Inhaltsverzeichnis

Space Invaders

Originaltitel: Nona Fernández – Space Invaders

© Nona Fernández Silanes, 2013

 

Chilean Electric

Originaltitel: Nona Fernández – Chilean Electric

© Alquimia Ediciones, 2015

 

Die Übersetzungen von Space Invaders und Chilean Electric werden nach Absprache mit der Ampi Margini Literary Agency und mit Genehmigung von Nona Fernández und Alquimia Ediciones veröffentlicht.

© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-65-1

 

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Cover: Jürgen Schütz

Umschlagbild/Madonna: © Fotolia – Allen.G

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-79-3

 

 

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

 

 

 

 

Nona Fernández

wurde 1971 in Santiago de Chile geboren und ist seit ihrer Schauspielausbildung als Drehbuchautorin, Schauspielerin und freischaffende Schriftstellerin tätig. Ihre in diversen Erzählbänden veröffentlichten Kurzgeschichten sind, wie auch die Romane Mapocho und Av. 10 de julio Huamachuco, preisgekrönt. Die Arbeit an Drehbüchern für Fernsehserien und -filme, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreitet, beeinflusst ihre literarische Schreibweise dahingehend, als dass sie ökonomisch mit Sprache umgeht und in ihren Erzählstrukturen eindeutig den Dialog bevorzugt. Nicht zuletzt dadurch erzeugt Nona Fernández Bilder von kinematografischer Aussagekraft. Sie zählt zu den führenden Schriftstellern Chiles sowie gesamt Südamerikas. Sie empfing sowohl 2003 (fürDie Toten im trüben Wasser des Mapocho) als auch 2008 (für Die Straße zum 10. Juli) den chilenischen Literaturpreis PREMIO MUNICIPAL DE LITERATURA in der Kategorie Bester Roman. Selbigen Preis erhielt unter anderem auch Roberto Bolaño posthum. 

 

Klappentext

Nona Fernández legt zwei erschütternde und zugleich berührende Novellen vor, in denen sie mit der Vergangenheit Chiles abzuschließen versucht. Zutiefst persönlich, mit starken Worten schließt sie an ihre Romane Die Toten im trüben Wasser des Mapocho und Die Straße zum 10. Juli an. 

SPACE INVADERS 
Die Autorin blickt auf die 1980er-Jahre der chilenischen Diktatur in einer Geschichte, in der für die jugendlichen Hauptfiguren das Kult-Videospiel »Space Invaders« einzige Fluchtmöglichkeit vor der Wirklichkeit ist, doch bald schon selbst zur Wirklichkeit wird – oder werden könnte. Space Invaders ist ein autobiografischer Text, der sich mal als Geister-, mal als Horrorgeschichte wie in einer anderen Dimension präsentiert. 

CHILEAN ELECTRIC 
Die Erzählung ist eine Gratwanderung zwischen Autobiografie und Fiktion. Zu Beginn steht der Tag, als die Großmutter der Autorin das elektrische Licht kennenlernte, in einem Festakt, der die öffentliche und private Beleuchtung in Santiago de Chile einleitete. Während der Recherche entdeckt die Erzählerin aber, dass diese Ereignisse zwar stattfanden, aber lange bevor ihre Großmutter geboren wurde. Warum erfand die alte Frau eine Erinnerung? Wie wahrheitsgetreu können und müssen Erinnerungen sein? Und was ist mit all den verschwundenen Menschen? Wer erinnert sich an sie? 

 

Nona Fernández

Space Invaders / Chilean Electric

Zwei Kurzromane | Septime Verlag

 

Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz

 

 

 

 

 

 

 

 

Space Invaders

 

Nona Fernández

 

 

 

 

 

 

 

Für Estrella González J.

 

 

 

 

 

 

 

Ich bin diesem Traum ausgeliefert:

Ich weiß, dass es nur ein Traum ist,

aber ich kann diesem Traum nicht entrinnen.

 

Georges Perec: Die dunkle Kammer

 

 

 

 

 

 

Erstes Leben

 

 

I

 

 

Santiago De Chile. 1980. Ein Mädchen im Alter von zehn Jahren betritt an der Hand seines Papas eine Schule des Stadtviertels Avenida Matta. Es trägt eine Schultasche aus Leder, die es um die Schulter gehängt hat, die Schnürsenkel seines rechten Schuhs sind offen. Draußen auf der Straße befinden sich immer noch die herumliegenden Überreste einer Feier, von der einige über die Bürgersteige verteilte Pamphlete, leere Flaschen und Abfall zurückgeblieben sind. Die neue von der Militärjunta vorgeschlagene Verfassung ist gerade von einer breiten Mehrheit verabschiedet worden. Der Hausmeister der Schule fegt den Schmutz vor dem Eingang weg, während sein Blick zu dem Vater des Mädchens wandert. Der Mann zieht sich die Polizeimütze vom Kopf, um sich von seiner Tochter zu verabschieden. Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange und flüstert ihr ein paar Worte ins Ohr. Das Mädchen lächelt und läuft dann mit seinem geöffneten Schnürsenkel, diesen über die Bodenfliesen schleifend, den Gang hinunter. Vor der Statue Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel kniet es sich hin und küsst deren Daumen.

 

 

II

 

 

Manchmal träumen wir von ihr. Von unseren Matratzen aus, die am Puento Alto, in La Florida, am Hauptbahnhof oder in San Miguel verstreut herumliegen, von unseren schmutzigen Laken aus, die unsere aktuelle Bleibe definieren, von den Feldbetten aus, in die wir geflüchtet sind, damit sie unsere müden Körper tragen, die arbeiten und arbeiten; nachts und manchmal sogar auch tags träumen wir von ihr. Unterschiedliche Träume träumen wir, so wie unsere Köpfe unterschiedlich sind und unsere Erinnerungen unterschiedlich sind und wir unterschiedlich sind und unterschiedlich aufgewachsen sind. Aus unserer Traumunterschiedlichkeit heraus kommen wir einstimmig zu dem Schluss, dass jeder sie auf seine Art und Weise sieht, so wie er sie erinnert. Acosta sagt, dass sie ihm in seinen Träumen als Mädchen erscheine, so wie wir sie kannten, in ihrer Schuluniform, das Haar zu einem Paar langer Zöpfe geflochten. Zúñiga sagt Nein, dass sie nie Zöpfe getragen habe, dass sie ihm mit offenem Haar erscheine, mit schwarzen kräftigen Haaren, die ihr Gesicht einrahmten, einer Haarpracht, an die nur er sich erinnert, denn Bustamante hat ein anderes Bild und Maldonado ein anderes und Riquelme ein anderes und Donoso ein anderes und alle und jedes einzelne sind verschieden. Die Frisuren und die Haarfarben variieren, über die Gesichtszüge wird man sich nicht einig, die Formen verschwimmen und es gibt keine Möglichkeit, sich zu einigen, weil man in den Träumen wie in den Erinnerungen eben keinen möglichen Konsens haben kann noch darf.

Fuenzalida träumt von dem ersten Mal, als sie sie sah. Wenn sie aufwacht, erinnert sie sich nicht so genau an ihre Frisur und deshalb mischt sie sich in die Diskussion der restlichen Klasse gar nicht erst ein, denn für Fuenzalida sind das Wichtige in Träumen die Stimmen, nicht die Frisuren. Fuenzalida träumt von vielen Kinderstimmen, die im Unterrichtsraum der fünften Klasse tuscheln und von dem Lehrer, der die Liste durchgeht: »Acosta?« – »Anwesend!« – »Bustamante?« – »Anwesend!« Die Stimme eines jeden einzelnen Kindes antwortet in genau demselben Tonfall, wie er gewesen ist, denn wenngleich sich Stimmen mit der Zeit auflösen, vermögen Träume sie doch wieder zum Leben zu erwecken. »Donoso?« – »Anwesend!« – »Fuenzalida?« – »Anwesend!« Und dann ist sie dran, ihr Name wird unter dem schwarzen Schnurrbart des Lehrers ausgesprochen. »González?«, hallt es im Raum, und von einer einzelnen Bank in der letzten Reihe antwortet die neue – oder vielleicht gar nicht mehr ganz so neue – Schülerin: »Anwesend!« Es ist sie. Es ist unwichtig, wie ihr Haar aussieht, ihre Hautfarbe oder ihre Augen. Alles ist relativ außer dem Klang ihrer Stimme, der, wenn es sich um Träume handelt, laut Fuenzalida dasselbe ist wie ein Fingerabdruck. González’ Stimme hängt uns aus Fuenzalidas Traum nach und nimmt unsere eigenen Bilder ein, unsere eigenen Versionen von González, und dort nistet sie sich ein und bleibt, um uns Nacht für Nacht Gesellschaft zu leisten. In manchen Nächten besucht sie Acostas Kopfkissen, in anderen Maldonados Matratze, in wieder anderen Donosos zerrissene Laken. Und so sind die Nächte die Endlosschlaufe einer Anwesenheitsliste, ein ewiger Durchgang, der uns nicht in Ruhe schlafen lässt. Jahre sind vergangen. Zu viele Jahre. Unsere Matratzen haben sich wie unsere Leben über die ganze Stadt verteilt, bis wir allmählich den Kontakt zueinander verloren haben. Was ist aus jedem Einzelnen geworden? Das ist ein Rätsel, das zu lösen wenig wichtig ist. Über die Entfernung teilen wir Träume. Zumindest einen, mit weißem Faden auf den Kragen einer karierten Kittelschürze gestickt: Estrella González.

 

 

III

 

 

Sie haben uns in einer langen Reihe angeordnet, einen vor dem anderen in der Mitte des Innenhofs der Schule. Neben uns steht eine weitere lange Reihe und dort vorne eine andere und da hinten eine weitere. Wir bilden ein perfektes Quadrat, eine Art Spielbrett. Wir sind Spielfiguren, wir wissen nur nicht welches Spiels. Wir halten Abstand, wir legen den rechten Arm auf die Schulter des Vordermannes, um den angemessenen Raum zwischen uns anzuzeigen. Unsere Schuluniform sitzt korrekt. Der obere Knopf des Hemdes ist zugeknöpft, die Krawatte ordentlich gebunden, das dunkle Kleidchen geht über die Knie, die blauen Strümpfe sind straff hochgezogen, die Hosen perfekt gebügelt, das Schulemblem auf der Brust aufgestickt, auf der richtigen Höhe, ohne abstehende Fäden, die Schuhe frisch poliert. Die sauberen Nägel herzeigen, die Hände ohne Ringe, das muntere Gesicht, die gezähmten Haare. Jeden Montag zur ersten Stunde die Nationalhymne singen, sie schmettern wie ein jeder nur kann, schrill und verstimmt, mit einem Krächzen, unsere Stimmen, die fast schon ein bisschen grölen, die enthusiastisch den Refrain wiederholen, während einer von uns beginnt, die chilenische Flagge zu hissen, dort vorne, wo jemand anders sie in seinen Armen hält. Das Sternchen aus weißem Stoff steigt und steigt in die Höhe hinauf, bis es den Himmel erreicht. Die Flagge kommt endlich oben am Mast an, flattert über unseren Köpfen, im Takt zu unseren Stimmen, und wir blicken zu ihr hoch aus der Sicherheit ihres dunklen Schattens heraus.

 

 

IV

 

 

Maldonado träumt von Briefen. Es sind alte Briefe in der Handschrift eines Mädchens im Alter von zehn Jahren. Briefe, die González und sie sich mit der Post schickten, als ob sie sich nicht jeden Tag im Klassenzimmer gesehen hätten, als ob sie so weit voneinander entfernt gewesen wären, wie sie es jetzt sind. Maldonado sagt, dass González’ Handschrift nicht schön sei, aber dass die Buchstaben mit Mühe gemalt seien, mit Disziplin. Sie scheint in den Briefen eine andere zu sein, nicht die Ruhige und Schüchterne aus der letzten Reihe. Maldonados Träume sind die Lektüre all dieser Briefe. Träume, die sich aus Wörtern speisen, sich durch Buchstaben und Sätze ausdrücken. Absender, die in Schönschrift mit blauer Tinte geschrieben wurden, und Adressen und Unterschriften und herzliche Grüße und freundliche Grüße und verabschiedet sich herzlich und ich erwarte Deine Antwort und hör nicht auf, mir zu schreiben, Freundinnen für immer, vergiss mich bitte nicht.

Fuenzalida sagt, ein jeder träume, wie er könne. Dass während sie Stimmen höre und andere nur Bilder sähen, Maldonado jedes Recht darauf habe, dass ihre Träume aus Worten bestünden. Jeder Baustein ist ein Verb, ein Artikel, ein Adjektiv, und so wächst der Bau heran, zieht Treppen hoch und verwandelt sich in einen hohen Tunnel, der mit dem Himmel und der Hölle kommunizieren kann. Maldonado träumt blaue Worte, die von der Hand eines Mädchens geschrieben wurden. Das Wort, das sich am häufigsten wiederholt, ist ihr Name. Er steht auf jedem Absender und unter jedem Brief. Neben ihm die Abbildung eines Sterns, mit Tinte gezeichnet, wie eine Art persönliches Markenzeichen, wie ein Zeichen, das von einer Flagge herabgefallen ist.

 

Hallo, liebe Freundin! Wie geht es Dir und Deiner Familie? Ich hoffe gut, ich war jedenfalls ein bisschen erkältet und hatte ein paar Probleme. Erinnerst Du Dich an den Brief, den Du mir geschickt hast? Ich habe Dir noch nicht darauf geantwortet, aber ich muss Dir darauf antworten, weil das sonst heißen würde, dass wir keine guten Freundinnen sind, und ich glaube schon, dass wir gute Freundinnen sind, auch wenn Du mir im Unterricht manchmal keine Beachtung schenkst. Dir kann man vertrauen. Du weißt nicht, wie viel ich Dir zu erzählen habe. Geheime Dinge, die nur Du wissen darfst, Dinge, die ich niemandem erzählen kann, Dinge, die ich nicht einmal gesagt oder geschrieben oder gedacht habe. Viele Dinge. Dinge, die nichts mit Zúñiga zu tun haben, damit, was mich an ihm stört, mir nicht gefällt. Es sind andere Dinge, wichtigere und geheime Dinge, von denen ich Dir erzählen muss. Aber dieses Blatt Papier ist so klein und ich habe eine so große, fette Schrift. Mein Papa sagt, dass ich ein bisschen kleiner schreiben und auf der Linie bleiben soll, aber es ist nicht so einfach, irgendetwas einfach kleiner zu machen und auf der Linie zu bleiben, die Linien sind schmal und kaum zu sehen. Wenn ich auf meinen Papa hören würde, könnte ich Dir jetzt mehr erzählen, aber es gelingt mir nicht, die Buchstaben kleiner zu machen und sie in die schmalen Zeilen zu pressen, also muss ich weniger Worte schreiben. Ich sollte wenigstens versuchen, auf meinen Papa zu hören. Das hätte er verdient, dass ich auf ihn höre. Er ist gerade im Polizeikrankenhaus. Hast Du gewusst, dass mein Papa bei der Arbeit einen Unfall hatte? Keiner in der Schule weiß das. Sie haben ihn mehrfach operiert. Deshalb sollte ich versuchen, kleiner zu schreiben, wie er mir gesagt hat. Und dann liegt auch noch meine Mama im Bett, aber hier zu Hause. Sie erwartet ein neues Geschwisterchen, aber es ist keine Schwangerschaft wie die anderen. Du weißt ja, dass mein kleiner Bruder Rodrigo letztes Jahr gestorben ist. Stell Dir vor, wir hatten nur ein Jahr Unterschied, also wenn ich elf Jahre alt werde, würde er zehn werden. Deshalb wünschen Mama und Papa und ich uns so sehr ein neues Geschwisterchen. Ich glaube, es wird auch ein bisschen mein Kind sein. Willst Du einmal Kinder haben? Ich möchte viele haben, wenn ich groß bin. Ich werde die Mama von vielen Kindern sein und keinem wird das passieren, was meinem kleinen Bruder Rodrigo passiert ist. Ich vertraue auf die Heilige Jungfrau und so wird es sein. Ich vertraue auch auf die Heilige Jungfrau, dass es meiner Mama mit der Schwangerschaft gut gehen wird. Also muss ich mich gut benehmen, das ist meine Aufgabe; die Hausaufgaben zu machen und zu versuchen, kleiner zu schreiben. Ich hoffe, dass Du bei allen Tests gute Noten kriegst. Wusstest Du, dass am zwölften August der Geburtstag von meinem Papa ist? Also, ich muss jetzt Schluss machen, sonst muss ich noch mehr nachdenken und ich weiß nicht, was ich Dir schreiben soll, das Blatt Papier ist klein und meine Schrift ist groß und fett und der Platz reicht auch nicht mehr aus.

 

Tschau, meine Freundin Maldonado.

Ich hoffe, Dir gefällt mein kleines Briefchen.

Ich warte auf Deine Antwort.

Deine Kameradin.🟊

 

PS: Das, was Du mir über Zúñiga gesagt hast, stimmt. Aber mir gefallen nur seine Haare und seine Augen, weil alles andere ist schwarz und hässlich.

 

 

V

 

 

Riquelme träumt von Handprothesen. Von den Händen aus González’ Zuhause. Er war der Einzige, der einmal dort gewesen war, also sind seine Träume wie ein Bericht. Riquelme sagt, dass das Haus groß und dunkel und voller verschlossener Türen sei. Hinter einer dieser Türen war das Zimmer von González’ Bruder. Dort durfte man nicht rein. Hinter den anderen zwei Türen im zweiten Stock, zu dem eine Treppe ohne Geländer hinaufführte, waren die Zimmer von González und ihren Eltern. Dort durfte man reingehen, das tat er aber nicht. Sie hatten ihn nicht hineingebeten. Unten betrat er das Esszimmer und das Wohnzimmer und einen Raum, in dem ein Fernseher mit einem Atari stand, der einmal González’ Bruder gehört hatte, aber jetzt González gehörte und den man ohne Probleme benutzen durfte. Riquelme und González spielten viele Stunden lang Space Invaders. Die leuchtend grünen Lichter, die aus den Kanonen der Erdbewohner schossen, flimmerten und flitzten über den Bildschirm hinweg, bis sie ein außerirdisches Wesen erreichten. Die Marsmännchen stiegen im Block herab, in einem perfekten Quadrat, ihre Geschosse abwerfend, ihre Kraken- oder Tintenfischarme bewegend, aber González’ und Riquelmes Macht war so groß, dass sie am Ende immer explodierten. Zehn Punkte für jedes Marsmännchen in der ersten Reihe, zwanzig für die zweite und vierzig für die in der hinteren Reihe. Und wenn das letzte starb, wenn der Bildschirm blank blieb, kam ein neues Heer Außerirdischer vom Himmel, bereit, weiterzukämpfen. In der Schlacht verloren sie ein Leben, und dann noch eins und noch eins, ein immer wiederkehrendes Töten, ohne Aussicht auf ein Ende. Geschosse kamen und gingen. González und Riquelme töteten so viele Marsmännchen wie möglich, aber trotz ihrer Bemühungen gelang es ihnen nie, den neuen Rekord, den González’ Bruder vor einem Jahr im Score aufgestellt hatte, zu überbieten. Es war ein High Score, der schwer zu übertreffen war. Sosehr sie es auch versuchten, die Schlacht mit den Außerirdischen an jenem Abend ließ das Unterfangen scheitern, den Rekord zu brechen.

Nach einer Weile brachte Doña González, González’ Mama, ihnen Milch und sagte, sie müssten jetzt ihre Hausaufgaben machen. Es war eine Arbeit für den Geschichtsunterricht über den Pazifischen Krieg, die ewige Auseinandersetzung zwischen Chile, Peru und Bolivien; und so setzten sich González und Riquelme an den Tisch im Esszimmer und begannen zu lernen. Riquelme erinnert sich nicht an viel von dieser Arbeit, vielmehr erinnert er sich an die Sopaipillas mit Puderzucker, die ihnen Doña González servierte, und an das Foto von González’ Bruder, das an der Wand hing. Laut Riquelme ähnelte González’ Bruder González sehr. Er war wie eine Kopie von ihr, nur eben in einer männlichen Variante. Riquelme wollte fragen, was mit ihm passiert ist, aber er traute sich nicht. Neben dem Foto von González’ Bruder hingen auch ein paar Medaillen an der Wand. Alle mit dreifarbigen Bändern, als ob sie einem Sportler oder einem Soldaten gehörten. Es gab Trophäen aus Kupfer, es gab Flaggen, kleine Miniaturflaggen aller Art, aus Metall, alle klein, als ob man sie bei der Arbeit im Pazifischen Krieg benutzen oder bei der Eroberung eines marsianischen Territoriums in den Boden stecken könnte.

Das tat Riquelme gerade, er betrachtete González’ Bruder und die Ehrungen, die an der Wand hingen, als González’ Papa, Don González, hereinkam. Riquelme kannte ihn nicht. Nur wenige kannten ihn. Er war ein großer Mann, in Uniform, der immer auf Reisen war und sich nur manchmal blicken ließ, wenn er morgens González in die Schule brachte. An jenem Abend küsste Don González, wie er es sicherlich immer tat, seine Frau und seine Tochter auf die Wange und machte eine freundliche Geste in Richtung Riquelme. Nachdem er gegrüßt hatte, setzte sich Don González in einen Sessel und wie eine tägliche Übung, wie jemand, der seine Krawatte lockert, um sich einen Augenblick zu entspannen, zog er sich seine linke Hand aus. Es war eine Hand aus Holz, wie die Holzbeine der Piraten. Er versteckte sie unter einem Handschuh aus schwarzem Leder.

González’ Mama bemerkte Riquelmes Unbehagen. Schnell brachte sie ihren Mann und dessen Holzhand in den zweiten Stock. González erklärte Riquelme, dass ihr Papa einen schrecklichen Unfall gehabt und deshalb keine linke Hand mehr hatte. Einer seiner Polizeikollegen hatte eine Handgranate und zufällig den Stab gezogen. Don González unternahm etwas, um seinem Polizeikollegen das Leben zu retten, keiner weiß so genau, was das war, anscheinend nahm er die Granate mit seiner linken Hand und versuchte, sie mit seiner linken Hand sehr weit von sich zu werfen, doch bevor er das tun konnte, explodierte die Granate in seiner linken Hand. Wenn er abends nach Hause kam, so wie jetzt, zog er sich die Prothese aus, die ihm als linke Hand diente, und ruhte sich aus, denn Prothesen drücken und man kann sie nicht so lange tragen. Er hatte mehrere, erzählte sie ihm, er bewahrte sie in einem speziellen Schrank auf. Alle aus Holz, aus Rauli-Holz, aus Lärchenholz, alle speziell für ihn angefertigt, an seine Maße angepasst, damit er die Abwesenheit der fehlenden Gliedmaße nicht merkte.

Riquelme kehrte nie mehr in González’ Haus zurück. Der Gedanke an diese orthopädischen Hände jagte ihm Angst ein. Einmal musste er wieder mit González zusammenarbeiten, aber er zog es vor, sie zu sich nach Hause in seine Wohnung einzuladen, wo Hände nicht von ihren Körpern getrennt wurden und keine verstorbenen Kinder an den Wänden hingen. In der Schule verbreitete sich die Geschichte wie ein Lauffeuer, wie eine Art Mythos, und niemand, absolut niemand, nicht einmal Maldonado, die sich mit González Briefe schrieb und sie ihre beste Freundin nannte, wagte es, zu ihr nach Hause zu gehen, aus Angst vor den künstlichen Händen des Don González. Man sagte, dass er sogar ein paar aus Eisen besitze, andere aus Silber und welche aus Bronze. Jemand sagte, dass Don González eine besitze, die schießen könne, und eine andere, die jemanden erstechen könne, weil aus ihr Messer herauskämen. Schmale Finger vom Kaliber 2,5, Pistolenhände oder sogar Guillotinenhände.

Gerade träumt Riquelme von diesem Schrank voller Prothesen, den er nie gesehen hat, und von einem Kind, das er nie kennengelernt hat, das mit ihnen spielt. Das Kind öffnet die Schiebetüren des Möbelstücks und zeigt ihm die orthopädischen Hände, ordentlich sortiert, eine neben der anderen, aufgereiht wie in einem Waffenarsenal. Sie leuchten grün, wie die Kugeln bei Space Invaders. Das Kind befiehlt etwas und sie gehorchen wie gezähmte Tiere. Riquelme hört, wie sie aus dem Schrank steigen und auf ihn zukommen. Sie belauern ihn. Sie verfolgen ihn. Sie nähern sich ihm wie ein irdisches Heer auf der Jagd nach einem außerirdischen Wesen.

 

 

VI

 

 

Die Mädchen knöpfen ihre karierten Kittelschürzen zu, die Jungen ihre milchkaffeebraunen Kittel. Einen Knopf nach dem anderen, mit großer Sorgfalt, damit kein Knopfloch leer bleibt, sechs Mal dieselbe Übung von oben, wo der Hals beginnt, nach unten, wo der Stoff endet. Als wir endlich fertig sind, stellen wir uns neben unseren Holzpulten auf. Wir stehen einer vor dem anderen in einer langen Reihe in unserem Klassenzimmer. Neben uns steht eine weitere lange Reihe und dort vorne eine andere und da hinten eine weitere. Wir sind mehrere Linien, die ein perfektes Quadrat bilden, eine Art Spielbrett. Mit der rechten Hand bekreuzigen wir uns alle gleichzeitig, unser Blick ist auf Unsere Liebe Frau vom Berge Karmel gerichtet, die über der Tafel genau über unseren Köpfen hängt. Ein kleines Bildchen, etwas verblasst, aber es zeigt deutlich Unsere Liebe Frau vom Berge Karmel mit ihrer goldenen Krone und ihrer dreifarbigen Banderole quer über ihrer Brust, während sie ihren kleinen Sohn in den Armen hält, das Jesuskind. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sprechen wir ein Gebet zur Jungfrau, um den Tag zu beginnen, und wir sprechen Fürbitten für die Ärmsten, für die Bedürftigen, für die, die kein Zuhause haben, für die, die nicht so wie wir in der Schule lernen können. Unsere Stimmen erheben sich im Chor zu einem immer gleichen Gebet, demselben wie gestern, wie vorgestern und wie morgen. »Gegrüßet seist du, Jungfrau Maria, Muttergottes, du, die du dich um alle Kindlein sorgst, sorge auch für uns, deine Kinder. Bewahre uns vor dem Bösen, führe uns nicht in Versuchung. Jungfrau Maria, Muttergottes und Mutter unseres Herrn und Erlösers, führe uns auf einen Weg des Friedens, auf einen Weg frei von Ängsten und Gefahren, in ein Leben voller Licht und Fülle, fern von den Schwierigkeiten und Schrecken dieser Welt. Lasse uns nicht in der Unsicherheit zurück, Muttergottes, verlasse uns nicht im Schmerz und lass uns das Glück deines ewigen Reichs zuteilwerden, liebe Mutter, Heiligste aller Heiligen, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« Ein Kuss auf den Daumen als Punkt am Ende des Satzes, und dann nehmen wir auf unseren Holzbänken Platz, um den Unterricht zu beginnen, beschützt von der Jungfrau, die uns aus der Höhe beobachtet. Sie beobachtet uns immer von dort. Ihre Glasaugen spähen uns aus, von da oben über unseren gekämmten Köpfen.

 

 

VII

 

 

Wir sitzen in einem Schiff aus Bastelpapier. Es ist ein großes Schiff mit einer Besatzung aus vierunddreißig Decksjungen; das sind wir, die alle von einem von uns befehligt werden, und zwar von Zúñiga, dem Kapitän. Seine Mami hat ihm mit einem angesengten Korken einen schwarzen Bart gemalt und ihm einen Marineanzug angezogen, der aus nichts anderem besteht als seinem blauen Schulblazer, aufgepeppt mit ein paar Details aus gelbem Kartonpapier. Aus einem Plattenspieler dröhnt höllisch laute Musik, während González, die der größte der Schiffsjungen, also von uns, ist, die chilenische Flagge in ihren Händen hält und sie im Takt schwingt. Zúñiga denkt, dass sie gut aussieht, angezogen als Mann. Auch sie hat einen Schnurrbart aus verbranntem Kork und eine weiße Matrosenmütze, wie wir alle. Zúñiga schaut sie an, wir alle merken es, nur sie selbst nicht. »Jungs, der Kampf ist ungleich«, sagt unser Kapitän und wir blicken ihn mit patriotischen Augen an. »Aber nur Mut! Und Tapferkeit! Noch nie hat unsere Flagge vor dem Feind kapituliert, und auch jetzt ist nicht der Moment dafür. Solange ich lebe, wird diese Flagge wehen, und wenn ich sterbe, werden meine Offiziere ihre Pflicht zu erfüllen wissen. Es lebe Chile, Scheiße«, beendet Zúñiga die Rede und setzt zum Entern des feindlichen Schiffes an.

Ich bin ein Held. Jedes Jahr, zum 21. Mai, trifft es mich, einer zu sein. Ich weiß nicht, warum sie mich auswählen, ich ähnele Arturo Prat kein bisschen, aber ich bin genauso mutig und ich könnte genauso gut in die Situation kommen, für jemanden oder etwas zu sterben. Jahr für Jahr wiederhole ich dieses andauernde Desaster, das kein Ende zu haben scheint. Wie in einem Déjà-vu muss ich schon wieder auf dem feindlichen Deck für Vaterland und Ehre mein Leben lassen. So wie im vergangenen Jahr und im Jahr davor und im Jahr davor. Ich verlasse mein Schiff aus Bastelpapier, mit dem Schwert in meiner Hand springe ich, aber bei dem Versuch, auf dem Schiff des Gegners zu landen, lande ich auf einem weißen Laken, welches das Meer ist. Ich falle nicht in das peruanische Schiff, das wir gestern im Klassenzimmer gebaut haben. Ich mache nicht das, was wir so viele Male geprobt haben.

Suchend blicke ich mich im Publikum nach meiner Lehrerin um, aber ich kann sie nicht finden. Ich will ihr erklären, dass das nicht meine Schuld ist. Es ist nicht so, dass ich nicht in den Kampf ziehen will, es ist dieses weiße Laken, das mich einfängt. Ich falle hinein und es umfängt mich und versteckt mich und wiegt mich in den Schlaf. Ich kann mich nicht an dieses weiße Laken erinnern. Jemand hat es im letzten Moment da hingelegt. Es ist nicht Teil der Vorstellung. Es war nicht Teil der Schlacht. Ich möchte um Hilfe rufen, aber das käme nicht gut an. Ich bin ein Held, kein Feigling. Und auch wenn ich weiß, dass ich auf jeden Fall sterben werde, so widersetze ich mich und versuche, meinen Kopf aus diesem Stoffmeer zu heben. Ich sehe meine Decksjungen dort auf dem Schiff. Sie alle winken mir mit der rechten Hand zu. Wie zum Abschied. González hat die Flagge nicht losgelassen, sie hält sie in ihren Händen und schwenkt sie, als wäre sie ein großes Taschentuch. Sie nähert sich der Reling. Ihr Gesicht wird nass von den Wassertropfen aus dem Meer, die sie sich mit einer Ecke der Flagge abwischt. Aber jetzt, da ich darüber nachdenke, glaube ich, dass diese Tropfen auch Tränen sein könnten.

González weint. Man erzählt sich, dass ihr Bruder ertrunken ist. Niemand weiß wie oder warum. Wahrscheinlich so, in ein weißes Laken gehüllt, das wie das Meer aussieht. González wirft mir die Flagge zu und ich versuche, sie zu fassen. Ich glaube, es ist ein Rettungsring. Die Flagge deckt mich zu, so wie das weiße Laken. Ich drehe mich herum, winde mich, werde von der Strömung erfasst, ich ertrinke und schlafe ein. Ich schlafe fest ein. Ich glaube, ich sterbe unter dem dreifarbigen Stoff.

 

Ich wache auf.

Sie sitzt auf meinem Bett.

Ich spüre das Gewicht ihres Körpers neben mir.

»Zúñiga«, sagt sie zu mir, »du bist gerettet.« Ich höre ihre Stimme durch das Rauschen des Fernsehers hindurch, der noch eingeschaltet ist. Es ist spät. Ich weiß, dass ich träume, aber ihre Stimme neben meinem Ohr ist so real wie die Leichtigkeit der Laken auf meinem Körper. Sie ist es. Das Licht des Fernsehbildschirms erleuchtet sie. Ihre schwarze Mähne, die Sommersprossen auf ihrer Nase, eine weiße Matrosenmütze und der Schnauzbart aus verbranntem Kork, der von ihren Tränen etwas verwischt ist. »Bist du wieder da?«, frage ich und sie lächelt. Ich rieche diesen Geruch nach Kaugummi in ihren Haaren. Der Fernsehbildschirm kündigt das Programm eines neuen Tages an. Es beginnt mit der Nationalhymne und Bildern aus dem ganzen Land, von Arica bis Punta Arenas.

 

Wieder wache ich auf.

Da ist kein Fernseher.

Ich bin allein und älter geworden.

 

 

Zweites Leben

 

 

I

 

 

Santiago de Chile. 1982. Das Mädchen isst eine Marraqueta mit Käse und Schinken, es sitzt auf einer Bank im Schulhof. Seine Klassenkameraden aus der siebten spielen und rennen um es herum. Vor ein paar Monaten verstarb der ehemalige Präsident Eduardo Frei Montalva, Führer der Opposition zu General Augusto Pinochet, an einem unerklärlichen septischen Schock in einer Spezialklinik. Einige Zeit später schoss eine Einsatztruppe des Nationalen Geheimdienstes dem Gewerkschaftsführer Tucapel Jiménez fünfmal in den Kopf, dem sie ihn danach abschlugen. Beide Nachrichten waren jeweils zu ihrer Stunde die aktuellen Hauptschlagzeilen. Zwei Exemplare dieser Zeitungen wurden in der Schulbibliothek archiviert, stehen in einer dicken Mappe im Regal Nummer vier in Gang Nummer drei bereit. Keines der Kinder der Schule hat sie bisher geöffnet. Gerade läutet auf dem Pausenhof die Schulklingel, um das Ende der Pause anzuzeigen. Das Mädchen streicht sich die Brotkrumen von seiner karierten Kittelschürze und steht auf. Die Kinder stellen sich für ihren Unterricht auf. Sie tut es ihren Kameraden gleich und wartet auf das Zeichen des Schulinspektors, um sich in ihr Klassenzimmer zu begeben. Während sie wartet, betrachtet sie ihre rot lackierten Fingernägel. Sie hat ihre Hand auf die Schulter der Mitschülerin vor ihr gelegt, um Abstand zu halten, und dort betrachtet sie den Lack, der schon etwas abgeblättert ist. Das Mädchen erahnt den Blick des Inspektors, der durch die Reihen geht. Alle beginnen hintereinanderher loszumarschieren. Das Mädchen steckt seine Hände in die Schürzentaschen, ohne dass es jemand bemerkt.

 

 

II

 

 

Hallo, liebe Freundin! Wie geht es Dir? Hat dir meine Postkarte gefallen, die ich Dir aus Deutschland geschickt habe? Darauf standen der Tag und die Uhrzeit meiner Ankunft, damit du mich am Flughafen Pudahuel abholen kannst, aber du warst nicht da. Unsere Reise war toll. Deutschland ist schön, groß, wir haben viele Fotos gemacht und viele Würstchen gegessen. Deutschland ist durch eine Mauer in zwei Teile geteilt. Ich habee nur den einen Teil kennengelernt, die Seite der Guten, die die einzige ist, die man besuchen kann, weil es auf der anderen Seite der Mauer sehr gefährlich ist. Mein kleiner Bruder hat sich sehr gut benommen, wir hatten alle Angst davor, mit ihm zu verreisen, aber es ist nichts passiert. Er hat in den Fliegern ein bisschen geweint, aber Babys weinen nun mal, so ist es eben, und auch wenn ich mich ein bisschen geschämt habe, ist es aber normal, sagt meine Mama. Mamas schämen sich nicht, wenn ihre Kinder weinen. So werde auch ich sein, wenn ich mit meinen Babys in ein Flugzeug steige. Das Schlimme an der Reise war, dass sie meinen Papa am Ohr operiert haben. Es ist schon seine vierte Operation, das war der traurige Teil, und wir haben auch ein paar Tränen vergossen. Er wird sich nie ganz von diesem schlimmen Unfall erholen, den er hatte. Aber die Ärzte dort sind besser und deshalb haben sie ihn nach Deutschland geschickt, um sich operieren zu lassen. Der Rückflug war auch ziemlich schwierig für ihn, weil wir umsteigen mussten und deshalb losflogen und landeten, und bei jedem Start und jeder Landung tat ihm das Ohr weh. Mir hat es aber gefallen, weil ich so viel Neues kennengelernt habe. Ich habe Paris gesehen, Spanien, das sehr schön ist, und am Ende Rio de Janeiro, was mir am besten gefallen hat. Ich habe ein paar Postkarten gekauft, die ich Dir schicken werde, sobald mein Onkel Claudio mich zur Post begleiten kann. Mein Onkel Claudio ist ein neuer Onkel. Die Sache ist nämlich die, dass sie mich nicht mehr alleine aus dem Haus lassen, und deshalb muss ich mit meinem Onkel Claudio rausgehen, einem Typen von der Arbeit meines Papas, der auf mich aufpasst und mich begleitet, wenn ich das Haus verlasse, weil meine Mama bei meinem Bruder ist, mein Papa viel arbeitet und ich ja nicht mehr alleine aus dem Haus darf, weil das so gefährlich sein kann, wie auf der anderen Seite der deutschen Mauer spazieren zu gehen. Mit ihm werde ich zur Post gehen und Dir diesen Brief schicken, den Du mir hoffentlich ganz bald beantworten wirst. Deinen, den ich mit auf die Reise genommen habe, habe ich jeden Abend gelesen und ihn sogar meinem Papa gezeigt. Zúñiga hat mir auch einen Brief geschrieben, aber nicht per Post. Es war ein zusammengerollter Zettel, den er mir kurz vor meiner Abreise zugesteckt hat. Da stand ziemlich wenig drauf, aber ich habe ihn trotzdem mitgenommen, als Erinnerung an meinen Klassenkameraden. Diesen werde ich meinem Papa aber nicht zeigen. Er mag Zúñiga nicht, er sagt, seine Familie sei seltsam. Ich habe ihn auch nicht meiner Mama gezeigt, weil sie dasselbe denkt. Ich werde ihn niemandem zeigen. Dir werde ich ihn dann zeigen.

Kennst Du eigentlich meinen zweiten Vornamen? Zúñiga kennt ihn nicht. Ich sage ihn dir. Marisella.

Also gut, meine Freundin Maldonado, mir fällt nichts mehr ein, was ich Dir erzählen könnte.

Jetzt gehe ich mit meinem Onkel zur Post.

Ich verabschiede mich von Dir mit einem Gruß.

In Liebe.🟊Marisella.

 

 

III

 

 

Wir wissen nicht, ob das hier ein Traum oder eine Erinnerung ist. Manchmal denken wir, es ist eine Erinnerung, die sich in unsere Träume einschleicht, eine Episode, die einem von uns aus dem Gedächtnis entflohen ist und sich zwischen unseren schmutzigen Laken versteckt. Es könnte schon einmal erlebt worden sein, von uns oder von anderen. Es könnte dargestellt oder sogar erfunden worden sein, aber je mehr wir darüber nachdenken, umso mehr glauben wir, dass es nur ein Traum ist, der sich in eine Erinnerung verwandelt hat. Wenn es einen Unterschied zwischen den einen und den anderen gäbe, könnten wir herausfinden, woher es kam, aber auf unserem vergesslichen Schlaflager gerät alles durcheinander, und die Wahrheit ist, dass es jetzt auch gar nicht mehr wichtig ist.

Als Erstes laufe ich mit Riquelme durch einen dieser Flure im zweiten Stockwerk unserer Schule. »Beeil dich, Zúñiga«, sagt er zu mir, während wir schnell und schweigend die Treppe hinabsteigen. Wir gehen in Richtung Ausgang. In unseren Schultaschen haben wir Pamphlete, einen großen Stapel, der meine Hände blau gefärbt hat, weil die Tinte, mit der sie bedruckt sind, abfärbt. Wir müssen sie vor der Schule verstreuen, ohne dass uns jemand dabei sieht. Ich weiß nicht genau, was darauf steht, es geht um einen Marsch, um eine Einladung zu einem großen Aufmarsch gegen Pinochet, zu etwas noch nie Dagewesenem, noch nie Gemachtem, es muss eine Einladung zu etwas sehr Wichtigem sein, da mich mein großer Bruder darum bat, das hier zu tun, und als er mich darum bat, sagte er, dass es eine Aufgabe nur für die Tapfersten sei, und ich bin ein tapferer Mann und deshalb kann ich das und noch viel mehr tun. Also stahlen wir uns mitten im Unterricht davon und schlichen uns raus, ohne dass der Pförtner uns sah, und noch bevor die Klingel zum Ende des Schultags läutete, öffneten wir unsere Taschen und verstreuten die Pamphlete vor dem Schulgebäude, damit alle sie beim Hinausgehen sehen würden. Eltern, Erziehungsberechtigte, Busfahrer, Lehrer, Nachbarn, kleine und große Kinder, sie alle würden sie auf dem Boden lesen, sie aufheben und die Information mit nach Hause nehmen können. »Hungermarsch« lauten die blauen mit dem Mimeografen geschriebenen Buchstaben. Das Wort wiederholt sich auf dem Boden. Viele auf die Straße geworfene Pamphlete, Hungermarsch auf dem Bürgersteig, Hungermarsch vor der Bushaltestelle, Hungermarsch neben dem Zeitungskiosk, Hungermarsch am öffentlichen Münzfernsprecher. Die Mission wurde mit Erfolg ausgeführt. Keiner hat uns gesehen, wir können also siegreich in die Schule zurückkehren und bei Schulschluss wird mein Bruder die Genauigkeit meiner Arbeitsweise erkennen und mir mit großer Wahrscheinlichkeit ein paar Stickerpackungen der chilenischen Nationalmannschaft für das Sammelalbum zur Weltmeisterschaft in Spanien kaufen.

Als wir gerade wieder das Schulgelände betreten wollen, hupt uns jemand an. Eine rote Chevy Chevette parkt auf dem Bürgersteig gegenüber. Aus ihrem Inneren macht uns ein Typ ein Handzeichen. Es ist ein dunkelhaariger Mann mit Schnurrbart, Hakennase und einer Sonnenbrille, die seine Augen völlig verdeckt. Er raucht eine Zigarette, während er wartet, denn es sieht so aus, als würde er auf jemanden warten. Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn noch nie gesehen. Auch Donoso, Fuenzalida und Bustamante nicht. Riquelme hingegen schon. Er sagt, er sei ein Onkel von González. Ein Verwandter oder so etwas, der manchmal als Chauffeur diene. Er bringe sie zur Schule oder sonst wohin und danach nach Hause. Maldonado sagt, dass es jemand von der Arbeit von González’ Papa sei, von Don González. Maldonado sagt, dass er Onkel Claudio heiße und witzig sei, ein Spaßvogel, und dass er sie mal an seiner Zigarette habe ziehen lassen. Riquelme erzählt, vor einer Woche habe er González bei ihr zu Hause abgeholt, um dann gemeinsam mit Acosta und Maldonado eine Gruppenarbeit für Naturwissenschaften zu machen. Der Typ habe in Riquelmes Esszimmer gesessen und einen Tee getrunken und sich lange mit seiner Großmutter unterhalten. Riquelme sagt, dass er sympathisch sei, dass er ihm versprochen habe, ihn mal in seiner roten Chevy mitfahren zu lassen, wenn er wolle. Vielleicht lässt er ihn auch mal an seiner Zigarette ziehen. Ich bin noch nie in einer roten Chevy mitgefahren. Riquelme auch nicht. Ich hatte einmal eine als Spielzeugauto, als ich welche gesammelt habe. Es war mein Lieblingsauto, aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo es ist. Es ist verloren gegangen. Aus dem Auto heraus lächelt der Typ mit der roten Chevy uns an, hält eines der Pamphlete in der Hand, die wir gerade auf die Straße geworfen haben. Bestimmt hat er es vom Boden aufgehoben. Hungermarsch zwischen den Fingern von González’ Onkel Claudio. Riquelme beantwortet den Gruß mit einem Winken. Ich mache dasselbe, auch wenn ich ihn nicht kenne. Ich hebe die Hand sogar in die Höhe. Ich hege den geheimen Wunsch, dass er auch mich einmal in seiner roten Chevette spazieren fahren wird.

 

 

IV

 

 

Das Spiel ist einfach und wir haben eine Stunde, um es zu spielen. Wir alle wissen das und deshalb sind wir pünktlich gekommen. Unsere Eltern sind beim Elternabend und wir schließen uns hier drin ein, in diesem dunklen Klassenzimmer, das einem Jahrgang über oder unter uns gehört, jedenfalls nicht uns. Es gefällt uns, spätabends hier zu sein, auch wenn wir nicht eingeladen sind. Unsere Eltern setzen sich an unsere Pulte, antworten auf eine Anwesenheitsliste mit unseren Namen und besprechen mit unserer Lehrerin Dinge, die uns betreffen. Währenddessen sind wir hier, nur wenige Meter entfernt, wir haben uns unserer Schuluniformen entledigt und sind mit anderer Kleidung gekommen, unserer Kleidung, wirklicher Kleidung, bereit, wirklich zu sein und unser eigenes Spiel zu spielen.

Das Licht im Klassenzimmer geht aus und die Luft wird dicker. Inmitten der schwarzen Dunkelheit, schwarz wie die Nacht oder der Tod, hören wir, die wir sind wie immer, auf, dieselben zu sein. Keiner ist mehr, wer er zu sein vorgibt. Wir müssen nicht mehr unsere Namen auf dem Kragen einer Schürze oder eines Kittels aufgestickt mit uns herumtragen. Wir sind andere. Schatten, stille Geister, die leise mit ausgestreckten Armen umherschleichen, auf der Suche nach einem anderen. Donoso sucht Maldonado. Er berührt ihre Schulter, dann den Hals, steckt seine Finger in eine Mähne zerzauster Haare, von der er glaubt, dass sie zu ihr gehört. Bustamante trifft auf einen Ellbogen, der zur rechten Hand von jemandem führt, er weiß nicht von wem, aber er fragt auch nicht. Fuenzalidas Gesicht nähert sich dem von Riquelme, Nase an Nase, sie atmen gleichzeitig ein und aus, saugen ihren Geruch ein, ihren Geschmack, probieren den Speichel des jeweiligen anderen. Zúñiga tastet sich durch das dunkle Zimmer auf der Suche nach González. Tastend berührt er Köpfe, Beine, Arme, und er würde sie gerne rufen, aber hier funktionieren die Namen nicht, die Aufrufe der Anwesenheitsliste bleiben aus dem dunklen Zimmer ausgeschlossen und González ist nicht mehr González, denn jetzt gerade ist sie ein bisschen Maldonado und ein bisschen Fuenzalida und auch ein bisschen Acosta. Und eine Zunge berührt Zúñigas Mund. Es ist eine kleine Zunge, aber sehr forsch, und sie könnte jedem gehören. Und jemand lacht und jemand versteckt sich und da lacht wieder jemand, während ein anderer in einer Ecke niest und ein weiterer dort vorne an die Tafel stößt. Bustamante brennen die Ohren, es fühlt sich an, als ob sie ihm bald platzen würden. Donoso beißt in Maldonados Hals, es scheint, dass sie das nicht aushält, und Maldonado schreit auf wie eine Katze. Zúñiga lacht, weil es kribbelt, weil sie jemand kitzelt, oder vielleicht tut das gar niemand und es ist einfach nur ein Lachen, pures Lachen, das uns alle ansteckt, während die Quarzuhr an jemandes Handgelenk mit kleinen Lichtchen die Minuten vor dem Ende anzeigt. Also nutzen wir die letzten Sekunden des Spiels und es kommen die Umarmungen, das Drängen, das Drücken, Zungen, die lecken und suchen und nicht reden, denn hier gibt es weder Worte noch Namen, wir sind nur ein Körper aus vielen Beinen und Händen und Köpfen, ein Marsmännchen aus Space Invaders, ein Kraken mit vielen verschiedenen Armen, der dieses Spiel im Dunkeln spielt, das gerade kurz davor ist, beendet zu werden.

Plötzlich geht das Licht an und der Inspektor blickt uns von der Tür aus an. Es herrscht Ordnung, die Jungs sitzen rechts, die Mädchen links. Manche lesen ein Buch. Andere schlafen auf ihrem Stuhl, denn es ist ja schon spät und morgen muss man sehr früh aufstehen und wieder in die Schule gehen, um zu lernen.

 

 

V

 

 

Es sehe so aus, als hätten Zúñiga und Riquelme etwas angestellt. Es habe den Anschein, dass man sie bei etwas Schrecklichem erwischt habe, dass man sie deshalb ein paar Tage suspendiert habe, dass sie deshalb nicht gekommen seien, sagt Maldonado. Zúñiga sei in Politik involviert, deshalb geschehe gerade das, was geschehe, antwortet Acosta. Was das heißen solle, er sei in Politik involviert, fragt Donoso. Das könne nicht sein, dass er in Politik involviert sei, dazu sei er noch zu klein, sagt Maldonado. Aber natürlich könne das sein, weil seine Eltern Anführer seien und sein Bruder ein aktives Mitglied, antwortet Fuenzalida. Was denn bitte ein aktives Mitglied sei. Was denn bitte ein Anführer sei, fragt Donoso. Alle in den höheren Klassenstufen seien Anführer oder aktive Mitglieder der Kommunistischen Jugend. Dass du selbst ja auch mal was machen könnest, weil so klein seien wir gar nicht, antwortet Bustamante. Dass wir aber sehr wohl klein seien, sagt Maldonado, wir seien doch erst zwölf Jahre alt. Aber nein, für manche Sachen könnten wir nicht zu klein sein, antwortet Bustamante. Wie, was Politik sei. Alles sei Politik. Wofür das denn gut sei. Es sei auch egal. Es werde schon seinen Grund haben, warum es von der Regierung verboten worden sei. Es sei nicht gut, dass Dinge verboten würden. Wen dieser Scheiß eigentlich interessiere. Dass du bitte nicht solche Worte verwenden mögest. Dass ich redete, wie ich wolle, dass ich dich beim Inspektor verpfeifen würde, dass wahrscheinlich du Zúñiga und Riquelme beschuldigt habest, dass ich niemanden beschuldigt hätte, dass ich nicht einmal wisse, was Zúñiga und Riquelme machten. Ob irgendjemand eine Ahnung habe, was Zúñiga und Riquelme machten? Ob jemand eine Ahnung habe, was es heiße, in Politik involviert zu sein? Man solle ruhig sein, der Mathematiklehrer komme. Alle sollten auf ihre Plätze gehen, sich setzen, ruhig sein. Die Tür öffne sich, guten Tag, Kinder, dass wir jetzt die Liste durchgehen würden, dass Acosta, dass Bustamante, dass Donoso, dass bla, bla, bla. Dass ihr eure Bücher auf Seite zweiunddreißig aufschlagen sollet. Dass wir gerne eine Frage stellen wollten, bevor wir begännen, Herr Lehrer. Welche Frage ihr denn stellen wolltet. Was es bedeute, in Politik involviert zu sein. In welchem Alter man sein müsse, um das zu sein. Jetzt solle einmal Ruhe herrschen! Der Lehrer gucke irritiert. Dass endlich Ruhe herrschen solle! Dass er einen Moment brauche, bevor er antworte. Ruhe! Dass Fuenzalida davon träume, von dieser Ruhe, die sich im Klassenzimmer ausbreite, dass sie sie genauso hören könne wie unsere Stimmen. Ruhe! Keiner möge sprechen, keine Bank knarzen, nicht einmal ein Papier rascheln. Kinder, ruft der Mathematiklehrer, das hier sei Matheunterricht und in die Schule komme man, um zu lernen, und nicht, um Blödsinn zu reden.

 

 

VI

 

 

Unsere kleine rote Chevy fährt über den Pausenhof. Das Spielzeugauto fährt an der Statue Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel vorbei und biegt am Fußballplatz in Richtung Schwimmbecken ab. Es überwindet ein paar Brotkrumen, ein paar Steine, eine Orangenschale. Drinnen, auf den Rücksitzen lümmelnd, schauen wir aus dem Fenster, während wir ein paar Zigaretten rauchen. Auch in diesem Traum sind wir winzig klein, so groß wie diese kleine rote Chevy Corvette, niemand sieht uns. Wir können uns die Nägel lackieren, die Socken runterziehen, die Krawatten aufknoten, die Schürzen und die Kittel ausziehen. Wenn wir wollen, können wir sogar die Haare offen tragen und uns an den Händen fassen. Der Schulinspektor geht an uns vorbei. Wir sehen seinen riesigen schwarzen Schuh. Seine Sohle ist dabei, uns zu zertreten, aber die winzige rote Chevy weicht ihm in einem atemberaubenden Manöver aus und wir retten uns vor dem Tod durch das Zertretenwerden vom Slipper des Inspektors. Er bemerkt uns nicht einmal, aus seiner Höhe kann er uns nicht sehen, er vermutet nicht, dass wir hier unten sein könnten, auf dem Rücksitz dieser roten Chevy. Vorne sitzt González’ Onkel Claudio am Minilenkrad. Er ist winzig klein geschrumpft, so wie wir. Er steuert diesen Traum, den wir alle haben, fährt das Miniauto rasend schnell, weicht den Hindernissen auf dem Pausenhof wie ein richtiger Rallyefahrer aus. An der Windschutzscheibe der roten Chevy, gehalten vom Scheibenwischer, klebt ein Pamphlet mit blauer Schrift. »Hungermarsch« können wir lesen, während González’ Onkel Claudio uns im Rückspiegel anlächelt.

 

 

VII

 

 

Wir hatten das noch nie zuvor getan