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Michaela Ott

Gilles Deleuze zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg

© 2005 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Raymond Depardon/Magnum
Agentur Focus
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-056-5
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-603-3
3., unveränderte Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

»Werden« als Programm

Rezeption in Deutschland

Denken als Freundschaftsakt

Methode der Wiederholung und Differenzbildung

1.Was ist Philosophie?

Begriffe bilden und Pläne zeichnen

Strukturalismus und Poststrukturalismus

2.Frühe Lektüren philosophischer Denker

Affekt und Einbildungskraft

Vitalistische Wertsetzung, genealogische Kritik

Vervielfältigung von Stimme und Zeit

Differenz- und Sinnproduktion

3.Lektüren literarischer Texte

Passion und Pathologie

Dekonstruktionen des Gesetzes

Nomadisierende Schriftverfahren

4.Post-68er-Schriften zur Philosophie

Kollektive Wunschproduktionen, Gruppenphantasien, plurale Äußerungssubjekte

Geo-Graphismus, Wissensritournelle, Werdenstugenden und Nomadologien

Körper und Falten

Archiv und Karthographie

5.Schriften zu Malerei und Film

Haptische Figuren

Bewegungs- und Zeit-Bilder

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über den Autor

Einleitung

»Werden« als Programm

Wie anfangen, fragt Deleuze, wo es keine Anfänge gibt? Wie dem entkommen, dass jeder Anfang bereits Wiederholung, Sprechen von je schon Geäußertem, Abbilden von zuhandenen Bildern ist? Und wie sprechen, fragen wir, über einen, der das Sprechen »über« für untauglich erklärt, sofern man denn Neues entdecken wolle, und daher vom Denker verlangt, sich in die Logik des anderen einzufädeln, dorthin, wo der optische Überblick verloren geht, dafür alles anrührt, zustößt, betrifft? Wie sprechen über einen, der die Forderung erhebt, »Sohn seiner Ereignisse und nicht seiner Werke [zu] werden« (LS, 187)? Und wie diesen Abkömmling seiner Ereignisse profilieren in einer Buchform, die, wenn nicht den Herrn seiner Werke, so doch in seinen Werken skizziert sehen will?

Dieser geschickt in einen Infinitiv sich bergende Imperativ, »Sohn seiner Ereignisse werden«, verrät zunächst Deleuzes denkerische Zuwendung zu Zufällen und Widerfahrnissen, zu all jenem, was dem Einzelnen begegnet, ihm zustößt und Gewalt antut. Diese Gewalt erfährt eine denkerische Vorzugsbehandlung gegenüber all jenem, was im eigenen Namen, als nach Willen und Plan verfertigtes Werk entsteht. Vor allem aber verrät dieser Infinitiv, dass Deleuze dem Denken des »Werdens«, der Zeit, zu huldigen wünscht, und das bis in die sprachliche Verlaufsform hinein. In gewisser Umkehrung Heideggers gemahnt er daran, das Sein seiner Werdensvergessenheit zu entreißen, ja das Werden im Ereignen vernehmbar zu machen und die Zeit aus ihrer verordneten Linearität zu befreien. Wie nun ihn, der seine Begegnungen mit anderen Denkern als Ereignisse verstanden wissen wollte, insofern sie ihn als sich selbst Unbekannten wieder finden ließen, wie nun ihn nach Maßgabe seiner Schriftbewegungen konturieren und dabei einpassen in eine Überblicksdarstellung, die entsprechend ihrer Zielsetzung Disparitäten, Paradoxien, Zeittransformationen eher unterschlägt als akzentuiert?

Im Sinne des Freidenkens von Zeit und Ereignis entwickelt Deleuze – in Nähe zu Foucault – eine archäologische Methode, die er als »Geophilosophie« praktiziert und die darauf abzielt, die Philosophiegeschichte als Sedimentierung von Gedanken zu begreifen, die es erneut aufzudecken und deren Zeitspur, ihr unvordenkliches Gewordensein nicht weniger als ihr fortgesetztes Werden, es freizulegen gilt. Zeitlichkeit soll dabei nicht als Form der Anschauung oder als lineare Chronologie verstanden werden, sondern als mit den Dingen verwachsener, vielfältiger und unendlicher (Un)Grund, von dem her alles, was sich ereignet, eine »Quasi-Ursache« erhält. Dass dieser Zeitgrund notgedrungen als entgründender, sich verschiebender und letztlich grundloser zu verstehen ist und die Ontologie des Seins in eine des Werdens und des Sinns überführt, wird im Durchgang durch Deleuzes Schriften zu explizieren sein.

Sein Denken erscheint mithin nicht nur von dem Impuls getrieben, mit Heidegger das Sein als sich zeitigendes zu entfalten, sondern der Zeitigung selbst zeitliche und logische Priorität zuzuerkennen. Vor dem Werden ist logischerweise nichts. Entgegen einer langen philosophischen Tradition lässt Deleuze das Sein nicht als das Erste und Gründende gelten und weist die Möglichkeit der Bestimmung eines Ursprungs insgesamt zurück. Angefangen wird mittendrin, zwischen als unpersönlich und präsubjektiv gedachten Spuren und Artikulationen, zwischen afigurativen Bildelementen und deren metamorphotischer Wiederkehr, die sich in komplexen Zeitsynthesen zu Subjekten, Organismen, Aussagen und Bildern konfigurieren. Denken meint seinerseits Wiederholung von vorgängigen unbewussten Synthesen der Erinnerung und Gewohnheit, von Rhythmen, Tempi und Affekten, meint, abhängig von der Modifikation der Wiederholung, aber auch Anders-Werden, Differenzierung, Neugeburt.

Insofern vollzieht sich auch das hiesige Sprechen als Wiederholung, Verschiebung und Durchdringung deleuzescher Aussagen nach Maßgabe von Affekt und Zeit. Zu vermeiden ist nicht die Wiederholung an sich, da sie Bedingung der Möglichkeit von Denken, Sprechen, Leben überhaupt ist. Zu vermeiden wäre die mechanische Wiederholung, die trotz des zeitlichen Abstands ein Identisch-Werden anstrebt und nicht das Andere im Wiederkehrenden begrüßt. Geschieht Deleuzes Bejahung der Wiederholung doch in dem Wunsch, sie zu vertiefen und als differente wiederkehren zu lassen, in ihr subjektvorgängige, unpersönliche Größen zu entdecken – deren Prototyp die Unendlichkeit, mit Bergson die »Dauer« ist –, um deren Aktualisierung als unzeitgemäße, singuläre, ereignishafte hervorzukehren. Seine unterschiedlichen Studien profilieren denn auch Singularisierungen des zeitlichen Verlaufs, Momente, in welchen er sich verdichtet, vertikalisiert, Tableaus errichtet und Intensitätsfelder erzeugt. Bedenkenswert erscheinen sie ihm, da sie sich nicht der Chronologie unterwerfen, sondern herausragende, gegenläufige, die Vielfalt des Unendlichen einfaltende Zeitkomplexionen sind. Deleuzes Relektüren von Werken der Philosophie- und Literaturgeschichte, von Malerei und Film dienen der Offenlegung ihres besonderen Wiederholungscharakters, ihrer Steigerung der »Vermögen« zur Differenz und »Essenz«. Jede der von ihm verfassten Monographien widmet sich einer außergewöhnlichen Zeit- und Denkkonfiguration, sucht diese in ihrer Dynamik und Eigengesetzlichkeit zu ergründen, in ihren eigenen Begriffen zu verlängern, aber auch zu öffnen und einzubetten in ein größeres Zeichen- und Zeitigungsfeld. Jeder Körper, so Deleuzes Diktum in Anlehnung an Spinoza, ist die Summe der Kräfte, denen er Zugriff erlaubt. Von daher sind die ihm zukommenden Kräfte ausfindig zu machen und in der Relektüre weiter zu multiplizieren, ist die jeweilige Denkkonfiguration größer, einzigartiger, schillernder erscheinen zu lassen und dabei sichtbar zu machen, was sie an unpersönlichen Faktoren enthält. Indem Deleuze die Werke einer gleichsam mikroskopischen Analyse aussetzt und einem taktilen Auge zugänglich macht, legt er ihren molekularen Bauplan und ihr inneres »Wimmeln« offen und überführt sie in eine »diagrammatische«, abstrakte Figur, die nach vielen Seiten hin verlängerbar erscheint.

Anders als Hegel, der seinem philosophischen System ebenfalls den Gedanken zeitlicher Entfaltung einlegt, versteht Deleuze diese nicht teleologisch als Selbstvervollkommnung des Geistes. Innerhalb seines Programms eines »generalisierten Anti-Hegelianismus« akzentuiert er vielmehr die vielfältige Unendlichkeit der Zeit, die alle singulären Artikulationen zu »zukunftsvergangenen« Differenzierungsprozessen und zu Erscheinungen von Unzeitgemäßem werden lässt. Die Zeit, unendlicher Verlauf und minimalste Augenblickshaftigkeit zugleich, wird als distanzschaffender Verräumlichungsfaktor und »heterogenetische« Kraft entwickelt, die unvermittelte, disparate und sogar voreinander fliehende Bruchstücke aus sich entlässt, wie Deleuze insbesondere in seiner Proust- und Kafka-Lektüre, aber auch in seinen Filmanalysen betont.

Die »Begriffsperson« Deleuze selbst zeichnet sich so nach und nach ab als Summe der Kräfte, denen sie Raum und Stimme verleiht, als Summe der Denker, die sie in ihren »Denkplan« integriert, um sich in ihnen zu entfremden und sich selbst unkenntlich zu werden. Seine Lektüren zielen weder auf Repräsentation des Eigenen im anderen noch auf dessen Aufhebung in einer geistesgeschichtlichen Rekonstruktion, sondern auf Profilierung von gedanklichen Extrempositionen aus deren eigener Logik heraus und auf deren Einfügung in ein »Immanenzfeld«, welches das Denken aus der Bewegung des anderen, ohne vorgefasste Begriffe und kategoriale Hierarchien, akzentuieren will. Den singulären Denkspitzen wird keine Abschließung zugestanden, vielmehr werden ihre Begriffe und Affekte untergründig verbunden, auf dass ein »rhizomatisches« Netz von Querverstrebungen und affektiven Wechselwirkungen entstehe. Diesen Denkspitzen wird mit Deleuzes singulären Studien je einzeln nachzugehen sein.

Seine Ausbreitung eines Denkfeldes, in dem Bruchstückhaftes und Disparates eingelagert ist und gleichzeitig unterirdische Korrespondenzen wirken, lässt sich notgedrungen nur annäherungsweise skizzieren. Zielt eine Einführung doch auf Verständlichmachung, auf Abrundung von Zumutungsspitzen, letztlich auf eine didaktische Form der Darbietung ab. Hielte man sich an Deleuzes eigene Anweisungen, so müsste man weniger erklären und intensiver wiederholen, das Befremdliche ins noch Befremdlichere rücken, die eigene Affektion beiläufig in die Wendungen des anderen kleiden, nicht vom Ereignis sprechen, dafür seine Entfaltung befördern und Deleuzes Denkbewegungen vorantreiben in neue, »nicht-gekerbte« Räume hinein, Sohn des Deleuze-Ereignisses werden in einem unscheinbaren, minoritären Stil. Deleuze treu bleiben hieße in diesem Sinn, jene von ihm geforderte masochistische Haltung zu praktizieren, in der die Aussagen durchdekliniert würden auf ihre Folgen hin, um diese noch einmal einem Lachen auszusetzen, dem Lachen über sich selbst als jemandem, der noch immer beim Wort zu nehmen und zu verstehen sucht.

Rezeption in Deutschland

Gibt man sich vor deutschen philosophischen Akademikern als jemand zu erkennen, der dieser Philosophie nahe steht, wird man, anders als in Frankreich, nach wie vor gerne mit einem spöttischen bis herablassenden Lächeln bedacht. Zwischen Skepsis und heftiger Ablehnung changieren die Reaktionen jener, die sich in der Regel nicht weit in Deleuzes Schriften hineingewagt haben. Ihre Vorbehalte äußern sich in Formulierungen wie »unzugängliche Hermetik«, »Privatsprache«, »delirantes Philosophieren« und anderem mehr. Gerade für die philosophisch Professionellen ist der Einstieg nicht leicht, da Deleuze, insbesondere ab seiner Zusammenarbeit mit Guattari, mit unakademischer Rede irritieren, die überkommenen Philosopheme gegen den Strich bürsten, die Schriften akonventionell anlegen, mit Strategien des Umdenkens, Umwertens und der Entgrenzung des philosophischen Feldes und mit unvermittelten Bezugnahmen auf philosophische, literarische und allgemein künstlerische Positionen provozieren will. Wenige sind es, die in ähnlich motivierter Suche seine Schriften durchlaufen und Kritik vom Ende her artikulieren. Slavoj Zizek1 etwa kritisiert an Deleuze, dass er nur pseudosubversives Denken betreibe und letztlich in der verabsolutierten Immanenz und minoritären Begriffsarbeit die herrschenden Zustände sanktioniere. Lebhaft, wenn auch nicht immer auf eingehender Auseinandersetzung beruhend, ist gegenwärtig das Interesse bei jungen, der Kunst und medialen Bereichen zugewandten Denkern und Praktikern, von welchen Deleuze ein Kultstatus zuzuwachsen droht. Angesichts der damit aufkommenden Gefahr leerer und unkritischer Repetition ist zu begrüßen, dass sich wissenschaftliche Anstrengungen mehren, die seine Schriften in gründlichen philosophischen Lektüren erneut aufrauen und das Widerstreitende in ihnen hervorkehren.

Zwischen rigoroser Ablehnung und begeisterter Aufnahme hat die Rezeption des deleuzeschen Werks in Deutschland von Anfang an geschwankt. Die erste Welle der Übersetzungen seiner Schriften Nietzsche et la philosophie von 1962 (Nietzsche und die Philosophie, übers. v. Bernd Schwibs, München 1976), Kafka – pour une littérature mineure von 1973 (Kafka – für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt 1976), Proust et les signes von 1973 (Proust und die Zeichen, übers. v. Henriette Beese, Berlin 1978) und L’Anti-Oedipe. Capitalisme et schizophrénie von 1972 (Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1977), in den 70er Jahren angefertigt, löste bereits eine lebhafte, aber äußerst gespaltene Aufnahme aus: Gerade weil Anti-Ödipus (AÖ) ob seines frechen unakademischen Tons in psychoanalysekritischen und künstlerischen Kreisen umjubelt wurde, stieß die Schrift im akademischen Milieu auf vehemente Ablehnung. Der Tonfall verstörte, der Duktus der Provokation, das gewollt Unflätige bereits in den Anfangssätzen: »Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheißt, es fickt. Das Es …« (AÖ, 7) Aufgrund dieser demonstrativen Unterbietung der standardisierten philosophischen Rede gingen für Deleuze und Guattari in Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich, Italien und den USA – die akademischen Türen erst einmal zu. Während Michel Foucault 1970 eine Hymne auf Deleuze anstimmte und in seiner bekannten Rezension von Différence et répétition und Logique du sens in der Zeitschrift Critique prophezeite, dass das 21. Jahrhundert entweder deleuzianisch sein oder nicht sein werde2, fielen Deleuzes (und Guattaris) Schriften hierzulande einer gewissen »Verschwörung des Schweigens«3 anheim, die ihre Rezeption um ein Jahrzehnt verzögert hat.4 Allerdings nahmen Romanisten wie Hans Robert Jauß5 und Rainer Warning6 in ihren Studien zur romanistischen Forschung, Wolfgang Welsch7 und Bernhard Taureck8 in ihren Gesamtdarstellungen der französischen Philosophie auf Deleuze Bezug und widmeten ihm sachgerechte Einführungen. Daneben waren einzelne euphorische Rezeptionen im Versuch der Verlängerung der »Wunschproduktion« zu verzeichnen, die eine differenzierte Auseinandersetzung allerdings eher behindert haben.9

Verstärkt durch die Übersetzung und Rezeption der beiden Kinostudien Cinéma 1. L’image-mouvement von 1983 (Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M., 1989) und Cinéma 2. L’image-Temps von 1985 (Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M., 1991), setzte Anfang der 90er Jahre eine zweite Welle der Deleuze-Rezeption ein: Binnen weniger Jahre wurden alle ausstehenden Schriften von La philosophie de Kant von 1963 (Kants kritische Philosophie, übers. von Mira Köller, Berlin 1990), Différence et répétition von 1967 (Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München 1992), Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie von 1980 (Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Ronald Vouillé und Gabriele Ricke, Berlin 1992), Logique du sens von 1969 (Logik des Sinns, übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993) bis hin zu Qu’est-ce que la philosophie? von 1991 (Was ist Philosophie?, übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 1996) ins Deutsche übersetzt; die letzten beiden posthum in Frankreich erschienenen Sammelbände mit kleinen Texten L’île déserte et autres textes von 2002 (Die einsame Insel, Frankfurt a.M. 2003) und Deux régimes de fous von 2003 (Schizophrenie und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2005) liegen nunmehr übersetzt vor. Die zahlreicher werdenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit seinen Werken im Bereich der Philosophie10, Literatur-11, Filmwissenschaft und Ästhetik12 machen daneben auch deutlich, dass die Beschäftigung mit dieser Philosophie häufig mit disziplinären Grenzüberschreitungen einhergeht, so dass sich ein Rezeptionsfeld zwischen Philosophie, Literatur- und Filmwissenschaft, Architektur- und Medientheorie auszubreiten im Begriff ist.

An den neuesten Studien fällt als gemeinsamer Zug auf, dass sie trotz Perspektivierung der deleuzeschen Philosophie und trotz Verfolgung singulärer Fragestellungen – wobei die Themen »Zeit« und »Ereignis«, »Immanenz« und »Tranzendentalität« dominieren – mehr oder weniger sein gesamtes Denkfeld abschreiten, das Gesamt seiner Texte gegenlesen, keine Übertragungen auf andere Texte, Bilder oder Filme vornehmen und so insgesamt dahin tendieren, die deleuzesche Karte im Sinne von Borges noch einmal zu zeichnen. Obwohl sich diese Verfahren aus der deleuzeschen Methodik erklären, verdeutlichen sie die Gefahr, die der Umgang mit seinen Texten birgt. Denn gerade ob der Akribie der Wiederholungen, die zudem Wiederholungen – und Verschiebungen – vorangegangener anderer Sekundärwerke darstellen, scheint kaum Neues und Ungesehenes auf. Zwar sucht Ingo Zechner13 in Verlängerung meiner Deleuze-Lektüre14 das Ethos dieser Philosophie weiter zu konturieren, durchläuft Wolfgang Wagner die von Stephan Günzel dargelegte Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze15 noch einmal auf diese Begriffe hin.16 Mirjam Schaub17breitet in einer Parallellektüre sein Zeit- und Filmverständnis, Marc Rölli18 jenes des Verhältnisses von Empirismus und Transzendentalität aus. Der von ihm herausgegebene Sammelband Ereignis auf Französisch19 rekonstruiert schließlich die deutsche und französische Denktradition dieses Begriffs.

Deleuzes Vorgehensweise legt diesen in der Sekundärliteratur auffälligen Zug von Wiederholung und Potenzierung insofern nahe, als sie sich als »Denken mit« anderen, als wechselseitige Wiederholung und Differenzbildung mit dem anderen versteht. Der Zwang, das gesamte Denkfeld immer noch einmal zu durchlaufen, folgt aus der Erkenntnis, dass sich seine Begriffe gegenseitig bedingen und erhellen und in seinem Denkfeld alles mit allem zusammenhängt. Eine Übertragung oder Erweiterung auf anderes scheint aus eben diesem Grund schwierig zu sein. Von daher werden seine Texte entgegen seiner Aufforderung eher nicht als »Werkzeugkisten« verwendet, wird sein Instrumentarium kaum auf bislang nicht Gesehenes angewandt. Wider Willen entfaltet Deleuze eine Autorität, die seinen Adepten ein umso getreueres Durchbuchstabieren abzuverlangen scheint, als dieses Denken sich freimütig, anarchisch und paradox geriert.

Denken als Freundschaftsakt

Deleuze beginnt mit der Rezeption klassischer Philosophen wie Hume, Kant, Bergson, Nietzsche, Spinoza und widmet ihnen jeweils eine monographische Studie, was er selbst in Pourparlers/ Unterhandlungen (U) von 1990 folgendermaßen kommentiert:

»Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus, sie ist der eigentlich philosophische Ödipus: ›Du wirst doch wohl nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, bevor du nicht dieses und jenes gelesen hast, und dieses über jenes, und jenes über dieses‹. In meiner Generation sind viele nicht heil da rausgekommen, andere schon, indem sie ihre eigenen Methoden und Regeln, einen neuen Ton erfunden haben. Ich selbst habe lange Philosophiegeschichte gemacht, habe Bücher über diesen oder jenen Autor gelesen. Aber ich habe mich auf verschiedene Art entschädigt: zunächst, indem ich Autoren liebte, die sich der rationalistischen Tradition dieser Geschichte widersetzten.« (U, 14 f.)

Schon früh besteht trotz klassischer Vertiefung in die philosophischen Texte sein Wiederholungsverfahren darin – wofür seine Kant-Lektüre das beste Beispiel ist –, Unbekanntes, ja Monströses im anderen ausfindig zu machen: »Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Dass es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor musste tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ. Aber dass das Kind monströs war, war ebenfalls notwendig, denn man musste durch alle Arten der Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüche, versteckten Äußerungen hindurchgehen, was mir nicht wenig Spaß bereitet hat.« (U, 15) Auf diese Weise wird er in seinen »heterogenetischen«, das Widerstreitende hervortreibenden Lektüren klassischer philosophischer Texte nicht nur zum Dekonstruktivisten, sondern zum Guerillero der Philosophiegeschichte, der leidenschaftliche Parteinahme betreibt: Er weist jedes Denken, das nur auf dem guten Willen des Denkers und auf uneingestandenen Voraussetzungen beruht, als philosophieunwürdig zurück. Dafür sucht er jedes Denken zu potenzieren, das, von unbewussten Wunschartikulationen angetrieben, eine »Passiologie« zu erkennen gibt. Er begreift Ideen und scheinbare Invarianten als wandelbar und widmet sich vorzugsweise Denkern, die in Kategorien der Bewegung operieren. Mit Nietzsche verschreibt er sich dem philosophischen Programm der Wertsetzung und Dramatisierung: Gegebene Denkorganisationen auf ihre »Lebensmächtigkeit« hin zu befragen, in ihrer leidenschaftlichen Artikulation zu befördern oder auch umzuwerten wird sein unausgesetztes Bemühen sein.

Dieses Engagement in Sachen Verzeitlichung und Vervielfältigung lässt sich indes nur aus seiner Grundannahme, seinem tiefsten Glaubenssatz, verstehen: Denn mit Nietzsche hält er dafür, dass Leben – und Denken – von nicht-anthropomorphen, vielfältigen Kräften herrühren, denen denkerisch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ist, widrigenfalls das Leben verfehlt und unrechtmäßig auf menschliches Maß eingeschränkt wird. Der oberste Imperativ von Deleuze lautet folglich: Die Mannigfaltigkeit als solche denken! Diese vorgängige Mannigfaltigkeit (von Zeit oder Bild), die zwar real, aber nicht durchgängig aktualisiert ist, wird von ihm auch Virtualität genannt. Mit der Aktualisierung dieser Virtualität verbindet er die Hoffnung auf Entgründung der »unzulässigen Einheitsstifter« des sprachlichen Gesetzes, der organischen Bilder und aller Formen von Subjektivität, auf erneute Offenlegung ihrer metamorphotischen Seite und ihre Rückverwandlung in das, was er »Meute-Werden« nennt.

Im Hinblick auf sein ethisches Postulat fordert Deleuze nicht nur erneute Hingabe an diese präsubjektiven Größen, Weisen der Wiederholung des als kollektiv oder »dividuell« verstandenen Unbewussten, sondern die Potenzierung dieser Wiederholungen hin zum Denken im engeren Sinn, das sich dann auf seine mannigfaltigen Ausgänge zurückzubeugen und diese gegenzubesetzen hat. Aufgrund dieser Konzeption des Denkens als zyklischem Vorgang der Selbstvervielfältigung, ermöglicht durch verschiedene, sich gegenseitig steigernde »Vermögen« des Fühlens, Wahrnehmens und Denkens, lehnt er es ab, der Vernunft einen privilegierten Platz zuzuerkennen oder dem Imperativ zu folgen, laut welchem wir Herr über uns zu werden hätten. Dass sich Denken aus dem Konzert verschiedener Vermögen, ja aus deren Diskordanz ergibt und erst in deren wechselseitiger Potenzierung zu Bedenkenswertem reift, ist sein Argument gegen Kants harmonische Vermögensdistribution.

Seine Betonung der inneren Vielfalt und Autogenese des Denkprozesses hat aber auch Umwertungen Nietzsches und Heideggers zur Folge, insofern die Bejahung der Selbstüberwindung des Subjekts und die Freilegung ihm immanenter Mikroakteure zur Affirmation des »man« und »dividueller« Existenzweisen führen. Diese einer unverwechselbaren Kontur verlustig gegangenen Existenzen brechen und potenzieren die in ihnen wirksamen kollektiven Kräfte, bis eine neue, unpersönliche »Essenz« entsteht. Deleuzes Bejahung dieser Ent-Individuierung hin zum »man-Werden« des Einzelnen mündet schließlich in den »seltsamen Imperativ: entweder aufhören zu schreiben oder wie eine Ratte schreiben« (TP, 327). Diese knappe, provokante Formel stellt nur die zugespitzteste Variante all jener in Deleuzes Schriften wiederkehrenden Aufforderungen zur Unterwanderung der strukturellen Ganzheiten von Vernunft, Organismus und Subjektivität und zur Freisetzung jener prinzipiell unbeendbaren Werdensprozesse dar, die er mit einem »Frau-Werden« als der ersten Verschiebung der männlichen Identität beginnen und auf ein »Unwahrnehmbar-Werden« zulaufen lässt.

Neue Fragen bedürfen neuer Begriffe, weshalb Deleuze in seiner mit Guattari verfassten Abschlussbetrachtung (Qu) die Begriffsbildung als die genuin philosophische Tätigkeit bezeichnet: »Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen.« (Qu, 6)21