­we

Fräu­lein Co­cot­te

Die Schmuck­sa­chen

Vi­si­on

Die Tür

Der Va­ter

Moi­ron

Un­se­re Brie­fe

Die Nacht – Ein Traum­ge­sicht

Die Sch­nep­fe

Die Sch­nep­fe

Das Schwein der Mo­rin

Die Ver­rück­te

Pier­rot

Me­nuet

Die Furcht

Nor­man­ni­scher Scherz

Die Holz­schu­he

Die Rohr­stuhl­flech­te­rin

Auf See

Ein Nor­man­ne

Das Te­sta­ment

Auf dem Lan­de

Ein Hahn hat ge­kräht

Ein Sohn

Sankt An­ton

Wal­ter Schnaffs’ Aben­teu­er

Hans und Pe­ter

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Der Tu­gend­preis

Der Tu­gend­preis

Ab­ge­blitzt

Toll­wut?

Das Mo­dell

Die Baro­nin

Ein Han­del

Der Mör­der

Die Mar­tin

Eine Ge­sell­schaft

Die Beich­te

Schei­dung

Ver­gel­tung

Irr­fahr­ten ei­nes Mäd­chens

Das Fens­ter

Das Haus

Das Haus

Kirch­hofs­lie­be

Auf dem Strom

Ge­schich­te ei­ner Magd

Da­heim

Si­mons Va­ter

Die Land­par­tie

Im Lenz

Pauls Frau

Fräu­lein Fifi

Zur Ein­füh­rung

Die bei­den Freun­de

Lie­bes­wor­te

Der Weih­nachts­abend

Der Er­satz­mann

Die Re­li­quie

Das Holz­scheit

Pa­ri­ser Aben­teu­er

Der Dieb

Das Bett

Fräu­lein Fifi

Er­wacht

Weih­nachts­fei­er

Eine List

Der Spa­zier­ritt

Ein­ge­ros­tet

Toll?

Frau Bap­tis­te

Mar­ro­ca

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

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Vater Milon und andere Erzählungen

Vorwort des Übersetzers

Wir be­gin­nen hier­mit die Ver­öf­fent­li­chung des Nach­las­ses von Guy de Mau­passant. Er ent­hält Er­zäh­lun­gen, No­vel­len, lit­te­ra­ri­sche Chro­ni­ken und Auf­sät­ze, an de­ren ge­ord­ne­ter Her­aus­ga­be der Ver­fas­ser durch einen frü­hen und jä­hen Tod ver­hin­dert wor­den ist.

Die­ser ers­te Band ent­hält eine Rei­he von Ge­schich­ten, de­ren Grun­di­dee Mau­passant in ei­ni­gen sei­ner Bü­cher wie­der auf­ge­nom­men und aus­ge­stal­tet hat. Sie fin­den hier ih­ren na­tür­li­chen Platz, denn sie las­sen uns – ganz ab­ge­se­hen von dem In­ter­es­se, das sie an sich zu be­an­spru­chen ha­ben, – die Ent­wi­cke­lung des Mau­passant’­schen Den­kens und Schaf­fens bis in ihre An­fän­ge zu­rück ver­fol­gen.

Wir sind uns be­wusst, dass die Ver­öf­fent­li­chung die­ser in sei­nen Pa­pie­ren vor­ge­fun­de­nen und von ihm selbst noch ge­ord­ne­ten Ar­bei­ten dazu bei­tra­gen wird, das In­ter­es­se für den großen Schrift­stel­ler und sei­nen Ruhm zu meh­ren.

*

Mit die­ser et­was knap­pen Vor­re­de be­ginnt der am heu­ti­gen Tage zu­gleich mit die­ser Über­set­zung er­schei­nen­de post­hu­me No­vel­len­band Guy de Mau­passants »Le Père Mi­lon«. Die Kür­ze der mir ge­steck­ten Frist er­laub­te nicht, den oben an­ge­deu­te­ten Ge­dan­ken, dass es sich in die­sem Ban­de um meh­re­re Ur­bil­der spä­ter aus­ge­stal­te­ter Wer­ke han­delt, des län­ge­ren aus­ein­an­der zu set­zen, und muss ich mir die­se Auf­ga­be bis auf wei­te­res vor­be­hal­ten. Ein paar ein­lei­ten­de Wor­te mö­gen den­noch am Plat­ze sein.

*

Mau­passant er­scheint auch in die­sem post­hu­men Ban­de als der See­len­künst­ler und Meis­ter des Styls, als der er ge­schätzt wird. Je­des der nach­fol­gen­den Gen­re­bild­chen ist mit epi­gram­ma­ti­scher Kür­ze wie mit un­nach­ahm­li­cher Klar­heit und Ein­fach­heit hin­ge­zeich­net und er­schließt in die­ser meis­ter­li­chen Be­schrän­kung eine gan­ze rei­che Welt. Na­tür­lich hat der große See­len­ken­ner und Pes­si­mist, der eben, weil er See­len­ken­ner war, zum Pes­si­mis­ten wur­de, auch in die­ser Samm­lung mehr die Schat­ten­sei­ten der mensch­li­chen Na­tur als ihre Licht­sei­ten – in frei­lich vir­tuo­ser Wei­se – her­aus­ge­ar­bei­tet. Wenn trotz­dem kaum eine die­ser No­vel­len einen durch­aus un­be­frie­di­gen­den, quä­len­den Ein­druck hin­ter­lässt, so liegt das wohl dar­an, dass die bit­te­re Wahr­heit stets in die him­melblaue Schön­heit feins­ter Styl­kunst ge­taucht ist, und dass Mau­passant ne­ben den Dis­so­nan­zen des Men­schen­le­bens auch die wun­der­vol­len Ak­kor­de der Na­tur er­klin­gen lässt, die er wie kein zwei­ter zu schil­dern weiß. Im­pres­sio­nis­ti­sche Na­tur­bil­der, wie sie in der No­vel­le »Ein kor­si­ka­ni­scher Ban­dit« ent­rollt wer­den, oder die Schil­de­rung des re­gungs­lo­sen Tei­ches in der Herbst­nacht, oder der Zau­ber ei­nes Mond­auf­gan­ges am feuch­ten Früh­lings­abend ge­hö­ren zu den Per­len Mau­passant’­scher Kunst und ste­hen den be­rühm­ten Schil­de­run­gen der Afri­ka­ni­schen Rei­se nicht nach.

Na­tür­lich ste­hen auch in die­ser Samm­lung die Wei­ber im Brenn­punkt des In­ter­es­ses. Wir se­hen sie alle, von der Aben­teue­rin, de­ren Toch­ter aus Gram über den leicht­fer­ti­gen Wan­del der Mut­ter in den Tod geht, und der klei­nen Pa­ri­ser Be­am­ten­frau, die einen Mi­nis­ter des zwei­ten Kai­ser­rei­ches nas­führt, von der jun­gen Frau, die der un­ge­lieb­te Gat­te aus blin­der sinn­lo­ser Ei­fer­sucht fast um­bringt und sie ge­ra­de da­durch zu Miss­trau­en und Un­treue er­zieht – bis zu der lie­be­be­dürf­ti­gen schö­nen See­le, die an einen lang­wei­li­gen kor­rek­ten Pe­dan­ten ge­ket­tet ist und in ei­ner zau­be­ri­schen Mond­nacht am Gen­fer See ihr Herz ver­liert, bis zu der al­tern­den Frau, die in dem weh­mü­ti­gen Ge­dan­ken: »Wie kurz ist doch ein Men­schen­le­ben!« an die fröh­li­chen und sorg­lo­sen Tage ih­rer glück­li­chen Ju­gend zu­rück­denkt und un­ter al­tem Ge­rüm­pel von den Bil­dern der Ver­gan­gen­heit weh­mü­tig be­fal­len wird, und bis zu der rüh­ren­den Ge­stalt der al­ten Jung­fer, die in der Früh­lings­nacht weint, als sie, das arme, nie ge­lieb­te Mäd­chen, das lie­ben­de, schä­kern­de Braut­paar be­wa­chen soll…

Ich möch­te an die­ser Stel­le eine tech­ni­sche Schluss­be­mer­kung nicht un­ter­drücken. Es ver­steht sich von selbst, dass die­ses Buch nicht nach be­lieb­ter Ma­nier »frei nach Mau­passant« er­fun­den ist, son­dern sich eng an das Ori­gi­nal an­schließt. Wenn ich trotz­dem an ge­wis­sen Stel­len nicht bis zur Gren­ze des Er­laub­ten ge­gan­gen bin, so glau­be ich mich trotz­dem nicht am Ur­text ver­sün­digt zu ha­ben, der mir hei­lig ist. Die fran­zö­si­sche Spra­che hat – ganz ab­ge­se­hen da­von, dass es fran­zö­si­sche Art ist, al­les viel frei­er, nai­ver und un­ge­schmink­ter her­aus­zu­sa­gen, als es bei uns an­stän­dig wäre – eine Fül­le von Wor­ten, die al­les mög­li­che be­deu­ten kön­nen, wäh­rend die Äqui­va­len­te bei uns – sehr ein­deu­tig sind. Man lese z. B. einen Ro­man von Zola auf Fran­zö­sisch, und man wird ver­hält­nis­mä­ßig we­nig di­rekt An­stö­ßi­ges dar­in fin­den; man lese ihn in »rea­lis­ti­scher« Über­set­zung, und man wird vor­zie­hen, ihn nicht zu Ende zu le­sen. Es heißt dar­um nicht, einen Au­tor fäl­schen, wenn man ihn in ei­ner sol­chen Ab­tö­nung wie­der­gibt, dass die Wir­kung, die er her­vor­ruft, in bei­den Spra­chen die­sel­be bleibt.

Ber­lin, im Juli 1899.

Fried­rich von Op­peln-Bro­ni­kow­ski.

Vater Milon

Seit ei­nem Mo­nat flammt die Son­ne mit Macht über der Land­schaft. Leuch­tend ent­fal­tet sich das Le­ben un­ter die­sem Feu­er­re­gen. Blau spannt sich der Him­mel bis an die Rän­der der Welt. Die nor­man­ni­schen Höfe, die über die Ebe­ne ver­streut sind, se­hen von fer­ne wie klei­ne Wal­dun­gen aus, die ein ho­her Bu­chen­gür­tel um­schlingt. Kommt man nä­her und öff­net das ver­wit­ter­te Hof­tor, so glaubt man in einen Rie­sen­gar­ten zu tre­ten, denn all die al­ten Ap­fel­bäu­me, die so knor­rig wie die Bau­ern des Lan­des sind, ste­hen in Blü­te. Ihre al­ten schwar­zen, ge­krümm­ten und ge­wun­de­nen Stäm­me ste­hen rei­hen­wei­se im Hofe und ent­fal­ten ihre wei­ßen und rosa Blü­ten­wip­fel un­ter dem blau­en­den Him­mel. Der süße Blü­ten­duft mischt sich in die fet­ten Gerü­che der of­fe­nen Stäl­le und die Aus­düns­tun­gen des gä­ren­den Dün­ger­hau­fens, auf dem es von Hüh­nern wim­melt.

Es ist Mit­tag, die Fa­mi­lie sitzt im Schat­ten des Birn­baums vor der Tür, Va­ter, Mut­ter, vier Kin­der, zwei Mäg­de und drei Knech­te. Ge­spro­chen wird nicht, nur ge­ges­sen. Erst die Sup­pe, dann wird die Fleisch­schüs­sel auf­ge­deckt, auf der Kar­tof­feln mit Speck lie­gen. Von Zeit zu Zeit steht eine Magd auf und geht in den Kel­ler, um den Äp­fel­wein­krug zu fül­len.

Der Mann, ein statt­li­cher Vier­zi­ger, dreht sich nach dem Hau­se um und blickt auf ein Wein­spa­lier, das noch ziem­lich kahl ist und sich wie eine Schlan­ge un­ter den Lä­den weg um die Mau­er win­det. End­lich tut er den Mund auf. »Va­ter sein Wein« sag­te er, »schlägt dies Jahr früh aus. Vi­el­leicht wird er was tra­gen.«

Die Frau dreht sich gleich­falls um und blickt hin, ohne ein Wort zu sa­gen.

Die­ser Wein ist ge­ra­de an der Stel­le ge­pflanzt, wo der Va­ter er­schos­sen wur­de.

*

Es war im Krie­ge 1870. Die Preu­ßen hat­ten das gan­ze Land be­setzt. Ge­ne­ral Faid­her­be stand ih­nen mit der Nor­dar­mee ge­gen­über.

Das preu­ßi­sche Stab­s­quar­tier be­fand sich just in die­sem Hofe. Va­ter Mi­lon, der Be­sit­zer, mit Vor­na­men Pier­re, hat­te den Feind gut auf­ge­nom­men und nach bes­ten Kräf­ten un­ter­ge­bracht.

Die preu­ßi­sche Avant­gar­de lag seit ei­nem Mo­nat hier in Beo­b­ach­tungs-Stel­lung. Die Fran­zo­sen stan­den zehn Mei­len ent­fernt, ohne sich zu rüh­ren, und doch ver­schwan­den all­nächt­lich Ula­nen.

Alle ein­zel­nen Rei­ter, die auf Pa­trouil­le ge­schickt wur­den, auch wenn sie zu zweit oder zu dritt rit­ten, ka­men nie wie­der.

Man fand sie am nächs­ten Mor­gen im Fel­de, am Ran­de ei­nes Ge­höfts oder Gra­bens tot. Selbst ihre Pfer­de la­gen an den Stra­ßen hin­ge­streckt; ein Sä­bel­hieb hat­te ih­nen die Keh­le zer­schnit­ten.

Die­se Mord­ta­ten schie­nen im­mer von den­sel­ben Leu­ten ver­übt zu wer­den, die man nicht ent­de­cken konn­te.

Das Land wur­de ein­ge­schüch­tert, Bau­ern auf ein­fa­che De­nun­zia­ti­on hin er­schos­sen, Wei­ber ge­fan­gen ge­setzt. Aus den Kin­dern such­te man durch Dro­hun­gen et­was her­aus zu pres­sen. Es kam aber nichts her­aus.

Doch da lag ei­nes Mor­gens Va­ter Mi­lon im Stall auf der Streu und hat­te einen klaf­fen­den Hieb im Ge­sicht.

Zwei Ula­nen mit auf­ge­schlitz­tem Lei­be la­gen etwa drei Ki­lo­me­ter vom Hofe ent­fernt. Der eine hielt sei­ne blu­ti­ge Waf­fe noch in der Faust; er hat­te sich ge­wehrt und ge­kämpft.

So­fort wur­de ein Kriegs­ge­richt auf dem Hofe un­ter frei­em Him­mel ab­ge­hal­ten und der Alte vor­ge­führt.

Er war achtund­sech­zig Jah­re alt, von klei­ner Sta­tur, ma­ger, et­was ge­beugt, und hat­te große Hän­de wie Krebs­sche­ren. Sein Haar war ge­bleicht, spär­lich und zart wie der Flaum ei­ner jun­gen Ente; über­all ließ es die Kopf­haut durch­schim­mern. An der brau­nen, run­ze­li­gen Haut des Hal­ses quol­len di­cke Adern her­vor, die un­ter dem Kinn ver­schwan­den und an den Schlä­fen wie­der zu Tage tra­ten.

Man stell­te ihn zwi­schen vier Sol­da­ten und an den her­aus­ge­zo­ge­nen Kü­chen­tisch setz­ten sich fünf Of­fi­zie­re so­wie der Oberst ihm ge­gen­über.

Die­ser er­griff das Wort auf Fran­zö­sisch.

– Va­ter Mi­lon, sag­te er, seit wir hier sind, ha­ben wir uns über Euch nie zu be­kla­gen ge­habt. Ihr seid im­mer ge­fäl­lig und so­gar auf­merk­sam ge­gen uns ge­we­sen. Aber heu­te las­tet eine furcht­ba­re An­kla­ge auf Euch, und die Sa­che be­darf der Auf­klä­rung. Wo­her habt Ihr die Wun­de, die Ihr da im Ge­sicht tragt?

Der Bau­er ant­wor­te­te nicht.

– Euer Schwei­gen ver­dammt Euch selbst, Va­ter Mi­lon, fuhr der Oberst fort. Aber ich wün­sche, dass Ihr ant­wor­tet, ver­steht Ihr mich. Wisst Ihr, wer die bei­den Ula­nen ge­tö­tet hat, die heu­te Mor­gen am Kru­zi­fix ge­fun­den wur­den?

Der Alte sag­te laut und deut­lich:

– Das bin ich ge­we­sen.

Der Oberst war be­trof­fen. Er schwieg eine Se­kun­de und blick­te den Ge­fan­ge­nen scharf an. Va­ter Mi­lon stand un­ge­rührt in sei­ner schwer­fäl­li­gen Bau­ern­art und senk­te die Au­gen, als ob er vor sei­nem Beich­ti­ger stän­de. Nur ei­nes ver­riet viel­leicht sei­ne in­ne­re Be­we­gung: er schluck­te fort­wäh­rend mit sicht­li­cher An­stren­gung, als ob ihm die Keh­le zu­ge­schnürt wäre.

Sei­ne Fa­mi­lie, d. h. sein Sohn Jean, sei­ne Schwie­ger­toch­ter und die zwei Klei­nen, stan­den zehn Schritt da­hin­ter, ver­stört und in ängst­li­cher Span­nung.

Der Oberst fuhr fort.

– Wisst Ihr auch, wer alle Mel­de­rei­ter un­se­rer Ar­mee um­ge­bracht hat, die seit ei­nem Mo­nat je­den Mor­gen auf den Fel­dern ge­fun­den wur­den?

Und mit der­sel­ben bru­ta­len Gleich­gül­tig­keit ant­wor­te­te der Alte:

– Das bin ich ge­we­sen.

– Ihr? Ihr habt sie um­ge­bracht?

– Frei­lich, ich bin es ge­we­sen.

– Ihr al­lein?

– Ich al­lein.

– Sagt mir doch, wie habt Ihr das an­ge­stellt?

Dies­mal schi­en der Mann be­wegt. Der Zwang, lan­ge re­den zu müs­sen, be­läs­tig­te ihn sicht­lich.

Ich… ich weiß nicht. Ich hab’ das ge­tan, wie sich ’s gra­de mach­te.

– Ich ma­che Euch dar­auf auf­merk­sam, fuhr der Oberst fort, dass Ihr nichts zu ver­schwei­gen habt. Ihr wer­det also gut tun, Euch auf der Stel­le zu ent­schlie­ßen. Wie habt Ihr sie um­ge­bracht?

Der Bau­er warf einen un­ru­hi­gen Blick auf sei­ne An­ge­hö­ri­gen, die hin­ter ihm horch­ten, schi­en noch einen Au­gen­blick zu zau­dern und ent­schloss sich dann plötz­lich, zu re­den.

– Ich kam ei­nes Abends heim, sag­te er. Es war um zehn Uhr, den Tag dar­auf, wo Sie her­ge­kom­men wa­ren. Sie und Ihre Sol­da­ten hat­ten mir mehr als für fünf­zig Ta­ler Fut­ter und eine Kuh und zwei Ham­mel fort­ge­nom­men. Ich habe mir gleich ge­sagt: So viel mal sie mir zwan­zig Ta­ler neh­men, so viel will ich ih­nen heim­zah­len. Und dann hat­te ich noch an­de­re Sa­chen auf dem Her­zen, die will ich Ih­nen nach­her sa­gen. Ich sehe da also einen von Ihren Rei­tern, der sitzt auf mei­nem Gra­ben­rand und raucht sei­ne Pfei­fe hin­ter mei­ner Scheu­er. Ich gehe und neh­me mei­ne Sen­se her­un­ter und schlei­che mich ganz sach­te von hin­ten an ihm ’ran, dass er nur ja nichts merkt. Und mit ei­nem Schla­ge hau’ ich ihm den Kopf ab, wie einen Halm, dass er nicht mal mehr »Uff!« sag­te. Sie brau­chen nur im Moor nach­se­hen las­sen, da wer­den Sie ihn in ei­nem Koh­len­sack fin­den, mit ’nem Feld­stein dran­ge­bun­den.

Ich hat­te so mei­nen Ge­dan­ken da­bei; ich nahm alle sei­ne Sa­chen samt den Stie­feln und der Müt­ze mit und ver­steck­te sie in der Kalk­bren­ne­rei am Mar­tins­wald hin­ter dem Hofe.

Der Alte schwieg. Die Of­fi­zie­re blick­ten sich sprach­los an. Das Ver­hör be­gann von Neu­em und hat­te fol­gen­des Er­geb­nis.

*

So­bald er den Mord voll­bracht hat­te, hat­te er nur noch den einen Ge­dan­ken: »Tod den Preu­ßen!« Er hass­te sie mit heim­tücki­schem, er­bit­ter­tem Hass, so­wohl als be­ein­träch­tig­ter Bau­er wie als gu­ter Pa­tri­ot. Er hat­te so sei­nen Ge­dan­ken, wie er sag­te, und war­te­te ein paar Tage ab.

Man ließ ihn tun und las­sen, was er woll­te, und aus- und ein­ge­hen, wie er woll­te, so de­mü­tig, un­ter­wür­fig und ge­fäl­lig hat­te er sich ge­gen die Sie­ger be­nom­men. So sah er je­den Abend die Pa­trouil­len ab­rei­ten und merk­te sich die Na­men der Orte, wo­hin sie rei­ten soll­ten. Des Nachts ging er dann hin­aus, nach­dem er im Ver­kehr mit den Sol­da­ten die paar deut­schen Bro­cken ge­lernt hat­te, die er brauch­te.

Er ver­ließ den Hof, schlich in den Wald und er­reich­te die Kalk­bren­ne­rei, schlüpf­te bis an’s Ende des lan­gen Gan­ges und zog sich die Klei­der des To­ten an, die auf der Erde la­gen.

Dann be­gann er quer­feld­ein zu strei­fen, kroch in den Ge­län­de­fal­ten ent­lang, um nicht ge­se­hen zu wer­den, und lausch­te, un­ru­hig wie ein Wild­dieb, auf das lei­ses­te Geräusch.

Als er glaub­te, dass die Zeit ge­kom­men wäre, zog er sich an die Stra­ße her­an, ver­steck­te sich da in ei­nem Strau­che und war­te­te. End­lich, um Mit­ter­nacht, hör­te er den Ga­lopp ei­nes Pfer­des auf der har­ten Stra­ßen­de­cke. Er leg­te das Ohr auf den Bo­den, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob auch nur ein ein­zi­ger Rei­ter käme; dann hielt er sich be­reit.

Der Ulan kam im schlan­ken Tra­be da­her; er brach­te Mel­dun­gen zu­rück. Er hielt das Auge wach und das Ohr ge­spannt. Als er bis auf zehn Schrit­te her­an war, schlepp­te sich Va­ter Mi­lon über die Stra­ße hin und schrie plötz­lich »Hil­fe! Hil­fe!« Der Rei­ter mach­te Halt, er­kann­te einen Rei­ter ohne Pferd, und hielt ihn für ver­wun­det. Als er nichts­ah­nend nä­her kam und sich über den Un­be­kann­ten beug­te, stach ihm die­ser mit dem krum­men Sä­bel mit­ten in den Leib, so­dass er ohne To­des­kampf aus dem Sat­tel sank; nur ein letz­tes Zu­cken lief durch sei­nen Kör­per.

Da er­hob sich der alte Bau­er stumm und freu­de­strah­lend und schnitt dem Leich­nam zum Spaß noch die Keh­le durch. Dann zog er ihn nach dem Gra­ben und warf ihn hin­ein.

Das Pferd war­te­te ru­hig auf sei­nen Herrn; Va­ter Mi­lon setz­te sich in den Sat­tel und ga­lop­pier­te da­von.

Nach etwa ei­ner Stun­de er­blick­te er noch zwei Ula­nen, die Schen­kel an Schen­kel ins Quar­tier rit­ten. Er ga­lop­pier­te stracks auf sie zu und schrie wie­der: »Hil­fe! Hil­fe!« Die Preu­ßen lie­ßen ihn, da sie die Uni­form er­kann­ten, ohne ir­gend­wel­ches Miss­trau­en her­an­kom­men. Der Alte platz­te mit­ten zwi­schen sie hin­ein, wie eine Ku­gel, und mach­te sie mit Sä­bel und Re­vol­ver un­schäd­lich.

Dann schnitt er den Pfer­den – es wa­ren ja deut­sche Pfer­de! – die Häl­se durch, kehr­te in al­ler Ge­müts­ru­he nach sei­nem Kal­kofen zu­rück und ver­barg das Pferd am Ende des dunklen Gan­ges, leg­te sei­ne Uni­form ab, zog sei­ne arm­se­li­gen Bau­ern­klei­der wie­der an, ging heim und schlief bis zum an­de­ren Mor­gen,

Vier Tage lang hielt er sich ru­hig, um das Ende der an­ge­stell­ten Un­ter­su­chung ab­zu­war­ten. Am fünf­ten Tage brach er wie­der aus und tö­te­te noch zwei Sol­da­ten durch die­sel­be Kriegs­list. Seit­dem ging er all­abend­lich auf Men­schen­jagd, durch­quer­te aufs Ge­ra­te­wohl die Ge­gend, schlug die Preu­ßen bald hier, bald dort zu Bo­den und ga­lop­pier­te im Mond­schein als Ulan durch die ver­las­se­nen Fel­der. Hat­te er sei­ne Ab­sicht er­reicht, so ließ er die Lei­chen an den Stra­ßen lie­gen und ver­steck­te Pferd und Uni­form wie­der im Kal­kofen.

Ge­gen Mit­tag ging er dann mit dem ru­higs­ten Ge­sicht von der Welt wie­der hin und brach­te sei­nem Reit­tier Ha­fer und Was­ser in den un­ter­ir­di­schen Gang, wo es an­ge­bun­den war, und füt­ter­te es gut, denn es muss­te ihm viel leis­ten.

An ei­nem der Aben­de je­doch setz­te sich ei­ner der An­ge­grif­fe­nen recht­zei­tig zur Wehr und schlug dem al­ten Bau­ern mit dem Sä­bel ins Ge­sicht.

Er hat­te in­des­sen bei­de ge­tö­tet und war noch bis zu sei­nem Kal­kofen ge­kom­men, hat­te dort sein Pferd un­ter­ge­stellt und sei­ne un­schein­ba­re Klei­dung wie­der an­ge­legt. Dann hat­te er sich nach Hau­se ge­schleppt, war aber un­ter­wegs von ei­ner Schwä­che be­fal­len wor­den, und hat­te nur noch den Stall, nicht mehr das Haus er­reicht.

Dort hat­te man ihn blut­über­strömt auf der Streu ge­fun­den.

*

Als er sei­ne Er­zäh­lung be­en­det hat­te, er­hob er plötz­lich den Kopf und blick­te die preu­ßi­schen Of­fi­zie­re stolz an.

Der Oberst zog an sei­nem Schnur­bart und frag­te:

– Wei­ter habt Ihr nichts zu sa­gen?

– Nein, wei­ter ist’s nichts. Die Rech­nung stimmt. Ich habe sech­zehn ge­tö­tet, kei­nen mehr, kei­nen we­ni­ger.

– Ihr wisst, dass Euch der Tod be­vor­steht?

– Ich habe Sie nicht um Gna­de ge­be­ten.

– Seid Ihr Sol­dat ge­we­sen?

– Zu mei­ner Zeit, ja. Au­ßer­dem habt Ihr mei­nen Va­ter ge­tö­tet, er war Sol­dat un­ter dem ers­ten Kai­ser. Und mei­nen jüngs­ten Sohn François, den habt Ihr ver­gan­ge­nen Mo­nat bei Evreux ge­tö­tet. Was ich Euch schul­dig war, ist nun be­zahlt. Wir sind jetzt quitt.

Die Of­fi­zie­re blick­ten sich an.

– Acht für mei­nen Va­ter, fuhr der Alte fort. Acht für mei­nen Sohn. Nun sind wir quitt. Ich habe den Streit mit Euch nicht ge­sucht. Ich ken­ne Euch nicht. Ich weiß nicht ein­mal, wo Ihr her seid. Ihr seid zu mir ge­kom­men und schal­tet in mei­nem Hau­se, als ob es bei Euch wäre. Ich habe mich für al­les ge­rächt. Ich be­reue nichts.

Der Alte rich­te­te sei­nen stei­fen Kör­per auf und kreuz­te die Arme, wie ein schlich­ter Held.

Die Preu­ßen spra­chen lan­ge mit ge­dämpf­ter Stim­me. Ein Haupt­mann, des­sen Sohn im letz­ten Mo­nat gleich­falls ge­fal­len war, ver­tei­dig­te die­sen ar­men Teu­fel.

Da stand der Oberst auf, trat auf Va­ter Mi­lon zu und sprach mit mil­de­rer Stim­me:

– Hört mich an, Al­ter, viel­leicht gibt es noch ein Mit­tel, Euch das Le­ben zu ret­ten, wenn Ihr…

Aber der hör­te nicht. Er starr­te dem Of­fi­zier des sieg­rei­chen Hee­res fest in die Au­gen, wäh­rend der Wind in sei­nem dün­nen Haar­flaum spiel­te, und schnitt eine schau­der­haf­te Gri­mas­se, dass sein zer­haue­nes Ge­sicht sich furcht­bar ver­zerr­te. Dann blies er die Brust auf und spie dem Preu­ßen mit al­ler Ge­walt ins An­ge­sicht.

Der Oberst er­hob wü­tend die Hand, aber da spie er schon wie­der…

Die Of­fi­zie­re wa­ren sämt­lich auf­ge­sprun­gen und brüll­ten Kom­man­dos durch­ein­an­der.

Ehe noch eine Mi­nu­te ver­ging, war der wa­cke­re Kerl, der noch im­mer un­ge­rührt schi­en, an die Mau­er ge­stellt und er­schos­sen. Sei­nem äl­tes­ten Soh­ne, sei­ner Schwie­ger­toch­ter und den bei­den Klei­nen, die ver­zwei­felt zu­sa­hen, hat­te er noch zu­ge­lä­chelt.

*

Am Frühlingsabend

Jean­ne soll­te ih­ren Vet­ter Jac­ques bald hei­ra­ten. Sie kann­ten sich schon von Kind­heit an, und dar­um hat­te die Lie­be zwi­schen ih­nen nicht je­nes ze­re­mo­ni­el­le Ge­prä­ge an­ge­nom­men, wie es sonst bei Braut­leu­ten be­ob­ach­tet wird. Sie wa­ren zu­sam­men groß ge­wor­den, ohne zu ah­nen, dass sie sich lieb­ten. Das jun­ge Mäd­chen, das et­was ge­fall­süch­tig war, hat­te zwar ein paar un­schul­di­ge Tän­de­lei­en ver­sucht; sie fand den jun­gen Mann über­dies recht nett und hielt ihn für brav, und je­des Mal, wenn sie sich wie­der­sa­hen, küss­te sie ihn recht von Her­zen. Aber sie küss­ten sich doch ohne je­den Schau­der, der den Kör­per von den Fin­gern bis zu den Ze­hen durch­rie­sel­t…

Er dach­te ganz ein­fach: sie ist ein net­tes Ding, mei­ne klei­ne Cou­si­ne; und wenn er an sie dach­te, so ge­sch­ah dies mit je­ner in­stink­ti­ven Zärt­lich­keit, die je­der Mann ei­nem hüb­schen jun­gen Mäd­chen ge­gen­über emp­fin­det. Wei­ter gin­gen sei­ne Ge­dan­ken je­doch nicht.

Doch da hat­te Jean­ne ei­nes Ta­ges durch Zu­fall ge­hört, wie ihre Mut­ter zu ih­rer Tan­te sag­te – Tan­te Al­ber­ta, denn Tan­te Li­son war le­dig ge­blie­ben –: »Ich kann dir ver­si­chern, sie wer­den sich so­fort lie­ben, die­se Kin­der; das sieht man ja. Und Jac­ques ist ganz der Schwie­ger­sohn nach mei­nem Her­zen.«

Von die­sem Tage an hat­te Jean­ne ih­ren Vet­ter Jac­ques an­ge­be­tet. Seit­her er­rö­te­te sie bei sei­nem An­blick und ließ ihre Hand in der des jun­gen Man­nes zit­tern, Ihre Au­gen senk­ten sich scham­haft, wenn ihre Bli­cke sich be­geg­ne­ten, und wenn er sie küss­te, tat sie, als ob sie sich sträub­te, – und dies al­les so gut, dass er’s merk­te… Er hat­te ver­stan­den, und in ei­nem hol­den Au­gen­bli­cke, wo ihn die ge­schmei­chel­te Ei­tel­keit nicht we­ni­ger hin­riss, als die wah­re Nei­gung, hat­te er sei­ne Cou­si­ne fest in die Arme ge­schlos­sen und ihr ein »Ich lie­be dich! Ich lie­be dich!« ins Ohr ge­haucht.

Seit­her herrsch­te ein zärt­li­ches Gir­ren und ar­ti­ges Tän­deln in al­len Ton­ar­ten der Lie­be; die ver­trau­te Be­kannt­schaft von Kind­heit an mach­te ihr Be­neh­men dop­pelt zwang­los und un­ge­bun­den. Im Wohn­zim­mer küss­te Jac­ques sei­ne Zu­künf­ti­ge un­ge­niert vor den drei al­ten Da­men, sei­ner Mut­ter und ih­ren bei­den Schwes­tern, Tan­te Al­ber­ta und Tan­te Li­son. Ta­ge­lang ging er mit ihr al­lein in den Wald, am Flüss­chen ent­lang oder durch die Wie­sen, de­ren Gras­tep­pich schon von den ers­ten Früh­lings­blu­men durch­wirkt war. So er­war­te­ten sie den fest­ge­setz­ten Tag ih­rer end­li­chen Ve­rei­ni­gung ohne all­zu große Un­ge­duld; viel­mehr schwam­men sie in ei­tel Se­lig­keit und ge­nos­sen den pri­ckeln­den Reiz der ver­hal­te­nen Lieb­ko­sun­gen, der war­men Hän­de­drücke und lan­gen, glü­hen­den Bli­cke, in de­nen ihre See­len zu ver­schmel­zen schie­nen… Das un­be­stimm­te Ver­lan­gen nach in­ni­ge­ren Umar­mun­gen quäl­te sie mit sü­ßer Pein, und auf ih­ren Lip­pen, die sich such­ten, lag eine lau­ern­de, war­ten­de, ver­hei­ßen­de Un­ge­duld…

Manch­mal, wenn sie den gan­zen Tag im schwü­len Dunst­krei­se die­ser pla­to­ni­schen Zärt­lich­kei­ten zu­ge­bracht hat­ten, spür­ten sie abends eine läh­men­de Star­re am Her­zen und seufz­ten aus tiefs­ter Brust, ohne zu wis­sen, warum, ohne zu ver­ste­hen, dass es die Er­war­tung war, die ihre Seuf­zer schwell­te.

Die bei­den Müt­ter und ihre Schwes­ter, Tan­te Li­son, sa­hen die­ser jun­gen Lie­be mit zärt­li­chem Lä­cheln zu; be­son­ders Tan­te Li­son war be­wegt, wenn sie die bei­den zu­sam­men sah.

Sie war ein klei­nes Däm­chen, sprach we­nig, war meist für sich al­lein, stets ge­räusch­los, und er­schi­en ei­gent­lich nur zu den Mahl­zei­ten, um gleich nach­her wie­der auf ihr Zim­mer zu ge­hen, wo sie sich be­stän­dig ein­schloss. Sie hat­te ein gu­tes, ält­li­ches Ge­sicht und sanf­te, trau­ri­ge Au­gen; von der Fa­mi­lie wur­de sie kaum be­ach­tet. Die bei­den ver­wit­we­ten Schwes­tern, die in der Welt doch et­was vor­ge­stellt hat­ten, sa­hen sie als et­was ganz Be­deu­tungs­lo­ses an. Man be­han­del­te sie mit größ­ter Ver­trau­lich­keit und mit ei­ner leicht ver­ächt­li­chen Nach­sicht ge­gen die alte Jung­fer… Ei­gent­lich hieß sie Lise; sie war jung ge­we­sen, als Béran­ger Frank­reich be­herrsch­te. Als man aber sah, dass sie nicht hei­ra­te­te, dass sie ganz ge­wiss nicht mehr hei­ra­ten wür­de, än­der­te man ih­ren Na­men in Li­son um und nann­te sie Tan­te Li­son. Jetzt war sie ein al­tes, be­schei­de­nes, et­was ei­ge­nes Däm­chen, und höchst ängst­lich ge­gen die Ih­ri­gen, de­ren Zu­nei­gung zu ihr sich aus Ge­wohn­heit, Mit­leid und wohl­wol­len­der Gleich­gül­tig­keit zu­sam­men­setz­te.

Die Kin­der ka­men nie zu ihr her­auf, um sie zu küs­sen. Nur das Mäd­chen be­trat zu­wei­len ihre Schwel­le. Wenn man mit ihr spre­chen woll­te, ließ man sie ho­len. Man wuss­te kaum, wo das Zim­mer­chen lag, in dem die­ses arme, ein­sa­me Le­ben ver­floss… Sie hat­te durch­aus kei­ne Stel­lung. Wenn sie nicht zu­ge­gen war, war von ihr nie die Rede. Man dach­te auch nie an sie. Sie ge­hör­te zu je­nen ver­ges­se­nen We­sen, die selbst ih­ren nächs­ten An­ge­hö­ri­gen un­be­kannt und gleich­sam un­ent­deckt blei­ben, de­ren Tod in ei­nem Hau­se kei­ne Lücken reißt, und die nicht ver­ste­hen, in das Da­sein und die Ge­wohn­hei­ten oder in die Lie­be ih­rer Mit­menschen ein­zu­drin­gen.

Sie ging im­mer mit klei­nen ei­li­gen und ge­dämpf­ten Schrit­ten; sie mach­te nie ein Geräusch, stieß nie an et­was an und schi­en den Din­gen die Ei­gen­schaft ab­so­lu­ter Laut­lo­sig­keit mit­zu­tei­len. Ihre Hän­de hät­ten von Wat­te sein kön­nen: so leicht und be­hut­sam fass­te sie al­les an.

Wenn man »Tan­te Li­son« sag­te, so er­weck­ten die­se zwei Wor­te in der Vor­stel­lung der Hö­rer kei­nen an­de­ren Ein­druck, als ob man »die Kaf­fee­kan­ne« oder »die Zucker­do­se« sag­te. Die Hün­din Lou­che hat­te ent­schie­den eine aus­ge­spro­che­ne­re Per­sön­lich­keit; sie wur­de fort­wäh­rend ge­lieb­kost und ge­ru­fen: »Komm, mein lie­bes Louch­e­chen, mein schö­nes klei­nes Louch­e­chen!« Man hät­te ihr un­gleich mehr nach­ge­weint.

Der Vet­ter und die Cou­si­ne soll­ten Ende Mai hei­ra­ten. Die jun­gen Leu­te leb­ten nur noch Aug’ in Auge und Hand in Hand; sie wa­ren be­reits ein Herz und eine See­le. Es wur­de die­ses Jahr erst spät und nur zö­gernd Früh­ling. In den hel­len Frost­näch­ten und mor­gens in den Früh­ne­beln war es noch zum Zäh­ne­klap­pern. Dann plötz­lich kam der Lenz mit Macht. Ein paar war­me, et­was duns­ti­ge Tage hat­ten ge­nügt, um den Saft, der noch in der Erde schlief, in Be­we­gung zu set­zen. Die Blät­ter ent­fal­te­ten sich wie durch ein Wun­der, und über­all schweb­te ein be­rau­schen­der, er­mat­ten­der Duft von Knos­pen und er­blü­hen­den Blu­men.

End­lich, ei­nes Nach­mit­tags, hat­te die Son­ne die um­her­trei­ben­den Düns­te auf­ge­so­gen und war mit sieg­rei­chem Pran­gen über der Ebe­ne auf­ge­gan­gen. Ihre hei­te­re Klar­heit durch­ström­te das gan­ze Land und durch­drang al­les, Pflan­zen, Tie­re und Men­schen. Die Vö­gel schwirr­ten lo­ckend und su­chend um­her und schlu­gen mit den Flü­geln. Jac­ques und Jean­ne sa­ßen den gan­zen Tag lang bei ein­an­der auf ei­ner Bank vor dem Schloss­por­tal. Das neue Glück be­ängs­tig­te sie; sie wa­ren furcht­sa­mer als ge­wöhn­lich. Sie fühl­ten, wie es sich in ih­nen reg­te, ganz wie in den Bäu­men, und wag­ten nicht al­lein hin­aus­zu­ge­hen. Ihre Au­gen ruh­ten un­be­stimmt auf dem Teich, der dort un­ten lag und auf dem die großen Schwä­ne sich ver­folg­ten.

Erst als es Abend ward, fühl­ten sie sich er­leich­tert und ru­hi­ger; nach dem Es­sen lehn­ten sie im of­fe­nen Fens­ter des Wohn­zim­mers und plau­der­ten ver­liebt, wäh­rend die bei­den Müt­ter in dem Licht­krei­se, den der run­de Lam­pen­schirm ab­schloss, ihr Pi­ket spiel­ten und Tan­te Li­son für die Orts­ar­men St­rümp­fe strick­te.

Fern hin­ter dem Tei­che brei­te­te ein ein­zel­ner Baum sei­ne ho­hen Wip­fel, und plötz­lich brach durch das kaum ent­spross­te Blät­ter­grün das sil­ber­ne Mond­licht. Lang­sam wan­del­te die lich­te Schei­be durch die Äste, die sich fein­ge­zähnt da­ge­gen ab­ho­ben, zu den Hö­hen des Him­mels em­por, und die Ster­ne um­her er­lo­schen. Über alle Welt er­goss sich der ma­gi­sche Schim­mer, in dem die Düns­te und die Träu­me der Be­trüb­ten, der Dich­ter und Lie­ben­den sich wie­gen…

Die jun­gen Leu­te hat­ten dem auf­ge­hen­den Mon­de zu­ge­schaut; dann, als die wei­che Mil­de der Nacht sie um­floss und der Däm­mer, der auf den Wie­sen und über den Baum­mas­sen web­te, sie lo­ckend ver­zau­ber­te, wa­ren sie hin­aus­ge­gan­gen und wan­del­ten lang­sa­men Schrit­tes auf dem großen, mond­wei­ßen Ra­sen­platz bis zum schil­lern­den Tei­che.

In­zwi­schen hat­ten die bei­den Müt­ter ihre all­abend­li­chen vier Par­ti­en Pi­ket be­en­det und die Au­gen be­gan­nen ih­nen zu­zu­fal­len; sie sehn­ten sich nach Ruhe.

– Wir müs­sen die Kin­der ru­fen, sag­te die eine.

Mit schnel­lem Bli­cke durch­flog die an­de­re den Teil des Gar­tens, in dem die zwei Schat­ten­ge­stal­ten sich lang­sam er­gin­gen.

– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön drau­ßen. Li­son kann auf sie war­ten. Nicht wahr, Li­son?

Die alte Jung­fer hob un­ru­hig die Au­gen und ant­wor­te­te mit ängst­li­cher Stim­me:

– Ge­wiss, ich wer­de auf sie war­ten.

Da­rauf gin­gen die bei­den Schwes­tern zu Bet­te.

Als sie her­aus wa­ren, stand Tan­te Li­son auch auf, ließ die an­ge­fan­ge­ne Ar­beit samt der Wol­le und der großen Na­del auf dem Arme des Lehn­stuhls lie­gen und leg­te sich mit den El­len­bo­gen ins Fens­ter, um die lieb­li­che Nacht zu ge­nie­ßen.

Die bei­den Lie­ben­den gin­gen im­mer noch über den Ra­sen­platz, vom Teich bis zur Trep­pe und von der Trep­pe bis zum Tei­che. Sie drück­ten sich die Hän­de und hat­ten auf­ge­hört, zu spre­chen, als wä­ren sie ganz ent­rückt und bil­de­ten nur noch einen Teil die­ses Mär­chen­zau­bers, der auf der Welt lag. Jean­ne er­blick­te plötz­lich im Fens­ter­rah­men den Schat­ten der al­ten Dame, der sich scharf ge­gen das Lam­pen­licht ab­hob.

– Halt, sag­te sie ste­hen blei­bend, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Jac­ques blick­te auf.

– In der Tat, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Sie gin­gen dann un­ge­stört wei­ter, wie vor­her, und träum­ten und lieb­ten, wie vor­her. Doch das Gras war vol­ler Tau. Es war kühl und sie frös­tel­ten.

– Wol­len wir nicht hin­ein ge­hen? schlug Jean­ne vor.

Jac­ques nick­te und sie gin­gen wie­der ins Haus.

Als sie ins Wohn­zim­mer tra­ten, saß Tan­te Li­son wie­der über ihre Ar­beit ge­beugt und strick­te; ihre klei­nen, dür­ren Fin­ger zit­ter­ten ein we­nig, wie von Über­mü­dung.

Jean­ne trat nä­her.

– Wir wol­len jetzt zu Bet­te ge­hen, Tan­te.

Das alte Däm­chen schlug die Au­gen auf. Sie wa­ren rot, als hät­te sie ge­weint. Doch Jac­ques und sei­ne Braut ach­te­ten nicht dar­auf. Der jun­ge Mann merk­te nur, dass die dün­nen Le­der­schu­he sei­nes Mäd­chens von Tau trief­ten. Ängst­lich frag­te er:

– Hast du nicht kalt an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen?

Plötz­lich be­gan­nen die Fin­ger der al­ten Tan­te so hef­tig zu zit­tern, dass die Ar­beit ih­nen ent­fiel und das Woll­knäu­el weit über den Bo­den roll­te. Sie ver­barg das Ge­sicht in den Hän­den und fing an zu wei­nen; es war ein hef­ti­ges, krampf­haf­tes Schluch­zen.

Die bei­den Kin­der stürz­ten auf sie zu; Jean­ne knie­te nie­der und nahm ihr die zit­tern­den Hän­de von den Au­gen.

– Was ist dir, Tan­te Li­son? Wa­rum weinst du?

– Weil… Weil… stot­ter­te die alte Dame; ihre Stim­me schi­en in Trä­nen zu zer­flie­ßen, und ein kramfhaf­tes Zit­tern ging durch ih­ren Kör­per, Weil er dich frag­te… hast du nicht kal­t… an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen… Das… hat mir nie ei­ner ge­sag­t… mir nie!…

*

Der Blinde

Wa­rum freu­en wir uns doch so sehr über die ers­te Lenz­son­ne? Wa­rum er­füllt uns die­ses Licht, das die Erde be­scheint, so mit neu­em Le­bens­glück? Der Him­mel ist so blau, die Flur so grün, die Häu­ser so weiß; und uns­re Au­gen fan­gen die­se Far­ben mit Ent­zücken auf, um sie in See­len­freu­de um­zu­set­zen. Und uns wan­delt die Lust an, zu tan­zen, zu lau­fen und zu sin­gen; uns­re Ge­dan­ken sind so glück­lich und leicht; un­ser Herz wei­tet sich so zärt­lich; wir möch­ten die Son­ne um­ar­men…

Nur die Blin­den sit­zen stumpf in den Tü­ren, von ewi­ger Nacht um­fan­gen. Sie sind ru­hig, wie im­mer, auch in­mit­ten die­ses la­chen­den Froh­sinns, und alle Mi­nu­ten hei­ßen sie ih­ren Hund, der mit sprin­gen und ja­gen möch­te, sich ru­hig zu ver­hal­ten; sie ver­ste­hen ja nicht… Erst wenn sie bei sin­ken­der Son­ne am Arm ei­nes jün­ge­ren Bru­ders oder ei­ner klei­nen Schwes­ter ins Haus zu­rück­keh­ren und das Kind sagt: »Ach, heu­te war es schön drau­ßen!«, dann ant­wor­ten sie wohl: »Ich hab’ es wohl ge­merkt, dass es schön war; Lou­lou woll­te gar­nicht still­sit­zen«.

Ich kann­te einen sol­chen Men­schen, für den das Le­ben eine der grau­sams­ten Mar­tern war, die sich den­ken las­sen. Er war ein Bau­er, der Sohn ei­nes Päch­ters aus der Nor­man­die. So­lan­ge Va­ter und Mut­ter leb­ten, wur­de ei­ni­ger­ma­ßen für ihn ge­sorgt, so­dass er nur an sei­ner ent­setz­li­chen Blind­heit zu tra­gen hat­te, aber seit die Al­ten tot wa­ren, be­gann sein Mar­ty­ri­um. Eine Schwes­ter nahm ihn zu sich, aber je­der­man im Hofe be­han­del­te ihn wie einen Bett­ler, der an­de­rer Leu­te Brot aß. Kei­ne Mahl­zeit ver­ging, bei der man ihm nicht sei­ne Nah­rung miss­gönn­te, ihn Faul­len­zer und Klet­te schalt; und trotz­dem sein Schwa­ger sich sei­nes Erb­teils be­mäch­tigt hat­te, gab man ihm kaum so viel Sup­pe, dass er nicht ver­hun­ger­te.

Sein Ge­sicht war ganz fahl; zwei große wei­ße Au­gens­ter­ne wa­ren wie Obla­ten hin­ein­ge­drückt. Er blieb gleich­gül­tig ge­gen die Schelt­wor­te und so in sich ge­kehrt, dass man nicht wuss­te, ob er sie über­haupt emp­fand. Er hat­te ja auch nie ihr Ge­gen­teil ken­nen ge­lernt. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn im­mer et­was un­sanft be­han­delt und lieb­te ihn nicht eben sehr; denn auf dem Lan­de gilt al­les, was un­nütz ist, für schäd­lich, und die Bau­ern tä­ten es am liebs­ten den Hüh­nern nach und bräch­ten, wenn sie könn­ten, alle Ge­brech­li­chen um.

So­bald er sei­ne Sup­pe her­un­ter hat­te, stand er auf und setz­te sich – im Som­mer vor die Haus­tür, im Win­ter an den Ofen, und von dort rühr­te er sich nicht mehr bis zum Abend. Er blieb ohne Ge­bär­den, ja ohne Be­we­gun­gen sit­zen; nur sei­ne Au­gen­li­der durch­lief oft ein ner­vö­ses Zu­cken, wäh­rend sie über sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel her­ab­fie­len. Hat­te er Geist, Ver­stand und deut­li­ches Le­bens­be­wusst­sein? Die­se Fra­ge leg­te sich nie ei­ner vor.

So ging es ei­ni­ge Jah­re lang. Doch sein Stumpf­sinn und mehr noch sei­ne ab­so­lu­te Un­brauch­bar­keit er­bit­ter­ten schließ­lich sei­ne An­ge­hö­ri­gen und er wur­de bald zur Ziel­schei­be des Spot­tes, zum Mär­ty­rer-Po­panz, zur will­kom­me­nen Beu­te der an­ge­bo­re­nen Nie­der­tracht und bar­ba­ri­schen Freu­de sei­ner bru­ta­len Um­ge­bung. Alle Pos­sen, die sei­ne Blind­heit er­mög­lich­te, wur­den mit ihm an­ge­stellt. Und um sich für das, was er aß, be­zahlt zu ma­chen, trie­ben sei­ne An­ver­wand­ten wäh­rend der Mahl­zeit ih­ren Spott mit ihm und fopp­ten ihn zum Ver­gnü­gen der Nach­barn und zur Qual für den Wehr­lo­sen.

Alle Bau­ern aus der Nach­bar­schaft er­schie­nen zu die­sen Be­lus­ti­gun­gen; man sag­te sich von Tür zu Tür Be­scheid, und die Kü­che des Pacht­ho­fes war je­den Tag ge­drängt voll. Zu­nächst setz­te man einen Hund oder eine Kat­ze auf den Tisch vor den Tel­ler, aus dem der Un­glück­li­che sei­ne Fleisch­brü­he löf­fel­te. Das Tier, das die Schwä­che des Es­sers bald her­aus hat­te, kam sach­te her­an­ge­schli­chen und schleck­te in stil­lem Be­ha­gen mit, bis ein zu lau­tes Zun­gen­schnal­zen die Auf­merk­sam­keit des ar­men Teu­fels schließ­lich er­reg­te: dann mach­te es sich be­hut­sam da­von und wich dem Löf­fel, mit dem der Blin­de plan­los vor sich hin­schlug, ohne viel Mühe aus.

Lau­tes Ge­läch­ter, Ge­drän­ge und Ge­tram­pel der Zuschau­en­den, die dicht ge­drängt an den Wän­den stan­den, folg­te die­ser Pro­ze­dur, wäh­rend der Gef­opp­te, ohne ein Wort zu sa­gen, wie­der zu es­sen be­gann, und mit der vor­ge­hal­te­nen Lin­ken sei­nen Tel­ler be­schütz­te und ver­tei­dig­te.

Dann gab man ihm Pfrop­fen, Holz, Blät­ter und schließ­lich Dreck zu es­sen, was er nicht un­ter­schei­den konn­te. Und schließ­lich, da auch das lang­wei­lig wur­de und die Spä­ße nicht mehr zo­gen, be­gann der Schwa­ger in sei­ner Wut, dass er ihn er­näh­ren muss­te, ihn mit Püf­fen und Schlä­gen zu trak­tie­ren und lach­te über die ver­geb­li­chen An­stren­gun­gen des Un­glück­li­chen, die Schlä­ge zu pa­rie­ren oder hin­aus­zu­ge­ben. Daraus wur­de dann ein neu­es Spiel, das Maul­schel­len­spiel: Och­sen- und Pfer­de­knech­te, Mäg­de, al­les zog ihm fort­wäh­rend die Hän­de durchs Ge­sicht, und sei­ne Li­der zuck­ten dann noch hef­ti­ger. Er wuss­te nicht, wo­hin er sich vor ih­nen ret­ten soll­te, und ging dar­um im­mer mit vor­ge­streck­ten Ar­men, da­mit ihm kei­ner zu nahe käme.

End­lich zwang man ihn, zu bet­teln. An Markt­ta­gen stell­te man ihn auf die Stra­ßen, und so­bald das Geräusch von Schrit­ten oder das Na­hen ei­nes Wa­gens hör­bar ward, muss­te er sei­nen Hut zie­hen und sein: »Bit­te um ein klei­nes Al­mo­sen!« her­be­ten.

Aber der Bau­er ist knicke­rig, und so ver­gin­gen oft Wo­chen, wo er nicht einen Sou heim­brach­te. Seit­dem wuchs der Hass ge­gen ihn ins Gren­zen­lo­se, Er­bar­mungs­lo­se. Und dies war sein Tod.

Ein­mal im Win­ter, als die Erde dicht ver­schneit und es mör­de­risch kalt war, führ­te ihn sein Schwa­ger am frü­hen Mor­gen weit fort auf eine Land­stra­ße, wo er um Al­mo­sen bet­teln soll­te. Dort ließ er ihn den gan­zen Tag über ste­hen, und als es Nacht wur­de, er­klär­te er sei­nen Leu­ten, er hät­te ihn nicht wie­der­ge­fun­den. »Nee«, setz­te er hin­zu, »um Den brau­chen wir uns kei­ne Sor­ge zu ma­chen. Es wird ihn schon ei­ner mit­ge­nom­men ha­ben, wenn ihm kalt war. I wo, der ist nicht drauf­ge­gan­gen. Der wird mor­gen schon wie­der kom­men und sei­ne Sup­pe wol­len.«

Er kam aber nicht wie­der.

Stun­den­lang hat­te er ge­stan­den und ge­war­tet. Dann, als er fühl­te, dass er er­frie­ren wür­de, war er blind­lings drauf los­ge­gan­gen. Er konn­te den ver­schnei­ten Stra­ßen­zug un­ter der Schnee­de­cke nicht er­ken­nen und stürz­te in ver­schnei­te Grä­ben, ar­bei­te­te sich wie­der hoch und such­te still­schwei­gend nach ei­nem Hau­se.

Aber der ei­si­ge Schnee durch­käl­te­te ihn all­mäh­lich im­mer mehr, und als ihn sei­ne schwa­chen Bei­ne nicht mehr tra­gen konn­ten, setz­te er sich mit­ten auf einen Acker, von dem er nicht mehr auf­stand.

Bald hat­ten die wei­ßen Schnee­flo­cken ihn ganz zu­ge­deckt. Sein steif ge­wor­de­ner Kör­per ver­schwand un­ter ih­rer dich­ten De­cke, die sich be­stän­dig er­höh­te, und bald ver­riet nichts mehr die Stel­le, wo der Leich­nam lag.

Sei­ne Ver­wand­ten stell­ten zum Schei­ne Nach­for­schun­gen an und such­ten acht Tage. Sie wein­ten so­gar. Aber der Win­ter war rau und es thau­te erst spät. So fand sich vor­der­hand nichts.

Als die Päch­ters­leu­te ei­nes Sonn­tags zur Mes­se gin­gen, sa­hen sie, wie ein großer Ra­ben­schwarm un­abläs­sig über der Ebe­ne kreis­te und sich dann wie eine schwar­ze Re­gen­wol­ke auf einen be­stimm­ten Fleck nie­der­ließ, wie­der auf­flog und im­mer wie­der zu­rück­kehr­te.

Die Wo­che dar­auf wa­ren sie im­mer noch da, die un­heim­li­chen Vö­gel. Der Him­mel war schwarz von ih­rem Ge­wim­mel, als wä­ren sie von al­len vier Win­den zu­sam­men­ge­flo­gen; sie lie­ßen sich mit lau­tem Ge­krächz auf den glän­zen­den Schnee nie­der, wühl­ten hart­nä­ckig dar­in her­um und be­fleck­ten ihn ei­gen­tüm­lich.

Ein Bursch lief hin, um nach­zu­se­hen, was sie da mach­ten, und ent­deck­te den Ka­da­ver des Blin­den; er war zer­hackt und schon halb auf­ge­fres­sen. Sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel wa­ren von den ge­frä­ßi­gen Schnä­beln her­aus­ge­hack­t…

Und je­des Mal, wenn ich die Le­bens­freu­de der ers­ten Son­nen­ta­ge spü­re, kommt mir die trü­be Erin­ne­rung und der weh­mü­ti­ge Ge­dan­ke an die­sen Ent­erb­ten des Le­bens wie­der, des­sen schau­er­li­cher Tod für alle, die ihn kann­ten, eine Er­lö­sung war.

*

Der verhängnisvolle Kuchen

Sa­gen wir, sie hieß Ma­da­me An­ser­re, um ih­ren wah­ren Na­men nicht bloß­zu­stel­len. Sie ge­hör­te zu je­nen Pa­ri­ser Ko­me­ten, die einen leuch­ten­den Schweif hin­ter sich zu­rück­las­sen. Sie dich­te­te und schrieb No­vel­len, hat­te ein ge­fühl­vol­les Herz und war ent­zückend schön. Sie emp­fing we­nig und auch nur Grö­ßen ers­ten Ran­ges, sol­che, die man ge­mei­nig­lich Fürs­ten in ir­gend ei­ner Sa­che nennt. Von ihr emp­fan­gen zu wer­den, war ein wirk­li­cher Adels­ti­tel der In­tel­li­genz; we­nigs­tens schätz­te man ihre Ein­la­dun­gen so.

Ihr Gat­te spiel­te die Rol­le des dunklen Tra­ban­ten. Der Gat­te ei­nes Sterns zu sein, ist nie leicht. Und doch hat­te die­ser Gat­te kei­nen schlech­ten Ein­fall ge­habt: er woll­te einen Staat im Staa­te bil­den und sei­ne Berühmt­heit für sich ha­ben, eine Berühmt­heit zwei­ten Ran­ges frei­lich – aber schließ­lich konn­te er doch auf die­se Wei­se an den Ta­gen, wo sei­ne Frau emp­fing, auch emp­fan­gen; er hat­te sein be­son­de­res Pub­li­kum, das ihn schätz­te, an­hör­te und ihm mehr Be­ach­tung schenk­te, als sei­ner glän­zen­den Ge­fähr­tin.

Er hat­te sich der Land­wirt­schaft ge­wid­met, und zwar der Land­wirt­schaft im Zim­mer. Es gibt ja auch Zim­mer-Ge­ne­ra­le; alle die am grü­nen Tisch des Kriegs-Mi­nis­te­ri­ums groß wer­den und le­ben, sind ja die­ses Schla­ges; eben­so Zim­mer-Ma­ri­ne, sie­he das Ma­ri­ne-Mi­nis­te­ri­um, Zim­mer-Ko­lo­nis­ten u. s. w. Er hat­te also Land­wirt­schaft stu­diert, und zwar tief­gründ­lich, Land­wirt­schaft in ih­ren Be­zie­hun­gen zu den an­de­ren Wis­sen­schaf­ten, zur Na­tio­nal-Öko­no­mie, zu den Küns­ten… Die Küns­te wer­den ja über­all da­zwi­schen ge­mengt, und selbst die schau­der­haf­ten Ei­sen­bahn­brücken wer­den zu »Kunst­wer­ken« ge­stem­pelt! So hat­te er es end­lich er­reicht, dass man ihn einen »tüch­ti­gen Mann« nann­te und in tech­ni­schen Zeit­schrif­ten zi­tier­te. Sei­ne Frau hat­te es fer­ner durch­ge­setzt, dass er zum Mit­glie­de ei­ner Kom­mis­si­on im Acker­bau-Mi­nis­te­ri­um er­nannt wur­de – und die­ser be­schei­de­ne Ruhm ge­nüg­te ihm.

Sei­ne Freun­de lud er un­ter dem Vor­wan­de, die Kos­ten zu ver­rin­gern, im­mer an den­sel­ben Aben­den ein, wo sei­ne Gat­tin die ih­ren emp­fing, doch teil­ten sie sich als­bald in zwei ge­son­der­te La­ger: die Dame des Hau­ses mit ih­rer Sui­te von Künst­lern, Aka­de­mi­kern und Mi­nis­tern »tag­te« in ei­ner Art Gal­le­rie, die im Em­pi­re-Styl mö­bliert und aus­ge­stat­tet war; wäh­rend der Herr sich mit sei­nen Land­wir­ten ge­wöhn­lich in ein be­scheid­ne­res Zim­mer zu­rück­zog, das als Rauch­zim­mer diente und von Ma­da­me An­ser­re iro­nisch das »Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net« ge­nannt wur­de.

Die bei­den Heer­la­ger wa­ren streng ge­schie­den; nur Herr An­ser­re, dem jede Ei­fer­sucht fern lag, er­schi­en bis­wei­len in der »Aka­de­mie«, wo sich ihm ein Dut­zend Hän­de zum Gru­ße ent­ge­gen­streck­ten, wah­rend die Aka­de­mi­ker es völ­lig un­ter ih­rer Wür­de hiel­ten, das Land­wirt­schaft­li­che Ka­bi­net zu be­tre­ten. Nur ganz sel­ten er­schi­en ei­ner der Fürs­ten der Wis­sen­schaft, des Ge­dan­kens oder an­de­rer At­tri­bu­te un­ter den Land­wir­ten.

Die­se Empfangs-Aben­de kos­te­ten we­nig; es gab Tee und Ku­chen, wei­ter nichts. Herr An­ser­re woll­te an­fäng­lich zwei Ku­chen ha­ben, einen für die Aka­de­mie und einen für die Land­wirt­schaft; aber sei­ne Frau be­merk­te ganz rich­tig, dass da­mit zwei ver­schie­de­ne La­ger an­er­kannt wür­den, und dar­auf hat­te denn ihr Gat­te sei­nen An­spruch fal­len las­sen. Es wur­de also im­mer nur ein Ku­chen her­um­ge­reicht, den Frau An­ser­re zu­erst den Aka­de­mi­kern an­bot, wor­auf er dann nach dem Land­wirt­schaft­li­chen Ka­bi­net her­über­wan­der­te.

Die­ser Ku­chen wur­de für die Aka­de­mi­ker bald zum Ge­gen­stan­de der ei­gen­tüm­lichs­ten Beo­b­ach­tun­gen. Frau An­ser­re schnitt ihn näm­lich nie selbst an. Die­ses Am­tes wal­te­te stets ei­ner der il­lus­t­ren Gäs­te, und bald wur­de es zum ge­such­ten Ehren­am­te, das je­der der Rei­he nach kür­zer oder län­ger be­klei­de­te, meist drei Mo­na­te lang, sel­ten län­ger. Merk­wür­dig war, dass das Pri­vi­le­gi­um, den Ku­chen zu schnei­den, eine Fül­le von an­de­ren Vor­rech­ten mit sich brach­te und dem da­mit be­trau­ten den Kö­nigs- oder doch Vize-Kö­nigs-Rang zu ver­lei­hen schi­en. Der re­gie­ren­de Zer­le­ger führ­te das lau­tes­te Wort; es war ein aus­ge­spro­che­ner Kom­man­do­ton; und alle Gunst­be­wei­se der Her­rin fie­len ihm zu, alle.

Halb­laut und hin­ter den Tü­ren nann­te man die­se in­ti­men Günst­lin­ge des Hau­ses die »Ku­chen-Fa­vo­ri­ten«, und je­der Fa­vo­ri­ten-Wech­sel rief in der Aka­de­mie große Um­wäl­zun­gen her­vor. Das Mes­ser wur­de zum Szep­ter, das Ge­bäck zum Wahr­zei­chen der Macht; die Er­wähl­ten wur­den leb­haft be­glück­wünscht. Herr An­ser­re war na­tür­lich aus­ge­schlos­sen, trotz­dem er auch sei­ne Por­ti­on aß.

Der Ku­chen wur­de der Rei­he nach von Poe­ten, Ma­lern und Ro­man­ciers zer­legt. Ein großer Kom­po­nist teil­te die Por­tio­nen eine Zeit lang ein; ein Ge­sand­ter folg­te ihm im Amte. Bis­wei­len kam auch ein we­ni­ger be­rühm­ter, aber dar­um nicht min­der ele­gan­ter und ge­such­ter Herr vor den sym­bo­li­schen Ku­chen zu sit­zen, ei­ner von de­nen, die man je nach der herr­schen­den Mode einen wah­ren Gent­le­man, einen per­fek­ten Ka­va­lier, einen Dan­dy oder sonst­wie nennt. Je­der von ih­nen schenk­te wäh­rend sei­ner kurz­le­bi­gen Herr­schaft dem Gat­ten et­was mehr Be­ach­tung; dann, wenn die Stun­de sei­nes Fal­les ge­kom­men war, übergab er das Mes­ser ei­nem an­de­ren und ver­lor sich wie­der in der Men­ge von Va­sal­len und An­be­tern der »schö­nen Frau An­ser­re«.

So währ­te es lan­ge, sehr lan­ge. Aber die Ko­me­ten leuch­ten nicht im­mer mit dem­sel­ben Glan­ze. Al­les auf Er­den hat sein Ziel. Auch hier konn­te man be­ob­ach­ten, wie der Ei­fer der Ku­chen­schnei­der all­mäh­lich nachließ, wie sie bis­wei­len zu zö­gern schie­nen, wenn ih­nen der Ku­chen­tel­ler ge­reicht ward, wie das einst so be­nei­de­te Amt im­mer we­ni­ger ge­sucht, im­mer we­ni­ger lan­ge be­haup­tet wur­de und der Stolz, es an­zu­neh­men, im­mer mehr nachließ. Um­sonst ver­schwen­de­te Ma­da­me An­ser­re Lä­cheln und Lie­bens­wür­dig­keit; bald woll­te kei­ner mehr aus frei­en Stücken schnei­den. Wer neu hin­zu­kam, schi­en sich di­rekt zu wei­gern, und die al­ten Fa­vo­ri­ten er­schie­nen ei­ner nach dem an­de­ren wie­der im Amte, wie ent­thron­te Fürs­ten, die man für Au­gen­bli­cke wie­der auf den Thron er­hebt. Dann wur­den die Er­wähl­ten sel­ten, ganz sel­ten. Ei­nen Mo­nat lang schnitt Herr An­ser­re – o Wun­der! – selbst den Ku­chen, bis er es schließ­lich über­drüs­sig wur­de und man ei­nes schö­nen Abends Ma­da­me An­ser­re – »die schö­ne Ma­da­me An­ser­re!« – höchst ei­gen­hän­dig ih­ren Ku­chen schnei­den sah!

Aber das war ihr höchst lang­wei­lig, und am nächs­ten Abend setz­te sie ei­nem ih­rer Gäs­te der­ma­ßen zu, dass er ihre Bit­te nicht aus­schla­gen moch­te.

In­des­sen war das Sym­bol zu gut be­kannt und man blick­te sich mit ängst­li­chen, rat­lo­sen Ge­sich­tern von un­ten her an. Den Ku­chen zu schnei­den, war ja nicht ge­fähr­lich, aber die Vor­rech­te, un­ter de­nen die­se Gunst bis­her ver­ge­ben wor­den, be­ängs­tig­ten jetzt, so­dass die Aka­de­mi­ker, so­bald die Plat­te nur er­schi­en, sich in wir­rem Knäu­el in das Land­wirt­schaft­li­che Ge­mach flüch­te­ten, wie um sich hin­ter dem be­stän­dig lä­cheln­den Gat­ten zu ver­ste­cken. Und wenn Ma­da­me An­ser­re sich be­stürzt auf der Schwel­le zeig­te, den Ku­chen in der einen Hand hal­tend, das Mes­ser in der an­de­ren, so schi­en sich al­les um ih­ren Gat­ten zu scha­ren, wie um ihn um Schutz zu bit­ten.

So ver­gin­gen Jah­re. Nie­mand woll­te mehr den Ku­chen schnei­den, aber im­mer noch such­te sie, die man ga­lan­ter Wei­se im­mer noch die »schö­ne Frau An­ser­re« nann­te, aus al­ter Ge­wohn­heit mit fle­hen­den Bli­cken einen Er­ge­be­nen, der das Mes­ser er­grif­fe – und je­des Mal ent­stand die­sel­be Be­we­gung im Um­krei­se: so­bald die ver­häng­nis­vol­le Fra­ge auf ihre Lip­pen trat, be­gann eine all­ge­mei­ne ge­schick­te Flucht vol­ler Lis­ten und Ma­nö­ver.

Ei­nes Abends nun wur­de ein blut­jun­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­