Eva Hochrath

Parallelwelt 520

Der Flügelschlag des Schmetterlings

18. Kontinuum

2 Seltsame Frauen

Reafer machte ein fatalistisches Gesicht. "Der Name 'And-Higan' bedeutet 'Gegen-Gemeinschaft', und sie bilden in Saxxan sowas ähnliches wie einen 'Staat im Staate'! Es gibt sie seit der Einwanderer-Zeit, also seit eineinhalb tausend Jahren! — Sie sind zusammen mit den ollen Westsachsen und Kelten aus Britannien ausgewandert. Es waren Frauen, die mit der damaligen Gesellschaft wohl nicht klargekommen sind: Witwen, die sich allein durchschlagen mussten ‑ was damals wohl nicht besonders lustig gewesen ist! ‑... Mädchen, die als Sklaven verkauft werden sollten und lieber vorher ausgekniffen sind... oder sogenannte 'Wiccas', die man wegen angeblicher 'schlechter Zauberkraft' in den Wald verbannt hatte..."

"Aha! Hexen!"

Sunyard schmunzelte. "Nee! Das, was  i h r  unter 'Hexen' versteht, das hat's erst im europäischen Mittelalter gegeben und hat uns nicht mehr erreicht. — Für die alten Westsachsen, und erst recht für die Kelten, war 'Wicca' 'n ganz integrierter Berufsstand: Leute, die sozusagen Sachen sehen konnten, die der sogenannte 'normale', dreidimensionale Blick nicht sieht — Ereignisse in der Zeitdimension, also Zukunft oder Vergangenheit, oder in der parallelen Raumdimension, an anderen Orten. Und die Info, die haben diese Leute gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt..."

Glucksen. "Also so 'ne Art 'Dienstleistungsgewerbe'..."

"Kannste so nennen! — Bloß, wenn einer zu oft das Verkehrte vorausgesagt hat... dann war Schluss mit der Karriere! Solche, ahem, 'Berufsversager' hat man in den Wald verbannt! Das war nämlich der Strafvollzug: Personen, die sich unbeliebt gemacht hatten, oder die in der normalen Gesellschaft keinen Platz mehr hatten... die wurden nicht eingesperrt oder gehenkt... dieses ganze Strafregister, das gab's im germanischen Recht nicht... Wer da gestört hat, der wurde einfach weggeschafft, in den Wald! — Was wahrscheinlich wohl auch 'n Todesurteil war!"

"Praktisch und, äh, billig!" grinste Jurist und Finanzminister Sirrah. "Die, äh, Störenfriede sind fort, und keinerlei Kosten für den, äh, Strafvollzug! — Und die Finger hat man sich auch nicht, äh, schmutzig gemacht!"

"Aber die Betroffenen sahen das ja wohl aus 'ner etwas anderen Perspektive, was?!" vermutete Shelley humorig.

"Davon kannste ausgehen!" feixte Reafer. "Wer damals außer Landes ging, der hatte bestimmt nicht viel zu verlieren! — Jedenfalls, als da diese Auswanderer, von denen wir im heutigen Saxxan alle abstammen... als die ihre Schiffe klargemacht haben, 'anno' 520, da hat so 'ne Gruppe Frauen sich zusammengetan und ihre Chance gesehen, sich nachhaltig abzuseilen! — Und übrigens: Es gibt so Storys, nach denen es eine oder mehrere von den Frauen gewesen sein sollen, die die Auswanderer vor den Verfolgern gerettet haben. Die sollen die ganze Flotte in ein… Parallel-Universum… verfrachtet haben! Demnach existiert auch ein Universum, in dem diese Reise nie stattgefunden hat, und in dem es deshalb einen Staat Saxxan so auch nicht gibt…"

"Tolle Story!"

"Hihi, ja! Das sind die Märchen auf unserer Seite der Erde. Dass das Quatsch ist, wissen wir natürlich auch. — Auf jeden Fall sind diese Frauen mit den Auswanderern mitgesegelt. Und aus irgendeinem Grund müssen sie von Männern wohl die Nase voll gehabt haben... Vielleicht ist auch auf der Reise ‑ sie waren ja Jahrzehnte unterwegs! ‑ irgendwas gewesen, das ist aber nicht überliefert... Jedenfalls haben diese Frauen sich nicht etwa heiraten lassen, sondern, in Saxxan angekommen, haben sie sich sofort abgesondert und ihren eigenen Verein aufgemacht! — Für Männer Zutritt verboten!"

"So 'ne Art frühmittelalterliche Emanzen, was?!"

Reafer lachte auf. "Schon möglich!"

"Also, äh, wenn es diesen Club immer noch gibt, dann, äh, müssen die Damen ja irgendwie, äh, zu Nachkommen gekommen sein… Hatten die, äh, Familie? Oder werden in jeder Generation neue, äh, Mitglieder rekrutiert?"

"Weder, noch…"

"???????"

"Ja, also… Neue Mitglieder, geht nicht. Weil Andhigans die besonderen Fähigkeiten, die sie haben, weitervererben. Und das geht schließlich nur mit leiblichen Töchtern…"

"Versteh' ich nicht. — Was ist mit Söhnen????"

"Die interessieren nicht, beziehungsweise bleiben beim Vater."

"Also doch Familie…???"

"Nee! Andhigans sind bis heute 'n reiner Frauen-Verein. In den Verein aufgenommen und ausgebildet werden nur die Töchter. — Aber zum Kinderkriegen muss man schließlich nicht heiraten, nicht?"

"Ach, jetzt kapier' ich!" tat Shelley kund. "Das ist der Grund, weshalb dein Bruder sich um den armen Kleinen kümmern muss?!!"

Reafer nickte seufzend.

Kopfschütteln und konsterniertes Lachen ringsherum. "Ihr habt ja schon ziemlich seltsame Elemente in eurer Gesellschaft!" fand Deane.

"In der Tat!" pikierte sich Sirrah. "Irgendwie wirkt das auf mich… mittelalterlich…"

Reafer zuckte die Achseln. "Naja, so gesehen… Im frühen Mittelalter hat's nunmal angefangen. Und manche Sachen machen sie heute tatsächlich nicht viel anders als schon vor tausend Jahren... Aber andererseits haben sie sich auch ziemlich weiterentwickelt... Sie sind viel früher als die sogenannte 'Normalgesellschaft' straff und effizient organisiert gewesen, und sie hatten von Anfang an was, was andere Gesellschaften selbst heute noch nicht hinkriegen: Planungskonzepte für lange Zeiträume, wie etwa fünfhundert Jahre! — Dadurch sind sie zu einem wichtigen und einflussreichen Faktor in der Geschichte von Saxxan geworden! Auch wenn sie sich für Politik eigentlich nicht interessieren... aber allein durch ihre Fähigkeiten..." Reafer blickte hilfesuchend auf Sunyard.

Der grinste lässig. "Diese Weiber, die haben sich in den eineinhalb tausend Jahren ihres Vereinsbestehens, und mit ihren Langzeit-Konzepten, zu sowas wie 'ner... 'Spezialrasse'... hochgezüchtet! Bestimmte Eigenschaften und Talente ‑ ziemlich unheimliche teilweise, wie diese 'Wicca'-Künste! ‑ ganz gezielt weitervererbt! Daher auch diese bekloppten Storys vom Paralleluniversum."

"Gute Güte!" kam es geschockt.

Reafer sah Sirrah an, mit gutmütigem Spott im Blick. "So zu pikieren brauchste dich auch wieder nicht! Der Hintergrund ist nicht viel anders als in den NAAS oder sonstwo, wo Frauen sich in Samenbanken Kindsväter aussuchen, die irgendwas besonders gut können... Das ist doch nix Besonderes! — Die Andhigans machen es wenigstens nicht mit Labortechnik, sondern auf natürlichem Weg. Wir suchen uns einfach Männer aus, die ganz bestimmte Eigenschaften haben, auf die wir eben Wert legen! — Und das ist auch schon alles!"

"'Wir'?!" Deane sah Reafer erstaunt an.

Reafer räusperte sich. "Ja! Wir! — Ich komm' auch aus 'nem Andhigan-Stall! So! Jetzt wisst ihr Bescheid! — Mein Andhigan-Name ist Stār-Wind!"

Das Schweigen im Walde! Sie musterten Reafer. Mit ganz neuem Interesse.

Sie sah trotzig in die großäugigen Gesichter. "Jetzt seid ihr wohl geschockt, was?!"

Blicktausch. Grinsen. Feixen.

"Ker'! Du glaubst wohl, dass wir 'n Nervenkostüm haben wie 'ne Tüllgardine, was?!" bollerte Rhyan schließlich los. "Wenn du immer so schnell Angst hast, wir könnten erschüttert sein!"

"Also, äh, wirklich! Für seine, äh, Herkunft kann man schließlich nichts!" verkündete ausgerechnet Sirrah im Brustton der Überzeugung.

"Außerdem", fügte Deane feixend hinzu, "müssten wir dann ja auch über Sunyard schockiert sein! — Wir wissen nämlich, dass seine 'alte Dame' ebenfalls Mitglied in diesem 'Verein' ist!"

"Frea Eanwen!" Reafer nickte. "Sunyard!  D a s  hast du ihnen erzählt?!"

Achselzucken. "Warum nicht!" Er lachte trocken auf. "So delikat brauchste wirklich nicht zu sein! 'n bisschen was vertragen deine Spezis schon! Storys aus Saxxan hören sie sogar ausgesprochen gern! Muss irgendwie exotisch für sie sein..."

Rhyan machte ihm eine lange Nase.

"'Staar-Wind'..." wiederholte Deane. "Das hat der komische Kerl im schwarzen Anzug auch gesagt! — 'Frea Staar'!" Er grinste Reafer an. "Hat das was mit diesem verbogenen Stern zu tun, den du da unter deinen Lokuspapier-Brief gekritzelt hast?!"

Reafer nickte. "Ja! Das war meine... Unterschrift!"

"'Frea'... ist das eine Art, äh, Anrede? So wie 'Lady' oder 'Madam'?"

"Ganz genau!"

"Ja, so...", ließ Shelley sich wieder vernehmen, "Dann war deine Mutter also eine von diesen... Andhigans?"

Sunyard antwortete für Reafer. "Frea UUiga Staar-Wind-Gearfærsūn war 'ne Super-Doppel-Plus-mit-Stern-Andhigan! — Warum sie nicht bei ihrem Verein geblieben ist, ist mir völlig schleierhaft! — Mit Tochter?!"