Das Buch

Mark, Franka und Penny wollen weg – am liebsten auf die Kapverdischen Inseln. Doch woher sollen sie das Geld nehmen? Durch Zufall finden sie heraus, dass es sich mit dem Vorhersagen der Zukunft leicht verdienen lässt. Ihr »Delphi Miracle Zukunftslabor« floriert auf Anhieb. Mit einem Traktor ziehen die drei durchs Land, erleben die verrücktesten Situationen und die skurrilsten Typen. Ein verdammt genialer Roadtrip! Doch jeder der drei hat ein großes Geheimnis und Schiss, dass es ans Tageslicht kommt. Denn dann würde sich alles ändern …

Der Autor

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© Alex Güngör

Christian Klippel, Jahrgang 1955, studierte Geisteswissenschaften in Paris, Rom, Berlin und Amsterdam. Neben seiner Tätigkeit als Kreativdirektor und Inhaber mehrerer Werbeagenturen arbeitet er als Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm bei Thienemann der Jugendroman »Verdammt schönes Leben«. Christian Klippel lebt in Hamburg. Er ist geschieden und hat zwei Kinder.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Titelbild

Für RW

ZUKUNFTSMUSIK I – PENNYS ASCHE ODER: WAS SPÄTER GESCHIEHT …

»Das wird gutes Salz«, schreit er, »du wirst sehen! Richtig geiles! Das beste überhaupt. Das geht voll durch die Decke, ich meine, das wird echt cool, ich sehe sie kommen, mit ihren Cayennes, ihren Volvos, ihren Saab Cabrios, wusch, wusch, wusch, auf die Türen, rein in die Shops, zu Alnatura, Erdkorn, denn’s, in jeden beknackten Bioladen der Stadt. ›Hallo, guten Tag, dieses äquatoriale Luxus-Meersalz von den Kapverden, dieses weiße brandneue, mega angesagte, ultra-vegane Zeug, von dem jetzt alle reden, haben Sie das? Ja, ja, genau, dieser koksweiße Superstoff für meine Suppen und Salsas, Salate und Snacks, Sie wissen schon, Atlantik zum Streuen, das Paradiesel-Geriesel, genau, packen Sie mal ein, zwei, drei Paletten, ach, geben Sie zehn. Wie? Was? Hundertzwanzig Öcken? Okay, hier, Rest für Sie, ich meine – schwarzes Ayurveda-Salz aus Indien, wer will den Scheiß noch, blaues Salz der persischen Könige, alter Hut, rosa Murray River Natriumchlorid-Flakes, davon redet doch keiner mehr, das hier ist was komplett anderes, allein die Farbe, schau sie dir an, dieses gletscherpulverschneeweiße pure Blütenperlweiß, das ist …‹ Ey, Franka, hörst du überhaupt zu?«

Für jemanden wie Mark, der tagelang auch mal nichts sagt, war das eine lange Rede. Stimmt was nicht mit seinem Kopf? Schon möglich, die kapverdische Sonne ballert seit Stunden ungebremst auf sein Hirn ein. In bestem Auftragskillerstil.

Mark steht bis zu den Knien im Wasser. Wellen umspülen seine Waden. Der Karton in seiner Hand ist trocken. Die Bucht vor der Saline glitzert von hundert Milliarden tanzender Lichtpunkte, die an- und ausgehen, als wären es Glühwürmchen in einer Mittsommernacht. Früher Nachmittag. Marks Badehose hängt auf halb acht. Der Atlantik tobt damit wie eine Katze mit einer toten Maus. Sieht aus, als dienten seine Shorts zum Fischfang. Die Ruine wirft kantige Schatten. Die Schienen, auf denen das Salz einst verladen wurde, rosten still vor sich hin. Friedlich hier, ja, friedlich und abartig heiß für einen 24. Dezember. Marks Wetter-App zeigt seit sechs Uhr früh 24 Grad im Schatten. Datum und Temperatur im Einklang. Ansonsten erinnert nichts daran, dass heute Heiligabend ist.

Mark schaut nach oben. Trotz Sonnenbrille braucht er die Hand als Sonnenschutz. »Franka, ey, Franka! Ich rede mit dir! Setz den Kopfhörer ab! So ein Oberhammer-Salz, das ist schließlich auch für solche wie dich ein Ding. Ich meine, gerade solche!«

Solche wie dich. Mark zieht automatisch den Kopf ein, weil er gewohnt ist, dass jetzt gleich was durch die Luft fliegt. So einen Spruch lässt Franka nicht unkommentiert. Aber hier gibt es keine Kokosnüsse oder Datteln, die sie schmeißen könnte. Außerdem hat sie nichts mitbekommen. Wieder mal hat Franka den höchstmöglichen Punkt erklommen. Den Turm einer uralten Windmühle. Früher diente sie dazu, mit Salz gefüllte Loren zu den Schiffen am Anleger zu befördern.

Franka starrt auf ihr MacBook und versucht zu lesen, was sie geschrieben hat. Das ist in dem grellen Licht gar nicht so einfach.

Wir hätten auf Bäumen bleiben sollen, steht da. Das wäre besser gewesen. Jetzt mal rein menschheitsmäßig.

Franka beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf.

Sie markiert das letzte Wort, drückt die Taste mit dem Pfeil nach links, und schwupps: menschheitsmäßig verschwindet. Das tut jetzt auch der Rest des Satzes.

Franka schiebt den Kopfhörer in den Nacken und beugt sich vor, damit Mark sie hört. »Ich finde den Einstieg nicht. Den ersten Satz. Ich weiß nicht, wo ich anfa–«

Krrrrronnnnnnk …

»Aaaahhhhhh!!!«

Es ist passiert. Das »Kronk« kam von der Stange, an die sich Franka geklammert hatte. Zack, abgebrochen. Salzige Luft, Hitze und Rost haben sie mit den Jahrzehnten mürbe gemacht. Eine stillgelegte Saline ist kein Spielplatz. Franka fällt und knallt zwei Meter tiefer gegen einen Vorsprung, der sie am Kopf erwischt und außer Gefecht setzt. Trotzdem schafft sie es, den Fuß zwischen zwei Träger zu bekommen, damit sie nicht mit dem Boden unter sich Bekanntschaft macht.

Der Laptop ist nicht zu retten. Das gute Stück mit dem Apfel drauf schlägt, dong, dong, dong, wie eine Flipperkugel zwanzig Meter durch das rostige Gerippe und kracht in den Sand.

Franka knallt mit den Brüsten gegen eine Querstange. Ein kurzer, spitzer Aufschrei. Sie fällt eine weitere Stufe. Irgendwas erwischt sie so zwischen den Beinen, dass die Eier losschmerzen wie Hölle. Jungs kennen das.

Eine kurze Ewigkeit schließt Franka die Augen, bis sie wieder Luft bekommt.

»Franka!«, ruft Mark und öffnet den Karton. »Geh mal auf Google. Seebestattungen. Irgendwelche Tipps, worauf man achten muss?« Jetzt erst merkt er, dass was nicht stimmt. »Franka – alles klar bei dir?«

Franka antwortet nicht. Sie versucht, einigermaßen ruhig zu atmen. Endlich gelingt es wieder, sie flucht: »Scheiße! Wenn du beides bist, hast du doppelt so viel, was dir wehtun kann. Google ist nicht mehr. Der Mac ist Apfelmus.«

»Was wird dann aus dem Buch?«

»Das war’s. Wird nie geschrieben. Oder hast du einen Plan?«

»Warten wir auf die Zukunft. Irgendwann klappt das mit Zeitreisen vielleicht. Vorwärts in die Vergangenheit. Du machst einfach die letzten Minuten rückgängig. Jetzt geht’s los.«

Mark zieht den Deckel und taucht die Hand in das Pulver, das den Karton bis zum Rand füllt. Er streut die Masse in die Bucht, als wolle er Fische füttern. Womit er nicht rechnet, ist der Wind. Der kann am Atlantik heftig sein. Eine gierige Bö grabscht mit unsichtbarer Hand nach der Asche, wirbelt sie hoch, trägt sie zur Saline und setzt sie dort ab, bis das letzte Weiß von einer silbergrauen Schicht bedeckt ist.

»Scheiße«, sagt Mark, »das schöne Salz. Guck sie dir an, die Bescherung. Von wegen weiße Weihnachten.«

Ein halbe Minute schweigt auch Franka. Dann brüllt sie: »Warte mal – ich komm runter.«

Sie klettert die verbliebenen Sprossen zum Strand hinab und stellt sich stumm neben Mark. Tröstend legt sie ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme klingt erst mal unsicher, brüchig. Sie knattert wie ein Segel nach einer Wende im Sturm. Dann nimmt sie allmählich Fahrt auf. Schließlich hört sie sich fast überzeugt an. »Weißt du, ihr wäre es egal. Hauptsache, das wird ein Hammersalz, und das wird es, garantiert. Ich meine, jetzt, wo der Wind sich Pennys Asche gekrallt hat, sowieso. Wer braucht denn weißes Salz? Ist doch gar nichts. Das hier ist ein ganz anderes Thema! Das ist original Silbersalz von der Isla Sal, nein, besser: Platin. Pures Platinsalz, Platinum, das klingt nach Premium. Japp, weißt du, ich hör sie schon kommen mit ihren Cayennes und Volvos, Escalades, Hummern. Bramm, bramm, bramm und wamm, wamm, wamm blättern sie die Scheine hin. Das wirst du sehen. Die Zukunft wird gummibärchengeil. Ich seh sie vor mir. Bloß die verdammte Vergangenheit. Die verschwindet irgendwie im Nebel. Wir hätten Tagebuch führen müssen. Der Mac ist im Eimer, die Sonne brutzelt mir die Daten aus dem Hirn. Bist du dabei? Beamen wir uns durch Raum und Zeit. Fünf Monate zurück auf diese Landstraße in der Eifel. Der Schicksalstag, an dem Penny, du und ich uns das erste Mal gesehen haben …«

Mark kratzt sich den sonnenverbrannten Schädel. »Schicksalstag? Okay. Alles auf Anfang?«

Franka nickt. »Genau. Alles auf Anfang.«

Erstens | Wilde Dinger

»Hau ab. Spiel woanders! Los, verschwinde!«

Jetzt hörst du dich schon an wie so ein beknackter Hausmeister.

Einer dieser grau gekittelten Tatter-Typen, die dir auf dem Gehweg auflauern, wenn du mit dem Fahrrad vorbeikommst. Die mit ihren Gehstöcken hinter dir hergreinen, dass du hier nichts zu suchen hast. Kein Rücklicht am Rad. Oder sonst ein Scheiß, der ihnen nicht passt. Franka beißt sich auf die Lippe. Das hat sie nicht gewollt.

Dass dieser Bengel nervt, ist aber klar. Vielleicht noch kein Grund, jetzt den Vollspießer auszupacken. Loswerden muss sie ihn allerdings. Das ist Tatsache.

Also versucht sie es noch mal. »Hau ab, Zwerg. Spiel woanders. Hier ist nur für Große.«

Gregor bleibt stehen. Er schaut hoch, als hätten sie ihm keine Ohren gegeben. Vielleicht sind die zwei Kohlblätter da links und rechts am Schädel ja bloß so was wie Zierleisten. Dazwischen rattert es knisternd. Der kleine Computer arbeitet auf Hochtouren. Das kann man förmlich sehen.

Die Sonne steht hoch. Krass heiß, die Luft.

Der Kleine hebt die Patschhand als Sonnenschirm an die Stirn und blinzelt. »Was maddu da oben, Franka?«

»Was machst du, Gregor.«

»Ich hab zuerst gefragt.«

»Aber grottig. Du hast gefragt …«

»Du bist voll glöd!«

»Blöd! Es heißt blöd! Voll blöd. Du bist ja auch nicht glond sondern blond.«

Dem Knirps wuchern die Haare wie vertrocknetes Gras aus dem Kopf. Seine huskyblauen Augen blitzen angriffslustig daraus hervor. »Ich weiß, dass es glond heißt! Ich bin ja nich glöd. Gleibdu lange da oben?«

»Ffffffft.« Franka lässt die Luft durch die Lippen zischen und verdreht die Augen. »Bleib … Ach, vergiss es. Jetzt schwirr schon ab.«

»Was maddu da oben?«

»Buchführung. Rote Autos zählen. Ich zähle sie, mache für jedes einen roten Strich und gebe das dann an meine Auftraggeber weiter. Das ist mein Job. Ich arbeite für den Geheimdienst. Sehr spannend. Willst du auch mal für den Geheimdienst arbeiten? Hier ist dein Auftrag: Geh heim! Los, mach schon.«

Fast bis es blutet – so fest beißt sich Franka auf die Lippe. Ihn wegschicken ist das eine. Den Bengel so zu verarschen, ist was anderes. Echt nicht die feine Art. Aber egal. Sieht nicht aus, als hätte Gregor irgendwas kapiert. Und wenn, dann kümmert es ihn nicht.

Er glotzt Franka an und sagt: »Darf ich zu dir hoch?«

»Nein. Darfst du nicht!«

»Warum nich? Du kannst mir gar nichts sagen. Das Feld gehört Papa. Der hat gesagt, du darfst da gar nicht sitzen. Und das da gehört der Frau Merkel.«

Gregors Hand zeigt auf die Plakatwand, auf der Franka sitzt. Ihre Gummistiefel reichen dem Kandidaten genau bis zum Scheitel. Die Beine verdecken teilweise den Spruch, den die Wahlkämpfer haben aufdrucken lassen. Z…k…nft für Rheinland-Pfalz!, würde Gregor lesen, wenn er es könnte.

Franka schüttelt den Kopf und lächelt. »Glödsinn. Die Merkel sitzt in Berlin. Das da, das ist – ach, was soll’s. Willst du jetzt endlich verschwinden?«

»Du darfst das nich! Komm runter da! Komm runter oder lass mich hoch! Du darfst das nich! Du darfst gar nix. Gar nix darfst du!«

Jetzt reicht es Franka. Sie droht mit der Hand. »Soll ich mal runterkommen und dir zeigen, was ich darf? Vielleicht …« Erschrocken schluckt sie die letzten Worte runter.

Das war nicht mehr Kategorie normaler Hausmeister. Das war krasser. Eher schon Hausmeister mit Nazivergangenheit.

Sie nimmt sich vor, nichts mehr zu sagen. Stattdessen zieht sie die Blockflöte aus der Tasche und fängt an zu spielen. Nach ein paar Tönen hält sich Gregor die Ohren zu. Sind also doch zu was gut. Nach weiteren zehn Takten schreit der Kleine wütend auf. Er tritt gegen die Pfeiler der Plakatwand. Wo sie im Acker versinken, rupft er Halme und schleudert sie auf Frankas Stiefel. Höher kommt er nicht. Dann dreht er sich um und rennt weinend übers Feld zum Haus.

Ja, heul doch. Franka steckt die Blockflöte weg. Endlich allein.

Flennen tut sie jetzt erst mal selbst eine Runde. Wie jeden Nachmittag, sobald sie ihren Hochsitz eingenommen hat. Ihr Hochsitz ist derzeit ein CDU-Plakat am Rand einer Landstraße. Das Gerüst ist morsch. Das Plakat riecht nach nassem Papier. Aber Franka ist froh, dass die Partei es mitten in der Pampa aufgestellt hat. Was die Politiker dazu treibt, ist ihr allerdings ein Rätsel. Vermutlich brauchen sie die Stimmen von Fuchs und Hase, die sich hier Gute Nacht sagen. Franka grinst, obwohl sie Rotz und Wasser heult. Ihre Lippen zittern, ihre Schultern werden durchgeschüttelt. Es kommt aus ihrem Zwerchfell wie ein Lachkrampf, ist aber keiner. Sie krallt sich mit den Nägeln ins moosige Holz, lehnt sich nach hinten und streckt die Gummistiefel aus, um das Gleichgewicht zu halten. Sie schluchzt. Die Tränen, die ihre Zunge links von der Nase wegschleckt, schmecken wie Hühnerbrühe. Ihre lagunenblauen Augen werden von Salzwasser geflutet. Franka kann nichts mehr sehen. Ein dunkelroter Zafira rauscht vorbei, ohne dass sie ihn registriert. Die Hügel und Felder verschwinden hinter Nebeln aus Wasser. Am Waldrand wagt sich ein Reh zwischen den Bäumen hervor, kriegt dann aber Schiss und legt den Rückwärtsgang ein. Über den Hügeln ballen sich die Wolken um einen Elefantenhintern aus blaugrauer Watte herum, der direkt über Franka hängt. Angefangen hat er als flockiges Seepferdchen, das immer fetter wurde. Der Rüssel des Dickhäuters schlingt sich einmal um den Kopf und löst sich auf. Aus den Fetzen werden neue Wolken, die komische Formen bilden, aus denen nicht einmal Frankas Fantasie etwas machen kann. Die Luft ist feucht. Es ist so heiß, dass jeder, der jetzt ihr Gesicht sieht, denken wird, dass Franka schwitzt. In der Tasche ihrer schwarzen Weste sucht sie ein Taschentuch, findet aber nur noch ein paar hellgraue Brösel. Also wischt sie den Rotz in den blau karierten Flanell ihres Hemdes und atmet tief durch. Geht schon wieder. Aus der Seitentasche ihrer fleckigen Cargohose zieht sie die Blockflöte und bläst drei Takte. Die sind so schnieftraurig, dass es Franka gleich wieder durchrüttelt. Sie seufzt.

Wie soll diese Scheiße nur weitergehen? Irgendwas muss passieren.

Das wird es auch. Der Lebensumkrempelservice ist schon unterwegs. Das weiß Franka aber nicht. Und so flötet und flennt sie abwechselnd weiter, bis sie vor Müdigkeit fast von der Plakatwand kippt.

»Hey, Penn! Renn mal nicht so! Das bringt einen ja um …«

In der flimmernden Luft, die über der Landstraße blubbert, tauchen zwei Köpfe auf. Die von Mark und Penny. Franka kann nicht hören, was sie reden. Sie kommen näher, bleiben jetzt stehen. Wind kommt auf. Er meint es gut mit Frankas Ohren.

»Dich bringt überhaupt nichts um. Davon hat sie nichts gesagt.«

Penny steht breitbeinig auf der Fahrbahn, zu Mark gedreht, die Fäuste an den Hüften.

Auch der hält sich die Seite und keucht. »Wieso ist die scheiß Eifel eigentlich so steil? Dauernd geht alles irgendwie bergauf. Und diese Dreckshitze. Wenn ich eine Sauna brauche, fahr ich nach Finnland.«

»Ist halt so eine Hügellandschaft. Das waren mal Vulkane, glaub ich.« Penny scannt die Gegend vage mit den Augen.

Mark reißt ängstlich die Hände hoch. »Vulkane? Ganz sicher?«

»Chill mal. Alle tot. So wie ich bald …«

»Blödsinn, das hat die doch nur so gesagt. Weil sie einen Hass hat auf dich. Sie hat dir ja noch nicht mal aus der Hand gelesen. Mir schon. Die Band kann ich jedenfalls jetzt knicken. Gitarre wird nie was, hat sie gesagt. Hey, Penny, hör mal! Klingt wie Flöte. Blockflöte. Hier in dieser beknackten Eifel sind sogar die Vögel bekloppt.«

»Du hättest da nicht reingehen sollen. Wahrsagerinnen erzählen einem immer Scheiß. Krebs mit 80. Jackpot mit 90. Tod durch Grippe mit 110. Und immer alles ganz anders als geplant. Mir liest keiner aus der Hand. Nur über meine Leiche.«

»Sag ich doch. Ohne Gitarre kann ich mich aufhängen. Am besten an dem Baum da. Siehst du den? Buche oder Eiche oder Ahorn oder Linde oder so. Hinter dem CDU-Plakat.«

»Wir können auch einfach stehen bleiben. Das Gewitter, das gleich abgeht, macht uns alle. Dann hat die Alte recht. Ich bin tot und du und deine Karriere auch. Lass mal da rüber gehen zu dem Hof. Vielleicht sind da ja Leute, die –«

»Da sitzt was.« Mark richtet die gießkannengrünen Augen angestrengt nach oben. Er geht auf Penny zu, zieht an ihr vorbei und bleibt stehen. »Ein Vogel oder so. Elster. Nee. Pinguin. Ein fetter Pinguin mit Hut. Seit wann können –«

»Ich sehe hier bloß einen Vogel. Der bist du!«, tönt es von oben.

Franka steckt die Blockflöte ein, trommelt dem Politiker unter sich mit den Gummistiefeln gegen das gegelte Haar und sagt: »Und zwar ein ganz hässlicher. Was bist du überhaupt? Skinhead? Afroeuropäer? Wenn ich du wär, würd ich mich mal entscheiden. Oder bist du schizo? Vielleicht so ein komischer Zwischen-allen-Stühlen-Freak?«

Mark und Penny schauen sich an. Ungläubig kratzt Mark sich die Stoppeln. Er drückt ein Auge zu und blickt zu Penny. »Kneif mich mal. Hab ich das wirklich gehört?«

»Ich fürchte ja. Das ist kein Traum.«

»Lass uns verschwinden. Hab kein gutes Gefühl. Die tickt nicht richtig.«

»Ja, hau ab, kleiner Nazineger. Und nimm die Oma mit.«

»Oma? Hat die mich Oma genannt?« Penny setzt die schwarze Ledermütze ab und geht auf das Plakat zu, um ihre silbernen Haare zu präsentieren. »Hey, kleine Kackbratze. Hast du keine Augen im Kopf? Sehe ich aus wie eine Oma? Ich glaub, du brauchst eine Augen-Laserbehandlung. Ich komm gleich mal hoch!«

Penny trabt auf die Plakatwand zu, bremst aber ab.

Franka hat eine Zwille gezogen und legt auf Penny an.

Mark zieht Penny zurück auf den Weg. »Lass gut sein, Penny. Die Kleine will Dresche. Schon klar. Aber wenn wir jetzt jeden vermöbeln, der danach schreit, kommen wir nie an. Wir haben was vor.«

»Ach ja?«, kommt es vom Plakat. »Was habt ihr denn vor, ihr Assis? Wollt ihr vielleicht zum Friseur? Für dich Vollglatze und für Omi eine anständige Tönung?«

»ICH BIN KEINE OMA!«, schreit Penny und versucht, Frankas Gummistiefel zu fassen.

Die rutscht auf dem Plakat rum wie ein Wellensittich auf der Stange.

»He!« Mark versucht es freundlich. Oder was er dafür hält. »Kleine Kröte! Bist du aus der Gegend? Du kannst uns sagen, wo es nach Prün oder Prim oder so geht …«

»Prüm heißt das! Hast du Knallfrosch mich gerade Kröte genannt?«

Franka starrt Mark wütend an. Ein roter Cinquecento rauscht vorbei. Sie steckt die Zwille weg und zückt ihr Heft.

Das ist die Chance. Penny packt Frankas Gummistiefel. Franka strampelt wie irre, um nicht im Gras zu landen. Blitzschnell zückt sie die Blockflöte und drischt auf Penny ein. Penny jault auf und hält die Hände über den Kopf. Ihre Ledermütze fällt in den Matsch. Ein Stiefel von Franka auch.

Den hebt Penny auf und keift, außer sich vor Zorn: »Irgendwann krieg ich dich, Miststück. Dann bist du dran. Danke für den Stiefel.«

»Willst du den linken auch?« Franka schleudert Penny den halb ausgezogenen Gummistiefel ins Gesicht. Dann überlegt sie es sich anders. »Jetzt beruhigen wir uns mal. Gib mir die Dinger wieder. Hier ist alles voll Kuhmist. Da drüben wohn ich. In dem Demeter-Hof. Ich brauch meine Agrarpumps! Also, her damit!«

»Klar«, sagt Penny. »Komm runter und hol sie dir.«

»Damit du mir geschmeidig die Fresse polierst.«

»Hm. Ja. Darauf könnte es hinauslaufen …«

Franka setzt die Blockflöte an die Lippen und spielt Summertime in einer Version von Miles Davis.

Mark klappt die Kinnlade runter. Er bleibt bewegungslos stehen. Penny stößt ihn in die Seite. Sie zeigt auf die Wolken, die sich kumpelhaft um den Elefantenbullen scharen. Die jetzt tiefer stehende Sonne malt ihnen rosafarbene Leuchtränder um die Bäuche.

Penny drängt: »Weg hier, Mark. Das wird gleich ungemütlich …«

»Nach Prüm geht’s da lang …« Franka dreht die Nase nach links und zieht vornehm den Hut. Der hat ihre Haare bis dahin vorhangartig zusammengeschoben. Nur die Nase hat rausgelugt. Jetzt wirbelt der Wind die Strähnen durcheinander. Ihr Schwarz hat einen kakaofarbenen Glanz.

»Was hat denn die für Haare?«, entfährt es Penny.

»Egal. Weiter …« Mark trabt voraus, Penny holt ihn ein, aber Franka ruft hinter ihnen her: »Was habt ihr Pfosten eigentlich für ein Problem?«

Sie bleiben stehen und sehen sich an.

Penny fragt nach: »Wie meinst du das?«

»Na, dieses Gelaber. Von wegen Wahrsagerin. Hexe. Gitarre. Tod. Der ganze Käse …«

»Vergiss es …« Penny winkt ab.

Marks Freundlichkeitsmodus ist aber noch aktiv. »Auf dieser Kirmes in Wittlich ist so ein Wagen. Gypsy Magic. Pendeln. Horoskop. Tarot und dieser Mist. Da sind wir rein. Penny hat sich mit der Alten angelegt. Die hat ihr hinterhergeschrien, dass Penn bald ablöffelt. Mir hat die Alte aus der Hand –«

»Laber nicht, komm weiter!« Penny zieht Mark vorwärts.

Franka zückt den Hut, schwenkt ihn in die Gegenrichtung. »Nach Prüm geht’s da lang.«

»Sehr witzig, Vogelscheuche! Wir kommen schon klar.«

»Ja, genau. Das sehe ich. Vielleicht liest euch ja einer aus der Hand, wie ihr nach Prüm kommt. Oder aus den Karten. Oder aus euren hässlichen dummen Sackgesichtern.«

Franka plumpst vor Lachen fast vom Kopf des Politikers.

Marks Oberlippe wird blass. Er saugt die Luft durch die geweiteten Nasenflügel. Sein Brustkorb platzt gleich. Als er den Atem schnaubend entlässt, zuckt ein Blitz aus den Wolken. Mark schielt hoch und besinnt sich auf seine Wut. »Jetzt hör mal gut zu, du kleine –«

Mark hat an diesem Nachmittag kein Glück mit Sätzen. Diesmal ist es der Donner, der ihn ausbremst. Es knallt und grollt so heftig, dass sich Mark und Penny fast hinschmeißen. Kein Vogel singt mehr.

Penny erklärt ins letzte Rumpeln: »Kleine. Du gehst besser nach Hause. Echt jetzt. Das wird gefährlich. Der nächste Blitz könnte dein letzter sein, wenn du verstehst …«

»Ist das eine Prophezeiung?« Franka prustet und feixt. Unter Tränen presst sie hervor: »Ach ja! Zukunft. Ihr Honks glaubt ja an diesen Glöd–«

Roy Cleveland Sullivan – den Typ führt das Guinnessbuch als Weltrekordler im Blitzschlag-Erleben. Sieben Mal diente der Forstbeamte aus Virginia als menschlicher Blitzableiter. Die Wahrscheinlichkeit, so oft vom Blitz getroffen zu werden, liegt bei 1 zu 16 Quadrillionen. Das ist eine Zahl mit 24 Nullen. Dagegen ist ein zweifacher Lottogewinn mit Superzahl ein Klacks. Nicht wesentlich chancenloser, als sich im Freibad einen Fußpilz zu holen. Sieben Blitzschläge mitzumachen, dazu musst du erst mal sechs überleben. Da liegt das Problem. Wen satte 10.000 Ampere von innen grillen, der geht nicht einfach zur Tagesordnung über. Immerhin ist das genug Saft, um alle Glühbirnen von Koblenz leuchten zu lassen.

Wie ein nasser Sack fällt Franka vom Hochsitz. Der Blitz, mit hunderttausend Stundenkilometern in den Baum gezüngelt, findet nebenan im feuchten Poster eine Spielwiese, um sich auszutoben. Am Baum brennt ein Ast. Auch an Frankas Kopf schmort es. Obwohl nahezu taub, klatscht ihr Penny geistesgegenwärtig die Ledermütze aufs Haar. Das erstickt die grünen Flämmchen.

Mark bewegt den Mund. Es kommt aber nichts raus. Wieder kein Glück mit Reden. Diesmal, weil ihn keiner hört. Eine Weile hört keiner was. Der Knall hat fast alle Trommelfelle im Umkreis von acht Hektar geschrottet. Franka liegt da, das Näschen zwei Fingerbreit vom nächsten Kuhfladen. Sie rührt sich nicht.

Jetzt fängt es an zu schütten. Der Wolkenelefant spielt Duschkopf mit seinem Rüssel.

Penny fühlt Frankas Puls und rüttelt an ihren Schultern. »Wach auf!«

»Ist sie tot?« Mark steht da, triefnass. Es prasselt ihm auf die Stoppeln.

»Sie stirbt, wenn wir ihr nicht helfen.«

»Echt jetzt? Nett ist sie ja nicht …«

»Willst du sie liegen lassen, Malaka? Den Blitz überlebt sie und dann ersäuft sie hier im Straßengraben?«

In Nullkommanichts hat sich die Wiese in einen See verwandelt. Der Kuhfladen mutiert zu einem Brühwürfel für Matschsuppe. Aus Frankas Gummistiefel könnte man sie trinken. Mark zieht das T-Shirt über den Kopf. »Los. Weg hier!«

»Willst du zurück in den Knast? Unterlassene Hilfeleistung. Schon mal gehört? Pack mit an!« Penny greift Franka unter den Schultern. Etwas fällt aus der Westentasche. Ein Schreibheft.

Mark nimmt es an sich, blättert gelangweilt und mault: »Selbst schuld. Hat ihr ja keiner gesagt, dass sie da oben rumhocken soll. Im Gegenteil. Du hast ihr klar und –«

Pong. Marks Pech mit ganzen Sätzen hält an. Auf seinem Kopf landet ein Tennisball aus Eis. Schlagartig hat sich der Himmel in eine Wurfmaschine verwandelt. Sekunden später ist die Gegend hagelzuckerweiß. Dank der grillheißen Straße dampft und brodelt es jetzt überall, als wären sämtliche Vulkane der Eifel wieder aktiv.

Penny zerrt Franka durch den Schlamm. »Wir setzen sie da drüben an den Baum. Dann rufen wir Hilfe.«

»Jetzt guck dir das an. Ein Tagebuch …«

»Steck das weg.«

»Zahlen und rote Striche – was soll der Quatsch? Die Kleine …«

»Braucht einen Arzt. Jemand, der sich auskennt.«

»Rufen wir den Elektriker.« Mark fummelt das Handy raus. Kopfschüttelnd zuckt er mit den Schultern. Kein Netz.

Er steckt Heft und Handy an ihre Plätze zurück und packt Frankas Füße. Plötzlich schlägt sie die Augen auf und zeigt auf das Tattoo an Pennys Hals. Sie murmelt: »Wilde Kerle …«

Von den Halbtoten erwacht strahlt sie Penny an. »Dein Tattoo. Die wilden Kerle. Wo hast du das her? Darf ich mit euch mit? Ich bring euch nach Prüm. Ich weiß, wie ihr hinkommt. Was machen wir da?« Franka federt auf die Füße. Scheinbar unbeschadet. Sie klopft sich den Matsch ab und streckt Mark und Penny die Hand entgegen. »Franka. Schön, dass ihr da seid, Freunde. Also, was läuft jetzt? Gehen wir los?«

Mark und Penny tauschen verwunderte Blicke.

Mark zieht den silbernen Kopf dicht an seine Lippen und flüstert Penny ins Ohr: »Blitzschaden!« Dabei dreht seine freie Hand eine unsichtbare Schraube an der Schläfe fest, zackt als Blitz Nr. 2 durch die Luft und malt schließlich einen U-Turn in die Gegend.

Zu Franka sagt Penny: »Planänderung. Die Arbeit ruft. Wir gehen zurück zur Kirmes. Du darfst allein nach Prüm. Wenn du fit bist …«

Die zwei haben es plötzlich eilig. Der Regen hat nachgelassen. In der Ferne überquert ein Trecker die Landstraße, dahinter eine Spur backsteinroter Erdfladen.

»Wartet! Ich komme mit!« Franka humpelt hinter Mark und Penny her. Beim Sturz vom Plakat hat sie sich den Fuß verknackst. So kommt sie nicht weit. »He! Bleibt doch mal stehen!«

Penny ruft über die Schulter: »Schön, dass es dir besser geht, kleine Kröte. Hüpf schön nach Hause – zu Mami und Papi. Die sollen den Doktor rufen. Bei dir hat der Blitz die Hauptplatine durchgeschmort. Lass dich mal checken.«

»Ich bin okay. Nur etwas langsam. Wartet! Ich will bei euch bleiben.«

»Wir aber nicht bei dir. Kapiert?« Penny bleibt stehen. Sie dreht sich zu Franka. »Und jetzt verpiss dich, sonst …« Sie hebt die Hand. Aber dann schaut sie an Franka vorbei, zeigt nach vorn und macht den Mund auf.

Franka dreht sich um. Auch sie staunt nicht schlecht: Von dem Plakat, auf dem sie eben noch gethront hatte, ist nur noch ein Fetzen übrig. Der Rest hat einen Trauerrand. Das rechte Ohr des Politikers ist angekokelt. Franka muss zweimal hinschauen. Der Spruch, der Hase, Fuchs und Autofahrer zu Wählern machen sollte, ist bis auf ein letztes Wort abgefackelt: Zukunft!

Als Franka sich wieder umdreht, sind Mark und Penny verschwunden. Der Hügel hat sie verschluckt, so plötzlich wie er sie zwanzig Minuten zuvor ausgespuckt hatte. Drei halbherzige Humpler, dann bleibt sie stehen. Sie leert die Gummistiefel, schlüpft rein und schlurft zum Haus.

»Kokodil …« Gregors Zeigefinger malt einen Fettpunkt auf die Scheibe. Auf seinem Pyjama schwimmen blaue, rote und gelbe Schiffchen. Seine Haare sind nass, nach hinten gestriegelt wie beim Politiker auf dem Plakat.

»Krrrrokodil!«, verbessert Franka.

Nebeneinander stehen sie im Wohnzimmer am Fenster. Sie studieren eine Wolke, die sich über dem Feld gebildet hat. Lang ist sie, lila und grau, von der Sonne beleuchtet. Ein feuriger Saum läuft vom gezackten Kopf bis zum zerfransten Schwanz. Langsam macht das Reptil aus Watte sich über dem Acker vom Acker. Dabei spuckt es Tropfen auf die verhagelten Felder. Weil die Abendsonne gleichzeitig ihr Versteckspiel aufgibt, packt ein Regenbogen seine Buntstifte aus.

»Rebengogen«, nennt Gregor das. Fragend schaut er Franka von unten an. »Hast du gesehen? Vorhin – da hat es geglitzt! Und gedonnert!«

»Japp.« Franka überlegt, ob sie Gregor vom Blitz-Erlebnis erzählen soll. Aber so kurz vor dem Schlafen will sie ihn nicht beunruhigen. Auch Heike und Daniel, seinen Eltern, hat sie nichts gesagt. Das Brandloch im Haar verdeckt eine Mütze. Die hat sie sich von Daniel geborgt. Die vermatschte Hose hat sie gegen einen Wickelrock von Heike getauscht. Dazu trägt Franka eine helle Bluse.

»Macht’s gut, ihr zwei!« Gregors Eltern winken von der Tür.

Franka schnappt Gregors Hand und macht Winke-Winke. Sie hebt den Daumen. »Cool, euer Outfit!«

»Deins aber auch!«

Daniel und Heike marschieren zur Dorfkirmes, als wäre es die Oscar Night im Dolby Theatre. Aber dort würden sie vermutlich in Gummistiefeln auflaufen. Rudolf Steiner hatte vielleicht coole Tipps, wie man Biosellerie anbaut, aber nicht, wie man sich stylt. Franka muss grinsen.

»Um zehn sind wir wieder da«, verspricht Heike.

»Spätestens halb elf«, sagt Daniel. Er schiebt Heike weiter, doch sie macht sich los. »Franka, Liebes, wenn du gleich liest – bist du so gut und übst mit ihm? Du weißt schon. Die BL-Schwäche.« Heike rollt genervt die Augen. »Dyslalie bla bla Logopädie. Die können wir uns bei den Milchpreisen eh nicht mehr leisten …«

»Kommst du, Heike? Wir müssen los!«

Weg sind sie. Franka setzt sich Gregor auf die Hüfte. Das Wolken-Krokodil ist nur noch eine Schlange, die einen Wattemähdrescher verdaut. Gregor zeigt kichernd hoch. Die Scheibe kriegt neue Fettpunkte. Der Streit ist vergessen. So klein der Zwerg ist, so groß ist er im Verzeihen.

Franka gibt Gregor einen Kuss. Ihre Augen sind feucht, als sie erklärt: »Ich hab dich lieb.«

»Liest du jetzt vor?«

Aus Gregors Bücherkiste fischt Franka Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak. Sie schlägt die Doppelseite auf, an der sie sich früher nie sattsehen konnte: alle Monster auf einmal. Sie machen ordentlich Rabatz. Zum Gruseln schön fand Franka das vor zehn Jahren. Damals, als sie vier war wie Gregor heute.

»Ich könnte mir ein Tattoo machen.« Sie zeigt auf die Kuhle unter ihrer linken Schulter. »Die zwei wilden Dinger – genau hier. Würde dir das gefallen?«

»Was is ein Tätu? Und wieso wilde Dinger?«

Franka setzt an zu einer Erklärung, aber ihr Handy klingelt. Es ist Heike.

»Ich geb dir Gregor«, sagt Franka.

Aber Heike sagt: »Erst will ich dich sprechen. Du warst so seltsam vorhin. Geht es dir gut? Na ja, wollte nur sagen: Toll, dass du bei uns Praktikum machst. Gregor und du – das läuft super. Weißt du, wir hatten schon einige Mädchen hier. Mit dir, das ist anders. Gregor liebt dich. Du verstehst ihn. Du verstehst Jungs.« Heike lacht. »Manchmal hab ich das Gefühl, du bist selbst einer. – Gibst du ihn mir jetzt?«

Als Franka ihr S6 zwei Minuten später einsteckt, brennen ihr die Ohren. Die Bilder im Buch und im Kopf verschwimmen.

»Wieso Dinger?«, holt Gregor sie zurück.

»Dinger? Na ja, weil … Das Buch heißt eigentlich Where the Wild Things Are. Mein Papa hat es mir mitgebracht. Aus Amerika. Da war ich so alt wie du. Kerle sind Männer. Things sind Dinger. Nur Dinger sind richtige Monster.«

»Wild Things«, sagt Gregor.

So klar, dass Franka aufhorcht. »Sag das noch mal.«

»Wild Things!«

»Komischer Kauz. Kein BL aber perfektes englisches TH. Sag mal Blockflöte!«

»Glockföte.«

»Okay. Und Blockenspiel?«

»Glockenspiel.«

»Na also.« Grinsend hebt Franka den Daumen. Dann steht sie auf. »Muss mal … die Blase platzt gleich.«

»Die Glase klatzt«, kommt es aus Gregors Mund.

Als Franka vom Klo kommt, hat sich Gregor die bunte Ikea-Decke über die Nase gezogen. Er kichert. »Du musst aber oft …«

»Nicht mehr als –«

»Wilde Dinger?«

»Zum Beispiel.« Franka schlägt das Buch auf. »Also. An dem Abend, an dem Max seinen Wolfspelz trug –«

»Wie machen wilde Dinger Pipi?«

»Weiß nicht. Normal, glaub ich – keine Ahnung.«

»So wie Sofie und Mama? Oder so wie Papa und du?«

Franka liest weiter. Aber ihre Stimme klingt auf einmal, als würde ein Chinese am Ende eines Tunnels in eine Blechdose husten. Plötzlich sinkt ihr das Buch auf den Schoß. »Du hast mir nachspioniert!«

»Gar nich …«

»Klar hast du! Wie lange warst du hinter mir her?«

»Du hast mit Papa die Kühe versorgt. Dann habt ihr sauber gemacht. Vor dem Stall. Dann ist Papa zum Schuppen. Du hast dein Heft geholt und deine doofe Föte. Dann bist du da hin, wo das Klakat ist. Aber klötzlich bist du in den Wald.«

»Und du hinterher.«

»Ich wollte mit dir spielen.«

»Verstehe. Du hast geschaut, was ich so mache.«

Franka klappt das Buch zu. »Zeit zu schlafen.«

»Nein, nein, nein, nein! Lies mir noch was vor!«

»Ich spiel dir was auf der Flöte.«

»Gloß nich! Gloß nich die glöde Glockföte! Du sollst lesen!«

Franka geht ins Wohnzimmer. Ihre Ohren glühen und ihr Herz hüpft fast aus dem Hals. Sie schwitzt, obwohl das Gewitter als Klimaanlage einen guten Job gemacht hat. Die Tür zum Kinderzimmer steht auf. Franka wendet Gregor den Rücken zu. Sie geht das Bücherregal von Gregors Eltern ab. Schließlich entscheidet sie sich für einen Band von Rudolf Steiner. Das Buch trägt den Titel Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?. Der hellblaue Einband glänzt. Die Buchstaben erinnern an Weleda-Creme. Franka peilt null, was sie da vorliest. Gregor weniger als null. Nach einem dreiviertel Absatz schläft er allerdings sanft und friedlich. Jetzt oder nie.

Franka schleicht auf Zehenspitzen zu Daniels Schreibtisch. Sie zieht ein Post-it vom Block. Aus Gregors Malkasten nimmt sie einen brombeerfarbenen Wachsstift. Zwanzig Sekunden grübelt sie, was sie schreiben soll. Dann malt sie ein Herz. Im Bad schminkt sie sich mit dem Lippenstift von Heike und setzt einen Kuss neben das Herz. Hastig krakelt sie auf die Rückseite:

Sauglöd. Muss nach Hause. Papa ist krank. Tut mir sehr leid.

Auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es schon nicht mehr an. Seufzend schließt sie die Augen. Wie gern würde Franka die Wahrheit sagen. Wenigstens einmal! Wenigstens Heike und Daniel. Doch keine Chance. Für eine wie Franka ist Wahrheit Luxus. Sie klebt den Zettel auf den Einband und legt das Buch auf Gregors Bauch. In den Arm legt sie ihm sein Lieblingskuscheltier – die schielende Giraffe.

Von der Tür aus dreht sich Franka noch mal um. Den Kleinen zu verlassen bricht ihr fast das Herz. Ob sie will oder nicht – sie muss noch mal hin. Sie beugt sich über Gregor, um ihn in den Arm zu nehmen. Fest drückt sie ihn an sich. Der Knirps murmelt im Halbschlaf was von »Glümchen und glauem Himmel«. Franka presst ein paar Tränen in Gregors Pyjama. Sie beißt sich auf die Lippen, bis es wehtut. Barfuß schlüpft sie in die Sneaker und packt den Rucksack. Noch immer weinend stiehlt sie ein Fahrrad aus dem Schuppen und dann sich davon …

In der Eifel geht es immer nur bergauf? Quatsch. Grob geschätzt hat dieses Mittelgebirge sechzig Hügel und Höhen. Du musst keine Granate in Geo oder Mathe sein, um zu wissen, dass es da etwa sechzigmal aufwärts geht – genauso oft aber auch wieder runter. Als Franka den Pichtersberg hinabsaust, um via Unkenstein in Wittlich einzulaufen, hat sie sich jedenfalls genauso oft bergauf gequält wie abwärts gestürzt. Jetzt ist sie kaputt. Die Beine sind hart wie Schildkrötenpanzer und heißer als Brennstäbe in Fukushima. Noch übler glüht ihre Kehle. So einen Durst hatte sie noch nie. Der Blitz hat scheinbar sämtliche Elektrolyte ihres Körpers zerschossen. Die letzten Meter hätte sich Frankas Zunge locker in den Speichen des Fahrrads verheddern können, so weit hing sie ihr aus dem Hals. Die Spucke ist Pulver. Polydipsie nennen Ärzte so einen Durst. Einzige Medizin: Wasser. Auf dem Platz an der Lieser steigt Franka vom Sattel. Hinter einer Traube von Menschen findet sie den Brunnen. Baden verboten – kein Trinkwasser warnen Schilder. Bleibt die Damentoilette vom Carpe Diem. Aber in Wittlich steppt der Bär. Säubrennerkirmes. Das sonst eher verschlafene Zwanzigtausend-Seelen-Städtchen ist vier Tage lang ein einziges Festzelt. Nur ohne Zelt. In der Kneipe stehen die Frauen Schlange bis vor die Tür. Ins Herren-WC will Franka nicht. Stattdessen schiebt sie ihr Rad zum Marktplatz und stellt sich an einen der Braten- und Bierstände. Gegrillte Schweine rotieren überm Feuer. Franka arbeitet sich zielstrebig an ein Tablett heran, auf dem halb leere Gläser stehen. Als sie eins packen will, kommt ein Kellner und räumt es ab. Von Penny keine Spur. Um die zu finden, ist Franka hier. Aber die einzigen Silberhaare weit und breit gehören Leuten, die das Gras, in das sie bald beißen, schon nicht mehr ohne Knopf im Ohr wachsen hören. Vorbei an Bierbänken schiebt Franka ihr Fahrrad die Neustraße hoch, als ein älterer Typ sie anlallt: »Kleine! Du weisss schon dassassn Herrenrad is?«

Kommentarlos zieht Franka weiter. Der Weinfreund wankt vor sie. Eine der zwei Frankas, die er sieht, labert er an. »Schuljung … wisssu was trinken?«

Es vergehen Sekunden, bis Franka peilt, dass das »Schuljung« keine Anspielung ist, sondern ein missglücktes »Entschuldigung«. Kann sein, dass sie die Pulle unterm Arm des Typs zu lange anstarrt.

Er schnappt ihre Hand. »Ich … binner Lothar. Lothar Blaffert. Unnndu?«

Auch hier hängen Wahl-Plakate – ein kurzer Blick auf ein blau-weißes, und blitzschnell geschaltet: »Erna. Erna Utschl.«

Sie taucht in der Menge ab.

Franka ist grundsätzlich eher optimistisch. Aber dass es so leicht würde, Mark und Penny in der Menge aufzuspüren, hätte selbst sie nicht gedacht. Doch kaum hat sie sich auf dem Kirmesplatz ins Gewühl gestürzt, tanzt ein silberner Kopf über die wogenden Jahrmarktbesucher. Scheinbar hat diese Penny Schuhe gewechselt. Sogar ihren stoppeligen Begleiter überragt sie jetzt plötzlich. Franka schiebt ihr Rad in Kurven hinter den zwei her. »Ey! Mark! He! Penny! Bleibt doch mal stehen!«

Die beiden tun, als hätten sie nichts gehört.

Franka muss näher ran. »Bleibt stehen! Wir müssen reden!«

Endlich drehen sie sich um. Der Junge sieht unfreundlich aus. »Kennen wir uns? Was willst du?«

Die Weißgefärbte guckt, als hätte sie Franka nie gesehen. Was ja auch stimmt. Franka erkennt ihren Fehler. Trotzdem schnellt ihre Rechte am Jungen vorbei. Sie zieht das T-Shirt der Fremden zur Seite. Kein Tattoo. Fehlanzeige. Null wilde Kerle.

»Bist du bescheuert?« Der Typ hebt die Hand.

Bevor Franka ein »Entschuldigung« nuscheln kann, hört sie hinter sich eine bekannte Stimme. »Hänne wech! Hänne wech von …!«

Franka taucht ab. Lothar Blaffert. Der Albtraum auf Beinen.

Was hat die Silberhaarige gesagt? Die Arbeit ruft, zurück zur Kirmes? Franka geht auf einen Losverkäufer zu und tippt ihm auf die Schulter. »Ich suche jemanden. Eine Frau. Silberne Haare. Wahrscheinlich eine Kollegin von Ihnen.«

»Silbern sagst du? Keine Ahnung. Deine Schwester?«

Franka schüttelt den Kopf und nickt. »Ja, genau. Meine Schwester.«

Sie zückt ihr letztes 2-Euro-Stück und kauft drei Lose. Der Glatzkopf wird freundlicher. »Probier’s am Autoscooter. Da is’ mehr los. Wenn wer wen kennt … he! Warum fragst du nicht da drüben? Diese Wahrsagerin. Gypsy Magic. Vielleicht weiß die was!«

Wer’s glaubt, wird selig, denkt Franka und ruft: »Ich überleg’s mir, danke für den Tipp!«

Das Blitzen unter den Stromabnehmern am Autoscooter erinnert sie an was. Das Kassenhäuschen wird von Leuten belagert. Sie stellt ihr Fahrrad ab und sich hinten an. Als sie an der Reihe ist, beugt sie sich zum Kassierer. »Tach. Kann ich Sie mal was fragen?«

»Bin ich Wikipedia? Zisch ab. Nächster!«

Franka beobachtet den Betrieb. Die Kirmes ist so gut besucht, dass die Fahr-Intervalle kürzer sind als sonst. Umpf, umpf, umpf dröhnen die Bässe. Jetzt gehen die Lichter aus. Die Leute steigen aus den Wagen. Andere springen auf die Eisenpiste, um in die freien Autos zu steigen. Einer macht auf supercool. Er hat einen Zauberschlüssel und springt hinter die Autos, um mitzufahren. Am liebsten greift er bei irgendwelchen Mädchen ins Steuer, die mit der Lenkerei nicht klarkommen. Diesen Penner muss Franka interviewen. Also springt sie in einen der Wagen. Statt einen Chip in den Schlitz zu schieben, wartet sie, bis es wieder losgeht. Dem Typ wird sie sagen, dass sie nicht wusste, wo man die Chips kauft. Den Vollidiot mimen. Da kann Mr Supercool seine Überlegenheit ausspielen. Aber kaum hat die Fahrt begonnen, hört Franka eine bekannte Stimme: »Erna! Erna Utschl!«

Erstaunlich zielstrebig steuert Blaffert auf Franka zu. Wie ein Schlafwandler torkelt er durch den blinkenden Scooter-Salat und lässt sich neben sie fallen, die Beine halb draußen. Er rudert mit der Hand durch die Luft, sucht den Schlitz und stopft den Chip rein. »Un lossgehtsss!«

Vierhändig manövrieren Franka und er durchs Chaos. Der Säufer sieht Scooter, wo gar keine sind. Jedes Mal wenn einer sie frontal erwischt, macht er »Hicks« und guckt, als würde er gleich kotzen.

Franka muss raus. Aber wie? Da kommt auch schon Mr Supercool und blafft: »Du und dein Alter – ihr seid breiter als Biberschwänze. Haut ab! Ihr habt hier Fahrverbot!« Er hebt die Hand.

»Hänne wech! Hänne wech von …«

Wieder taucht Franka ab, schleicht von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft, immer gewahr, der Riesling-Junky könnte wieder auf sie zurauschen. Dass sie Gregors Eltern in die Arme rennt, ist hier und jetzt nicht mehr wahrscheinlich. Sie fragt alle, die halbwegs nett aussehen, aber keiner weiß was von Penny oder ihrem grünäugigen Hübschling. Dann fängt es an zu regnen. Nicht wie am Nachmittag, reicht aber, um Frankas Laune zu unterspülen. Sie setzt sich in ein Bierzelt und fummelt die Lose aus der Tasche. Am Tisch nebenan eine Familie. Die Frau hat ein Lebkuchenherz um den Hals. Beste Mama der Welt. Der Sohn hält sich an einem Minion-Ballon fest. Der Vater bringt gerade eine Fanta.

Kein Gewinn – Kein Gewinn – 735 liest Franka auf den Zetteln. Der Junge, vielleicht zwei Jahre älter als Gregor, macht einen Mund wie die Merkel. »Ich will keine Fanta. Ich will Cola!«

Franka steht auf. Sie verdeckt ihr Gesicht, damit der Säufer sie nicht entdeckt. Am Lotterie-Stand zeigt sie dem Nietenheini ihr Los. Mit einer langen Zange angelt er einen blauen Bär vom Regal. »Heute ist dein Glückstag, Kleine. Oh … pardon, du bist ja ein Mädchen!«

Er stellt den blauen Teddy zurück und fischt nach einem pinkfarbenen Kollegen. »Übrigens – deine Silberhaar-Tussi, die jobbt im Zombie Land …«

Franka bedankt sich. Der Teddy ist hässlicher als ein Blobfisch, und der ist offiziell das ekligste Tier der Welt. Aber kaum ist Franka im Zelt, um ihn zu überreichen, freut sich der Kleine beinahe ein Loch in den Bauch. Fest drückt er den Plüschgau an sich. »Für mich?«

»Für deine Fanta.«

Der Junge nickt, schiebt das Getränk rüber. Den Strohhalm so, dass Franka direkt lossüffeln könnte, würde nicht die Mutter mit zwei Fingern das Röhrchen zudrücken. »Lass uns in Ruhe!« Sie zieht die Flasche weg, schleudert sich das Lebkuchenherz auf den Rücken und keift: »Abmarsch!«

Die drei stehen auf. Während die Mutter ihre Truppe aus dem Zelt drängt, entreißt sie dem Kleinen den Bär und schleudert ihn Franka vor die Füße. Die bückt sich danach. Draußen klemmt sie den Teddy auf den Gepäckträger.

Minuten später schlägt Franka beim Zombie Land auf. Inhaber Fam. Groszyk steht auf einem Schild. Irgendwo fegt ein Muskelberg die verlassenen Bahnen. Im Kassenhäuschen zählt ein Zwerg Münzen und Scheine. Franka klopft an die Scheibe. Der Typ dreht ein Schild um: Geschlossen. Franka klopft noch mal.

»Kannst du nicht lesen?«, krächzt der Giftzwerg aggressiv.

»Ich hätte nur gerne …«

»Rede ich Polnisch? Warte, ich komm mal raus …«

Groszyk senior meint das ernst. Tatsächlich verlässt er die Bude. Er ist fast einen Kopf kleiner als Franka, flucht und wedelt aber mutig mit den Fäusten, als wäre er der Hulk da hinten.

»Hänne wech! Hänne wech von … !«

Albtraum dritter Akt. Bevor Blaffert aussprechen kann, fliegt Franka an ihm vorbei, schwingt sich aufs Rad, flitzt durch die Budengassen, biegt rechtsrum, linksrum, geradeaus, als eine massige Frau um die Ecke kommt. In ihrem engen, blau-schwarzen Kunstseidenkleid wirkt sie wie ein Fass. CRASH. Franka knallt voll in sie rein und direkt in eine ölige Pfütze, in der sich die glühbirnenbunte Karussellwelt spiegelt. Franka hat keine Zeit, den Anblick zu genießen. Sie rappelt sich hoch, hebt das iPhone der Frau auf, das unter einen LKW gerutscht ist. Die Dicke hat die ganze Zeit darauf gestarrt und Franka nicht kommen sehen. Ohne ein Wort des Dankes grabscht sie es ihr aus der Hand. Dann rollt das Fass weiter, schimpfend in einer fremden Sprache.

Hinter ihr Licht: Ein kleines, gelb erleuchtetes Viereck im blau-schwarzen, sterneverzierten Wohnwagen. Die Tür offen. Drei Stufen zu einem Tisch. Auf dem steht, mitten im Viereck, als wäre alles ein Gemälde, eine herrenlose Flasche Wasser. Franka kann es kaum glauben. Was jetzt passiert, ist unausweichlich. Das Mädchen tritt in die Pedale, rast auf die Treppe zu, schmeißt das Rad in den Matsch, nimmt die Stufen mit einem Satz, hechtet zum Tisch, packt die Flasche, hebt sie beidhändig hoch, öffnet den Mund, den Flaschenhals zwischen die Lippen und –

»Das glaub ich jetzt nicht. Blitzi. Die trinkt mein Wasser …« Es ist Mark, der das sagt.

Und Penny: »Hau ihr halt eine!«

»Echt jetzt?«

»Wenn du’s nicht machst, mach ich’s!«

Penny hebt ihre Hand und holt aus. Bevor sie zuschlagen kann, rumpelt etwas herein, unförmig, ein polternder Schatten, der sich zu einem Jemand entfaltet.