HIRNSTIMULATION

NEURO-GADGETS Elektronische Hirntrainer für jedermann: Die Geräte sollen uns konzentrierter, entspannter und fröhlicher machen. Aber funktioniert das auch?

Hightech für Selbstoptimierer

VON CHRISTIAN WOLF

Auf einen Blick: Heimtraining für die grauen Zellen

1 Mit Neurofeedback und Gleichstromstimulation (tDCS) können Hirnforscher im Labor die Funktionen unseres Gehirns vielfältig beeinflussen, um sie zu studieren. Mitunter verbessern sich dabei einzelne Fähigkeiten.

2 Geräte für den Hausgebrauch versprechen solche Effekte für jedermann. Die Hersteller beteuern, es handle sich um Lifestyle-Produkte ohne medizinische Relevanz – und unterlaufen so das Medizinproduktegesetz.

3 Experten sind skeptisch: Beim Neurofeedback halten sie anhaltende Effekte nach Anwendung durch Laien für unwahrscheinlich; bei tDCS warnen sie vor Risiken und ungeklärten Langzeitfolgen.

Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit.« Ich wiederhole das Wort wieder und wieder in meinem Kopf. Gleichzeitig schaue ich auf den Computerbildschirm vor mir, meinen Aufmerksamkeitswert fest im Blick, der als Balken grafisch dargestellt ist. Bloß mit der Kraft meiner Gedanken versuche ich, ein darüber befindliches Fass heftiger zum Brennen zu bringen (siehe Bild). Je aufmerksamer ich bin, desto schneller brennt das Fass leer – das einzige Ziel dieses simplen Spiels.

Nein, ich bin nicht unter die Jedi-Meister gegangen. Ganz profan werden für das Spiel meine Hirnwellen ausgelesen. Ich sitze auch nicht im Labor eines Forschers mit zig Elektroden am Schädel, sondern bequem zu Hause. Ausgerüstet bin ich lediglich mit dem Gerät MindWave der US-amerikanischen Firma NeuroSky. Das 90 Gramm schwere Headset besteht aus einem Kopfbügel, einem Ohrclip und einem Sensorarm mit der EEG-Elektrode. Sie wird mittig auf der Stirn platziert. MindWave misst nach Angaben des Herstellers Hirnwellen unterschiedlicher Frequenzen, die mit verschiedenen Bewusstseinszuständen einhergehen.

In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Geräten auf den Markt gekommen, mit denen man vermeintlich ganz einfach zu Hause sein Gehirn auf Trab bringen kann – per Neurofeedback oder Hirnstimulation. Im umgangssprachlichen Englisch wird diese Art der Selbstoptimierung als »Neurohacking« bezeichnet. Darin klingt etwas Verbotenes, möglicherweise Riskantes an, als dringe man in Bereiche vor, die Unbefugten aus gutem Grund unzugänglich sind. Aber was ist dran an diesem Trend? Halten die Geräte, was ihre Hersteller versprechen? Und wie steht es tatsächlich um Risiken und Nebenwirkungen?

Das MindWave auf meinem Kopf beruht auf Neurofeedback. Das Prinzip: Der Nutzer erhält auf Basis seiner EEG-Wellen (siehe »Kurz erklärt«) eine grafische oder akustische Rückmeldung. Die soll ihm helfen, seine Hirnaktivität in eine gewünschte Richtung zu beeinflussen, etwa die Aufmerksamkeit zu steigern oder zu entspannen. Denn die Hirnwellen hängen vom aktuellen Bewusstseinszustand ab. Von Schlaf über Dösen und ruhige Entspanntheit bis hin zu geistiger Anspannung steigt die Frequenz. Thetawellen etwa liegen per Definition zwischen vier und acht Hertz und gehen mit tiefer Entspannung und Tagträumen einher. Die schnelleren Betawellen hingegen, die von 13 bis 30 Schwingungen pro Sekunde reichen, werden von Aufmerksamkeit und mentaler Wachheit begleitet.

Lernen durch Versuch und Irrtum

Wie genau ich meinen Aufmerksamkeitswert steigere und damit das Fass auf dem Bildschirm schneller brennen lasse, bleibt mir überlassen. Beim Neurofeedback lernt man per Versuch und Irrtum, probiert verschiedene Strategien aus und registriert über die Rückmeldung, was funktioniert. Für das gewünschte Verhalten, genauer gesagt die »richtigen« Hirnwellen, werde ich mit einem besseren Abschneiden belohnt.

Ich teste einige der Strategien, die mir der Hersteller empfiehlt: Konzentriere dich auf einen Gedanken oder fokussiere dich auf ein Objekt. Am bes ten funktioniert der Tipp, mir innerlich das Wort »Aufmerksamkeit« vorzusagen und den Blick fest auf meinen Aufmerksamkeitswert auf dem Bildschirm zu heften. Andere empfohlene Strategien schlagen fehl: Addiere ich etwa konzentriert Zahlen, steigt seltsamerweise plötzlich mein »Meditationswert«, der ebenfalls angezeigt wird. Und das, obwohl Meditation nach Angaben des Herstellers bedeutet, sich gerade nicht auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Was immer man von dieser Definition halten mag: Das Gerät leistet in diesem Fall eindeutig nicht, was es soll.

Mehr Alphawellen per Neurofeedback

Nach einigen Trainingseinheiten bringe ich mit meiner Strategie das Fass auf dem Bildschirm tatsächlich dazu, heftiger zu brennen. Ob das meine Aufmerksamkeit wirk lich verbessert, kann ich nicht beurteilen. Genau eine solche Verbesserung wird allerdings in Aussicht gestellt. Auf der Website des Vertriebspartners von NeurofeedbackSky in Europa heißt es, man könne gezielt seine Konzentrations-, Aufmerksamkeits- oder Entspannungsfähigkeit trainieren und schon nach wenigen Übungseinheiten die ersten mentalen Erfolge verbuchen. Dabei ist das Gerät, wie der Hersteller ausdrücklich betont, nicht zur medizinischen Verwendung gedacht, sondern rein zu Unterhaltungs- und Lifestyle-Zwecken.

Um etwa für meditative Entspannung zu sorgen und Ängste zu dämpfen, setzt das Neurofeedback-Training an den Alphawellen an. Das hat durchaus einen fachlichen Hintergrund: Meditierende zeigen diese EEG-Wellen vermehrt, was mit einer gesteigerten Entspannung einhergeht. Doch das bedeutet noch nicht zwangsläufig, dass Alphawellen ursächlich dafür sind oder für eine bessere Stimmung sorgen.

Darauf weist der Neurowissenschaftler Chris tian Jarrett in seinem Buch »Great Myths of the Brain« hin. Schließlich ließen sich Alphawellen am leichtesten steigern, indem man die Augen schließt. Sie könnten also auch mehr mit visueller Verarbeitung zu tun haben als mit Stimmung oder Entspannung, so Jarrett. Noch dazu gibt es Befunde, wonach Probanden trotz Stress im Labor hohe Anteile an Alphawellen im EEG zeigten. In anderen Untersuchungen wiederum half den Probanden ein zunächst absolviertes Alphawellen-Training nicht, in einer nervlich belastenden Situation ruhig zu bleiben.

In einer bis heute häufig zitierten Übersichtsarbeit von 2009 kamen Forscher um David Vernon von der Canterbury Christ Church University zu dem Schluss: »Die Behauptung, dass Alpha-Neurofeedback die Stimmung von gesunden Personen bessern kann, muss sich erst noch bewahrheiten.« Außerdem sei unklar, welche Trainingsmethode am wirksamsten sei oder wie lange, intensiv und oft dafür trainiert werden müsse.

Auch acht Jahre nach Vernons Appell ist die Forschungslage alles andere als eindeutig. So existiert zwar eine Reihe von Studien, die positive Effekte von Neurofeedback nahelegen – etwa eine Untersuchung von Magdeburger Forschern um Benedikt Zoefel, heute an der University of Cambridge, aus dem Jahr 2011. Ihre 14 Teilnehmer bekamen mit unterschiedlich farbig gestalteten Quadraten angezeigt, wie sich ihre Alphawellen veränderten, und hatten die Aufgabe, deren Anteil zu steigern. Nach einwöchigem täglichem Training schnitten immerhin elf Teilnehmer bei einer räumlichen Vorstellungsaufgabe besser ab als die Kontrollgruppe: Ähnlich wie bei dem Spiel Tetris sollten sie Würfel im Geist drehen, um festzustellen, ob sie zu einem Vergleichswürfel passten. Der Leis tungsfortschritt ging Hand in Hand mit einem erhöhten Anteil von Alphawellen.

In anderen Neurofeedback-Studien förderten vergleichbare Techniken Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder Kreativität. Ein Problem vieler dieser Untersuchungen ist jedoch, dass die Stichproben zu klein sind oder eine adäquate Kontrollgruppe fehlt. So ließen Zoefel und seine Kollegen ihre Kontrollpersonen nur zweimal statt täglich ins Labor kommen. Ein vergleichbares Training fehlte, so dass ein Placeboeffekt nicht auszuschließen ist: Schließlich könnte allein der Eindruck, an einem Hightech-Training im Labor teilzunehmen, die Leistungen verbessern.

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Das Neurofeedback-Gerät MindWave soll die Aufmerksamkeit trainieren. Dazu gilt es, die Flammen per Gedankenkraft möglichst heftig lodern zu lassen.

Wie sehr die Ergebnisse von der Qualität des Studiendesigns abhängen, zeigt sich bei klini schen Anwendungen. Am besten untersucht ist die Wirksamkeit von Neurofeedback bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Über Jahre hinweg gab es immer wieder viel versprechende Studienergebnisse, wenn Betroffene beispielsweise versuchten, ihre konzentrationsfreundlichen Betawellen zu steigern und die mit Unaufmerksamkeit und Tagträumen einhergehenden Thetawellen zu vermindern. Die Sichtung der entsprechenden Forschungsarbeiten hinterlässt allerdings einen zwiespältigen Eindruck, wie Daniel Waschbusch und James Waxmonsky von der Penn State University berichten: Eine heilsame Wirkung zeigte sich demnach vor allem bei methodisch laxem Vorgehen – solidere Studien erzielten kleinere oder gar keine Effekte.

Am Verhältnis von Beta- zu Thetawellen setzte 2011 auch eine Untersuchung mit gesunden Probanden an. Den Versuchspersonen der Psychologen Michael Doppelmayr von der Universität Mainz und Emily Weber von der Universität Salzburg gelang es im Lauf von 30 Trainingssitzungen weder die Theta- und Betawellenanteile im EEG noch die Aufmerksamkeit signifikant zu verbessern. Nimmt man dieses Resultat und die ADHS-Studien zusammen, lautet eine mögliche Schlussfolgerung: Es kommt auf den Einzelnen an, ob Neurofeedback etwas bewirkt – und das ist am ehesten der Fall, wenn die Leistung zu Beginn unterdurchschnittlich war.

Die frei verkäuflichen Lifestyle-Geräte beurteilt Doppelmayr skeptisch: »Zum einen sollte die technische Manipulation von Hirnaktivität Fachleuten vorbehalten bleiben. Zum anderen ist oft fragwürdig, was diese Geräte überhaupt genau machen.« Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit von Neurofeedback sei etwa, die Elektroden exakt an bestimmten Punkten anzubringen sowie je nach gewünschtem Effekt die Frequenzbänder genau einzustellen. »Ich wage zu bezweifeln, dass dies immer geschieht.«

Was das getestete MindWave anbelangt, macht es das Gerät zwar einfach, die Elektrode genau in der Mitte der Stirn zu platzieren. Für diesen Punkt scheint es zuverlässige EEG-Daten zu liefern – zumindest haben auch Forscher das Headset schon für bestimmte Versuche genutzt. Trotzdem: Angesichts des Aufwands, der bei professionellem Neurofeedback getrieben wird, wirkt das MindWave mit seinem einen, immer gleichen Messpunkt wenig seriös.

Eine zweite Technik, die ebenfalls zum Sprung in den Do-it-yourself-Markt ansetzt, ist die so genannte transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS, siehe »Kurz erklärt«). Ein dafür geeignetes Gerät kann man sich leicht selbst basteln. Man braucht nur eine 9-Volt-Batterie, ein paar elektronische Bauteile und eine Anleitung, die man im Internet findet. Wer nicht selbst zum Lötkolben greifen möchte, kann vorgefertigte tDCS-Headsets kaufen, vom in der heimischen Garage gefertigten »Brain Stimulator« bis hin zum stylischen »foc.us«.

Erfahrungsberichte zu selbst gebauten oder kommerziellen tDCS-Geräten findet man etwa auf Youtube oder Reddit. Die Nutzer schildern dort unter anderem, dass sich ihre Leistung bei Computerspielen verbessert (oder mitunter verschlechtert) habe. Ob das ursächlich mit der Stimulation zusammenhängt, bleibt allerdings unklar. Auch von Nebenwirkungen wie Hautreizungen, Schwindel oder Schlafproblemen ist zu lesen, in Einzelfällen von erstaunlich klingender Heilwirkung bei psychischen Erkrankungen. Ein Nutzer schreibt etwa, er leide an einer bipolaren Störung; die transkranielle Gleichstromstimulation erhöhe seine Konzentration, verringere seine Ängstlichkeit und dämpfe seine Stimmungsschwankungen. Andere wollen dank tDCS sogar Depressionen überwunden haben.

KURZ ERKLÄRT

EEG

Ein EEG oder Elektroenzephalogramm zeichnet mittels Elektroden auf der Kopfhaut einen elektrischen Spannungsverlauf auf. Das synchronisierte Feuern größerer Nervenzellverbände in der Großhirnrinde sorgt für schnelle Potenzialschwankungen. Deren wichtigste Typen sind – geordnet nach steigender Frequenz – Delta-, Theta-, Alpha- und Betawellen.

tDCS

Bei der transkraniellen Gleichstromstimulation (englisch: transcranial direct current stimulation, tDCS) leiten Elektroden auf der Kopfhaut einen schwachen Strom durchs Gehirn. Dieser beeinflusst das Ruhemembranpotenzial der Neurone in der stimulierten Region und damit ihre Aktivität.

Umstrittene Neuro-Gadgets

Sie muten futuristisch und schick an, ihr Nutzen ist jedoch zweifelhaft: Headsets wie diese versprechen eine Hightech-Alternative zu herkömmlichen Entspannungs- und Hirnjoggingübungen. Am weitesten verbreitet sind Neurofeedback-Trainer (1, 2, 4) sowie Geräte zur transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS; 3, 5). Selbst gebas teltes Lowcost-Equipment für die technisch weniger anspruchsvolle Gleichstrom-stimulation ist auch auf Youtube sowie in diversen Blogs zu besichtigen.

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image Epoc+ (Hersteller: Emotiv, ab 799 Dollar) Semiprofessionelles 14-Kanal-EEG-Headset mit zusätzlichen Sensoren für Kopfbewegungen. Für Neurofeedback-Anwendungen ist Zusatzsoftware erforderlich.

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image MindWave (NeuroSky, gut 100 Euro) Ein-Kanal-EEG-Headset für Neurofeedback-Training; zahlreiche, teils kostenpflichtige Apps.

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image Muse (InteraXon, gut 300 Euro) EEG-Stirnband mit sieben Elektroden und passender App; soll beim Meditieren helfen.

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image foc.us (Transcranial, ab etwa 300 Dollar) Erstes kommerzielles tDCS-Heimanwender-gerät (inzwischen nicht mehr erhältlich).

Demgegenüber betonen Hersteller von tDCS-Geräten für den Hausgebrauch genau wie beim Neurofeedback, dass es sich nicht um medizinische Apparate handle – schließlich würden sie sonst unter die Zulassungspflicht für Medizinprodukte fallen. Nichtsdestoweniger findet man markige Werbebotschaften. Auf der Website von foc.us hieß es etwa bis Herbst 2014: »Übertakte dein Gehirn mit transkranieller Gleichstromstimulation, um seine Plastizität zu erhöhen. Lass deine Synapsen schneller feuern.«

»Stimulierte Neurone feuern nicht stärker«, erklärt dazu der Neurophysiologe Michael Nitsche vom Göttinger Universitätsklinikum. Man beeinflusse aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aktionspotenzial ausgelöst werde. »Durch längere Stimulation von einigen Minuten kann man auch die kortikale Erregbarkeit erhöhen – ein Effekt, der für eine Stunde oder länger anhalten kann.« Man könne also durchaus plastische Veränderungen fördern, da diese mit erhöhter neuronaler Erregbarkeit einhergehen.

Doch tDCS kann auch Nachteile mit sich bringen, wie Teresa Iuculano und Roi Cohen Kadosh an der University of Oxford 2013 beobachteten. Sie stimulierten bei einigen ihrer Probanden den Scheitellappen, der für einige mathematische Leistungen wichtig ist. Tatsächlich lernten diese Versuchsteilnehmer im Vergleich zu einer Kontrollgruppe schneller ein neues Zahlensystem, das Fantasiesymbole statt Ziffern nutzt. Allerdings verschlechterte sich parallel die Konsolidierung im impliziten Gedächtnis; präsentierte man den Probanden die gelernten Zeichen, riefen sie deren Bedeutung offenbar nur in geringerem Maß »automatisch« ab. Bei einer weiteren Gruppe setzten die Forscher für das Gedächtnis wichtige Areale des Stirnlappens unter Strom – und hier zeigte sich das gegenteilige Bild: Die Versuchsteilnehmer lernten die neue Notation langsamer, konnten sie aber besser automatisiert anwenden. Ein normal funk tionierendes Gehirn insgesamt zu optimieren, hat also auch hier nicht geklappt. Inzwischen hat Kadosh die Gleichstromstimulation in einer Pilotstudie an Schülern mit Mathelernschwierigkeiten getestet (siehe »Stromleitung ins Schülerhirn«).

In manchen Studien sind noch Monate nach der Anwendung kognitive Effekte nachweisbar, obwohl die Stimulation nur zeitlich begrenzt eingesetzt wurde. Kritiker warnen vor möglichen lang anhaltenden neurobiologischen Veränderungen, die bei Dauergebrauch auftreten könnten: In Experimenten stimulieren wir nur über eine relativ kurze Zeitspanne von einigen Minuten und mit geringer Frequenz, sagt Michael Nitsche. Wird die Hirnstimulation als Lifestyle-Option vermarktet, könnte es vorkommen, dass die Nutzer sich über einen längeren Zeitraum jeden Tag ein, zwei Stunden behandeln. »Niemand weiß, was in solchen Fällen die Langzeitfolgen sind.«

Es führt in die Irre, die transkranielle Stimulation als nichtinvasiv und damit vermeintlich harmlos einzuordnen. Auch wenn die Elektroden nicht ins Gehirn eindringen, argumentieren etwa die Neuroethiker Nicholas Fitz und Peter Reiner von der University of British Columbia – der elektrische Strom tut es natürlich. Sonst könnte er schließlich keine Wirkung zeigen.

Das alles sind Gründe, warum ich bei der Hirnstimulation vor einem Selbstversuch zurückschreckte. Denn ganz ehrlich – dafür ist mir mein Gehirn zu wertvoll. Und diejenigen, die diese Argumente nicht überzeugen, sollten sich zumindest noch eines durch den Kopf gehen lassen, bevor sie den Strom anschalten: Laut einer Umfrage im Jahr 2014 hat die große Mehrheit aller Hirnstimulationsforscher tDCS und Co noch nie an sich selbst ausprobiert.

QUELLEN

Fitz, N. S, Reiner, P. B.: The Challenge of Crafting Policy for Do-It-Yourself Brain Stimulation. In: Journal of Medical Ethics 41, S. 410–412, 2015

Iuculano, T., Kadosh, R. C.: The Mental Cost of Cognitive Enhancement. In: Journal of Neuroscience 33, S. 4482–4486, 2013

Vernon, D. et al.: Alpha Neurofeedback Training for Performance Enhancement: Reviewing the Methodology. In: Journal of Neurotherapy 13, S. 214–227, 2009

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1351389

WEBTIPP

Artikelsammlung zum Thema: www.spektrum.de/t/neuro-enhancement

Forum für Fragen und Erfahrungsaustausch rund um tDCS (englischsprachig): www.reddit.com/r/tdcs

UNSER AUTOR

Christian Wolf ist promovierter Philosoph und arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Berlin. Sein Gehirn bringt er trotz Hightech-Angeboten lieber mit herkömmlichen Methoden auf Trab: durch geistig anregende Tätigkeiten.

HIRNSTIMULATION

PILOTSTUDIE Forscher setzen bei Kindern das Gehirn unter Strom, um deren Mathefähigkeiten zu pushen.

Ein Versuch, der Schule machen könnte.

Stromleitung ins Schülerhirn

VON LINDA GEDDES

Jack* quälte sich in der Regelschule. Lesen und Rechnen bereiten ihm Schwierigkeiten. Er leidet an Dyslexie und ihrem mathematischen Äquivalent, der Dyskalkulie. Im Unterricht benahm er sich oft daneben, spielte den Klassenclown. Deshalb waren Jacks Eltern erleichtert, als man dem Jungen einen Platz an der Fairley House School in London anbot. Sie ist darauf spezialisiert, Kindern mit Lernschwierigkeiten zu helfen. Und es ist womöglich die erste Schule der Welt, die ihren Schülern die Chance gab, sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung einer elektrischen Hirnstimulation zu unterziehen.

Der Leiter der 2013 durchgeführten Pilotstudie war der Neurowissenschaftler Roi Cohen Kadosh von der University of Oxford. Er ist einer von einer Hand voll Wissenschaftlern auf der Welt, die untersuchen, ob sich bei Kindern gefahrlos kleine, spezifische Hirnbereiche elektrisch anregen lassen, um Lernschwierigkeiten zu überwinden. Die Hirnstimulation zur Behandlung von psychischen Erkrankungen, von Lernstörungen oder schlicht um das Denkvermögen zu verbessern sorgte bereits in den vergangenen Jahren für Aufregung. Die elektrischen Ströme sollen neuronale Schaltkreise aktivieren und es Nervenzellen erleichtern zu feuern. Zwar steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen, aber mindestens 10 000 erwachsene Menschen haben sich ihr Hirn bereits stimulieren lassen. Das Verfahren scheint sicher zu sein, zumindest auf kurze Sicht. Eine Variante der Technik, die transkranielle Magnetstimulation (TMS), ist von der US-amerikanischen Food and Drug Administration sogar als Therapie bei Migräne und Depressionen zugelassen.

Inzwischen steigt das Interesse an der Frage, ob Kinder von solchen Verfahren vielleicht sogar noch viel stärker als Erwachsene profitieren könnten – etwa durch Einsatz der kostengünstigeren und besser transportablen Verwandte der TMS, die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS; transcranial direct-current stimulation, siehe »Kurz erklärt«). Laut Forschern können die elektrischen Ströme bei Kindern tiefer eindringen, weil ihre Schädeldecke dünner ist als die von Erwachsenen. Außerdem wirke sie auf Gehirne, die sich noch im Wachstum befinden, womöglich stärker. Was die Technik bei Kindesalter besonders viel versprechend macht, weckt andererseits Bedenken. »Das ist wie beim Hausbau«, sagt Cohen Kadosh. »Hat man den Eindruck, etwas läuft schief, ist es einfacher, die Dinge gleich am Anfang zu richten. Aber es passiert auch leichter, dass man etwas kaputt macht. Und wir wissen nicht, wie sich die elektrische Stimulation auf das sich entwickelnde Gehirn auswirkt.«

Furcht vor Missbrauch

Cohen Kadosh fürchtet auch einen Missbrauch der Technik. Geräte, die zur medizinischen Behandlung gedacht sind, müssen gewisse Sicherheitsstandards erfüllen. Doch es gibt bisher weder in Europa noch in den USA Gesetze, welche die Nutzung von tDCS bei Menschen reglementieren, die damit einfach nur dem Denkvermögen auf die Sprünge helfen wollen (siehe Artikel). Firmen vertreiben ihre tDCS-Headsets inzwischen sogar im Internet. Das könnte Eltern dazu verführen, mit solchen Neuro-Gadgets auf eigene Faust zu versuchen, die kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder zu pushen.

Nachdem Cohen Kadosh Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen hatte, entschloss er sich dennoch dazu, mit seiner Idee an die Fairley House School heranzutreten. Er bemühte sich um die ethische Zulassung für das Experiment und bekam sie. »Wir waren sehr besorgt wegen der Hirnstimulation, denn in unserer Schule wussten wir nichts darüber«, erzählt Jenny Lim, die dort als Ergotherapeutin mit den Kindern arbeitet: »Aber man hat uns bezüglich der ethischen Vertretbarkeit und der Sicherheit beruhigt.«

Bereits 2013 hatte Cohen Kodosh gezeigt, dass eine Variante der tDCS namens transkranieller Rauschstromstimulation (tRNS; transcranial random-noise stimulation) die Rechenfähigkeit von Erwachsenen verbessert. In der Schulstudie absolvierten nun zwölf achtbis zehnjährige Kinder mit Mathelernschwierigkeiten, darunter auch Jack, neun 20-minütige Trainingseinheiten. Bei der einen Hälfte der Schüler wurde mittels tRNS eine Region im Gehirn stimuliert, die für Planung und abstraktes Denken zuständig ist; die andere Hälfte trug zwar auch eine tRNS-Kappe, erhielt jedoch keine Stimulation. In dem Videospiel sollten die Kinder ein mathematisches Ergebnis abschätzen, indem sie auf einem Bildschirm einen Ball entsprechend auf einem Zahlenstrahl positionierten. Die Schwierigkeit der Aufgaben stieg dabei langsam an.

Die Schüler, deren Gehirn tatsächlich stimuliert worden war, machten größere Lernfortschritte – sie erreichten im Schnitt Level 17 des Spiels, während die Kontrollgruppe nur bis Level 14 kam. Zudem zeigten sie Verbesserungen in Mathetests. Cohen Kadosh präsentierte die Ergebnisse seiner Untersuchung auf einem Meeting der British Association for Psychopharmacology im Juli 2015. Und er will weiterforschen.

Der Neurowissenschaftler Vincent Walsh vom University College London findet Studien zur Hirnstimulation bei Kindern verfrüht. Bereits die Ergebnisse bei jungen Erwachsenen und älteren Menschen sind uneinheitlich und müssten erst einmal repliziert werden. »Die wissenschaftliche Basis ist einfach nicht solide genug, um derart schlechte Arbeit auch noch auf Kinder auszuweiten.«

Im Gegensatz zu Walsh findet der Psychologe Nick Davis von der Manchester Metropolitan University in Großbritannien solche Experimente gerechtfertigt. Er macht sich mehr Sorgen über den Trend, die Verfahren auch außerhalb gut kontrollierter Untersuchungen einzusetzen. Im Rahmen von klinischen Studien haben laut seiner Schätzung bereits mindestens 1000 Kinder weltweit irgendeine Form von Hirnstimulation erhalten. Er ermahnt alle Wissenschaftler dazu, jegliche Versuchsergebnisse zur Hirnstimulation bei Kindern oder Jugendlichen zu veröffentlichen: »Damit andere Forscher aus schiefgegangenen Experimenten lernen und ihr eigenes Vorgehen im Zweifelsfall anpassen können.«

© Nature Publishing Group

www.nature.com

Nature 525, S. 436–437, 23. September 2015

QUELLEN

Sarkar, A., Cohen Kadosh, R.: Transcranial Electrical Stimulation and Numerical Cognition. In: Canadian Journal of Experimental Psychology 70, S. 41–58, 2016

Snowball, A. et al.: Long-Term Enhancement of Brain Function and Cognition Using Cognitive Training and Brain Stimulation. In: Current Biology 23, S. 987–992, 2013

UNSERE AUTORIN

Linda Geddes studierte Zellbiologie an der Liverpool University und schreibt als Journalistin vor allem über medizinische, biologische und technische Themen. Sie lebt in Bristol.

* Name von der Redaktion geändert

GUTE FRAGE

Macht Kreatin nicht nur stark, sondern auch schlau?

Haben auch Sie eine Frage an unsere Experten?

Dann schreiben Sie mit dem Betreff »Gute Frage« an:

gehirn-und-geist@spektrum.de

Mit einer Pille gleichzeitig an Muskelmasse und Grips zulegen? Das versprechen sich manche vom Nahrungsergänzungsmittel Kreatin. Beliebt ist die Substanz bisher vor allem bei Bodybuildern. Doch Studien legen tatsächlich nahe, dass sie neben dem Muskelaufbau auch die geistige Leistungsfähigkeit fördert.

Kreatin ist eine organische Säure, die wichtig für den Energiehaushalt der Zellen ist. Sie dient als eine Art natürliches Vorratslager, in dem energiereiche Phosphatverbindungen gespeichert werden. Ein Kreatinschub könnte unserem Gehirn also bei Bedarf rasch mehr Energie zur Verfügung stellen. Ob das zu einer besseren Gedächtnisleistung führt, steht allerdings auf ei nem ganz anderen Blatt.

Um diese Hypothese zu testen, teilten Caroline Rae und ihre Kollegen 45 Studenten an der University of Sydney per Zufall in zwei Gruppen ein und gaben ihnen sechs Wochen lang fünf Gramm Kreatin pro Tag oder ein Placebo. Zu Beginn mussten die Teilnehmer zwei Intelligenztests absolvieren. Die Tests wurden im Verlauf der Studie dreimal wiederholt, um zu kontrollieren, ob sich die Ergebnisse bei Kreatingabe verbesserten.

Der verwendete »Ravens Matrizentest« misst, wie klar und strukturiert Menschen denken und wie gut sie Gelerntes reproduzieren können; beim »Auditory Backward Digit Span«-Verfahren muss man sich dagegen eine Zahlenfolge merken und sie rückwärts wiedergeben. So lässt sich die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses messen. Probanden, die Kreatin erhalten hatten, schnitten in beiden Tests besser ab als die Kontrollgruppe. Die Teilnehmer waren jedoch ausschließlich Vegetarier, was die Aussagekraft der Befunde einschränkt. Menschen, die sich fleischlos ernähren, haben nämlich meist einen niedrigeren Kreatinspiegel im Blut und reagieren deshalb womöglich stärker auf eine vermehrte Zufuhr des Stoffs.

Eine weitere Studie belegt aber auch einen positiven Effekt von Kreatin auf das Gehirn von Nichtvegetariern. Forscher um Airi Watanabe gaben ihren Studienteilnehmern fünf Tage lang acht Gramm Kreatin und ließen sie einfache Rechenaufgaben lösen. Auch hier verglich man die Ergebnisse mit denen einer Kontrollgruppe. Wer Kreatin zu sich genommen hatte, knobelte im Schnitt ausdauernder und erfolgreicher an den Matheaufgaben als die Placebo-Kandidaten. Die Forscher schließen daraus, dass Kreatin offenbar der mentalen Ermüdung vorbeugt.