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Elisabeth Borchers

Nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

Ein Fragment

Herausgegeben von Martin Lüdke

Mitarbeit Ralf Borchers

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2018

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

unter Verwendung eines Fotos von

© Günter Pfannmüller

Foto Elisabeth Borchers Seite 2-3

© Suhrkamp Verlag

GGP

Erste Auflage 2018

ISBN 978-3-86337-103-6

imageISBN 978-3-86337-097-8

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Herausgeber und Verlag haben sich bemüht, die Rechte des auf Seite 149 abgebildeten Fotos zu klären, was vor Drucklegung leider nicht gelang. Sollte sich der Rechteinhaber finden, bitten wir darum, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

Elisabeth Borchers

Nicht zur Veröffentlichung bestimmt
Ein Fragment

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Martin Lüdke

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Elisabeth Borchers wurde am 27. Februar 1926 in Homberg am Niederrhein geboren. Während des Zweiten Weltkrieges lebte sie bei ihren Großeltern in Niederbronn im Elsaß. Von 1945 bis 1954 arbeitete sie als Dolmetscherin für die französische Besatzungsmacht. Sie heiratete 1946. Die Ehe, aus der zwei Kinder, Ralf und Uwe, hervorgingen, wurde 1957 geschieden. Von 1960 bis 1971 arbeitete sie als Lektorin im Luchterhand Verlag in Neuwied. Von 1971 bis 1998 war sie (Chef-)Lektorin im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main.

Neben zahlreichen Gedichtbänden (u.a. Gesammelte Gedichte, Alles redet, schweigt und ruft bei Suhrkamp und Achtundachtzig. Ausgewählte Gedichte bei weissbooks.w) hat sie mehrere Kinderbücher veröffentlicht. Auch als Übersetzerin, vor allem aus dem Französischen (u.a. Marguerite Duras, Pierre Jean Jouve), war Elisabeth Borchers tätig. Für ihr lyrisches Werk wurde sie auch mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und dem Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim ausgezeichnet. Ihre bekanntesten Werke sind Wer lebt, Von der Grammatik des heutigen Tages, sowie Eine Geschichte auf Erden. Elisabeth Borchers verstarb 2013 in Frankfurt am Main.

Inhalt

Kleine Vorbemerkung von Ralf Borchers und Martin Lüdke

Nicht zur Veröffentlichung bestimmt

Nachwort
Der Wind, der weht vom Niederrhein. Anmerkungen zu Elisabeth Borchers von Martin Lüdke

Kleine Vorbemerkung

Im Nachlass von Elisabeth Borchers fand ihr Sohn Ralf im Frühjahr 2014 das von ihr noch einmal korrigierte Manuskript der hier vorgelegten Aufzeichnungen. Im Verlauf des Jahres wurde das Manuskript an den Verlag weissbooks.w, Frankfurt am Main, weitergegeben. Dort war zum 88. Geburtstag der Autorin eine Auswahl ihrer Gedichte, Achtundachtzig, herausgegeben von Anya Schutzbach und Rainer Weiss, erschienen.

Einige Vorgänge, vielleicht sollte man sogar sagen: Vorfälle im (damals noch) Frankfurter Suhrkamp Verlag dürften ein treibendes Motiv gewesen sein, diese Erinnerungen aufzuschreiben.

Im Vorfeld dieser Veröffentlichung sind einige Gerüchte in Umlauf gekommen. Vielleicht verständlich, denn nicht jeder, der auf diesen Seiten benannt wird, wird seinen Namen gerne lesen. Zum Beispiel wurde behauptet, die Autorin habe gleich auf der ersten Seite ihres Manuskripts geschrieben: »Nicht zur Veröffentlichung bestimmt.« Das ist richtig, nur fehlt der Vor-Satz:

Der »Titel« müsse »lauten«: »Nicht zur Veröffentlichung bestimmt.« Die vermeintliche Handlungsanweisung erweist sich damit als ihr Gegenteil. Weiter sprachen ehrenwerte Kollegen davon, dass Mut zu dieser Veröffentlichung gehöre. Auch hier ist das Gegenteil richtig. Es gehört nur Interesse dazu, an einem Stück unserer Literaturgeschichte und an einer Figur, die dabei eine erhebliche Rolle gespielt hat. Einige der Äußerungen, die namentlich genannten Personen in den Mund gelegt werden, sind nicht in jedem Fall wörtlich zu verstehen.

Natürlich kommen in diesen Erinnerungen nicht alle erwähnten Personen ›gut weg‹, vor allem Frauen werden häufig in ein grelles Licht gerückt. Das ist so bei persönlichen Erinnerungen, die gelegentlich auch einer Deutung bedürfen. Zudem sollte man berücksichtigen, dass es längere Pausen zwischen den Aufzeichnungen gab, und es dabei auch zu anfangs fast unmerklichen thematischen Verschiebungen kam, von den Interna aus dem Literaturbetrieb zu persönlichen Erinnerungen und auch aus ihrer, mit zunehmender Vereinsamung, verstärkten Sehnsucht nach Liebe und Nähe.

Im Nachwort wird versucht, einiges ins richtige Licht zu rücken.

Frankfurt am Main, im November 2017

Ralf Borchers

Martin Lüdke

Wenn das gelingt, was mir Arnold1 empfohlen hat, müßte der Titel lauten: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nach nahezu 40 Jahren ein rücksichtsloser Blick auf Verlag, Autoren, Bücher, Manuskripte. Kein Pardon soll gegeben werden. Heute ist Himmelfahrtstag, 3. Juni 1999: Arnold ist unterwegs nach Rast, eine Auschwitzzahl. Um wie vieles lieber wäre mir zu sagen, daß mir das Herz aus Blei ist.

Unterbrechung: Anruf bei RR2, um für den gestrigen Abend noch einmal zu danken, im Sonnenhof3, mit zwanzig anderen, mit zermürbender Hinfahrt und einer Rückfahrt im Erschöpfungszustand. Marcel und Tosia4 seien sehr froh gewesen über unser Dabeisein. Das Übliche also, hundertfach erprobt diese Floskeln des Dankes und die Frage, wie immer, nach dem Verlag. Ich hätte ihm erzählen können, Unseld habe Wasser in der Lunge, das wäre ihm eine Freude gewesen, er hätte etwas gewußt, was andere noch nicht wissen, außerdem gehört diese Nachricht ins Katastrophenfach, nichts lieber als das, von jeher.

Arnold hinterließ mir das Manuskript des Nachworts für die Kaschnitz-Tagebücher, 17 Seiten, unter dem Hinweis, nicht zufrieden zu sein. Ich aber bin es, sehr. Seine Art zu schreiben ist eine Beglaubigung und für alle anderen ein Akt der Beschämung. Souverän, empfindsam, klug. Immer wieder lese ich ihn, als hätte ich endlich eine Wohltat verdient, nach so vielen Jahren literarischer Nichtsnutzigkeiten. Selbst dort, wo auch ich es mir nicht hätte träumen lassen. Wohin man schaut und liest: Hochstapelei. Selbst in den oberen Rängen, selbst in den Logen. Man kommt nicht umhin, vor sich selbst zu erschrecken, wie dreist man (ich meine mich) zugestimmt hat, wohlwissend, daß es sich um Machwerke handelte. Wer bliebe verschont? Nicht einmal W5. Ich bin mir sicher: »Meßmers Gedanken« ist sein Hauptwerk, dazu die »Liebeserklärungen«, so vieles verzichtbar. Ganz zu schweigen von Frisch, von Johnson, den der Verleger posthum brachialgewaltig zum Helden stilisiert hat, doch wohl, um sich selbst zu bestätigen. Welch ein Pfusch, wohin man sieht und hört.

Es ist wohl sinnvoll, diese Blätter zu beginnen. Vielleicht führen sie ins Leere, dann werden sie vernichtet, von wem auch immer. Der Himmel hat sich mit Streifenwolken überzogen, das Fenster mußte ich schließen, so laut sang unsere Amsel, obwohl sie uns doch von solcher Bedeutung ist. Die zwei Stunden sind vorbei, ich kann Arnold anrufen, Gottbefohlen, in dieser rauhen Zeit.

4. Juni: Stichwort Kaschnitz. Zwei Wörter im Nachwort verhelfen mir zu früheren Zeiten: ihre Wohnung und das Buch »Orte«. Sie hatte Iris6 bestellt, sie solle teilnehmen am Lektoratsgespräch in ihrer Wohnung. Ich dachte, sie sorgt für Schutz und Beistand. Das Gespräch bei der Durchsicht des Gedichtmanuskripts seinerzeit in meiner Wohnung war ihr vermutlich in ungemütlicher Erinnerung. Ich hatte auf Streichungen, Kürzungen bestanden. Nun, das mit meinen Überarbeitungen versehene »Orte«-Manuskript lag fotokopiert uns dreien vor. Sie stöhnte angesichts der Bleistiftfülle, sie begriff nichts, warum hier gekürzt, dort verändert werden sollte. Fragte Iris: verstehst du das? Ich erwartete, Iris auf seiten der Mutter zu hören. Doch siehe da, sie stimmte mir zu: die Kürzungen seien notwendig sowie auch die Änderungen. Und MLK7: nun, wenn du meinst. Unerwartet wurde das Manuskript derart streitlos durchgesprochen, und die fulminante Kritik von Horst Krüger in der »Zeit« bestätigte die Richtigkeit des Vorgehens, lupenrein, kein Wort zu viel, eine Altersprosa (ungefähr), wie sie nicht überzeugender sein könne. Ich hatte mir wirklich große Mühe gegeben und fühlte mich und meine Arbeit bestätigt. Kurz nach Erscheinen dieser »Zeit«-Kritik (noch nie zuvor war MLK derart gerühmt worden) hatte sie Geburtstag. Unseld kam und holte mich ab. Ich sei nicht eingeladen. Er duldete keinen Widerspruch, und ich erinnere mich meiner Enttäuschung und Verletztheit, zu dem kleinen Empfang, den sie gab, nicht geladen worden zu sein. An der Tür erklärte sie: Ich weiß doch, wieviel Arbeit Sie haben. Nachher saß ich mit Iris und ihrem Mann8 in der Küche und fragte sie, wie eine solche Undankbarkeit zustande kommen könne. Sie beschwichtigte, doch nicht mit Erfolg. Nein, das kann die Form nicht sein, in der dergleichen Erfahrungen bagatellisiert werden. Es läuft doch eher darauf hinaus, die Unversöhnlichkeit zwischen Autor und Lektor zu zeigen. Der Autor beansprucht die Gültigkeit des letzten Wortes, hoch zu Roß verweigert er Einsicht in seine Fehlbarkeit. Ich erinnere mich an Jurek Beckers Eigensinn: Er bestand auf einem orthographischen Fehler, der Autor habe immer recht. Wie auch Jakov Lind, der darauf bestand, es heiße Sangvögel, nicht Singvögel. Gemessen an einer Seele aus Holz9 eine Belanglosigkeit.

Noch einmal MLK. Ich erinnere mich der Unerfreulichkeit der Arbeit mit Frau von Gersdorff, die sich irrigerweise als MLK-Biographin verstand. Das eigentliche Anliegen aber war, mittels der kaisernahen Familie, sich in die Gesellschaft des Hochadels einzufädeln, so zu tun, als sei sie eine Vertraute von MLK gewesen. In der ersten Fassung war auf Seite 1 das Rühmenswerte der blauäugigen MLK zu lesen und ähnliche Trivialitäten. Nein. Ich habe das Manuskript an den Kollegen Simm weitergegeben, ein Arbeitstausch, doch ich habe vergessen, welche Arbeit ich von Simm übernommen habe.

Ich komme vom Schweizer literarischen Quartett10: Zeindler, Ruoss, Hamm, Honigmann. Welch ein Gefälle. Welch eine Schlampe (DvG11).

Ich denke an meine (fast) erste Begegnung mit MLK, bei ihr Zuhause, in der historisch gewordenen Wohnung, die vom Mobiliar abgesehen eher bürgerlich als großbürgerlich zu nennen wäre. Und auch ein wenig schmuddelig. Sie schreibe an einer Erzählung (»Ferngespräche«), ob ich eine Seite lesen wolle, um ihr zu sagen, wie und was. Ich war gehorsam, las, war entsetzt angesichts so viel Gewöhnlichkeit. Bar jeder Verdichtung, jeder Besonderheit. Später, in der Lindenstraße12, grauste mir damit zu tun zu haben. Wir waren wahrhaftig nicht gleich zu schalten. Und auch heute noch höre ich Bewundernswertes von den »Ferngesprächen«. Es gibt aber andere, sehr geheimnisvolle Erzählungen, die jeder Gewöhnlichkeit entkommen sind. Als Liebesgeschichten sind sie zusammengestellt.

Arnold schreibt über Bender. Ich solle in den Palmengarten gehen, Rosen zählen. Der Sonntag ist ohne Sonntäglichkeit. Trüb, kalt, verregnet. Ein solcher Tag war es, an dem wir in Mainz in ihrem Hotelzimmer saßen, ›um zu reden‹, wie man sagt. Wir haben geredet, auch aneinander vorbei geredet. Ich weiß nicht mehr, was ich fragte, doch ihre Antwort hatte nichts mit meiner Frage zu tun. Für mich ganz unerwartet, sagte sie, ja, ich würde noch einmal heiraten, sie war Ende sechzig. Ich war erschrocken, betrachtete sie seitwärts, dachte, wie gesagt damals, an mich, ohne Ergebnis. Wenig später, Anfang der Siebziger, tauchte sie mit einem Begleiter im Verlag auf, den sie als ihren literarischen Betreuer vorstellte. Ich frage mich heute, warum ich ihn spontan ablehnte. Es erwies sich bald, daß seine Arbeit an der geplanten Gesamtausgabe – sie hatte ihn als Herausgeber benannt – inakzeptabel war (schlagen Sie doch, so schrieb er mir, im Duden nach, ob es Pogrom oder Progrom heißt). Die Ausgabe hatte keinerlei Priorität für ihn.

Zu viert fuhren wir zur Beerdigung: SU13, Hilde Unseld, Krolow und ich. Es war einer der kältesten Tage meines Daseins, was weiß ich warum, ich fror entsetzlich. Auf der Heimfahrt im Auto mit überhöhter Geschwindigkeit sagte U., er müsse sich beeilen, um halb acht müsse er im Theater sein. Das ist der nächste Termin, der nicht gestrichen wird, wenn jemand gestorben ist. Elendiglich. Und während der Beerdigung auf dem Friedhof beobachtete ich Iris und ihren Mann: keine Geste des Haltens, der Sanftheit, stocksteif, als gehe ihn dies alles nichts an. In MLKs Zimmer hatten wir ein paar Bissen zu uns genommen und Schnaps geschluckt. Welch eine Zeremonie.

Empfohlene Bücher: Honigmann »Mädchenmörder Brunke«14; Hamm »Fahrt im Einbaum«15. Jeder ist seines eigenen Helden Paladin. Vor zwei Wochen Abflug Neapel/Capri. Gestern ist ein 108jähriger gestorben. Er sah jünger aus als Hrabal. Ein wenig Sonne. Ich möchte belohnt werden heute abend, z. B. Hilton. Ich geh jetzt Rosen zählen.

68 auf dem Wasser des Teichs im Eingangsbereich. Alles andere unzählbar. Der Palmengarten steht unter Rosenschock. Dann und wann eine Duftwelle wie auf Capri, weißt du noch.

An einem Sonntag wie diesem (wie Sommers Ende) darfst du mich nicht mehr losschicken, eine Voraussetzung für Schwermut, Behindertenwege. Kleinst- und Kleinkinder auf sandleisen Spielplätzen. So nah war ich meinen Eltern lange nicht mehr, diese Sonntagnachmittage, die schon zur Messe getragene Melone, der Spazierstock mit der Elfenbeinkrücke und dem Löwenkopf, der bebänderte Florentinerhut meiner Mutter, die kleinen weißen Handschuhe an meinen Händen, dieses Nicht-schmutzig-werden, in Richtung Tante Maria und Onkel Hubert, an den Tennisplätzen vorbei. Ich hätte dir gern eine kleine Palme mitgebracht, zum Auf- und Großziehen, wenn es schon der Hund nicht sein soll. Kennst du das Lied: les enfants s’ennuient le dimanche, dans leur robe blanche, les enfants s’ennuient le dimanche. Da stirbt die Welt hin, ist rettungslos verloren. Im Gartenkiosk waren aber nur Kakteen zu sehn. Was aber gehen uns Kakteen an. Emil16 hatte eine Hand für Kakteen, mehr Verbindung gibt es nicht.

Es war ein anderer Sonntag als dieser, heiß, sehr heiß, als Handke schellte, was sollten wir mit ihm machen. Erlaubst du, daß ich mit ihr schlafe, fragte er Claus17. Er solle mich fragen, er fragte mich. Ich war aber noch nie für dergleichen Gastfreundschaft zu haben. Dann doch lieber eine Tasse Tee. Claus hat seine Stimmung verstanden, wie ein menschenleerer Bahnhof. Ich habe einen Kaffee getrunken, dazu ein Stück frostigen Kuchen, den ich an ein Entenpaar verfüttert habe, Verwandte vom Thunersee. Ich hörte die Stimmen von Claus, Nora und David18, als sie noch klein waren. Könnte es sein, daß unser kaum gewesenes Verhältnis gestört ist. Schön waren unsere kurzweiligen Gespräche, wenn ein Buch von ihm erschienen ist und ich reagierte, dann reagierte auch er.

7. Juni: Die Sonne ist gewaltig, herrscherlich. Größer als der auf die Erde zurasende Asteroid, 2027 wird er eintreffen, wenn er nicht abgelenkt wird, Anfang August. Ich habe gestern nacht noch einmal den »Liebhaber«19 gesehen, der Film macht der Duras-Geschichte alle Ehre, alle Liebe, alles Herzzerreißen. Wann eigentlich ist sie gestorben, wer eigentlich war von uns bei der Beerdigung? Ich bin ihr nie begegnet. Telefoniert haben wir, korrespondiert, auch das. Das letzte Mal sah ich sie während eines Interviews mit einem viel zu jungen, unerfahrenen Mann in ihrem Zimmer, in einem Altersheim. Er fragte sie, was sie den Tag über mache, wenn sie nicht schreibe, ob sie auch ihr Bett mache. Duras empört: ein ungemachtes Bett schreit gen Himmel. Eine Formulierung, die sich bei mir immer wieder zur rechten Zeit meldet. Der »Liebhaber« hat eine Sinnlichkeit, wie ich sie von keinem Film bisher erfahren habe. Wie Mondlicht über allem. Keine Grenze wird überschritten, überliebt, der Raum aber wird ausgekostet, ausgeleuchtet, ach, diese Winkel und Winkelchen, bis hin zu den Füßen des Rikschafahrers, der über die nassen Straßen von Saigon läuft, obwohl doch niemand mehr da ist. Dieses Ende ist der Anfang der Traurigkeit der Welt, und schließlich nur noch der Rücken der alten Frau, die telefoniert. Liebe M. D.20, eine wunderbare Liebe, eine lehrreiche. SU wollte einen Mitarbeiter zu ihr schicken, weil ihm das Französisch nicht parat war. Er hat sich und mir nie verziehen, daß ihm dieses Defizit Grenzen diktierte. Daß der Bestseller-Liebhaber unser Buch geworden ist, hat der Verleger (mit Verlaub) mir zu verdanken. Das Buch zuvor »La Maladie de la mort«21 erschien, übersetzt von Handke, bei Fischer. Was wäre gewesen, wenn.

Ein Dreiviertel-Stunden-Gespräch mit Hans Mayer. Und jedes noch so lange Gespräch endet mit der Aufforderung: Ruf doch mal wieder an, als sei ich längst an der Reihe. Er ruft nicht an, versteht sich, das kostet Geld. Und ich hätte ihn auch nicht angerufen, wenn ich nicht von ihm erwartete, mich endlich als Juror einzusetzen. Groenewold werde bald kommen, er werde ihm sagen, daß ich nun an der Reihe sei. – Eben auch Hinderer in Princeton versucht zu erreichen. Und wieder und wieder war Becker nicht da. Arnold aber hat keine Zeit, drei Seiten zusätzlich zu lesen. Wer zerschlägt mir diesen Knoten? Hans Mayer: Er hat eine Rede auf der Wartburg gehalten mit großen Sprüngen: Walther von der Vogelweide (schöner Tippfehler), sängerstreitfest, was dann? Jedenfalls war weder von der heiligen Elisabeth die Rede noch von Luther. Diese Art von Aufklärung liegt ihm weniger im Sinn. Gestern abend habe Sat 3 das Spektakel übertragen, man habe ihn sitzen sehen können, und auch den Blick über das Thüringer Land und die standing ovations – diese Ehrung habe er immer schon erhalten und genossen. Ich erinnere ihn an das erste Mal in Wien, als die Kammerspiele22 zu seinem 85. Geburtstag wie ein Mann sich erhoben. Nicht nur zum Schluß, nein, als er hereinkam, sozusagen als letzter Platz nahm. Das war nicht nur für ihn bewegend. Ich denke, er hat sich eine Träne aus dem Auge gewischt, jetzt, als ich ihn erinnerte. Das Größte seines Lebens! Die Tatsache, daß er nicht immer so war, hat ihn dann keineswegs beschämt. Es werde eine HM-Stiftung geben. Monomanie. Sui generis. Mit keinem Wort hat er unseren Besuch in Tübingen erwähnt. Er wird ihn nicht als Festtag in Erinnerung behalten haben. Arnold wird die Enttäuschung inzwischen verwunden haben. Ich erzählte HM vom gestrigen Abend, Hölderlin-Preis an Reiner Kunze. Die Unterscheidung von rechts und links lasse er nur im Straßenverkehr gelten und eine Publikumsmasse hat geklatscht. Mayer rühmte sich, sein Lehrer gewesen zu sein. Er lenkte ab auf den großen Polen23. Wie der Abstieg aus der Macht vor sich geht, war auch gestern zu sehen: die Platzordnung verdrängte ihn aus dem Tischmittelpunkt, ein herber Verlust.

Es ist Dienstag, 8. Juni: Ich habe die Heizung aufgedreht.