Krähenjagd

Krähenjagd

Die Anderen

Anne Bishop

Für Pat

Inhalt

Geografie

Eine kurze Geschichte der Welt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danke an:

Geografie

Namid – Die Welt


Kontinente/ Landmassen (bisher)

Afrikah

Cel-Romano/Cel Romano Allianz der Nationen

Felidae

Fingerbone Inseln

Sturm Inseln

Thaisia

Tokhar-Chin

Brittania /Wild Brittania


Die Großen Seen

Superior, Tala, Honon, Etu und Tahki


Andere Seen

Feather Lake, Finger Lake


Flüsse

Talulah / Talulah Wasserfälle


Städte oder Orte

Hubb NE (aka Hubbney), Jerzy, Lakeside, Podunk, Sparkletown, Talulah Falls, Toland


Wochentage

Erdtag

Mondtag

Sonnentag

Windtag

Thaistag

Feuertag

Wassertag

Eine kurze Geschichte der Welt

Vor langer Zeit gebar Namid Lebensformen aller Art, darunter auch die Lebewesen, die man Menschen nennt. Sie gab den Menschen fruchtbare Teile ihrer selbst, und sie gab ihnen gutes Wasser. Und da sie die Natur der Menschen und auch die ihrer anderen Kinder verstand, sorgte sie außerdem für ausreichende Abschirmung, um ihnen die Chance zu geben, zu überleben und zu wachsen.

Und das taten sie.

Sie lernten Feuer zu machen und Hütten zu bauen. Sie lernten das Land zu bestellen und Städte zu errichten. Sie bauten Boote und fischten im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Sie vermehrten sich und verbreiteten sich bis in die letzten Winkel ihrer Welt, bis sie in die wilden Gebiete vordrangen. Und dort entdeckten sie, dass die anderen Kinder Namids bereits die restliche Welt ihr Eigen nannten.

Die Anderen sahen die Menschen nicht als Eroberer. Sie sahen in ihnen eine neue Art von Beute.

Kriege wurden um den Besitz der Wildnis ausgetragen. Manchmal obsiegten die Menschen und ihre Nachkommenschaft verbreitete sich ein wenig weiter. Doch noch öfter verschwanden Teile der Zivilisation und die angsterfüllten Überlebenden versuchten, nicht jedes Mal zu erzittern, wenn in der Nacht ein Geheul aufstieg oder wenn ein Mann sich zu weit von der Sicherheit der stabilen Türen und des Lichts entfernte und man ihn am nächsten Morgen ohne Blut in den Adern wiederfand.

Jahrhunderte vergingen und die Menschen bauten größere Schiffe und segelten über den Atlantischen Ozean. Als sie dort unberührtes Land vorfanden, gründeten sie eine Siedlung am Meeresufer. Dann entdeckten sie, dass auch die Terra Indigene, die Eingeborenen der Erde, dieses Land ihr Eigen nannten. Die Anderen.

Die Terra Indigene, die diesen Kontinent beherrschten, den sie Thaisia nannten, wurden zornig, als die Menschen Bäume fällten und den Boden, der nicht ihnen gehörte, mit dem Pflug bearbeiteten. Daher aßen die Anderen die Siedler und machten sich mit der Form dieser neuen Beute vertraut, wie sie es so viele Male in der Vergangenheit getan hatten.

Die zweite Welle von Entdeckern und Siedlern kam an, fand die verlassene Siedlung und versuchte noch einmal, das Land für sich zu beanspruchen.

Die Anderen aßen auch sie.

Der Anführer der dritten Siedlerwelle jedoch war etwas schlauer als seine Vorgänger. Er bot den Anderen warme Decken und Stoffe für Kleidung sowie interessante glänzende Dinge im Austausch für die Erlaubnis, in der Siedlung leben zu dürfen, und für genug Ackerland zum Bestellen. Die Anderen betrachteten das als fairen Handel und zogen sich aus dem Gebiet zurück, das von nun an die Menschen bewohnen durften. Weitere Gaben wurden für Jagd- und Fischprivilegien ausgetauscht. Diese Vereinbarung stellte beide Seiten zufrieden, obgleich die eine Seite ihre neuen Nachbarn mit eher zähnefletschender Duldsamkeit betrachtete und die andere Seite furchtsam die Zähne zusammenbiss und dafür sorgte, dass die Ihren vor Einbruch der Nacht stets sicher hinter den Mauern der Siedlung geborgen waren.

Jahre vergingen und immer mehr Siedler trafen ein. Viele starben, doch genug Menschen gediehen und kamen zu Wohlstand. Aus Siedlungen wurden Dörfer, die zu Ortschaften und dann zu Städten wurden. Nach und nach verbreiteten sich die Menschen auf Thaisia so gut es ging über das Land, das sie betreten durften.

Jahrhunderte zogen ins Land. Die Menschen waren klug. Die Anderen auch. Die Menschen erfanden Elektrizität und sanitäre Anlagen. Die Anderen beherrschten die Flüsse, welche die Kraftwerke der Menschen antrieben, und die Seen, die frisches Trinkwasser lieferten. Die Menschen erfanden Dampfmaschinen und Zentralheizung. Die Anderen hatten die Kontrolle über den Brennstoff, der zum Betreiben der Maschinen und zum Beheizen der Gebäude nötig war. Die Menschen erfanden und produzierten Waren. Die Anderen kontrollierten die Naturreserven und entschieden dadurch, was in ihrem Teil der Welt hergestellt wurde und was nicht.

Natürlich gab es Zusammenstöße, und manche Orte wurden zu düsteren Mahnmalen für die Toten. Diese Mahnmale machten den Menschen schließlich klar, dass es die Terra Indigene waren, die Thaisia beherrschten, und dass dies bis zum Ende der Welt wohl auch so bleiben würde.

So sind wir nun in der heutigen Zeit angelangt. Kleine menschliche Dörfer stehen inmitten riesiger Landstriche, die den Anderen gehören. Und in größeren menschlichen Städten gibt es eingezäunte Parks, die sogenannten »Höfe«, in denen Andere leben, deren Aufgabe es ist, die Einwohner der Stadt im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass die Abkommen, die zwischen Menschen und Terra Indigene getroffen wurden, auch eingehalten werden.

Da ist immer noch dieselbe zähnefletschende Toleranz auf der einen Seite und die Angst vor dem, was im Dunkeln umgeht, auf der anderen. Doch sofern die Menschen vorsichtig sind, werden sie überleben.

Meistens überleben sie.

Kapitel Eins

Durch die ruhelosen Bewegungen seines Schlafgenossen geweckt, gähnte Simon Wolfgard, rollte sich auf seinen Bauch und beobachtete Meg Corbyn. Sie hatte den Großteil der Decke von sich geworfen, was nicht gut war, da sie kein Fell besaß und sich so eine Erkältung einfangen könnte. Für einen Wolf der Terra Indigene bedeutete einfangen, dass man etwas haben wollte, und ihm fiel kein einziger Grund dafür ein, warum ein Mensch eine Erkältung haben wollte, doch offensichtlich wollten die Menschen sie und konnten sich bei kaltem Wetter erkälten. Und sogar in den letzten Tagen des Febros war es in der nordöstlichen Region von Thaisia noch reichlich kalt gewesen. Andererseits, wenn sie langsam zu frösteln begann, würde sie sich näher an ihn herankuscheln, was vernünftig war, da er ein hervorragendes Winterfell besaß und als Wolf die Nähe liebte.

Hätte man ihm vor wenigen Wochen noch gesagt, dass er sich mit einem menschlichen Weibchen anfreunden und sich so sehr um sie sorgen würde, dass er sie nachts behüten würde, dann hätte er sich den Schwanz abgelacht. Doch hier war er nun, in Megs Wohnung im Grünen Komplex, während sein Neffe Sam mit seinem Vater Elliot im Wolfgard-Komplex blieb. Vor dem Angriff auf den Lakeside-Courtyard, der Anfang des Monats stattgefunden hatte, hatten Sam und er sich immer gemeinsam an Meg gekuschelt, um ein Nickerchen zu machen oder sogar die komplette Nacht durchzuschlafen. Doch es war viel passiert in der Nacht, in der Fremde gekommen waren, um Meg und Sam zu entführen. Zum einen wäre Meg fast dabei gestorben, als sie Sam vor den Männern rettete. Zum anderen war auf dem Weg ins Krankenhaus etwas mit ihm geschehen, was ihn extremen Zorn hatte spüren lassen. Er hatte eine vage Vermutung, was passiert sein konnte, weshalb Sam, der noch ein Welpe war und keine Selbstbeherrschung besaß, nicht mehr bei ihm schlafen durfte, wann immer er sich neben Meg zusammenrollte

Meg sagte den Menschen immer, sie wäre einhundertundsechzig Zentimeter groß, da sie fand, dass sie dadurch größer klang, als wenn sie von einem Meter soundsoviel sprechen würde. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, hatte seltsames orangefarbenes Haar, das langsam in seinem natürlichen Schwarz nachwuchs, klare graue Augen wie einige der Wölfe und schöne Haut. Seltsame und zerbrechliche Haut, die viel zu leicht vernarbte

Sie war eine Cassandra Sangue, eine Blutprophetin – eine Frau, die Visionen sah und Prophezeiungen sprach, wann immer ihr in die Haut geschnitten wurde. Ob es sich um einen geplanten Schnitt mit ihrem speziellen Rasiermesser oder um eine klaffende Wunde durch einen spitzen Felsen handelte, war dabei gleich – sie sah, was in der Zukunft geschehen könnte.

Die Sanguinati nannten Frauen wie Meg auch süßes Blut, da sie sich selbst als Erwachsene die Süße des kindlichen Herzens bewahrten. Und es war genau diese Süße in Kombination mit ihrem Blut voller Visionen, die sie nicht als Beute kennzeichneten. Es machte sie zu einer Schöpfung Namids, wunderbar und schrecklich zugleich. Vielleicht machte es sie sogar zu etwas noch viel Schrecklicherem, als die Terra Indigene jemals gedacht hätten.

Doch er würde mit all dem Schrecklichen fertigwerden, wenn es nötig war. Denn im Augenblick war Meg für ihn bloß Meg, die menschliche Verbindungsperson des Courtyards und seine Freundin.

Sie begann, Geräusche von sich zu geben und mit ihren Beinen zu strampeln, als würde sie vor etwas davonlaufen

<Meg?> Sie konnte die Sprache der Terra Indigene zwar nicht verstehen, dennoch versuche er es, da er nicht glaubte, dass es ein guter Jagdtraum war. Vor allem, da er den Geruch nach Furcht bei ihr wahrnahm. <Meg?>

Um sie zu wecken, presste er seine Nase unter ihr Ohr


Im Traum hörte Meg das Monster näher und näher kommen. Ein vertrautes Geräusch, das durch das Wissen um die Zerstörung, die es hinterlassen würde, entsetzlich klang. Sie versuchte eine Warnung auszustoßen, versuchte um Hilfe zu schreien, versuchte vor den grausamen Bildern zu fliehen, die ihren Verstand füllten.

Als etwas sie unter ihrem Ohr berührte, schlug sie wild um sich, schrie und trat so hart sie nur konnte. Ihr Fuß stieß gegen etwas. Erschrocken trat sie erneut zu.

Auf den Tritt folgte ein lautes Winseln und ein dumpfes Geräusch, das sie hochschrecken und das Licht anmachen ließ.

Sie atmete schwer und spürte, wie ihr Pulsschlag in ihren Ohren hämmerte. Zuerst bemerkte sie, dass der Nachttisch noch immer so aussah, wie sie ihn von vor dem Einschlafen in Erinnerung hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass der kleine Wecker neben der Lampe nun drei Uhr anzeigte. Durch das Altbekannte beruhigt, sah sie sich um

Sie befand sich nicht in der sterilen Zelle einer Anlage, die von einem Mann geführt wurde, der ihr zwecks seines eigenen Profits in die Haut schnitt. Sie war in ihrem eigenen Schlafzimmer, in ihrer eigenen Wohnung auf dem Lakeside-Courtyard. Und sie war allein

Doch sie war nicht allein gewesen, als sie vor wenigen Stunden das Licht ausgeschaltet hatte. Als sie schlafen gegangen war, hatte es sich ein großer, pelziger Wolf neben ihr bequem gemacht

Sie packte so viele Decken wie es ihr möglich war und zog diese bis zu ihrem Kinn hoch, ehe sie leise flüsterte: »Simon

Ein Grunzen ertönte, das vom Boden auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu kommen schien. Dann schob sich ein menschlicher Kopf in ihr Sichtfeld und Simon Wolfgard starrte sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen an, in denen rote Funken aufflackerten – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ihn verärgert hatte

»Bist du jetzt wach, ja?«, knurrte er.

»Ja«, erwiderte sie kleinlaut.

»Gut.«

Sie erhaschte einen Blick auf seine schlanken Muskeln und nackte Haut, bevor er zu ihr unter die Decke kletterte. Sie wandte sich mit klopfendem Herzen von ihm ab und verspürte dabei eine andersartige Angst

Er befand sich nie in seiner menschlichen Gestalt, wenn er neben ihr schlief. Was hatte es also zu bedeuten, dass er nun menschlich war? Wollte er … Sex? Sie war nicht … Sie hat nicht … Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie mit … Aber was, wenn er erwartete …? 

»S-Simon?« Ein Zittern lag in ihrer Stimme.

»Meg?« Ein Knurren schwang in seiner Stimme mit.

»Du bist kein Wolf

»Ich bin immer ein Wolf

»Aber du bist kein pelziger Wolf.« 

»Nein, bin ich nicht. Und du nimmst die Decken in Beschlag.« Er griff nach den Decken, die sie noch immer fest umklammert hielt, und zerrte daran

Sie purzelte gegen ihn. Noch bevor sie sich entscheiden konnte, was sie tun sollte, lagen die Decken um sie beide herum und Simon hielt sie zwischen seinem Körper und dem Bett gefangen

»Hör auf, dich zu winden«, schnappte er. »Wenn ich wegen dir noch mehr blaue Flecken bekomme, dann werde ich dich beißen

Sie hörte auf, sich zu wehren, doch nicht, weil er ihr damit gedroht hatte, sie zu beißen. Prophezeiungen und Visionen schwammen in ihrem Blut, und ein Schnitt in ihrer Haut würde sie befreien. Simon wusste das, weshalb er sie nie verletzen würde. Doch in den vergangenen paar Wochen hatte er herausgefunden, wie man sie durch ihre Kleider hindurch fest genug zwicken konnte, sodass es zwar wehtat, ihre Haut allerdings nicht beschädigte – eine Wolfsdisziplin, perfekt an den Umgang mit Menschen wie ihr angepasst

Sie war vor sieben Wochen in den Lakeside-Courtyard gestolpert, halb erfroren und auf der Suche nach einer Beschäftigung. In den ersten Tagen hatte Simon regelmäßig damit gedroht, sie zu verspeisen, was nicht seinem regulären Umgang mit seinen Mitarbeitern entsprach, da die meisten vermutlich sofort ihre Kündigung geschrieben hätten und davongelaufen wären. Als die Anderen jedoch herausfanden, dass sie eine Blutprophetin auf der Flucht vor dem Mann war, der sie als sein Eigentum betrachtete, hatten sie sie wie eine der ihren behandelt. Und sie wie eine der ihren zu beschützen, besonders nachdem sie im Eis eingebrochen und fast ertrunken war, während sie einen Angreifer von Simons Neffen Sam wegzulocken versuchte. Das war auch der Grund, weshalb sich Simon seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus jeden Abend schützend zu ihr legte

Sie würde sich weniger über den Mangel an nächtlicher Privatsphäre ärgern, wenn dieser pelzige, wärmende Körper nicht so einen großen Unterschied machen würde

War das der Grund, weshalb es in ihrer Wohnung immer so kühl war – damit sie sich nicht aufregte, wenn sich Simon zu ihr legte? Normalerweise hätte sie keinen Wirbel darum gemacht, da er ein Wolf war. Aber jetzt war er nicht in seiner Wolfsgestalt und Simon in seinem menschlichen Körper neben sich liegen zu haben, fühlte sich … anders an. Verwirrend. In einer Weise bedrohlich, die sie sich selbst nicht erklären konnte

Pelzig oder nicht, er hielt sie trotzdem warm und tat schließlich nichts, und da es noch zu früh war, um aufzustehen, war dies etwas, worüber sie immer noch morgen … nachdenken ... konnte

Sie glitt wieder in den Schlaf, als Simon sie leicht anstieß und sagte: »Was hat dich so verängstigt

Sie hätte wissen müssen, dass er das Thema nicht auf sich beruhen lassen würde. Und vielleicht war es auch besser so. Ihre Fähigkeiten als Blutprophetin hatten sich verändert, seit ihr die Flucht gelungen war und sie mit den Anderen zusammenlebte. Sie war nun weitaus empfindlicher, sodass sie nicht mehr zwangsläufig einen Schnitt brauchte, um Visionen zu sehen – besonders, wenn diese sie in irgendeiner Weise selbst betrafen

Die Bilder verblassten bereits. Sie wusste, dass es Dinge aus ihrem Traum gab, die sie jetzt schon nicht mehr abrufen konnte. Würde sie sich am Morgen überhaupt noch an etwas erinnern? Und doch ließ der Gedanke, sich den Traum wieder ins Gedächtnis rufen zu müssen, sie erschaudern

»Es war nichts«, sagte sie und wollte ihren eigenen Worten Glauben schenken. »Bloß ein Traum.« Selbst Blutprophetinnen hatten gewöhnliche Träume. Oder?

»Er hat dir eine solche Angst eingejagt, dass du mich aus dem Bett getreten hast. Das ist nicht nichts, Meg.« Simon zog sie fester in seine Arme. »Und nur, damit du es weißt – du magst zwar klein sein, aber du trittst wie ein Elch. Davon werde ich auch den anderen Wölfen berichten

Großartig. Genau das, was sie brauchte. Jap, das ist unsere Verbindungsperson. Meg Elchtritt

Doch der dominante Wolf und Leiter des Courtyards wartete auf eine Antwort

»Ich habe ein Geräusch gehört«, sagte sie leise. »Eigentlich sollte ich wissen, was es war, aber ich kann es nicht genau bestimmen

»Ein Geräusch aus deinem Unterricht?«, fragte er sie ebenso leise und bezog sich damit auf den Unterricht, den sie in der Anlage erhalten hatte, um erkennen zu können, was sie in ihren Prophezeiungen sah oder hörte.

»Aus dem Unterricht«, stimmte sie zu. »Aber auch von hier. Es ist kein einzelnes Geräusch, sondern mehrere Dinge, die zusammengenommen eine eigene Bedeutung haben.« 

Es herrschte einen Moment lang nachdenkliches Schweigen. »In Ordnung. Was sonst noch

Sie erschauerte. Daraufhin schmiegte er sich an sie, sodass sie sich sogleich wärmer fühlte. Sicherer

»Blut«, flüsterte sie. »Es war Winter. Der Boden war schneebedeckt und dieser Schnee mit Blut bespritzt. Und ich sah Federn.« Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Deshalb habe ich versucht zu schreien, versuchte jemanden zum Zuhören zu bewegen. Ich sah abgebrochene schwarze Federn im blutigen Schnee

Simon musterte sie. »Du konntest sie sehen? War es nicht dunkel draußen

Sie dachte einen Augenblick darüber nach, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Tageslicht. Keine helle Sonne, aber Tageslicht.« 

»Hast du den Ort erkannt

»Nein. Ich kann mich an nichts aus dem Traum erinnern, das einen Anhaltspunkt für den Ort liefern würde, nur den Schnee.« 

Simon beugte sich über sie, um die Lampe auszuschalten. »Wenn das so ist, geh wieder schlafen, Meg. Wir können diese Beute auch noch morgen jagen.« 

Er streckte sich neben ihr aus und schlief beinahe auf der Stelle ein, so wie es auch immer der Fall gewesen war, wenn er in seiner Wolfsgestalt war. Nur, dass er nun nicht in seiner Wolfsgestalt war und sie nicht wusste, wie sie ihm sagen sollte, dass indem er so neben ihr lag – aussehend und sich anfühlend wie ein menschlicher Mann –, sich etwas zwischen ihnen verändert hatte.

Kapitel Zwei

Vor dem Haus seines besten Freundes Grizzly Man parkend, saß Wild Dog gemeinsam mit seinem anderen besten Freund Howler im Pick-up seines Vaters und wartete darauf, dass der Spaß beginnen würde. Windtag war in diesem Teil von Walnut Grove zeitgleich Mülltag, und die verdammten Krähen des Courtyards würden über den Müllwagen kreisen, um in dem von Menschen weggeworfenen Abfall zu picken. Jede verdammte Woche kamen sie, um in den Mülleimern, die an den Bordsteinrand gestellt wurden, herumzustochern. Sie wühlten und pickten und flogen mit zahlreichem Müll wieder davon, denn ganz im Ernst – das war alles, was Krähen waren: verdammte Müllfresser

Nichts konnte man dagegen unternehmen. So sagte es der Mann von der Regierung. Man konnte diese schwarzgefiederten Diebe nicht einmal einfach niederstrecken, da die Haftzeit und Geldstrafe eine ganze Familie komplett ruinieren könnten. Aber Grizzly Man, der auf jedem Computer den Scheiß finden konnte, den man vor seinen Eltern zu verstecken versuchte, hatte von einem geilen Spiel namens Crow Bait and Road Kill gehört. Verweichlichte Jungs konnten sich auf der Seite anmelden und das Spiel spielen, wollte man aber das wirklich echte Erlebnis, so brauchte man zwei ganz besondere Drogen – Zum Wolf geworden und Feelgood

Es war nicht sonderlich leicht, an das Zeug heranzukommen, und billig war es auch nicht. Es hatte ihn, Grizzly Man und Howler zwei Monate gekostet, all ihre Ersparnisse zusammenzukratzen, sodass Howler die Fläschchen von dem Freund eines Freundes kaufen konnte, der einen Kerl kannte, der wiederum einen Kerl kannte. Jetzt würden sie herausfinden, ob die Drogen und das Spiel es wirklich wert waren.

»Komm schon«, murmelte Wild Dog. »Ich muss meinem Alten die Karre zurückbringen, ehe er zur Arbeit muss.« 

Howler kurbelte das Fenster der Beifahrerseite herunter. »Ich hör die Müllwagen. Sie müssen etwa einen Block entfernt sein. Ist G-Man so weit?« 

Wild Dog zog sein Handy aus der Tasche und tätigte den Anruf. »Bereit?«, fragte er, als Grizzly Man abhob

»Ich hab den’ das versetzte Fleisch gegeben«, erwiderte G-Man. »Biste dir bei der Dosierung wirklich sicher

Bei den Göttern über und unter der Erde, nein, er war sich überhaupt nicht sicher. Vergangene Woche hatten sich die drei die halbe Flasche Zum Wolf geworden geteilt, um es mal auszuprobieren, aber er hatte nur eine vage Erinnerung an das, was geschehen war, nachdem sie sich mit Priscilla Kees getroffen hatten, die nicht nachts allein hätte nach Hause gehen sollen. Aber er erinnerte sich daran, dass er so was von geil gewesen war. Er hatte sich wild und mächtig gefühlt – und er wollte sich wieder so fühlen.

Aber nicht sofort. Nicht, ehe sich die Dinge etwas abgekühlt hatten. Priscilla war nie in die Schule zurückgekehrt und er hatte ein Gespräch mit angehört, in dem seine Mutter seiner Großmutter erzählte, dass der bösartige Angriff irgendwelche Schäden an ihren Innereien da unten und auch noch irgendwelche anderen Schäden bei dem Mädchen verursacht hatte, sodass ihre Tochter niemals wieder allein das Haus verlassen durfte, sobald es dunkel wurde – nicht mal, um einen Freund sechs Häuser weiter zu besuchen. Nicht, bis die Tiere, die Priscilla das angetan hatten, gefangen worden waren

Es war merkwürdig, seine Mutter so sprechen zu hören, als würde sie wirklich jemandem ernsthaft Schmerzen zufügen wollen. Es hatte ihm Angst gemacht, weshalb er froh darüber war, dass sie einheitlich dafür abgestimmt hatten, den Rest von Zum Wolf geworden für das Spiel einzusetzen. Bis sie sich ein weiteres Fläschchen der Droge leisten könnten, wäre alles wieder beim Alten.

»Hey, Wild Dog«, sagte G-Man. »Biste noch da? Die Hunde benehmen sich komisch und ich kann es nicht leiden, wie sie mich anstarren. Es treibt mich verdammt noch mal in den Wahnsinn

»Sie kommen«, sagte Howler, als die Krähen angeflogen kamen. Er lehnte sich nach vorne und legte seine Hand auf das Armaturenbrett

»Kommt schon, ihr Freaks«, flüsterte Wild Dog. »Genießt die Spaghetti und ein bisschen Feelgood.« Er kicherte. Man nehme ein wenig Feelgood und dann fühlt man sich so gut, dass man gar nichts mehr fühlt

Howler schwor darauf, dass die Droge stark genug sei, um einen ausgewachsenen Wolf so hilflos wie einen neugeborenen Welpen werden zu lassen – oder um all die verdammten Krähen vom Himmel zu fegen. Also hatten sie gestern eine riesige Portion Spaghetti zum Mitnehmen gekauft. Am Morgen hatten sie das Essen mit Feelgood gestreckt und kleine Häufchen neben sechs der Müllcontainer am Straßenrand gelegt

Die Krähen kamen und flogen zu den Containern, die keine dicht verschlossenen Deckel besaßen oder neben denen noch Dinge zurückgelassen worden waren. Sobald die erste Krähe die Spaghetti entdeckt hatte, kamen Vögel von überall herangeflogen, sodass Wild Dog nicht mehr sagen konnte, ob es sich bei ihnen um Krähen oder Krähen handelte. Aber sie alle verschlangen die Spaghetti

»Nur weiter, ihr dummen Scheißhaufen«, flüsterte Wild Dog. »Schön aufessen.« Er sprach in sein Handy. »G-Man. Es ist fast so weit

»Hey«, sagte Howler. »Wer ist das

Sie beobachteten, wie das zierliche schwarzhaarige Mädchen von Haus zu Haus lief und in die Mülltonnen schaute

»Perfekt«, sagte Wild Dog. »Wir haben eine der Anderen in ihrer menschlichen Form

»Der Müllwagen wird gleich hier sein«, erwähnte Howler. »Wir müssen abhauen, bevor uns jemand entdeckt

»Jaja.« Wild Dog beobachtete die Vögel noch einen Augenblick. Ein Auto, das die Straße herunterfuhr, musste einem Vogel ausweichen, der nicht einmal daran dachte, aus dem Weg zu gehen. Perfekt. »G-Man, lass die Hunde los.« 

Die zwei Jagdhunde, die G-Mans Vater gehörten, rannten aus dem Hinterhof, entdeckten die Vögel und zerfetzten sie mit einer Brutalität, die Wild Dog aufregend und Brechreiz erregend zugleich fand. Ein paar der Vögel schlugen mit ihren Flügeln, um einen schwachen Fluchtversuch zu starten, der allerdings nichts anderes brachte, als die Hunde auf sie aufmerksam zu machen – und auf das Mädchen, das wie festgefroren neben einer der Mülltonnen stand

»Oh, Scheiße«, fluchte Howler. »Ich weiß, wer das ist! Es ist die Neue aus der Schule. Ihre Familie ist gerade erst hierhergezogen, kamen den langen Weg aus Tokhar-Chin. Wir müssen sofort die Hunde aufhalten!« 

»Wir können sie nicht aufhalten!« Wild Dog griff nach Howlers Mantel, aber er war bereits halb aus dem Truck gesprungen und brüllte: »G-Man! Hol deinen Vater! Hol deinen Vater!« 

Er konnte nichts anderes tun, als es seinem Freund nachzutun. Er durfte hier nicht dabei gesehen werden, wie er bloß zusah, während Howler herumbrüllte und das Mädchen schrie und all die Leute aus ihren Häusern gestürmt kamen – einige bereits in ihrer Arbeitskleidung, andere noch in den Morgenmänteln, trotz des Schnees und der Kälte

Plötzlich wurde er von jemandem zur Seite gestoßen und ebendieser Jemand schrie den Leuten zu, sie sollen aus dem verdammten Weg gehen und … 

Bumm. Bumm

Derselbe Mann brüllte nun den Leuten zu, sie sollen die Polizei anrufen, einen Krankenwagen; und Wild Dog erkannte ihn schließlich. Er wusste seinen Namen nicht, aber es war einer der Polizistenfreunde von G-Mans Vater

Der Polizist stand nun direkt neben dem Mädchen und presste seine Hand auf die Wunde an ihrem Hals, aus der unaufhörlich Blut quoll. Er sah zu G-Mans Vater auf und sagte: »Es tut mir leid, Stan, aber ich musste sie einfach erschießen

»Wird das Mädchen wieder?«, fragte Stan

Der Polizist hielt einen Augenblick inne, hob dann seine Hand und schüttelte den Kopf. Nachdem er seine Hände mit frischem Schnee gereinigt hatte, stand er auf und warf Wild Dog und Howler einen wütenden Blick zu. »Was macht ihr Jungs hier

Stan starrte weiterhin das Mädchen an und dann seine Hunde. »Bei den Göttern über und unter der Erde, was ist nur in sie gefahren? Und wie konnten sie überhaupt aus dem Hinterhof kommen?« 

»Wir nehmen sie mit und machen ein paar Tests. Finden heraus, ob sie aus einem bestimmten Grund durchgedreht sind.« Der Polizist sprach von den Hunden – mit Sicherheit tat er das –, aber er hörte nicht damit auf, Wild Dog dabei anzuschauen. Dann warf er einen Blick auf die toten Vögel. »Ja, wir müssen unbedingt ein paar Tests machen.« 

Wild Dog versuchte sich eine Geschichte zurechtzulegen, wie er einfach kurz bei G-Man hatte vorbeischauen wollen, doch plötzlich war er von zahlreichen Dienstfahrzeugen umgeben, welche die Straße blockierten. Und an seiner Sicht der Dinge waren viele Polizisten interessiert, die auf dem Revier, in Anwesenheit seines Vaters, hören wollten, was geschehen war. So kam es, dass er auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens nach Hause gefahren wurde.

Und das war auch der Grund, weshalb die Polizei bei ihm war, als er die Küche betrat und herausfand, dass Priscilla sich an weitaus mehr von der Nacht der vergangenen Woche erinnerte als er selbst – und aus diesem Grund die Schrotflinte ihres Vaters mitgenommen hatte, bevor sie an jenem Morgen an seinem Haus klingelte.