Sophienlust – Jubiläumsbox 7 – E-Book: 35 - 40

Sophienlust
– Jubiläumsbox 7–

E-Book: 35 - 40

Judith Parker
Juliane Wilders
Patricia Vandenberg
Aliza Korten
Bettina Clausen

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-246-6

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Niemand hat mich richtig lieb

Hab Geduld, kleine Petra ...

Roman von Judith Parker

Ganz plötzlich hatte das Wetter umgeschlagen, ein stürmischer Wind brauste über das Land. Als die ersten Regentropfen gegen die Windschutzscheibe klatschten, schaltete Ina Reimann den Scheibenwischer ein.

Dieses Wetter passt zu meiner traurigen Stimmung, dachte die junge Frau und blickte ihre kleine Tochter neben sich an, die leise schluchzte. »Wein doch nicht mehr, mein Liebling«, bat sie zärtlich. »Du wirst sehen, dass es dir in Sophienlust gefallen wird.«

»Bring mich bitte nicht in das Kinderheim, Mutti«, flehte das Kind. »Ich will zu Großmama zurück.«

Ina sah in das süße Kindergesicht mit den rot verweinten Augen, dabei wurde ihr noch schwerer ums Herz. »Petra, du musst mein vernünftiges kleines Mädchen sein. Großmama ist sehr krank und muss lange in der Klinik bleiben. Aber wir werden sie oft besuchen. Ich hole dich dann von Sophienlust ab. Nicht wahr, das ist doch fein?«

»Großmama hätte nicht erlaubt, dass ich in ein Kinderheim komme«, widersprach Petra.

Die Worte ihrer Tochter trafen Ina schwer. Sollte sie den Plan, Petra nach Sophienlust zu bringen, nicht doch lieber aufgeben? Sollte sie die Tatsache, dass ihre Schwiegermutter krank geworden war, als Wink des Schicksals ansehen und Petra unter diesen Umständen wieder an sich gewöhnen? Ja, überlegte Ina weiter, sie sollte auf der Stelle umkehren und wieder nach Hause fahren. Vielleicht war ihre Ehe doch noch zu retten. Eine Aussprache mit Eberhard würde viel dazu beitragen, alle Missverständnisse zwischen ihnen zu klären.

Doch nein, das war ein absurder Gedanke. Der Zeitpunkt für diese Aussprache war verpasst. Für sie beide gab es kein Zurück mehr. Dafür hatte schon Ursula Rüttgen gesorgt, die hübsche Journalistin, die es verstanden hatte, Eberhard einzufangen.

Aber trug Ursula Rüttgen wirklich die alleinige Schuld an der Zerrüttung ihrer Ehe, fragte sich Ina ehrlich. Hatte sie nicht auch dazu beigetragen? Als Eberhard nach Petras Geburt von ihr verlangt hatte, ihren Beruf aufzugeben, hätte sie ihm diesen Gefallen erweisen müssen. Dann wäre sicherlich alles ganz anders gekommen.

Aber ihre Reue kam zu spät. Sie hatte Eberhard durch ihren Starrsinn verloren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit dieser Tatsache abzufinden und zu versuchen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. An Aufträgen würde es ihr nicht fehlen, denn als Grafikerin hatte sie bereits einen guten Namen. Später würde sie eine größere Wohnung mieten und eine zuverlässige Frau einstellen, deren Aufgabe es sein sollte, sich um Petra zu kümmern. Dann brauchte sie sich nicht mehr von ihrem Kind zu trennen.

»Mutti, ich wollte doch so gern in die Ballettschule gehen«, begann Petra wieder zu klagen. »Großmama hat doch gesagt, ich werde einmal eine berühmte Ballerina sein, der die Welt zu Füßen liegt. Warum ist Großmama nur krank geworden und hat mich allein gelassen? Niemand hat mich jetzt richtig lieb«, schluchzte sie.

»Aber mein Herzchen, wie kannst du nur so etwas sagen?«, antwortete Ina erschüttert. »Ich habe dich doch lieb. Und Vati auch.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Petra bekümmert. »Großmama hat gesagt, ihr könnt mich gar nicht lieb haben, weil ihr euch so oft zankt. Auch würdest du viel mehr Zeit für mich haben, wenn du mich lieb hättest. Eine Mutti kümmert sich um ihr Kind. Ja, das hat Großmama gesagt«, trumpfte Petra auf und schob trotzig ihre Unterlippe vor.

Ina kam sich vor wie ein gescholtenes Kind. Ihre Schwiegermutter hätte mit Petra auf keinen Fall so darüber sprechen dürfen.

»Petra, du brauchst nicht lange in dem Kinderheim zu bleiben«, versprach Ina, um das Kind von seinen aufsässigen Gedanken abzulenken. Doch dann dachte sie daran, dass Petra möglicherweise wegen Platzmangels in Sophienlust gar keine Aufnahme finden werde. Dann würde sie das Kind wieder mit nach Hause nehmen müssen. Vielleicht würde sie für Petra einen Platz in einem Kindergarten bekommen. Aber was würde am Abend sein, wenn sie selbst einmal beruflich eingeladen war? Persönliche Kontakte waren in ihrem Beruf für einen guten Auftrag oft ausschlaggebend. Petra aber war erst fünf Jahre alt. Das Risiko, ein Kind in ihrem Alter unbeaufsichtigt allein in der Wohnung zu lassen, war zu groß.

Diese Überlegung hatte auch den Entschluss, Petra in einem Heim unterzubringen, in ihr reifen lassen. Nach Carola Dahms Worten musste dieses Sophienlust ein wahres Kinderparadies sein.

Ina dachte wieder an den Zufall, der sie nach so vielen Jahren mit Carola Dahm zusammengeführt hatte. Als sie vor einigen Wochen eine Kunstausstellung besucht hatte, war ihr der Name Carola Dahm im Katalog aufgefallen. Ob das dieselbe Carola Dahm ist, mit der ich in dem Kinderheim von Madame Merlinde, im Haus »Bernadette« war, hatte sie sich gefragt und sich dann erkundigt, ob die Malerin anwesend sei.

Carola war da gewesen. Über das unverhoffte Wiedersehen hatten sie sich beide riesig gefreut und sich mit dem Versprechen getrennt, weiterhin in Verbindung zu bleiben. Carola hatte versprochen, als Erste zu schreiben, um Ina nach Sophienlust einzuladen. Aber sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten.

»Mutti, wann sind wir denn da?«, fragte Petra. Sie griff nach ihrem Teddybären, der neben ihr auf dem weichen Ledersitz saß, und nahm ihn in die Arme.

»Bald, mein Liebling. Da vorn sehe ich einen Wegweiser.« Ina trat auf die Bremse und las das Schild. »Noch zehn Kilometer, Petra.«

»Mutti, ich fürchte mich vor den anderen Kindern. Vielleicht sind sie böse und nehmen mir meinen Teddy weg. Ich habe ihn doch so lieb, weil Großmama ihn mir geschenkt hat«, bekannte sie und küsste den Bären auf die Nasenspitze.

»Keiner wird dir deinen Bären wegnehmen. Meine Freundin Carola hat mir erzählt, in Sophienlust gäbe es nur liebe Kinder. Sie sind lieb, weil sie dort glücklich sind. Auch du wirst dort glücklich sein, Petra. Glaub es mir.«

»Wirklich, Mutti?« Misstrauisch blinzelte Petra sie an. »Wenn du mich lieb hättest, würdest du mich nicht in ein Kinderheim bringen«, warf sie ihr vor.

»Petra, bitte rede dir so etwas nicht ein! Viele Muttis bringen ihre Kinder in ein Heim, weil sie Geld verdienen müssen und keine Zeit haben.«

»Aber Vati verdient doch Geld«, stellte Petra leise fest. »Großmama hat gesagt, dass du eine verschwenderische Person bist und nur Geld verdienen willst, um dir lauter Firlefanz zu kaufen. Großmama hat auch gesagt, ein Auto sei genug in einer Ehe.«

Ina presste die Lippen zusammen, damit ihr kein unbedachtes Wort über ihre Schwiegermutter entschlüpfte. Es war ihr unverständlich, warum diese solche Weisheiten in die Welt hinausposaunte. Dabei hatte sie sich doch immer gut mit ihr verstanden. Hatte sich denn die ganze Welt gegen sie verschworen, fragte sie sich verzweifelt. Was hatte sie nur falsch gemacht?

Ina dachte an das letzte Telefongespräch mit Eberhard, als sie ihn in seinem Büro angerufen hatte, weil er nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie hatte ihn gefragt, ob er etwas dagegen habe, Petra bis zur Klärung ihrer Differenzen in einem Kinderheim unterzubringen. Sofort hatte er seine Zustimmung gegeben. Hatte sie tatsächlich gehofft, er werde sie um eine Aussprache bitten? Ja, sie hatte es gehofft. Dabei wusste sie doch, dass er für sich bereits eine Wohnung gefunden hatte und so bald wie möglich ihre gemeinsame Wohnung verlassen würde.

Wie dumm von ihr, sich solchen Hoffnungen hinzugeben. Er trennte sich doch nur deshalb räumlich von ihr, um sich in seinem neuen Appartement ungestört mit Ursula Rüttgen treffen zu können. Nun würde er auch bald die Scheidung anstreben.

Ina schluckte die Tränen herunter. Schon allein die Vorstellung, dass Ursula Rüttgen ihren Platz in Eberhards Leben einnehmen würde, war unerträglich für sie.

Dass ihre Ehe mit Eberhard, den sie noch immer heiß und innig liebte, so traurig enden würde, hätte sie sich niemals träumen lassen. Als sie sich vor ungefähr sechs Jahren kennengelernt hatten, war es bei jedem von ihnen Liebe auf den ersten Blick gewesen. Schon nach wenigen Wochen hatten sie geheiratet und geglaubt, das glücklichste Paar auf Erden zu sein. Damals war Eberhard noch Reporter gewesen, während sie als Graphikerin bereits viel Erfolg gehabt hatte. Sie hatten Zukunftspläne geschmiedet. Ihr Traum war ein kleines Haus außerhalb der Stadt. Da sie beide fantasiereich waren, hatten sie das Haus mit allen Raffinessen eingerichtet, freilich nur auf dem geduldigen Papier.

Aber dann hatte sich Petra angemeldet. Als Eberhard davon erfahren hatte, war er vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen. Seine Pläne für die Zukunft hatten sich geändert.

»Natürlich gibst du deinen Beruf auf«, hatte er erklärt. »Eine Mutter gehört zu ihrem Kind. Ich bin jetzt glücklicherweise Redakteur geworden und dadurch in der Lage, meine Familie standesgemäß zu ernähren.«

Im Überschwang ihrer großen Freude über das Kind hatte sie ihm alles versprochen, was er wollte. Aber als Petra ein Vierteljahr alt gewesen war, hatte sie heimlich einige Aufträge angenommen. Als Eberhard dahintergekommen war, hatte es zwischen ihnen den ersten hässlichen Streit gegeben, dem weitere folgten. Keiner von ihnen wollte nachgeben. So war allmählich eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen entstanden.

Tagelang war Eberhard am Abend nicht nach Hause gekommen. Die vielen einsamen Stunden, über die ihr auch die Arbeit nicht hatte hinweghelfen können, hatten ihr viel Zeit zum Nachdenken gelassen. Schließlich war sie innerlich bereit gewesen, klein beizugeben. Aber da hatte sie erfahren, dass Eberhard die Abende häufig mit der Journalistin Ursula Rüttgen verbrachte. Ausgerechnet mit dieser raffinierten Person, hatte sie voller Eifersucht gedacht und aus Trotz weitere Aufträge ausgeführt.

Das alles hatte dazu geführt, dass sie kaum mehr Zeit für ihr Kind gehabt hatte. Tagsüber hatte ihre Schwiegermutter Petra betreut. Aber eines Tages hatte die alte Dame rigoros erklärt, so ginge das nicht mehr weiter. Man könne ein Kind, besonders ein so sensibles kleines Mädchen wie Petra, nicht wie ein Stück Holz behandeln. Sie schlage vor, dass die Kleine vorerst einmal ganz zu ihr zöge, bis sie und Eberhard endlich wüssten, was sie wollten. Die lauten Streitereien zwischen ihnen würden dem Kind schaden.

Weder Eberhard noch sie hatten der alten Dame widersprochen. Petra aber war über diese Lösung recht glücklich gewesen. Sie hatte sich jedenfalls in dem gemütlichen Heim ihrer Großmama wohlergefühlt als in der Wohnung ihrer Eltern.

Frau Hildegard Reimann hatte auch Petras Tanztalent entdeckt. »Petra hat ein reizendes, zierliches Figürchen und ist sehr musikalisch«, konstatierte sie eines Tages. »Ich werde das Kind in der Ballettschule anmelden.«

Auch damit waren Eberhard und sie einverstanden gewesen. Die kleine Petra war darüber selig gewesen und hatte sehnsüchtig darauf gewartet, endlich mit dem Unterricht in der Ballettschule beginnen zu können. Doch die Erkrankung ihrer Großmama hatte einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Das war für Petra doppelt schmerzlich gewesen, sodass sie kaum zu beruhigen gewesen war.

»Schau doch, Mutti!«, rief Petra jetzt plötzlich begeistert und riss Ina damit aus ihren schmerzlichen Erinnerungen. »Dort ist ja ein Märchenschloss. Meinst du, dass dort Dornröschen wohnt? Oder Aschenbrödel?«

»Ich glaube, das ist Sophienlust«, erwiderte Ina und fuhr langsam in den Hof. Einige Hühner stoben laut gackernd auseinander, worüber Petra hell auflachte.

Auch Ina lächelte unvermittelt. Auf einmal erschien ihr die Zukunft nicht mehr ganz so trostlos. Petra war ein aufgewecktes und fröhliches Kind. Sie würde ihren Kummer in der Ge­sellschaft anderer Kinder bald vergessen.

Der Regen hatte nachgelassen, aber noch immer jagten dunkle Wolken tief über das Land. Als Ina ausstieg, riss eine Bö ihr fast den Schal fort.

Auch Petra kletterte aus dem Wagen. Ganz fest drückte sie ihren Teddy an sich, als sie sich nach allen Seiten neugierig umblickte. »Mutti, dort ist ein großer Junge!«, rief sie und deutete auf einen Radfahrer, der gerade von seinem Rad abstieg und es an die Hauswand anlehnte.

»Hallo!«, rief Ina. »Ist das hier Sophienlust?«

»Ja, das ist Sophienlust.« Dominik, denn er war es, kam näher und sah die hübsche junge Dame und das kleine Mädchen aufmerksam an.

»Ich möchte zu Frau Dahm«, erklärte Ina dem bildhübschen schwarzhaarigen Jungen mit den dunklen Augen. »Ich bin Ina Reimann und eine Freundin von Carola.«

»Frau Dahm.« Dominik schmunzelte.

»Bei uns gibt es keine Carola Dahm mehr, nur noch eine Carola Rennert«, klärte er die fremde Dame verschmitzt lächelnd auf.

»Ach, dann hat Carola inzwischen geheiratet«, stellte Ina überrascht fest.

»Ja, seit Kurzem. Ich werde Carola Bescheid sagen, dass Besuch für sie da ist. Aber bitte kommen Sie doch ins Haus«, entsann sich Nick als zukünftiger Herr von Sophienlust seiner Pflichten.

»Vielen Dank.« Ina fasste Petra bei der Hand und folgte dem Jungen.

In der Halle bat Dominik sie, doch Platz zu nehmen. Dann ließ er die beiden allein.

Petra blickte sich scheu um. Sie war tief beeindruckt von dem großen schönen Haus.

»Nicht wahr, mein Liebling, es ist schön hier«, versuchte Ina ihre Tochter zu ermuntern.

»Das weiß ich noch nicht, Mutti«, erwiderte Petra ängstlich und klammerte sich an die Hand ihrer Mutter. »Bitte, bitte, fahren wir doch wieder nach Hause«, bettelte sie.

»Das ist unmöglich, Petra. Schau doch …«

Das Erscheinen ihrer Freundin Carola enthob Ina einer weiteren Erklärung, worüber sie sehr froh war.

»Ina, du!«, freute sich Carola, wobei ihr das helle Glück aus den Augen strahlte. »Das ist aber eine liebe Überraschung.« Die Freundinnen umarmten sich, dann stellte Ina Petra vor.

»Also, das ist deine kleine Tochter.« Carola begrüßte das Kind liebevoll. Was für ein reizendes Kind, dachte sie.

»Guten Tag«, antwortete Petra abweisend und fasste wieder nach Inas Hand. »Ich will nicht ins Kinderheim«, fügte sie hinzu, wobei sich große Tränen von ihren Wimpern lösten.

Ina zwinkerte Carola schnell zu, die sofort begriff, dass sie dieses Thema vor ihrem Kind nicht weiter berühren solle.

»Ina, Petra, kommt mit in meine Wohnung«, bat Carola.

»Du wohnst hier im Haus?«, fragte Ina interessiert.

»Ja, Frau von Schoenecker hat für uns eine Wohnung ausbauen lassen. Aber ich habe dir ja schon so viel von Tante Isi erzählt.«

»Ja, Carola, nach deiner Schilderung muss sie eine wunderbare Frau sein.«

»Das ist sie auch. Du hast ja schon ihren Sohn kennengelernt.«

»Ach, dann war der schwarzhaarige Junge der zukünftige Erbe von Sophienlust?«

»Er ist schon … Aber das werde ich dir später alles genau erklären«, unterbrach sich Carola und öffnete eine Tür.

Ina war ganz begeistert von der hübschen Wohnung. Auch Petra blickte sich um und entdeckte in einem Sessel eine schwarze Katze.

»Oh, Mutti, schau doch«, flüsterte sie und ließ die Hand ihrer Mutter los.

»Ist das eine richtige lebendige Katze?«, fragte sie voller Aufregung. »Sie bewegt sich ja gar nicht!«

»Das ist mein Kater Mutzi«, erklärte Carola. »Er schläft nur.«

»Darf ich ihn streicheln?«, fragte Petra.

»Ja, das darfst du.«

»Danke«, sagte Petra und setzte ihren Teddybären auf einen Stuhl. »Sei nicht böse, Teddy«, bat sie leise. »Aber ich habe dich immer noch lieb, auch wenn ich den Kater streicheln möchte.« Dann trippelte sie zu dem Sessel hin und blieb mit großen Augen davor stehen. Als der Kater seinen Kopf hob und sie anblinzelte wich sie ein Stückchen zurück.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, bemerkte Carola. »Er beißt nicht.«

»Wirklich nicht?« Petra streckte die Hand aus und berührte zaghaft das glänzende Fell. »Er beißt wirklich nicht«, konstatierte sie erleichtert und setzte sich auf den Sessel. Als der Kater auf ihren Schoß stieg und sich wieder einrollte, strahlte Petra übers ganze Gesicht.

Indessen hatte Ina die Gemälde an den Wänden betrachtet. »Sind die alle von dir?«, fragte sie bewundernd.

»Ja, Ina«, entgegnete Carola bescheiden, denn es erschien ihr noch immer wie ein Wunder, dass sie auf dem besten Weg war, eine bekannte Malerin zu werden. »Du, da fällt mir mein Versäumnis ein, Ina! Ich wollte dir doch schreiben, aber ich bin nicht dazu gekommen. Die Tage sind mir einfach davongelaufen.«

»Carola, ich weiß doch, wie so etwas ist. Ein Glück, dass ich mir die Adresse von Sophienlust notiert hatte. Ist das dein Mann?«, fragte Ina und deutete auf ein Porträt.

»Ja, das ist Wolfgang. Aber ich habe das Gefühl, dass mir das Bild nicht so gut gelungen ist. Es ist sehr schwer, jemanden zu porträtieren, den man liebt und schon so viele Jahre kennt wie ich Wolfgang. Ich sehe ihn immer wieder anders. Aber jeder Mensch hat wohl mehrere Gesichter«, fügte sie gedankenverloren hinzu, wobei ein zärtliches Lächeln ihre vollen Lippen umspielte.

»Ja, Carola, da ist etwas Wahres dran«, stimmte Ina ihr bei. »Du bist sehr glücklich mit deinem Wolfgang, nicht wahr?«

»Ja. Unendlich glücklich, Ina«, schwärmte die junge Frau, und der Glanz in ihren Augen vertiefte sich. »Von Anfang an wusste ich, dass Wolfgang und ich vom Schicksal füreinander bestimmt sind. Und Wolfgang erging es ebenso.« Carola erzählte ihrer Freundin nun mehr von Wolfgangs Tätigkeit in Sophienlust.

Ina blickte zu Petra hin, die den Kater selbstvergessen mit Zärtlichkeiten überschüttete. »Carola, ich möchte Petra ins Kinderheim geben«, sagte sie leise.

»Du willst Petra in ein Heim geben?«, wunderte sich Carola.

»Ja, Carola, im Augenblick ist es die einzige Lösung für sie.«

»Aber, Ina, das ist mir unbegreiflich! Du hast doch …«

Ina legte den Zeigefinger an die Lippen. »Carola, ich würde dich gern allein sprechen.«

»Ich verstehe. Dann komm mit in die Küche. Ich glaube, du könntest einen starken Kaffee brauchen.«

»Ja, Carola, den hätte ich wirklich nötig.«

Als Ina das Wohnzimmer verlassen wollte, ließ Petra sofort von dem Kater ab und rutschte vom Sessel.

»Petra, bleib nur bei dem Kater. Ich helfe meiner Freundin nur ein bisschen in der Küche.«

»Kommst du auch wirklich wieder, Mutti?«

»Aber ja, mein Liebling.« Ina folgte Carola in die Küche.

»Ina, was ist geschehen?«, fragte Carola und setzte Kaffeewasser auf.

Ina setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. »Mein Mann und ich haben uns auseinandergelebt«, erklärte sie nach dem ersten Zug.

»Aber ich dachte, du wärst mit deinem Mann sehr glücklich«, meinte Carola erstaunt. »Damals sagtest du doch auch, du würdest dich niemals von deinem Kind trennen, egal was auch geschehe.«

»Mein Gott, Carola, ich schämte mich einfach, dir zu erzählen, wie es in Wirklichkeit um meine Ehe stand. Aber ich werde dir alles von Anfang an berichten.«

Ina war froh, endlich jemandem ihr Herz ausschütten zu dürfen. Als sie ihren Bericht beendet hatte, erwiderte Carola mitleidig: »Du tust mir leid, Ina. Meinst du nicht, dass du dich noch einmal mit deinem Mann aussprechen solltest? Ich glaube, zwischen euch gibt es viele Missverständnisse.«

»Carola, dazu ist es zu spät. Ja, wenn diese Rüttgen nicht wäre, gäbe es vielleicht noch einen Weg für eine Versöhnung. Aber so.« Ina schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Carola. Oder glaubst du, ich würde mich so tief vor Eberhard erniedrigen, dass ich um seine Liebe bettle?« Ina drückte ihre halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Siehst du, deshalb möchte ich Petra für ein Weilchen hierherbringen. Ich will sie von weiteren Aufregungen fernhalten.«

»Das ist verständlich«, gab Carola zu. Ihr tat Ina unendlich leid. »Ich werde mit Tante Isi über Petra sprechen«, bot sie an. »Denn ich kann in einem solchen Fall keine Entscheidung treffen. Hoffentlich kommt Tante Isi heute auch nach Sophienlust.« Carola erzählte rasch von Gut Schoeneich.

»Oje, dann muss ich Petra vielleicht wieder mit nach Hause nehmen«, seufzte Ina.

»Du, ich glaube, da kommt ein Wagen. Du hast Glück, es ist Tante Isi!«, rief Carola erfreut.

»Da bin ich sehr froh.« Ina atmete auf.

»Entschuldige mich bitte für einige Minuten«, bat sie dann. »Ich sage nur Tante Isi Bescheid, dass ihr da seid.«

Als Ina allein war, ging sie ins Wohnzimmer. Petra stand sofort auf und rief: »Mutti, wir fahren doch bald wieder heim?«

Statt einer Antwort schloss Ina ihre Tochter liebevoll in die Arme. Als sie den kleinen Körper fest an sich drückte, glaubte sie plötzlich, es doch nicht übers Herz bringen zu können, ihr Kind in Sophienlust zurückzulassen. Vielleicht nehmen sie Petra gar nicht in dem Heim auf, dachte sie und wünschte es sich auf einmal.

*

Dominik, Malu, Pünktchen und Isabel saßen im Wintergarten. Sie sprachen über Frau Reimann und deren kleine Tochter.

»Glaubst du tatsächlich, dass Frau Reimann die Absicht hat, ihre Tochter in Sophienlust zu lassen?«, fragte Pünktchen.

»Ja, Pünktchen. Ich habe für so etwas eine Nase. Wenn ein Kind so aussieht wie das kleine Mädchen, kommt es zu uns.«

»Wenn es wie aussieht?«, fragte Isabel.

»So bekümmert. Außerdem hatte die Kleine verweinte Augen. Aber trotzdem sah sie sehr niedlich aus. Ich glaube, sie hat rötliches Haar und genauso grüne Augen wie Malu.«

Pünktchen zog einen Schmollmund. Sie schätze es nicht sehr, wenn Nick so begeistert von einem anderen kleinen Mädchen sprach. »Aber sie ist noch sehr klein«, meinte sie. »Ein halbes Baby?«

»Es gibt kein halbes Baby«, belehrte Nick sie. »Das Kind ist fünf oder sechs Jahre alt.«

»Das finde ich aber noch sehr klein«, behauptete Pünktchen, um vieles erleichtert. Ein so kleines Mädchen war keine ernst zu nehmende Konkurrenz für sie.

»Seit Pünktchen zehn geworden ist, glaubt sie, schon eine Großmutter zu sein«, neckte Nick sie übermütig.

»Geh, lass mich in Ruhe!«, zürnte sie ihm. »Immer musst du mich ärgern.«

»Nick, du solltest Pünktchen nicht immer kränken«, mischte sich Malu ein.

»Aber Pünktchen sollte doch längst wissen, dass ich so etwas nicht ernst meine. Nicht wahr, Pünktchen, dass weißt du doch?«, fragte er, wobei er ihr ein so liebes Lächeln schenkte, dass ihr ganz wunderlich ums Herz wurde.

»Ja, Nick, das weiß ich«, entgegnete sie eilig.

Malu und Isabel zwinkerten sich zu. So war es stets. Sich einzumischen, wenn Pünktchen und Nick stritten, war eine undankbare Aufgabe.

»Mutti kommt!«, rief Nick und stand auf. Wie ein Wirbelwind sauste er aus dem Wintergarten, um seiner Mutter von Carolas geheimnisvollem Besuch zu erzählen.

Denise betrat gerade, als Nick erschien, das Haus.

»Mutti, fein, dass du da bist!«, rief der Junge. »Ich glaube, wir bekommen wieder einmal Zuwachs in Sophienlust.«

»So? Wer denn?«, fragte Denise verwundert. »Ich weiß von nichts.«

»Carola hat Besuch. Eine Freundin von ihr ist da, die ihre kleine Tochter mitgebracht hat.«

»Aber das braucht doch nicht zu bedeuten, dass sie das Kind hierlassen will.«

»Na, ich habe da so eine Ahnung, Mutti. Du weißt doch, dass ich für solche Dinge eine richtige Spürnase habe.«

»Das hast du allerdings, mein Junge«, gab Denise zu. »Sag, bist du nicht sehr nass geworden?«

»Nur ein bisschen, Mutti.«

»Du hättest doch lieber mit mir fahren sollen.«

»Aber ich wollte doch mein neues Fahrrad ausprobieren. Es ist ganz große Klasse. Nur …« Er zögerte und sagte dann schnell: »Aber wenn Vati mir einen Motorroller gekauft hätte, könnte ich damit täglich zur Schule fahren.«

»Mir ist es lieber, du fährst mit dem Bus in die Stadt, Nick.«

»Aber die anderen Jungen in meinem Alter …«

»Noch musst du dich in diesen Dingen nach uns richten, mein Sohn«, unterbrach Denise ihn ernst und dachte: Ein Glück, dass Alexander ihm keinen Motorroller gekauft hat, obwohl das sein Herzenswunsch war. Ich hätte dann keine ruhige Minute mehr.

»Da kommt Carola«, stellte Dominik fest. »Du wirst sehen, dass ich mich nicht geirrt habe.«

Als Carola Denise von Ina und Petra erzählte, nickte Dominik zufrieden. Wieder einmal hatte er Recht behalten.

»Gut, Carola, ich werde mich mit Frau Reimann unterhalten«, erklärte Denise. »Ich warte auf sie und das Kind im Biedermeiersalon.«

Carola nickte und kehrte in ihre Wohnung zurück, um Ina und das Kind zu Tante Isi zu bringen.

»Wirst du die kleine Petra aufnehmen, Mutti?«, fragte Nick neugierig, als er Carola nachblickte.

»Das kann ich noch nicht sagen, Nick. Das kommt ganz auf die Umstände an.«

Mit dieser Antwort musste Dominik sich vorerst zufriedengeben, aber er wünschte sich von ganzem Herzen, dass das niedliche kleine Mädchen in Sophienlust bleiben würde.

*

Ina betrat, Petra an der Hand, das Biedermeierzimmer. Denise erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und begrüßte die junge Frau und das Kind liebenswürdig.

Petra zeigte kein sehr freundliches Gesicht. Ihrer Meinung nach war sie schon lange genug in Sophienlust. Jetzt wollte sie mit ihrer Mutti wieder nach Hause fahren. Trotzig schob sie die Unterlippe vor.

Denise konnte in einem Kindergesicht wie in einem offenen Buch lesen und wandte sich an Carola, die den beiden gefolgt war. »Bitte, bringe doch Petra zu den anderen Kindern«, bat sie. »Möchtest du einen sprechenden Papagei sehen?«, fragte sie das kleine Mädchen, über dessen Gesicht plötzlich Tränen rollten.

»Einen lebendigen Papagei?« Petra hörte zu weinen auf und blickte die fremde Dame neugierig an.

»Ja, Petra, einen lebendigen Papagei. Er heißt Habakuk und kann alle Namen nachsprechen.«

»Auch meinen?«

»Auch deinen, Petra«, lächelte Denise.

»Petra, wir haben hier in Sophienlust noch viele Tiere. Eine Schildkröte, ein Meerschweinchen und viele Hunde«, versuchte nun auch Carola das Kind von seinem Kummer abzulenken.

»Wenn du mitkommst, werde ich sie dir alle zeigen.«

Petra nickte. »Mutti, aber du wartest auf mich«, flehte sie, hin und her gerissen von dem Wunsch, die Tiere kennenzulernen, und ihrer großen Angst, allein in dem Kinderheim zurückgelassen zu werden.

»Freilich warte ich auf dich, mein Liebling«, beruhigte Ina ihr Töchterchen.

Nach einem letzten misstrauischen Blick verließ Petra mit Carola das Zimmer.

Ina unterdrückte einen schweren Seufzer. Noch hatte sie Frau von Schoenecker ihr Anliegen nicht vorgetragen, noch konnte sie Petra wieder mit nach Hause nehmen. Aber dann dachte sie an die unerfreulichen Verhältnisse, die ihr Zerwürfnis mit Eberhard heraufbeschworen hatten. Es war ihre Pflicht als Mutter, Petra von weiteren seelischen Konflikten fernzuhalten.

Ein entschlossener Ausdruck trat in ihr Gesicht, als sie sagte: »Frau von Schoenecker, ich wäre sehr froh, wenn Petra in Sophienlust bleiben dürfte.«

»Carola sprach schon davon, Frau Reimann. Nur …«

»Dann wollen Sie Petra also nicht aufnehmen?«, fiel Ina ihr erregt ins Wort. »Dann haben Sie für sie keinen Platz mehr?«

»Platz gäbe es genügend, Frau Reimann. Aber eine Mutter sollte es sich lange überlegen, bevor sie ihr Kind in fremde Hände gibt«, gab Denise zu bedenken.

Ina schüttelte den Kopf. »Ich brauche nicht mehr zu überlegen, Frau von Schoenecker. Gewisse Umstände zwingen mich dazu«, bekannte sie und schilderte dann in kurzen Zügen, was sie zu diesem entscheidenden Schritt bewog.

Denise hörte ihr verständnisvoll zu. Dann empfahl sie Ina, sich schon im Interesse ihres Kindes wieder mit ihrem Mann auszusöhnen.

»Dafür ist es zu spät«, erklärte Ina betrübt. »Wenn zwei Menschen, wie mein Mann und ich, sich so weit auseinandergelebt haben, gibt es nur noch eine Lösung: die Trennung.«

»Also dann werde ich Petra im Kinderheim aufnehmen«, entschloss sich Denise schnell.

»Vielen Dank, Frau von Schoenecker. Dass Petra in Ihrer Obhut bleiben darf, ist für mich eine große Beruhigung. Darf das Kind gleich dableiben?«

Denise nickte zustimmend.

»Ich werde Petra in der nächsten Woche besuchen und ihr noch Sachen mitbringen.«

Ina bedankte sich noch einmal, wusste aber nicht, ob sie sich über ihren schnellen Erfolg freuen sollte oder nicht. Jetzt, wo endgültig feststand, dass Petra in Sophienlust bleiben würde, fühlte sie sich nicht ganz so erleichtert, wie sie eigentlich erhofft hatte.

Denise war das lebhafte Mienenspiel der jungen Frau nicht entgangen. Sie hoffte in deren Interesse, dass das Ehepaar letzten Endes doch noch einen Weg finden würde, der sie wieder zusammenbrachte. »Möchten Sie noch Sophienlust besichtigen?«, fragte sie, um Ina abzulenken.

»Ja, das würde ich sehr gern.« Ina lächelte gezwungen.

Die Damen verließen den Salon. Zuerst unterhielten sie sich mit Frau Rennert, dann besichtigten sie das Haus.

Ina war ganz begeistert von den hellen, freundlichen Räumen. Hier muss ein Kind glücklich sein, dachte sie und atmete auf.

Petra befand sich im Wintergarten inmitten einer fröhlichen Kinderschar. Denise stellte Malu, Pünktchen, Angelika, Vicky und Isabel der jungen Frau vor. Dann kam Nick, der sofort das Wort ergriff. Seine Lebhaftigkeit riss alle mit, auch Petra.

»Du, es ist recht schön hier«, flüsterte sie ihrer Mutter zu. »Aber trotzdem möchte ich nicht hierbleiben. Auch mein Teddy hat gesagt, er will wieder zur Großmama.«

»Petra, hör mir mal gut zu«, begann Ina und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um Petra beizubringen, dass sie für eine Weile hierbleiben müsse.

»Ich fahre doch mit heim?«, fiel Petra ihr ins Wort.

»Nein, Petra, du wirst hierbleiben.« Ina fühlte sich am Ende ihrer Kräfte.

»Aber ich will nicht!«, rief Petra unglücklich und fing an zu weinen.

Die anderen Kinder betrachteten mitleidig das kleine Mädchen, das durchaus nicht in Sophienlust bleiben wollte. Sie waren sich alle darin einig, dass Petra sich schnell einleben würde. So war es immer, und so würde es wohl auch immer bleiben.

Dominik hielt die Zeit für gekommen sich einzumischen. Bisher war es ihm stets gelungen, verzweifelte Kinder von ihrem Schmerz abzulenken.

»Petra, du wolltest doch die Ponys sehen«, erinnerte er das Kind. »Komm, wir laufen schnell zu den Ställen.«

Petra hörte zu weinen auf und blinzelte den großen Jungen misstrauisch an. »Ja, die Ponys möchte ich sehen«, gab sie zu. »Aber meine Mutti soll mitkommen.«

»Petra, ich habe noch etwas mit meiner Freundin zu besprechen«, erwiderte Ina. »Geh nur mit.«

»Ja, Mutti. Du, hier ist es wie in einem richtigen Zoo. Es gibt so viele Tiere und …«

»Siehst du, es ist wirklich hübsch hier.«

Petra fuhr sich über die Augen, um die letzten Tränenspuren fortzuwischen. Vielleicht würde es ihr hier doch gefallen, überlegte sie. Alle Kinder waren sehr lieb zu ihr. Wie drollig der Papagei mit dem komischen Namen war! Ja, und sehr klug war er auch. Nick hatte ihm nur dreimal ihren Namen vorgesagt, dann hatte er ihn schon nachsprechen können.

Carola erschien mit Vickys Mäntelchen, das sie dem Kind anzog.

»Dann können wir gehen«, erklärte Dominik und lächelte Petra aufmunternd zu. Malu nahm die Kleine bei der Hand.

»Mutti, ich bin bald wieder da!«, rief Petra ihrer Mutter noch zu, dann schloss sie sich den anderen Kindern an.

Draußen kam ein kleiner Hund angelaufen und sprang freudig bellend an Malu hoch.

»Ist das dein Hund?«, fragte Petra neugierig.

»Ja, das ist Benny. Er ist ein Wolfsspitz.

Petra konnte es nun kaum erwarten, die Ponys zu bewundern. Als sie darunter auch ein Fohlen erblickte, war sie so entzückt, dass sie für ein Weilchen alles andere vergaß. Erst später, als sie mit den anderen Kindern im Speisesaal heiße Schokolade trank und Magdas köstlichen Apfelkuchen aß, wurde sie unruhig. Wo nur ihre Mutti so lange blieb?

Ina hatte noch mit Carola geplaudert und dann auch noch Wolfgang Rennert kennengelernt. Aber danach drängte sie darauf, heimzufahren.

»Das Schlimmste steht mir noch bevor«, sagte sie, als sie sich von Carolas Mann verabschiedete. »Der Abschied von Petra. Hoffentlich weint das Kind nicht!«

Zusammen mit Carola verließ Ina die Wohnung. Als die beiden im Speisesaal erschienen, kletterte Petra sofort von ihrem Stuhl.

»Mutti, da bist du ja endlich«, begrüßte sie Ina mit überschwänglicher Freude. »Ich habe furchtbare Angst gehabt, dass du ohne mich fortgefahren wärst.«

»Petra, ich muss jetzt heimfahren«, erklärte Ina bekümmert, dabei blickte sie Denise, die soeben gekommen war, hilfeflehend an. Diese nickte ihr kaum merklich zu.

»Petra, du musst jetzt ein tapferes kleines Mädchen sein«, bat Ina und hob ihr Töchterchen hoch. Sie bedeckte das Kindergesicht mit Küssen, dann stellte sie Petra wieder sanft auf den Boden und verließ fast fluchtartig den Speisesaal.

Fassungslos blickte Petra auf die Tür, die sich hinter ihrer Mutti geschlossen hatte. »Mutti!«, rief sie und wollte sich von Denises Hand losreißen.

»Sei lieb, mein Kleines«, bat Denise das verzweifelte kleine Mädchen. »Deine Mutti wird bald wiederkommen. Schon in der nächsten Woche wird sie dich besuchen.«

»Ich will zu meiner lieben Großmama, ich will …« Petra begann bitterlich zu weinen.

Alle bemühten sich, die Kleine zu trösten. Endlich hörte sie zu schluchzen auf. Aber beim Abendbrot lehnte sie jedes Essen ab.

Dominik gelang es schließlich, Petra zum Lachen zu bringen. Er schnitt so komische Grimassen, dass sie plötzlich mit den anderen Kindern um die Wette lachte.

Alle atmeten erleichtert auf. Das Schlimmste schien überstanden zu sein. Denise nickte ihrem Sohn dankbar zu.

Dominik wandte sich wieder an Petra. »Ich glaube, du hast noch nie eine so gute Nusscreme gegessen.« Mit diesen Worten steckte er Petra einfach den gefüllten Löffel in den Mund.

Die Kleine war so überrascht, dass sie gehorsam schluckte. »Das schmeckt wirklich fein«, erklärte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Na also. Dann iss allein weiter!«

Das ließ sich Petra nicht zweimal sagen.

Denise hatte angeordnet, dass Petra mit Isabel das Zimmer teilen sollte, weil das Mädchen viel Verständnis für das Leid anderer Kinder zeigte. Isabel würde sicherlich die richtigen Worte finden, falls Petra wieder zu weinen anfangen sollte.

Aber Petra war zu müde, um noch nachdenken zu können. Die Aufregungen, die hinter ihr lagen, und die unzähligen neuen Eindrücke dieses Tages waren zu viel für sie gewesen. Als sie im Bett lag, fielen ihr auch schon die Augen zu.

Denise deckte das Kind sorgsam zu und legte ihm noch den Teddybären ins Bett.Nach einem letzten Blick auf das schlafende kleine Mädchen verließ sie leise das Zimmer. Auch Petra würde bald ihren Schmerz vergessen haben, dachte sie und war froh, dass Nick im Wagen bereits auf sie wartete.

»Nick, du bist mir eine große Hilfe«, sagte sie zu ihrem Sohn, als sie die Straße nach Schoeneich entlangfuhren.

»Findest du?« Er lächelte verlegen. Manchmal fragte er sich, ob er nicht schon zu groß sei, um sich noch mit so kleinen Kindern abzugeben. Schließlich war so etwas Frauensache. Aber wenn ein Kind seine Hilfe brauchte, dann konnte er einfach nicht anders, als helfen.

*

Der schmerzliche Abschied von Petra hatte Ina so aufgewühlt, dass sie sich kaum auf den Straßenverkehr konzentrieren konnte. Ununterbrochen dachte sie an ihr Kind, das sie allein in Sophienlust zurückgelassen hatte. Als sie sich vorstellte, dass Petra nun in einem fremden Bett liegt und weint, flossen auch ihre Tränen immer reichlicher.

Erst als die ersten Lichter der Stadt in der Ferne zu sehen waren, dachte Ina wieder an Eberhard. Angst presste ihr das Herz zusammen, weil sie sich daran erinnerte, dass er ja aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen wollte. Vielleicht hatte er während ihrer Abwesenheit bereits seine Sachen gepackt?

Nur das nicht, dachte Ina unglücklich. Sie konnte sich ein Leben ohne ihren Mann noch immer nicht vorstellen. Eberhard und sie gehörten zusammen. Sollte es nicht doch noch eine Möglichkeit geben, ihre Ehe zu retten? Schon Petra zuliebe?

Während der Fahrt durch die Stadt war Ina fest entschlossen, alles zu tun, um eine Aussöhnung mit Eberhard herbeizuführen. Als sie vor dem Appartementhaus ausstieg und nach oben blickte, sah sie Licht in ihrer Wohnung. Also war Eberhard nach Hause gekommen.

War er nach Hause gekommen, um für immer dazubleiben? Hatte er es sich vielleicht doch anders überlegt und die neue Wohnung für sich nicht gemietet? Doch nein, das durfte sie sich nicht einreden. Sie war eine erwachsene Frau, die sich keinen Illusionen hingeben durfte. Sie musste sich mit den Realitäten auseinandersetzen. Und sie kannte Eberhard gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht wie ein Fähnchen im Wind drehte, sondern seinen Entschluss, sie zu verlassen, mit allen Konsequenzen durchführen würde.

Ina schloss leise die Wohnungstür auf. Wie immer, wenn Eberhard daheim war, brannte überall das Licht. Als Ina ihren Mantel an der Garderobe aufhängte, sah sie Eberhards Trenchcoat auf seinem gewohnten Platz. Das trieb ihr unvermutet die Tränen in die Augen. In einer plötzlichen Aufwallung ihrer Gefühle schmiegte sie ihr Gesicht in den Stoff, wobei ihr wieder bewusst wurde, dass sie nie aufhören würde, Eberhard zu lieben.

Nach einem tiefen Atemzug lauschte sie angespannt. Sie hörte Eberhards Schritte im Schlafzimmer, dann das Knarren der Schranktür und das Aufziehen von Fächern. Eberhard war also heimgekommen, um auszuziehen. Das bedeutete eine endgültige Trennung.

Ina war wie gelähmt. Alles Blut strömte ihr aus dem Herzen, ein feiner stechender Schmerz in der Herzgegend löschte momentan jedes andere Gefühl in ihr aus.

Du darfst nicht weinen, sagte sie sich und ging ins Wohnzimmer. Aus dem Elfenbeinkästchen, das sie Eberhard zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, nahm sie eine Zigarette.

Die Geräusche im Schlafzimmer verstummten. Es wurde auf einmal unheimlich still in der Wohnung, so still, dass Ina nicht wagte, das Tischfeuerzeug aufschnappen zu lassen.

Ich sollte zu ihm gehen und noch einmal mit ihm in aller Vernunft sprechen, überlegte sie. Vielleicht wartet er darauf, dass ich ihm entgegenkomme. Doch im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken wieder, da sie an Ursula Rüttgens herausfordernde Schönheit dachte. Vermutlich würde die Journalistin in Eberhards neuer Wohnung bereits auf ihn warten. Das war ein unerträglicher Gedanke für Ina. Die Vorstellung, dass Eberhard dieser Frau dieselben zärtlichen Worte wie einst ihr selbst sagen würde, machte sie ganz elend.

Jetzt hob Ina lauschend den Kopf. Eberhards Schritte waren wieder zu hören. Nun fiel die Badezimmertür leise ins Schloss.

Ina blickte wie gebannt auf die angelehnte Wohnzimmertür. Jetzt würde Eberhard zu ihr ins Zimmer kommen. Wie werde ich reagieren, wenn er mich um Verzeihung bittet, fragte sie sich.

Aber dann geschah das Unfassbare. Eberhard ging an der Wohnzimmertür vorbei.

Als Ina hörte, dass er die Wohnung verließ, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Mit tränenblinden Augen tastete sie sich durch das Zimmer und stand dann in der Diele. Der Trenchcoat war fort. Eberhard war tatsächlich ohne ein Abschiedswort gegangen.

Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überkam Ina. Ich muss ihn zurückrufen, um ihn noch einmal zu sehen, um noch einmal seine geliebte Stimme zu hören. Ich muss …

Ina lief zur Wohnungstür und legte die Hand auf die Klinke. Doch sie zog sie so schnell wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. Nein, ich werde Eberhard keinen Schritt nachlaufen, dachte sie resigniert und ließ die Arme sinken.

Mit hängenden Schultern kehrte Ina ins Wohnzimmer zurück. Aufschluchzend sank sie auf Eberhards Lieblingssessel. Aus, dachte sie. Ich habe Eberhard für immer verloren.

Ruhelos wanderte Ina später durch die Wohnung. Ein Weilchen blieb sie vor dem offenen Kleiderschrank stehen und hob eine Krawatte auf, die auf dem Boden lag. Sorgfältig hängte sie sie wieder auf. Dann schloss sie mechanisch die Schranktür und die Fächer der Kommode.

Als ihr Blick auf das breite Doppelbett fiel, durchlief ein Zittern ihren Körper. Nein, sie konnte diese Nacht nicht allein in der Wohnung bleiben, sonst würde sie verrückt werden.

Ina dachte plötzlich an ihre beste Freundin, Alberta Holm, die mit ihrem Bruder, dem Kinderarzt Dr. Viktor Holm, zusammenwohnte. Ja, sie würde sie anrufen und sie bitten, bei ihr übernachten zu dürfen.

Ina wählte die Telefonnummer und atmete auf, als sich ihre Freundin meldete. Als sie ihre Bitte vortrug, antwortete Alberta, sie freue sich sehr auf ihr Kommen.

Erleichtert legte Ina den Hörer auf. In aller Eile tat sie die nötigsten Sachen in ihren Handkoffer. Dann löschte sie alle Lichter in der Wohnung und schloss die Wohnungstür ab.

*

Dr. Viktor Holm blickte seine Schwester Alberta gespannt an. »Wer war denn am Apparat?«, fragte er.