Buchinfo

Tilly hat es geschafft. Endlich hat sie mit ihren zwölf Jahren eine Arbeit gefunden. Noch dazu auf einem so herrschaftlichen Anwesen wie Frost Hollow Hall. Und mit Gracie, mit der sie sich eine Kammer teilt, versteht sie sich wunderbar. Doch schon bald merkt Tilly, dass auf Frost Hollow Hall seltsame Dinge vor sich gehen. Ob es dort spukt? Als sie eines Abends zum Kühlhaus eilt, um Eiswürfel für den Lord zu schlagen, entdeckt sie eine Gestalt auf dem zugefrorenen See …

Autorenvita

© Emma Carroll

Emma Carroll unterrichtete zunächst Englisch an einer Oberschule. Dann entschloss sie sich zu einem Studium an der Bath Spa University, das sie mit Auszeichnung absolvierte und wo sie einen MA im Schreiben für junge Leser erwarb. Nacht über Frost Hollow Hall war Emma Carrolls Debütroman. Mittlerweile gibt es vier weitere Bücher von ihr. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Jack Russell Terriern in den Hügeln von Somerset.

Rings um mich herum sah das Eis nicht glatt aus. Linien durchkreuzten es und ich bekam ein mulmiges Gefühl. Denn es waren keine Schlittschuhspuren, sondern Risse.

COMBETALER NACHRICHTEN

Dienstag, 7. Februar 1871

EINE SCHRECKLICHE TRAGÖDIE

Auf dem Gelände von Frost Hollow Hall, dem Landsitz des Viscount Barrington in der Nähe des Dorfes Frostcombe, hat sich ein schrecklicher Vorfall ereignet.

Christopher, Lord Barringtons einziges Kind, starb gestern Nachmittag auf tragische Weise, als er allein auf einem zugefrorenen See des Anwesens Schlittschuh lief. Wie es scheint, brach er auf dem viel zu dünnen Eis ein und kam im kalten Wasser zu Schaden.

Als er einige Stunden später nicht zum Essen erschien, wurde Alarm geschlagen. Seine Leiche wurde kurz darauf am Rande des Sees entdeckt.

Lord Barrington ist, Berichten zufolge, verzweifelt. Lady Barrington befindet sich in einem lebensgefährlichen Zustand und wird ärztlich betreut. Christopher Barrington, Kit genannt, war der Erbe von Frost Hollow Hall und ein beliebter Junge in Frostcombe und Umgebung. Das Dorf befindet sich in tiefem Schock über seinen plötzlichen und viel zu frühen Tod.

Ich hatte die Warterei gründlich satt. Zwei ganze Stunden lang hatte ich schon nach Pa Ausschau gehalten und noch immer war nichts von ihm zu sehen. Bei jedem Geräusch hob sich meine Stimmung, die aber gleich wieder kippte, wenn ich auf die Uhr sah.

Er hatte sich verspätet. Um mindestens zwei Stunden!

Draußen hatte sich der Raureif überhaupt nicht aufgelöst. Er überzog unsere Fensterscheibe sogar innen. Man konnte kaum erkennen, was draußen vor sich ging. Um anständig auszusehen, hatte ich mein Sonntagskleid anbehalten, obwohl der Stoff dünn war und ich vor Kälte zitterte. Ich hatte auch versucht, meine Haare in Ordnung zu bringen, und trotzdem lösten sich jetzt Strähnen aus meinen Zöpfen. Nichts lief so, wie es laufen sollte.

»Um Himmels willen, Tilly, mach dich gefälligst nützlich!«, schimpfte Ma, als ich mich zum tausendsten Mal auf meinen Stuhl plumpsen ließ. »Schade, dass du dich beim Nähen so ungeschickt anstellst, sonst könntest du mir helfen.«

»Und zieh das schöne Kleid aus! Pa kommt nach Hause und nicht die Königin!«, sagte meine Schwester Eliza, die auch nicht nähen konnte, obwohl das keinen zu stören schien.

Ich schaute sie böse an, giftete aber nicht zurück. Ich war, ehrlich gesagt, mit den Gedanken ganz woanders und konnte mich deshalb nicht über sie ärgern. Nachdem Pa für eine Weile bei der Eisenbahn gearbeitet hatte, würde er heute nach Hause kommen. Endlich käme wieder Geld ins Haus, mit dem wir Essen auf den Tisch bringen und die Miete zahlen könnten, die wir schuldeten. Aber das Allerwichtigste war: Pa hätte Küsse und liebe Worte für mich.

Ein plötzliches Geräusch ließ mich aufspringen.

Jemand war an der Tür. Es war kein richtiges Klopfen, sondern nur ein leises, heimliches Kratzen wie von einem Tier, das hereingelassen werden möchte. Anscheinend war ich die Einzige, die es gehört hatte.

Mein Herz wurde schwer. Pa konnte es nicht sein. Es war zu leise. Das Geräusch wiederholte sich. Diesmal etwas lauter.

Eliza blickte vom Feuer hoch. »Ist jemand draußen, Tilly?«

»Scheint so.«

»Dann schau halt nach!«, sagte sie und scheuchte mich, als ob ich ihre Dienstmagd wäre.

Ich sah Ma an. »Muss ich?«

Sie antwortete nicht, sondern starrte nur mit zusammengekniffenen Lippen auf die Tür. Ich kannte diesen Blick und mein Herz wurde noch schwerer. Sie dachte nicht an Pa, sondern an die überfällige Miete und den Hausbesitzer, der vorbeikam, um sie zu kassieren. Wahrscheinlich stand er schon wieder vor der Tür.

»Sag ihm, ich bin nicht da!«, befahl mir Ma, obwohl sie es doch eindeutig war. Ich wollte ihr das gerade sagen, aber sie hob die Hand.

»Tu’s einfach, ja?«

Ich war nicht scharf auf eine Ohrfeige, also ging ich zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Die Luft, die ins Haus strömte, war bitterkalt. Aber es war nicht der Hauswirt, der da stand. Stattdessen sah ich die Rückseite eines Menschen, der versuchte, etwas festzuhalten, das ihm zu entgleiten drohte. Als der Mensch sich umdrehte, machte ich die Tür schnell wieder zu und lehnte mich dagegen.

Will Potter. Der verdammte Will Potter. Was zum Kuckuck hatte er hier zu suchen?

»Tilly!«, zischte er durchs Schlüsselloch. »Komm raus!«

Mein Herz klopfte wild.

»Tilly, bist du noch da?«

Ich hoffte, dass er wieder verschwand.

Er hatte heute in der Kirche herumgealbert, statt der Liedtexte Blödsinn gesungen und während der Predigt Grimassen geschnitten. Annie Woods und Hannah Brown, die dämlichen Biester, hatten unter ihren Hauben gekichert. Ich war sicher, dass ich in die andere Richtung geschaut hatte. Hoffentlich hatte ich ihn nicht aus Versehen angelächelt!

Eliza beobachtete mich. »Wer ist denn draußen?«

»Niemand Wichtiges. Jetzt ist er weg.«

»Gut«, sagte Ma erleichtert.

Eliza wartete, bis ich mich wieder ans Feuer gesetzt hatte. Dann grinste sie gemein. »Warum bist du so rot geworden?«

»Ich bin nicht rot geworden!«, schrie ich und spürte, dass ich noch röter wurde.

Dann klopfte Will Potter wieder. Diesmal war es ein richtiges Rattattatt, damit es die ganze Welt hören konnte. Eliza war als Erste auf den Beinen.

Ich packte sie am Arm. »Nicht aufmachen!«

»Warum denn nicht?«, fragte sie lachend. »Kann doch nicht schaden, oder?«

»Wart einfach noch ein bisschen. Dann geht er weg.«

»Er?«

Sie stürzte sich blitzschnell auf die Tür.

»Eliza, nicht!«, brüllte ich. »Lass es sein!«

Verflixt und zugenäht! Ich mochte Will Potter doch gar nicht. Er war viel zu eingebildet, obwohl ich in Frostcombe anscheinend das einzige Mädchen war, dem das auffiel.

Eliza riss die Tür weit auf, worauf Ma schrie: »Lass die Wärme drin!«

Und so wurde Will Potter ins Haus gebeten.

Das einzige Zimmer im Erdgeschoss wirkte sofort viel kleiner. Ich sah, wie Wills Blick über die niedrigen, dunklen Balken, den fadenscheinigen Läufer vor dem Kamin und die Kohlrüben im Korb auf der Kommode wanderte. Nur der Tisch, auf dem sich Berge von Flickarbeiten sammelten, die Ma für die Leute aus dem Dorf erledigte, sah ordentlich aus. Die Näherei brachte wenig Geld ein und war schlecht für Mas Augen. Aber sie arbeitete sogar am Sonntag.

Ich schwitzte und war gleichzeitig wütend. Was wusste Will Potter schon davon, was es hieß, arm zu sein? Sein Vater besaß eine Metzgerei. Und er hatte am Dorfrand ein schönes Backsteinhaus gebaut, in dem die Familie Potter lebte. In unserem Haus gab es nicht einmal genug Stühle für alle, wenn wir uns gleichzeitig setzen wollten.

»Will bleibt nicht«, sagte ich, als Eliza ihm meinen Stuhl anbot.

Aber er hatte schon die Mütze abgenommen und seine dunklen Haare standen ihm vom Kopf ab. Er grinste von einem Ohr zum anderen und fummelte immer noch mit irgendetwas unter seiner Jacke herum. Am liebsten wäre ich auf der Stelle tot umgefallen.

»Du wolltest also unsere Tilly besuchen?«, fragte Eliza feixend. »Sieht sie heute nicht schön aus? Vielleicht hat sie dich schon erwartet.«

»Nein! Hab ich nicht!«, schrie ich.

Aber Eliza zwinkerte Ma zu, die jetzt auch alles lustig zu finden schien. Wie konnte sich ihre Laune so schnell bessern, wenn ich mich beim Anblick von Will Potter gleich zehnmal schlechter fühlte?

Nicht, dass es ihm aufgefallen wäre!

»Ja, ich wollte Tilly besuchen«, sagte er, ganz schön selbstherrlich.

»Ich geh nirgends hin.«

Und das meinte ich auch so, denn Jungen übersahen mich meist. Ich war ein kleines, dünnes Ding mit einem Gesicht voller Sommersprossen und wilden dunklen Haaren, die nie an Ort und Stelle blieben. Eliza war die Hübsche. Das sagte Ma auch immer und Eliza glaubte es. Pa war der Einzige, der mich jemals hübsch genannt hatte, aber wahrscheinlich wollte er bloß nett sein. Außerdem konnte Will Potter sich die Mädchen aussuchen. Warum sollte er sich ausgerechnet für mich interessieren?

Er war bestimmt nur hergekommen, um irgendetwas anzustellen. Ich traute ihm nicht über den Weg.

»Das ist aber gar nicht freundlich, Tilly«, sagte Eliza. »Sei nett zu Will!«

»Aber ich kann nicht weg!«, erwiderte ich. Dass Will Potter mich gebeten hatte, zu ihm rauszukommen, war nicht der einzige Grund. Pa würde jeden Augenblick zurück sein. Ich konnte doch jetzt unmöglich das Haus verlassen.

»Natürlich kannst du«, sagte Ma. »Dann sitzt du wenigstens nicht den ganzen Nachmittag rum und lässt den Kopf hängen. Aber mach keine Dummheiten!«

»Pa wird doch bald da sein!«

Ma schnaubte. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Es gefiel mir nicht, dass sie das sagte, und erst recht nicht vor Will. Das niederschmetternde Gefühl in meiner Brust kam zurück, ganz kalt und hart.

Will drehte sich um. »Also, wenn ich dich nicht rauslocken kann …«, sagte er.

Langsam und heimlich, damit nur ich es sehen konnte, machte er seine Jacke zwei oder drei Zentimeter weit auf, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, schnell hinzuschauen. Da war Leder, eine Gürtelschnalle, etwas Helles, Holzfarbenes. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was es war. Will erkannte wahrscheinlich, warum ich die Stirn runzelte, und verschob die Dinger, damit ich sie besser sehen konnte. Silberne Kufen blitzten mich aus dem Dunkel an. Mein Herz machte einen Satz.

Schlittschuhe!

Ich schaute Will direkt ins Gesicht.

»Traust du dich?«, fragte er tonlos.

Meine Gedanken fingen an zu rasen. Ich hatte schon viel von seinen blöden Mutproben gehört – von Brücken springen und ohne Sattel auf Pferden über die Felder reiten. Eben alles, was ein riesengroßer Angeber so macht. Aber ich konnte mir keine Sekunde lang vorstellen, dass eines dieser albernen Mädchen in der Kirche für so einen Spaß zu haben wäre.

Ich aber schon.

Es war ein langer Nachmittag gewesen – das ewige Warten auf Pa. Frische Luft würde nicht schaden.

Ich warf Eliza einen Blick zu, die sich inzwischen nicht mehr für uns interessierte und gelangweilt mit ihren Haaren spielte, und Ma, die in den Kohlrüben im Korb wühlte. Und ich sah Wills Augen funkeln, weil er mich zu einem Wettstreit herausgefordert hatte.

»Gut. Ich komme mit. Aber nur ganz kurz«, sagte ich und zog mein Schultertuch vom Kleiderhaken.

Der Boden unter unseren Füßen war vereist und der Himmel wurde schon blass. Auf halber Strecke den Weg hinunter blieb Will stehen und sah mich an.

»Bist du für so was bereit?«, fragte er.

»Natürlich. Gehen wir zum Fluss? An der Brücke ist er zugefroren.«

»Der Fluss ist doch was für Babys. Wir gehen woandershin.« Er nickte in Richtung Combe Hill, wo der Weg aus dem Dorf Frostcombe heraus steil nach oben führte.

»Wohin genau?«

Hinter dem Dorf befand sich die Zollschranke vor der Hauptstraße, die nach Bristol führte. Und in einiger Entfernung dahinter stand das größte Gebäude in der Gegend: Frost Hollow Hall.

Mir rutschte das Herz in die Hose. So dumm konnte er doch nicht sein, oder?

»Oh nein, Will«, sagte ich. »Das können wir nicht machen!«

Ma würde fuchsteufelswild werden, wenn sie davon erfuhr. Niemand näherte sich dem Herrenhaus Frost Hollow Hall – nicht, seit der Junge im See ertrunken war. Es wurde von Hunden und Fallen und Männern geredet, die mit Stöcken auf alle losgingen, die das Grundstück betraten, ohne eingeladen worden zu sein. Seit der Tragödie waren die Barringtons ziemlich seltsam geworden. Und es gab auch Geschichten über merkwürdige Ereignisse im Haus. Aber es hatte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen; ich war schon nervös genug.

»Ich dachte, du hättest Lust dazu«, sagte Will. »Vielleicht hätte ich doch besser deine Schwester gefragt.«

Ich hatte recht gehabt. Er wollte wirklich nur Dummheiten machen. Aber ich hatte auch nicht vor, gleich wieder nach Hause zu gehen – egal, was dieser Will Potter dachte. Weil ich es kaum erwarten konnte, die Schlittschuhe auszuprobieren.

Wir gingen ungefähr eine Meile weit die Straße entlang, bis plötzlich das Eingangstor zum Grundstück von Frost Hollow Hall vor uns auftauchte. Es war riesig und mit gewundenen Blättern und komisch aussehenden Blumen aus Eisen verziert. Und es war eindeutig abgeschlossen.

»Das schaut nicht gerade einladend aus«, sagte ich.

Will sah mich an, als ob ich nicht richtig im Kopf wäre. »Eben. Deshalb ist es ja auch eine Mutprobe.« Er führte mich zu einem Loch in der Hecke. »Hier gehen wir rein. Bleib in meiner Nähe.«

Aber ich hatte keine Lust, mich gleich hinter ihm auf den Boden zu schmeißen, also wartete ich ab, bis er sich mit den Ellbogen durchgewunden hatte.

»Ich hab schon geglaubt, du wärst abgehauen«, sagte er, als ich endlich hinter der Hecke auftauchte.

»Ich halt nur Abstand, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst«, sagte ich.

Er lachte, aber ich war froh, dass ich ihm Bescheid gesagt hatte. Die meisten Mädchen schwärmten für Will Potter, und wenn er sich einbildete, dass ich dazugehörte, um mich dann verspotten zu können, hatte er sich getäuscht.

Jetzt standen wir in einem düsteren Wäldchen. Es herrschte Totenstille. Nicht einmal die Vögel sangen. Hier gefiel es mir überhaupt nicht. Mir liefen Schauder über den Rücken, aber ich gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Als Will sich wieder in Bewegung setzte, blieb ich ganz nah bei ihm. Wir folgten einem schmalen Pfad, der sich durch das Dickicht wand. Bald lichtete es sich und wir rutschten einen Hügel hinunter und kamen auf ein freies Gelände. Von Männern mit Hunden keine Spur. Aber ich hielt die Augen offen. Wir gingen durch ein Tor und über ein Feld und kletterten auf eine Anhöhe. Hier blieben wir stehen.

»Schau dir das an!«, sagte Will und starrte in die Gegend.

Vor uns breitete sich der dickste, wunderbarste Raureif aus, den ich je gesehen hatte. Das Gras war so bleich, dass man es für Schnee halten konnte. Die Bäume waren weiß wie Knochen.

»Das ist eine Frostmulde«, sagte Will wichtigtuerisch. »Sie fängt die kalte Luft ein und hält sie fest. So ist das Haus zu seinem Namen gekommen.«

»Oh – wirklich?«

Ich musste zugeben, dass es ein fantastischer Anblick war.

»Wo ist denn Frost Hollow Hall?«, fragte ich.

Will zeigte auf eine Reihe von Eiben. »Dahinter. Man kann es von hier aus nicht sehen.«

Ich verlor den Mut. Ich hatte gehofft, einen Blick auf das unheimliche alte Gebäude werfen zu können. Dann sah ich den See, der wie ein großer silberner Servierteller dalag und gerade noch durch eine Gruppe von kahlen Bäumen zu erkennen war. Plötzlich konnte ich nicht mehr stillstehen. Ich raffte meine Röcke zusammen und lief den Hügel hinunter.

»Warte!«, rief Will, worauf ich noch schneller rannte.

Erst als ich das Seeufer erreicht hatte, machte ich halt. Hier unten war die Luft schwer und eisig. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust. Am Seeufer standen alte Urnen und Statuen aus Stein, denen die Arme fehlten. Raureif bedeckte alles mit einem dicken weißen Pelz.

Ein einziger Blick auf den See – und mein Herz schlug schneller. Er war vollkommen zugefroren. Ich hatte plötzlich Lust, mittendrauf zu sein. Ganz allein, wo niemand mir auf die Nerven ging.

»Darf ich es mal versuchen?«, fragte ich Will, als er mich eingeholt hatte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich lauf zuerst.«

»Ja, dann mach schon!«

Er ignorierte mich, ging auf dem Gras in die Hocke und zog seine Schlittschuhe unter der Jacke hervor. Sie sahen komisch aus – ein Teil war aus Holz, ein Teil aus Leder und ein Teil war eiserne Kufe. Der hölzerne Teil war so groß wie eine Stiefelsohle und passte ganz genau unter Wills riesigen Fuß. Er machte die beiden Lederriemen über seinen Zehen und an seinen Fersen fest.

»Wenn das Eis mich hält, dann hält es auch dich«, sagte er und streckte die Beine. »Es ist sicherer, wenn ich erst mal alleine loslaufe.«

»Ziemlich spät, dir darüber Sorgen zu machen.«

Es war eine Mutprobe, oder nicht? Das hatte Will doch klar und deutlich gesagt. Wir schlichen uns auf einem Privatgrundstück herum. Wenn uns jemand erwischte, wären Prügel unser geringstes Problem. Seit wann war ihm Sicherheit so wichtig?

Will richtete sich schwankend auf und packte meinen Arm. Ich stand still, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

»Du magst mich doch, stimmt’s?«, fragte er, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Von wegen! Ich mochte ihn gar nicht. Er war ein Frechdachs. Und ich hatte diesen Blick schon öfter gesehen. So schaute er alle Mädchen an. Ich riss seine Hand energisch von meinem Arm.

»Ich bin nur hier, weil ich deine Schlittschuhe ausprobieren möchte«, sagte ich, obwohl sie viel zu groß aussahen. Was mich aber nicht davon abhalten würde. Ich würde sogar barfuß aufs Eis gehen, wenn es sein müsste.

Kaum war Will auf dem See, benahm er sich wie ein Clown. Zuerst balancierte er auf dem einen Fuß, dann auf dem anderen. Er schwenkte die Arme herum, als ob er gleich hinfallen würde, und stand im letzten Augenblick völlig gerade da. Was für ein Trottel! Ich wünschte, dass er endlich loslaufen würde, damit ich schnell an die Reihe käme. Dann sauste er plötzlich, als ob er mich ärgern wollte, über das Eis.

Jetzt war ich ganz allein.

Es war kälter geworden. Inzwischen stand die Sonne niedrig und rot am Himmel, und die Luft war so ruhig, dass sich nicht einmal die Bäume bewegten. Hoch über meinem Kopf kreisten Krähen und krächzten sich etwas zu. Hinter meinem Rücken wurde das Wäldchen dunkler.

Ich fühlte mich wieder unbehaglich. Hier draußen ist ein Junge gestorben. Ich zog mein Tuch enger um mich und zitterte.

Irgendwo hinter mir knackste ein Zweig. Ich wirbelte herum. Eine Amsel flog kreischend vorbei. Bis auf meinen Herzschlag wurde alles wieder still. Dann huschte plötzlich – ungefähr dreißig Meter von mir entfernt – eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen durch. Sie bewegte sich schnell und nach vorn gebeugt in die andere Richtung. Sie hatte mich wohl nicht gesehen. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass sie nicht über ihre Schulter blicken würde. Sonst wären wir erledigt. Zum Glück eilte sie weiter und war kurze Zeit später hinter einer alten Steinmauer verschwunden.

Langsam atmete ich wieder normal ein und aus. Aber ich hatte keine Lust mehr, zu bleiben. Der Ort war gruselig. Ich winkte Will, aber es dauerte ewig, bis er mich sah. Er war am anderen Ende des Sees. Ob er mich vergessen hatte? Dann rückte der schwarze Punkt, der Will war, langsam näher, bis er vor mir zum Stehen kam.

»Das war fantastisch!«, sagte Will strahlend.

Ich zeigte auf die Bäume. »Da ist gerade eine Gestalt gewesen.«

Sein Lächeln verschwand.

»Keine Sorge, sie hat uns nicht gesehen«, sagte ich und freute mich ein bisschen, dass ich ihn nervös gemacht hatte.

»Wer war es denn?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Es wird spät. Vielleicht sollten wir …«

»Oh nein.«

Ich kannte Will Potter nur allzu gut. Wenn wir jetzt nach Hause gingen, würde er glauben, die Mutprobe gewonnen zu haben. Ich würde nirgends hingehen, bevor ich nicht auch auf dem Eis gewesen war.

»Ich bin nicht umsonst den ganzen Weg bis hierher gelaufen. Gib mir die Schlittschuhe!«

»Tilly …«

Ich streckte eine Hand aus. »Schlittschuhe!«

Er zeigte auf das Eis und redete von der Mitte, aber ich hörte nicht richtig zu.

»Setz dich!«, sagte er und kam ans Ufer. »Ich schnall sie dir an.«

»Danke, das mach ich selber«, sagte ich.

»Nein, tust du nicht! Sie müssen richtig sitzen.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und setzte mich auf das gefrorene Gras. Will ließ sich viel Zeit und machte ts-ts-ts, weil meine Stiefel kleiner als die Schlittschuhe waren. Dann fummelte er ewig lang an den Schnallen herum. Wahrscheinlich mit Absicht!

»Jetzt mach schon!«, schimpfte ich, weil der Frost durch meine Röcke drang. »Wenn das so weitergeht, ist bald Sommer.«

Er streckte eine Hand aus, um mich hochzuziehen, aber ich winkte ab.

»Wie du willst«, sagte er und machte einen Schritt zurück, während ich auf die Knie ging und dann auf die Füße kam. Ach, du meine Güte! Es war schwierig genug, aufrecht auf dem Gras zu stehen! Als ich das Eis betrat, schossen meine Füße vor mir davon. Meine Arme wirbelten wie verrückt durch die Luft.

»Langsam, langsam!«, lachte Will.

Ich wünschte, er würde einfach verschwinden. Seine verflixten Schlittschuhe waren auch keine Hilfe. Sie waren mindestens drei Nummern zu groß. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Trotzdem versuchte ich, mich vorwärtszubewegen, kippte aber nach hinten und schlug mit den Armen um mich wie eine Gans mit den Flügeln. Es machte überhaupt keinen Spaß. Ich biss die Zähne zusammen. Ich würde es diesem Will Potter schon zeigen! Und ihm das blöde Grinsen aus dem Gesicht wischen.

Dann konzentrierte ich mich auf meine Füße. Es fiel mir schwer, es zuzugeben, aber Will hatte den Bogen raus. Er wusste genau, wie er seine Füße am besten bewegte – nach innen, nach außen, nach innen, nach außen. Aber irgendwie schaffte ich es auch. Und blieb auf den Beinen. Ich beugte mich vor, wackelte ein bisschen und lief schneller. Die Schlittschuhe begannen dahinzugleiten, als ob sie es ganz von alleine täten. Meine Haare wehten. Eiskalte Luft stach mir ins Gesicht.

Das war’s! Ich lief Schlittschuh!

Ich freute mich unheimlich und lief weiter. Schneller und schneller. Alles um mich herum verschwamm. Ich grinste wie eine Verrückte, bis mir die Zähne vor Kälte wehtaten. Und als ich sah, wie weit ich gekommen war, machte ich kehrt. Will stand am Ufer, wedelte mit den Armen über seinem Kopf und rief mir etwas zu. Ich konnte aber nichts verstehen. Sein Anblick verdarb mir die Laune.

»Was schreist du denn so?«, brüllte ich.

»Halt dich von der Mitte fern! Du bist zu weit draußen!«

So ein Angsthase!

Mit einem Wusch rutschten meine Füße unter mir weg. Ich fiel auf mein Hinterteil und kam nicht mehr hoch. Meine Hände und Füße zitterten wie bei einem Betrunkenen. Ich traute mich nicht, Will anzuschauen, aber hören konnte ich ihn sehr gut. Er lachte sich kaputt.

»Schöne Unterwäsche!«, brüllte er. »Zeig noch mehr!«

Mein Gesicht wurde heiß. Ich hatte genug von seinen Sprüchen. »Ich dreh dir den Hals um, Will Potter! Das kannst du mir glauben!«

Rings um mich herum sah das Eis nicht glatt aus. Linien durchkreuzten es und ich bekam ein mulmiges Gefühl. Denn es waren keine Schlittschuhspuren, sondern Risse. Als ich mich auf das Eis kniete, stöhnte es. Ich erstarrte.

Oh, nein! Da stimmt was nicht!

Das Eis schien sich unter mir zu bewegen. Ich fiel nach vorn auf die Hände. Direkt vor mir wurde das Eis dunkel. Mein Herz fing an zu hämmern. Ich stand schwankend auf und fiel wieder hin.

»Um Gottes willen!«, schrie Will. »Komm rüber! Schnell!«

Er stand mit ausgestreckten Armen am Rand. Aber ich war zu weit weg, um seine Hände ergreifen zu können.

Das Eis spuckte schwarzes, stinkendes Wasser aus. Es saugte sich an meinen Röcken fest. Und es war kalt. So kalt, dass es mir den Atem verschlug. Es knackte wieder laut und das Eis gab nach. Ich wedelte mit den Händen wie eine verrückte Katze mit ihren Pfoten, aber es gab nichts, woran ich mich festkrallen konnte. Das Wasser zerrte immer weiter an mir. Meine Kleidung wurde schwer. Langsam und sanft schlug der See über meinem Kopf zusammen. Alles wurde still. Nur das Blut pochte in meinen Ohren. Ich sank tiefer und tiefer in die Schwärze hinein. Meine Brust wurde zu eng. Ich konnte nicht atmen. Dann berührten meine Füße etwas Weiches. Ich sank nicht mehr.

Ich geriet in Panik und ruderte wie wild mit den Armen. Schlamm drang in meinen Mund und in meine Augen. Irgendwie schwamm ich danach in die Höhe, dem Tageslicht entgegen. Ich sah den Himmel und Bäume verschwommen durch das Eis. Meine Lunge war kurz vorm Platzen.

Hilfe! Hilfe!

Ich schlug um mich wie eine Wahnsinnige. Aber hier gab es keine Risse oder Löcher. Das Eis über mir war hart wie Marmor. Dunkle Flecken tanzten vor meinen Augen. Arme, Beine, Kopf – alles wurde schwer. Ich wollte nur noch schlafen. Ich stellte mir vor, wie Pa endlich nach Hause kam und sich fragte, wo ich war. Und Eliza und Ma, wie sie auf die Uhr schauten und ohne mich mit dem Abendessen begannen.

Ein ganz komisches Gefühl überkam mich.

Etwas Warmes wie der Atem eines Menschen kitzelte mein Gesicht und ich rang nicht mehr nach Luft. Das Wasser schien jetzt voller Licht zu sein, einem ganz seltsamen, perlweiß schimmernden Licht. Ein Junge in einem aufgeblähten weißen Hemd trieb auf mich zu. Ich fragte mich, ob er tot war. War ich schon auf der anderen Seite und dieser Junge ein Engel, der mich begrüßen wollte?

Er war das vollkommenste Wesen, das ich je gesehen hatte. Seine goldenen Haare hoben und senkten sich sanft mit der Strömung und seine Augen waren lavendelblau, seltsam und schön. Als er näher kam, folgte ihm das Licht, als ob es aus seinem Inneren heraus leuchtete.

Ich starrte ihn an. Ich konnte mich nicht mehr rühren. Er starrte zurück. Seine Augen wurden bei meinem Anblick groß. Er streckte die Hand nach mir aus. Seine Haut fühlte sich eisig an, aber er hielt mich fest. Ob ich tot war, spielte keine Rolle mehr. Hier war mein Engel, ganz allein für mich da, wunderschön und voller Licht.

Er nahm auch meine andere Hand und zog mich aus dem tieferen Wasser. Ich ließ es zu. Ich wusste, ich würde überall mit ihm hingehen. Als graues Tageslicht wieder durch das Eis schien, sah ich, dass wir dem Ufer entgegenschwammen. Ich sperrte mich.

Ich wollte weder Will Potter noch Ma oder Eliza wiedersehen. In diesem Augenblick war mir sogar Pa egal. Ich wollte hier bei diesem schönen Jungen bleiben. Aber dann verblasste er vor meinen Augen, bis er nur noch ein heller Fleck im Wasser war. Ich versuchte, ihm hinterherzuschwimmen, aber meine Röcke verfingen sich in den Gräsern, und ich konnte mich nicht befreien.

Er war verschwunden.

Plötzlich war ich am Ufer. Ich sah ein Paar Füße, und dann hörte ich Wills Stimme. »Tilly? Kannst du mich hören?«

Schwärze.

Ich ahnte, dass ich ein Vogel war, der hoch oben im Baum saß und auf den See hinunterschaute. Irgendwo in der Mitte des Sees war ein Loch, durch das ein Mensch passen würde. Es sah aus wie ein dunkler Fleck. Und am Ufer lag ein Mädchen, alle viere von sich gestreckt im Gras – ich. Will Potter hockte neben mir und rief immerzu meinen Namen. Meine Kleidung dampfte und meine Haare klebten nass und zerzaust an meinem Gesicht. Plötzlich wurde mein Körper ruckartig lebendig. Ich spuckte Wasser und Gräser und weiß der Himmel was noch alles auf Wills Stiefel, aber er verzog keine Miene. Er klopfte mir auf den Rücken und redete in einem fort, obwohl er ängstlich und blass aussah.

Ich kam wieder zu mir.

Kopf, Beine, Arme, alles tat weh. Ich war sicher, dass ich tausendmal in die Rippen gestochen worden war. Es war sogar eine Qual, Luft zu holen. Meine Lider wurden schwer wie Steine. Ich wollte nur eines: Ruhig liegen bleiben und schlafen. Aber ich merkte plötzlich, dass jemand an meinen Füßen zog. Rauer Stoff drückte sich an meine Wangen. Ich wurde hierhin und dorthin geschleudert und ahnte, dass es dunkel war, dann wieder hell und wieder dunkel. Vor einer fremden Tür kam ich von Neuem zu mir, Wills Arme eng um mich geschlungen.

Ein summendes Geräusch füllte meinen Kopf. Alles fing an, sich zu drehen. Die Dunkelheit kehrte zurück.

Als ich Stimmen hörte, wachte ich auf. Ich lag auf einem harten Boden. Meine Brust stand in Flammen. Als ich mich umdrehte, um zu husten, schob mir jemand einen Topf ins Gesicht, um das faulig schmeckende Wasser, das aus meinem Mund und meiner Nase strömte, aufzufangen. Das Zimmer kippte zur Seite. Ich nahm an, dass ich mich gleich übergeben müsste. Ich schloss die Augen, bis das Kippen aufhörte. Alles wurde still.

Als Nächstes hörte ich die Stimme einer Frau. »Wenn sie reinkommt, können wir was erleben!«

»Aber schau doch mal, wie die Kleine aussieht! Wir können sie doch nicht einfach wieder raus in die Kälte schubsen!«, sagte eine andere.

»Kann uns jemand ins Dorf fahren?« Es war Will. Er klang, als ob er weit weg wäre.

Ich versuchte, genau hinzuschauen, bekam aber gleich Kopfschmerzen und dämmerte ein.

»Schnell! Mrs Jessop kommt!«

Die Stimmen waren wieder da. Dieses Mal klangen sie hart und laut. Ich fragte mich, ob ich mich fürchten sollte. Aber es war zu mühsam. Ich schlief wieder ein.

Schritte weckten mich. Eine neue Stimme fragte streng: »Auf dem Eis eingebrochen?« Eine Hand packte meine Schulter und schüttelte mich heftig. »Ist sie tot?«

Ich riss die Augen auf. Eine Fremde in einem dunklen Kleid beugte sich über mich. Sie sah nicht besonders freundlich aus. Dann wurde ihr Gesicht plötzlich weiß. Ihre Hand schwebte neben meiner Wange. Ich wusste nicht, ob sie mich schlagen oder streicheln wollte.

»Bringt sie sofort weg!«, sagte sie und verschwand.

Sie schleppten mich aus der Tür und packten mich hinten auf einen Pferdewagen. Jemand hatte mir eine Decke über die Schultern gelegt, worüber ich sehr froh war, weil ich jetzt ununterbrochen schlotterte. Inzwischen war ich hellwach geworden, fühlte mich aber hundeelend. Und ein Gedanke nagte an mir, aber ich kam einfach nicht dahinter, worum es dabei ging.

Will saß auf der ganzen Fahrt nach Hause neben mir. Ich hatte nicht die Kraft, mich zu wehren, als er die Arme um mich legte. Er war warm und ruhig und nach einer Weile gewöhnte ich mich daran.

Als Ma die Tür öffnete, war ihr Gesicht so finster wie eine Gewitterwolke.

»Wo bist du gewesen?«, schrie sie. »Du warst stundenlang weg!«

Dann sah sie, in welchem Zustand ich war, und hielt sich ganz schnell den Mund zu. Will versuchte, ihr zu erklären, was passiert war. Es klang nicht gut. Wir hatten eindeutig etwas Schlimmes getan, und mir war klar, dass ich ordentlich was zu hören bekommen würde.

»Tut mir leid, Mrs Higgins«, sagte Will und ließ mich endlich los.

Meine Beine sackten unter mir weg, bevor ich das Haus betreten konnte.

Ich bin mitten auf dem See. Das Eis stöhnt. Ich kippe nach vorn. Das Wasser zieht mich hinein. Alles ist still. In einem Strom aus winzigen Blasen sinke ich tiefer und tiefer.

»Hilfe!«, schreie ich.

Niemand hört mich. Das Wasser erstickt alles. Die Dunkelheit bricht herein. Dieses Mal bin ich verloren. Da bin ich mir sicher.

Plötzlich schießt etwas Helles auf mich zu. Es sieht aus wie ein Irrlicht. Mein Herz macht einen Satz. Das Licht wird zu einer Gestalt. Er ist es wieder, der Junge im weißen Hemd.

Er macht in kurzer Entfernung halt. Ich habe noch nie so ein schönes Wesen gesehen. In mir drin wird alles flattrig. Gleich wird er mich zum Ufer bringen. Aber ich will noch nicht gerettet werden. Ich will noch hierbleiben.

Er kommt näher. Ich kann ihm kaum in die Augen schauen. Dann merke ich, wie traurig er aussieht. Irgendetwas stimmt nicht.

»Tilly«, sagt er.

Wieso kann ich ihn hören? Und woher kennt er meinen Namen?

Am nächsten Morgen schreckte ich früh aus dem Schlaf hoch. Zartes graues Licht breitete sich im Zimmer aus. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu sammeln und mir klarzumachen, dass ich zu Hause im Bett lag und in Sicherheit war. Hinter dem alten Vorhang, der den Raum teilte, würden Ma und Pa bestimmt noch schlafen. Eliza lag schnarchend neben mir, und ich war froh, dass sie da war, so vertraut und warm, auch wenn sie mehr Decken an sich gerissen hatte, als ihr zustanden.

Der Traum hatte ein komisches Gefühl zurückgelassen. Mein Nachthemd war schweißnass und mein Herz klopfte zu laut und zu schnell. Außerdem hatte sich ein Gedanke in mein Hirn eingenistet und drehte sich in einem fort wie eine Motte um eine Lampe. Es war eine verrückte Idee. Niemand würde mir glauben. Alle würden mich auslachen.

Ich schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber der Gedanke ging nicht weg.

Etwas, nein, jemand war dort draußen im See gewesen. Und hatte mir das Leben gerettet. Kurz bevor ich es aushauchte, war er hell wie ein Stern aus dem Nichts aufgetaucht.

Aber wenn er ein Engel gewesen wäre, hätte er mich doch mit in den Himmel genommen! Ich wäre ihm natürlich auch gern gefolgt. Stattdessen hatte er mich ans Ufer gebracht, damit ich weiterleben konnte.

Jetzt war er mir im Traum erschienen, aber es war ein Schock gewesen, wie sehr er sich verändert hatte. Sein Gesicht sah aus, als hätte er große Schmerzen und Sorgen. Außerdem kannte er meinen Namen. Wie zum Kuckuck war das denn möglich? Es machte keinen Sinn. Überhaupt nicht.

Ich hörte Geräusche hinter dem Vorhang und wusste, Ma rührte sich – leises Hüsteln und Jammern, als ihre Füße den eiskalten Boden berührten. Von Pa war noch nichts zu hören. Aber dass er da war, hob meine Stimmung, und ich konnte nicht länger liegen bleiben. Die Kälte zwang mich, mir ganz schnell mein Alltagskleid überzuziehen, das zu kurz und unter den Armen zu eng war. Die kleine Anstrengung schien schon zu viel zu sein. Mir wurde schwindlig, und ich hielt mich am Bettpfosten fest, bis das Gefühl vorbei war.

»Tilly?«, rief Ma. »Bist du das?«

»Ja.«

»Kannst du wieder arbeiten?«

In meinen Augen brannten Tränen. Ein liebes Wort von ihr wäre nicht verkehrt gewesen. Aber sie war böse auf mich. Was ich ja wohl auch verdient hatte.

»Ich glaub schon«, sagte ich, weil es die Antwort war, die sie hören wollte. Meine Arbeit war nichts Besonderes. Ich half nur ein bisschen in der Dorfschule aus, putzte Schiefertafeln, schleppte Kohlen und brachte den jüngeren Kindern das Lesen bei. Aber ich verdiente damit ein paar Pennys und lernte selber, mit Buchstaben umzugehen.

Ich hörte es rascheln, als Ma nach ihrer Kleidung griff.

»Du hast dich gestern sehr töricht benommen«, sagte sie streng.

Ich machte mich auf eine Strafpredigt gefasst und hoffte, dass sie schnell vorüber wäre.

»Dass du dort hingegangen bist!«, sagte sie und zog sich mit einem Ruck das Kleid an. »Ausgerechnet nach Frost Hollow Hall! Weißt du denn gar nichts?«

Hoffentlich würde Pa bald aufwachen und mich verteidigen. Aber Ma war noch nicht fertig. »Das hätte böse für dich enden können. Wie konntest du dort nur aufs Eis gehen? Du hast Glück, dass du noch hier bist.«

Im Augenblick war ich da ganz anderer Meinung.

Ma tauchte hinter dem Vorhang auf. Sie sah aus, als ob sie kaum geschlafen hätte. »Ihr Dummköpfe – du und dieser Will Potter – seid selber schuld. Ehrlich, Tilly, ich hätte mehr Vernunft von dir erwartet!«

Moment mal! Hatte sie mich nicht gedrängt, Will Potter zu folgen? Ich wollte ja gar nicht. Jedenfalls erst, nachdem ich seine Schlittschuhe gesehen hatte. Es lag mir auf der Zunge, doch dann sah ich das leere Bett hinter ihr. Pa musste schon auf sein. Vielleicht wollte er uns mit einem leckeren Frühstück überraschen. Mit frischem Brot, Speck und heißem, süßem Tee. Das hatte er schon einmal gemacht.

Aber es stand nichts Leckeres auf dem Tisch. Da war auch kein Pa. Er war also immer noch nicht nach Hause gekommen. Das Frühstück bestand aus altem Brot und Käse, von dem Ma die blauen Flecken abgeschnitten hatte.

»Das hast du deinem Vater zu verdanken!«, schimpfte Ma und knallte Teller auf den Tisch. »Er hätte gestern mit seinem Lohn für sechs Wochen Arbeit nach Hause kommen sollen, aber kein Wort von ihm. Was denkt er sich nur dabei?«

Seit er weg war, redete sie immer nur vom Geld. Nicht ein einziges Mal hatte sie gesagt, dass sie ihn vermisst.

»Vielleicht ist er nur …«

Eliza unterbrach mich. »Nimm ihn nicht auch noch in Schutz! Er schläft bestimmt unter irgendeiner Hecke seinen Rausch aus. Oder er verfolgt einen seiner großartigen Träume.«

Wenn das aus meinem Mund gekommen wäre, hätte ich eins auf die Ohren bekommen. Eliza natürlich nicht. Vor Ma konnte sie verflixt noch mal alles sagen, was sie wollte. Pa hatte wenigstens noch Träume. Er wollte nicht ewig arm bleiben. Warum auch? Es machte uns doch nicht glücklich.

»Aufessen!«, sagte Ma. »Und rechnet nicht damit, dass ihr heute Abend noch was kriegt.«

Ich hatte keinen Hunger. Es reichte, dass Pa nicht da war, und mein Traum quälte mich ja auch immer noch. Er lag wie Nebel auf mir. Ich konnte an nichts anderes denken.

»Triffst du dich heute wieder mit Will, Tilly?«, fragte Eliza.

»Nein. Wieso?«

»Ach, ich dachte, ihr geht jetzt miteinander.«

»Es war nur eine Mutprobe, weiter nichts.« Ich wusste, dass sie mich reizen wollte. Aber Will war im Augenblick meine geringste Sorge.

Eliza musterte mich mit schmalen Augen. Sie kaute langsam. »Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest. Und du hast dich die ganze Nacht lang hin und her gewälzt.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich mit einem bangen Gefühl.

»Und hör auf, das Brot zu zerfetzen!«, sagte Ma. »Iss es oder lass es für jemand anderen liegen.«

Es war nur eine dünne Scheibe gewesen. Eliza hatte dagegen einen dicken Brocken abbekommen. Sogar ihr Käse sah essbar aus. Ich schob den Teller von mir. Eliza und Ma saßen nebeneinander am Tisch, ich gegenüber. Wie immer.

Aber ich hatte das Gefühl, dass mit mir nicht alles in Ordnung war und wollte es unbedingt jemandem sagen. Nur wusste ich nicht, wie ich es in Worte fassen sollte.

»Ich hatte einen sehr seltsamen Traum«, sagte ich.

»Aha«, kam es von Ma, die nur mit halbem Ohr zuhörte.

»Ich war wieder im See und konnte nicht raus. Ein Junge war unten im Wasser und schien so traurig, also richtig untröstlich zu sein.«

Ma machte ein abfälliges Geräusch und sagte dann: »Vielleicht lernst du was draus. Du hättest dort oben nicht rumschnüffeln sollen.«

Sie setzte sich ans Fenster, wo das Licht am besten war, und nahm ihre Näharbeit wieder auf. Ich wartete darauf, weiter getadelt zu werden, aber es kam nichts mehr.

Eliza hatte aufgehört zu essen und starrte mich an.

»Christopher Barrington.« Sie sprach den Namen ganz langsam aus, als würde sie ihn sich wie etwas Feines auf der Zunge zergehen lassen.

»Was ist mit ihm?«, fragte ich.

»Er ist im See ertrunken, stimmt’s, Ma?«

»Setz ihr keine Flausen in den Kopf! Sie lebt ja ohnehin schon in ihrer eigenen kleinen Welt.«

»Tu ich nicht!«, behauptete ich und wunderte mich, dass es Ma überhaupt aufgefallen war.

Eliza redete weiter. »Christopher, sie nannten ihn Kit. Schade, dass er so jung gestorben ist. Er soll fantastisch ausgesehen haben.«

»Ach, Eliza!«, sagte Ma.

»Es stimmt aber! Das gute Aussehen hatte er wohl von seiner Mutter geerbt. Sie soll eine richtige Schönheit sein, obwohl sie seit Jahren keiner mehr gesehen hat.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte ich, weil ich das alles schon oft gehört hatte.

Jeder in Frostcombe kannte die Geschichte. Kit Barrington war der reiche, gut aussehende Erbe von Frost Hollow Hall. Er war ein Einzelkind gewesen und im See ertrunken. Sein Tod hatte seiner Mutter das Herz gebrochen. Sie hatte sich hinter den Mauern des alten Herrenhauses vor der Welt verschanzt und lebte bis heute noch so dort oben.

Für mich war es eine sehr traurige Geschichte. Für Eliza war es reine Sensation – wie in einem Groschenroman. Sie liebte gruselige Geschichten, in denen schöne Menschen ein schreckliches Ende finden und Geister aus dem Grab steigen und Geheimnisse verraten. So wie sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn beugte, war klar, dass sie von dem Geschehen begeistert war.

Ma unterbrach ihre Näherei.

»Es war schrecklich für Lady Barrington, das einzige Kind zu verlieren«, sagte sie leise. »Die Leute sagen, das Haus ist ein unheimlicher Ort. Niemand will dort noch arbeiten. Sie haben kaum genug Angestellte, um das Haus in Schuss zu halten.«

Ich bekam eine Gänsehaut. Davon hatte ich nichts gewusst. Und Ma tratschte normalerweise nicht.

»Wieso unheimlich?«, fragte Eliza gespannt.

Ma fing wieder an zu nähen. »Ach, ich weiß nicht.«

»Er ist dort oben begraben, stimmt’s? Ich hab gehört, er hat seinen eigenen, herrlichen Friedhof.«

»Genug!«, sagte Ma so streng, dass sogar Eliza aufhorchte. »Das ist doch alles nur Geschwätz und ich muss arbeiten. Ihr beide übrigens auch. Wenn euer Vater nicht bald wieder auftaucht, müssen wir sehen, wie wir allein zurechtkommen. Wir sind mit der Miete schon vier Wochen im Verzug.«

Sie brauchte mich nicht daran zu erinnern. Auf meiner Stirn brach kalter Schweiß aus. Ich erhob mich zu schnell. Messer und Löffel schepperten zu Boden.

»Pass doch auf, Mädchen! Gib acht, was du tust!«, schimpfte Ma.

»Ich muss an die frische Luft«, sagte ich. »Aber sonst ist alles in Ordnung.«

Eliza sah mich lange an. »Du bist unheimlich nervös.«

»Nein.«

»Doch!«, lachte sie. »Schon komisch, dass du von einem toten Jungen träumst. Das ist wirklich verrückt.«

Ich hatte genug gehört.

»Das war nicht dein Kit Barrington in meinem Traum! Wenn du es genau wissen willst – es war …« Ich brach ab, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Eliza lehnte sich grinsend zurück. »Sag schon! Wer war’s? Will Potter?«

»Halt den Mund! Ich verrat dir nichts weiter.«