Über Brenda Novak

Brenda Novak lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Sacramento. Sie wurde für ihre Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Als Aufbau Taschenbuch erschien bisher der erste Roman um die Psychiaterin Evelyn Talbot: »Ich töte dich«.

Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

»Ich sehe dich – ich jage dich.«

Evelyn Talbot hat als Psychiaterin in Alaska mit den gefährlichsten Kriminellen zu tun. Einer aber ragt heraus – Lyman Bishop, der geniale Wissenschaftler, der Frauen mit einem Eispickel tötete. Als Bishop durch einen Fehler in seinem Prozess freikommt, hat Evelyn die größten Befürchtungen. Zu Recht, denn bald wird eine ihrer alten Freundinnen grausam ermordet. Doch noch jemand könnte die Tat begangen haben: ihr Exfreund Jasper.

Ein Thriller mit einem ungewöhnlichen Schauplatz: Alaska.

Ausgezeichnet als einer der besten Spannungsromane des Jahres in den USA.

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Brenda Novak

Wer dich jagt

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Wolfgang Thon

Inhaltsübersicht

Über Brenda Novak

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1. Kapitel

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28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

Impressum

Für meine Tochter Alexa,

die wahrlich keine Mühen scheut (für uns alle) …

Psychopathen und Helden

sind womöglich Zweige

desselben genetischen Astes.

David T. Lykken, The Antisocial Personalities

1. Kapitel

Wir sind alle böse – auf die ein oder andere Art.

Das hatte der Night Stalker gesagt. Obwohl Dr. Evelyn Talbot den Serienmörder Richard Ramirez nie persönlich getroffen hatte und ihr diese Möglichkeit nun verwehrt war, denn er war 2013 an Krebs gestorben, hatte sie doch Videoaufzeichnungen der Verhöre gesehen, die andere mit ihm geführt hatten. Auf Evelyn wirkte es, als habe Ramirez diese Perle der Weisheit direkt in die Kamera gesprochen und gehofft, dabei tiefgründig zu wirken – tiefgründiger, als er in Wirklichkeit war.

Das geschah sehr häufig. Viele Psychopathen, die sie untersuchte, gaben vor, etwas Besonderes und Außergewöhnliches zu sein. Die meisten von ihnen waren jedoch nicht schlau genug, diese Farce durchzuziehen. Selbst jene, die gestorben waren, bevor sie geschnappt und für ihre Verbrechen bestraft werden konnten, hatten dies nicht aufgrund ihrer hohen Intelligenz geschafft. Oft war es pures Glück gewesen – sie hatten ihren angeborenen Überlebensinstinkt ausgenutzt oder die Polizei hatte nachlässig gearbeitet. Andere wiederum sahen aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun – wie Jeffrey Dahmer oder Ted Bundy.

Doch der frisch verurteilte Lyman Bishop, ein neuer Insasse, den sie soeben kennengelernt hatte, brachte sie weit mehr aus der Fassung als all ihre anderen Patienten. Er war brillant und äußerst berechnend – Evelyn schnitt eine Grimasse in Richtung der Fotos, die aus der geöffneten Krankenakte neben ihrem Ellbogen hervorragten. Vor allem aber war er gänzlich unerschrocken in seiner Brutalität. Man nannte ihn den Zombiemacher, und das aus gutem Grund.

Sie nahm die Brille ab, die sie zuweilen trug, um ihre Augen nicht zu übermüden, legte den Kopf an die Stuhllehne und starrte zur Decke ihres Büros hinauf. Es war noch nicht einmal Mittag, doch sie fühlte sich, als habe sie bereits den ganzen Tag gearbeitet. Gestern Abend war sie lange aufgeblieben, um ihre erste Sitzung mit Lyman Bishop vorzubereiten. Sie musste ihm, wann immer möglich, einen Schritt voraus sein, denn sonst würde er sie verachten, anstatt Respekt vor ihr zu empfinden. Sollte das geschehen, konnte sie ihn ebenso gut in eine andere Einrichtung verlegen lassen, denn dann würde er ihr in Hanover House nichts nützen. Falls es ihr nicht gelang, irgendeine Art von Beziehung zu ihm zu entwickeln, würde sie nie erfahren, wer er wirklich war.

Stattdessen würde er nur seine Spielchen mit ihr spielen. Wahrscheinlich würde er das ohnehin versuchen.

Seufzend setzte Evelyn die Brille wieder auf und fuhr fort, ihre Gedanken und Eindrücke in den Computer zu tippen. Obwohl sie für gewöhnlich jeden neuen Insassen bei seiner Ankunft in Hanover House persönlich begrüßte, war ihr das gestern nicht möglich gewesen. Sie war mit Amarok, ihrem Freund und dem einzigen Polizisten, den Hilltop zu bieten hatte, nach Anchorage gefahren, um dessen kranken Vater zu besuchen. So hatte Lyman Bishop seine erste Nacht, die auf einen Sonntag fiel, in Hanover House verbracht, ohne dass sie ihn treffen konnte. Ob sich dieser Umstand im Großen und Ganzen positiv oder negativ auswirken würde, vermochte sie nicht zu sagen, doch Bishop erfüllte exakt alle üblen Erwartungen, die sie ihm gegenüber gehegt hatte.

Wenn ich einer neuen Bekanntschaft erzähle, womit ich mein Geld verdiene, höre ich wesentlich öfter den Namen Hannibal Lecter als beispielsweise den BTK-Mörder, John Wayne Gacy oder den Namen irgendeines anderen, real existierenden Psychopathen, notierte sie. Jeder scheint den Begriff Psychopath mit Das Schweigen der Lämmer in Verbindung zu bringen. Ich hingegen habe diese filmische Darstellung stets gemieden, denn Männer, die ausschließlich zu ihrem persönlichen Vergnügen töten, sehen meist wesentlich banaler und alltäglicher aus als ein Leinwandbösewicht. Und obwohl ich über die Jahre vielen gefährlichen Männern begegnet bin – Männern, die widerliche Gräueltaten begangen hatten –, hat mich doch keiner von ihnen an den Protagonisten aus Thomas Harris’ Roman erinnert. Bis auf Lyman. Er ist der einzige Mörder, der intelligent genug wirkt, diese Assoziation nahezulegen.

Sie unterbrach ihre Aufzeichnungen, um ein Bild von ihrem Highschool-Abschluss aus der oberen Schreibtischschublade zu ziehen. Aus dem Foto lächelte ihr Jasper Moore entgegen, ihr erster Freund, wie er vor einundzwanzig Jahren aussah. Jung, attraktiv und anscheinend völlig harmlos. Alles andere als ein Killer. So, wie er nach außen wirkte, hätte keiner je geglaubt, dass er nur kurze Zeit später ihre drei besten Freundinnen umbringen und sie selbst tagelang foltern würde – bevor er ihr die Kehle aufschnitt und sie liegen ließ, weil er dachte, sie sei tot. Er war damals siebzehn Jahre alt gewesen, Evelyn sechzehn. Dass sie den Angriff überlebt hatte, kam einem Wunder gleich. So konnte sie ihn identifizieren und berichten, was er ihr angetan hatte. Nichtsdestotrotz war er entkommen und konnte auch in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht gefasst werden, trotz aller Bemühungen seitens der Polizei und der Privatdetektive, die sie persönlich angeheuert hatte.

Sie hatte ihre eigene Theorie, wie ihm das gelungen war: Seine wohlhabenden Eltern mussten ihn gleich nach der Tat aus dem Land gebracht haben. Aber egal, ob er nun Hilfe erhalten hatte oder nicht, war er doch der einzige ihr bekannte Psychopath, den sie als ebenso klug wie Lyman Bishop eingestuft hätte. Und genau das war es, was Lyman für sie so faszinierend und angsteinflößend machte. Nach Hunderten Enttäuschungen – beispielsweise Anthony Garza, der vergleichbare Verhaltensweisen an den Tag legte, aber weniger Intelligenz vorzuweisen hatte – war die Aussicht, einen Menschen zu untersuchen, der Jasper ähnelte, aufregend.

Andererseits, wie Victor Hugo einmal gesagt hatte: Nichts ist so entsetzlich wie dieser Monolog des Sturms.

Braute sich da womöglich ein neuer Sturm am Horizont zusammen, der nichts mit den massiven Kaltfronten zu tun hatte, die Alaska zu dieser Jahreszeit routinemäßig heimsuchten? Als sie Lyman traf, war eine markerschütternde Kälte in ihr aufgestiegen. Es fühlte sich an, als würde er ihr Leben auf irgendeine Weise verändern …

Er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich nichts tun kann, um ihn und andere zu stoppen, und das befeuert meine schlimmsten Ängste, notierte sie. Dass alles, was ich durchgemacht habe, sinnlos ist. Dass meine Arbeit und die Tatsache, Boston samt meiner Familie und den dortigen Freunden geopfert zu haben, um hier in dieser eisigen Wildnis zu leben, letztendlich keinen Unterschied machen werden.

Das Summen der Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch schreckte Evelyn aus ihren abgründigen Gedanken. Sie sah auf die Uhr und drückte dann den Knopf, um mit Penny Singh zu sprechen, ihrer nur knapp einen Meter fünfundvierzig großen Empfangsmitarbeiterin. »Ja?«

»Jennifer Hall ist hier.«

Pünktlich auf die Sekunde. »Schicken Sie sie rein.«

Evelyn rollte mit dem Bürostuhl vom Computer weg und stand auf, um ihren Gast zu begrüßen. Seit der Eröffnung von Hanover House vor einem Jahr hatte sie nur selten Opfer oder deren Familien getroffen. Aufgrund der Tatsache, dass sie in dem abgelegenen Städtchen Hilltop arbeitete, eine Autostunde von Anchorage entfernt, war sie nicht leicht erreichbar. Und da es ihr mittlerweile gelungen war, die Vollzugsanstalt fest zu etablieren, in der sie mit einem Team von fünf Gerichtspsychologen und einem Neurologen die »Gewissenlosen« detailliert untersuchen konnte, musste sie weniger häufig im Fernsehen auftreten und brauchte die Öffentlichkeit nicht mehr, um die notwendigen Gelder aufzutreiben. Evelyn hatte ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, die mysteriöse Gedankenwelt von Psychopathen zu erforschen. Und nun, wo sie dieses Ziel ohne Einschränkungen verfolgen konnte, wie sie es erhofft hatte, versank sie in Arbeit und ließ nur selten Unterbrechungen zu. Doch als Jennifer Hall sie vor einigen Wochen kurz vor Weihnachten kontaktierte, brachte Evelyn es nicht über sich, ein Treffen abzulehnen. Immerhin war ihre Schwester Jan eines von Lyman Bishops Opfern gewesen. Und nachdem Evelyn selbst Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, identifizierte sie sich ganz automatisch mit dem Leiden anderer. Es drängte sie, diesen Menschen so viel Unterstützung und Sicherheit wie möglich zukommen zu lassen – wenngleich es immer weniger war, als sie sich gewünscht hätte.

»Vielen Dank, dass Sie trotz Ihrer vielen Arbeit Zeit für mich finden, Doktor Talbot«, begann Jennifer, sobald sie den Raum betrat.

Sie war erst fünfundzwanzig Jahre alt, hatte langes, dunkles Haar und große braune Augen, doch trotz ihres hübschen Äußeren sah Evelyn ihr nur kurz ins Gesicht, denn ihr Blick wurde geradezu magisch von Jennifers stark gewölbtem Bauch angezogen. Dass sie schwanger war, hatte für ihr Treffen keine Bedeutung, weshalb sie es wohl auch nicht erwähnt hatte. Doch Evelyn war wie versteinert, da sie in letzter Zeit öfter über Kinder nachgedacht hatte. Vor einem Monat hatte Amarok zum ersten Mal von Hochzeit gesprochen, aber Evelyn hatte vorgegeben, seinen Kommentar nicht gehört zu haben – irgendetwas von einem Ring, falls sie je einwilligen sollte, ihn zu heiraten. Seither hatte er das Thema nicht mehr angeschnitten, Evelyn überlegte allerdings ständig, ob sie sich darauf einlassen sollte. Auf ihn einlassen sollte. Sich überhaupt auf jemanden einlassen sollte. Evelyn war siebenunddreißig. Wenn sie eine Familie gründen wollte, musste sie das relativ bald tun. Bis vor kurzem hatte sie nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass ihre Zukunft in traditionellen Bahnen verlaufen könnte – schon gar nicht, solange Jasper auf freiem Fuß war. Bereits die Vorstellung, dass er sich jemals einem ihrer Kinder nähern könnte, brach ihr das Herz.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich kann kaum glauben, dass Sie eine so lange Fahrt auf sich genommen haben.«

»Jan war mehr als meine Schwester. Wir waren Zwillinge. Eineiige Zwillinge.«

Zum Glück enthielt Lymans Akte keine Post-mortem-Fotografien dieses Opfers, so dass es Evelyn erspart blieb, dass sich das schreckliche Bild der ermordeten Jan Hall vor ihr inneres Auge schob. Lyman war nur aufgrund von Indizienbeweisen verurteilt worden. Er hatte sich in der betreffenden Gegend befunden und konnte kein Alibi vorweisen. Zuvor hatte er andere Mädchen getötet, deren Aussehen ähnlich war. Außerdem hatte man Jans Unterwäsche zusammen mit anderen Trophäen in seinem Haus aufgefunden.

»Ich verstehe«, sagte Evelyn. »Das tut mir leid. Ich kann nur vermuten, wie quälend es für Sie sein muss – ohne sie weiterzuleben.«

Jennifer blinzelte. »Wissen Sie, manchmal wache ich nachts auf und bin mir absolut sicher, dass sie noch lebt. Es ist, als ob ich sie spüren könnte, noch immer diese enge Verbindung hätte. Doch dann kommt der Morgen und …«

Und mit ihm die Wirklichkeit. Evelyn wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte. Nach all den Jahren träumte sie noch immer von ihren drei besten Freundinnen aus der Highschool, sprach und lachte mit ihnen. »… und man verliert sie gleich noch einmal.«

»So ist es«, antwortete Jennifer leise.

Evelyn deutete auf ihren Bauch. »Wann ist es so weit?«

»In einem Monat schon.«

»Und da lässt Sie Ihr Arzt von Minneapolis hierherfahren?«

»Ich habe ihn nicht gefragt. Ich musste Sie treffen, und ich wusste, dass das vor der Geburt des Babys leichter sein würde als danach.« Sie blickte kurz zum Fenster hinüber, durch das erneut ein trüber und kalter Tag zu sehen war. »Ich wollte keinesfalls etwas so Reines und Unschuldiges wie ein neugeborenes Baby an einen Ort bringen, wo so viele böse Menschen sind. Auch wenn sie hinter Gittern sitzen.«

Böse. Wieder erinnerte sich Evelyn an Richard Ramirez’ Worte und gleichzeitig an die Frage, die sie schon lange umtrieb: Was war der Grund dafür, dass manche Menschen böser waren als andere? Und wie konnten diese Menschen es genießen, Unschuldigen Schmerz zuzufügen? »Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen. Setzen Sie sich doch.«

Als Jennifer sich in dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs niederließ, rutschte Evelyn auf den Rand ihres Bürosessels vor und lächelte, um der jüngeren Frau die Furcht zu nehmen. »Was kann ich für Sie tun?«

Jennifer stellte ihre Handtasche auf die Knie, da auf ihrem Schoß kaum mehr Platz war, und lehnte sich vor. »Ich muss wissen, wo sich die Leiche meiner Schwester befindet. Ich muss sie finden, um Jan angemessen beerdigen zu können. Dann habe ich vielleicht das Gefühl, sie an einem guten Ort und in Frieden zu wissen. Und es gäbe einen Platz, an dem ich trauern und mich verabschieden könnte. Ich muss dieses entsetzliche Kapitel in meinem Leben abschließen.«

Evelyn rang die Hände. Sosehr sie es hasste, den dringlichen Wunsch ihrer Besucherin enttäuschen zu müssen: Wenn Lyman Bishop diese Information bis heute nicht offengelegt hatte, so gab es dafür einen guten Grund – und sei es nur, um nach Herzenslust weitere Menschen zu quälen. Die Polizei hatte ihn gewiss danach gefragt und alles unternommen, um es herauszufinden. Wahrscheinlich hatten sie ihm sogar angeboten, seine Zeit in einer anderen Vollzugsanstalt statt in Hanover House abzusitzen. Die meisten Gefängnisinsassen waren nicht begeistert, an einen wildfremden, kalten Ort geschickt zu werden, der so weit von ihren Freunden und anderen Nahestehenden entfernt lag. »Dr. Bishop ist – schwierig im Umgang.«

»Schwierig?« Jennifer lachte bitter, mit einem Hauch von Hysterie.

»Das ist stark untertrieben, ich weiß«, stimmte Evelyn zu, aber sie hatte sich dabei nicht auf sein Benehmen in ihrer Gegenwart bezogen, denn bislang hatte er sich ihr gegenüber nicht unkorrekt verhalten. Ihre Einschätzung basierte auf seinem komplexen Wesen und darauf, dass er schwer zu durchschauen war.

»Er hat der Polizei kein einziges Wort gesagt. Schon am Tag seiner Festnahme bat er um einen Anwalt und hat fortan nur noch geschwiegen. Er hat nicht mit den Medien gesprochen und noch nicht einmal Aussagen zu seiner eigenen Verteidigung gemacht.« Jennifer wurde daraufhin wieder ernster – oder vielleicht nur entschlossener. »Aber es muss doch etwas geben, mit dem man ihn beeinflussen kann. Etwas, das er unbedingt haben möchte.«

»Was zum Beispiel?«

»Nach allem, was ich gehört habe, kann Geld den Aufenthalt eines Gefängnisinsassen wesentlich angenehmer gestalten. Und Lyman ist an die schönen Dinge des Lebens gewöhnt; er scheint eine Art Gourmet zu sein. Ich habe zwar nicht viel Geld, aber was ich habe, würde ich gerne dafür hergeben.«

»Er ist gerade erst in Hanover House angekommen. Derartige Luxusgüter werden ihm erst später wichtig werden, nachdem er eine Weile ohne sie auskommen musste. Bis dahin zweifle ich, ob das eine ausreichende Motivation darstellen würde.«

»Sie meinen, wir sollten warten?«

»Das halte ich für das Klügste. Geben Sie mir Zeit, ihn besser kennenzulernen und, soweit möglich, herauszufinden, wie er tickt. Sobald er und ich routinemäßig miteinander zu tun haben, wird es mir vielleicht gelingen herauszubekommen, womit wir die besten Chancen haben. Falls überhaupt Chancen bestehen.« Sollte es Evelyn gelingen, einen Schwachpunkt in seiner Rüstung auszumachen, würde sie diese Information nutzen. Aber sie war keinesfalls sicher, dass sie es überhaupt schaffen würde, ihm zusätzliche Informationen zu entlocken. Es war nicht einfach, Druckmittel gegen jemanden zu finden, der eine lebenslange Haftstrafe verbüßte und nichts zu verlieren hatte.

Jennifer zuckte zusammen und schloss die Augen. »Jan gilt nun schon seit zwei Jahren als vermisst«, sagte sie, nachdem sie ihre Augen wieder geöffnet hatte. »Ich bin froh, dass ihr Mörder gefasst wurde und im Gefängnis sitzt. Und ich weiß, dass ich diesbezüglich mehr Glück habe als die meisten und dass es Menschen gibt, die niemals Gerechtigkeit erlangen. Sie zum Beispiel – Sie sind einer davon und das tut mir leid. Aber ich muss – ich muss meine Schwester irgendwo zur Ruhe betten. Schon für meinen eigenen Seelenfrieden.«

Evelyn klappte Lymans Akte zu – nur zur Sicherheit, falls Jennifer bemerkt haben sollte, dass es sich um seine Akte handelte. Die völlig aufgelöste junge Frau durfte die Fotografien nicht sehen – wenngleich sie vermutlich ein paar davon während der Gerichtsverhandlung erblickt hatte. »Glauben Sie mir: Ich möchte Ihnen wirklich gerne helfen. Aber wenn man mit einem Mann wie Lyman Bishop zu tun hat, ist das ein bisschen wie Schachspielen. Sobald er spürt, wie sehr wir die Information brauchen, wird er sie umso mehr zurückhalten. Er könnte uns sogar verspotten, dass er über etwas verfügt, was wir gerne hätten, aber nicht bekommen können.«

»Warum?«, rief Jennifer aus. »Warum sollte er Gefallen daran finden, geheim zu halten, wo die Überreste von Jan zu finden sind?«

»Es geht dabei weniger um Gefallen als um Macht«, erklärte Evelyn.

»Kann man ihn nicht zur Vernunft bringen? Keinen Handel mit ihm abschließen?«

Evelyn suchte verzweifelt nach einer Lösung, die Jennifer einen gewissen Seelenfrieden verschaffen konnte, ohne dabei mehr zu versprechen, als sie zu halten imstande war. »Ich kann es versuchen, aber es wäre ein Fehler, ihm sofort Anreize zu bieten oder Zugeständnisse zu machen. Auf diese Weise würde er das Ausmaß unserer Verzweiflung erkennen, und dann bekämen wir womöglich nie, was wir haben wollen.«

Jennifer ließ den Kopf sinken.

»Jennifer, was ist los?«, fragte Evelyn und versuchte, ihren Blick zu erhaschen.

Sie sah auf. »Was meinen Sie damit? Ich habe Ihnen doch gerade alles erzählt.«

»All das hätten wir am Telefon besprechen können. Was hat Sie veranlasst, den langen Weg bis Alaska zu reisen, wo Sie doch im achten Monat schwanger sind?«

Jennifers Augen füllten sich mit Tränen, doch sie fasste sich und wischte sie weg. »Meine Mutter hat Bauchspeicheldrüsenkrebs.«

Noch eine Tragödie. »Das tut mir leid.«

»Mir auch. Mein Vater starb an einer Herzattacke, als ich gerade mal fünfzehn war. Dann geriet Jan in die Hände dieses – Monsters. Und jetzt auch noch das. Bald ist meine gesamte Familie ausgelöscht.«

»Aber Sie werden ein Kind haben«, erwiderte Evelyn in der Hoffnung, ihr Mut machen zu können.

Jennifer strich sich mit der Hand über den Babybauch. »Vielleicht werde ich es gar nicht behalten. Ich habe mich noch nicht entschieden. Wahrscheinlich hat sie es bei jemand anderem besser. Ich habe nicht gerade viel zu bieten.«

»Dann ist es also ein Mädchen?«

»Laut Ultraschall, ja.«

»Und der Vater? Hat er gar nichts dazu zu sagen?«

»Nein, hat er nicht. Zur selben Zeit, als ich meine Schwangerschaft bemerkte, hat er seine Exfrau geschwängert und ist zu ihr zurück.« Erneut quollen Tränen in ihre Wimpern und liefen ihre Wange herab. Sie wischte sie trotzig weg.

»So etwas bricht einem bestimmt fast das Herz.«

»Ich werde mich damit arrangieren, irgendwie. Nur kann ich den Gedanken nicht ertragen, dass meine Mutter sterben sollte, bevor wir Jan nach Hause holen und begraben können. Wir brauchen diesen einen gemeinsamen Moment, um noch ein letztes Mal alle drei vereint zu sein. Das ist ihr letzter Wunsch.«

Evelyn hätte diesen Wunsch so gerne erfüllt, aber sie redeten hier über Lyman Bishop, von dem sie bereits wusste, dass sie sehr vorsichtig mit ihm umzugehen hatte. »Wie viel Zeit bleibt ihrer Mutter noch?«

»Die Ärzte sagen drei Monate.«

»Ich werde tun, was ich kann. Ich werde nach Möglichkeiten und günstigen Gelegenheiten suchen, das verspreche ich Ihnen. Aber geben Sie mir bitte ein paar Wochen Zeit.«

»Ein paar Wochen? Wo diese Geschichte mit einem oder zwei Sätzen seinerseits zu beenden wäre? In wenigen Sekunden?«

»Nichtsdestotrotz nehmen die meisten Verbrecher seines Kalibers solche Informationen oft mit ins Grab.« Evelyn stand auf und hielt Jennifer die Box mit Papiertaschentüchern hin, die auf ihrem Schreibtisch stand.

»Und wenn ich selbst mit ihm sprechen würde?«, fragte Jennifer. »Wenn ich – wenn ich sozusagen eine persönliche Bitte an ihn richten würde? Macht das vielleicht einen Unterschied?«

»Das bezweifle ich. Sie müssen begreifen, wie die meisten Psychopathen funktionieren: Sie tun, was sie tun, weil es ihnen ausschließlich um sich selbst geht. Wenn sie etwas haben wollen, nehmen sie es sich, auch wenn sie dafür lügen, stehlen oder jeden um sich herum manipulieren müssen. Wenn es ihnen gefällt, anderen Schmerzen zuzufügen, dann sehen sie keinen Grund, warum sie sich diese Befriedigung verweigern sollten. Sie empfinden kein Mitleid, solange sie keines empfinden wollen

Jennifer tupfte sich die Augen und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. »Und was ist mit seiner Schwester?«

Als Lyman sechzehn Jahre alt war, hatte seine Mutter Marianna die Familie verlassen, um zu einem anderen Mann zu ziehen. Kurz darauf beging Lymans Vater Selbstmord, also nahm Marianna die Kinder wieder zu sich. Doch nur ein Jahr später machte ihr neuer Lover ihr klar, dass er sie verlassen würde, falls ihre Liebesbeziehung auch die Kinder mit einschloss. Also brachte Marianna Lyman und die damals zehnjährige Beth ins nächste Einkaufscenter, ließ sie dort stehen und tauchte nie wieder auf. Als Lyman und seine Schwester mit dem Stadtbus schließlich wieder nach Hause kamen, war die Wohnung leer geräumt und verlassen. Marianna und ihr Liebhaber waren weggezogen, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Von da an lebte Lyman allein, zog seine kleine Schwester auf, hatte zwei Jobs und legte nebenher noch seinen Doktor ab, den er über staatliche Stipendien und Kredite finanzierte. Beth schien der einzige Mensch zu sein, der ihm etwas bedeutete. Zwar hatte er ein paar Liebesbeziehungen, doch keine hatte länger als vier oder fünf Monate gedauert.

»Was soll mit ihr sein?«, fragte Evelyn.

»Sie hat den ganzen Gerichtsprozess hindurch geweint und geschluchzt. Er schien ihr tatsächlich am Herzen zu liegen. Könnte man vielleicht mit ihr Kontakt aufnehmen? Wenn er es schon nicht für uns tut – für sie macht er es vielleicht.«

Evelyn konnte sich kaum vorstellen, dass das funktionieren würde. Zunächst müsste Beth sich damit einverstanden erklären, ihm diese Information zu entlocken, und womöglich stand sie ihrem Bruder zu nahe, als dass sie ihn verraten wollte. Denn was auch immer er anderen Frauen angetan hatte, er hatte sich in einer Zeit um sie gekümmert, als sie ganz auf sich allein gestellt waren. Zweitens hatte Beth im Gegensatz zu ihrem intelligenten Bruder in ihrer Jugend unter Entwicklungsstörungen gelitten. Aus den Unterlagen ging hervor, dass ihr IQ weit unterhalb des Durchschnitts lag, also hatte sie womöglich nur begriffen, dass Lyman plötzlich verschwunden war. Drittens müsste sie nach Alaska kommen, damit ihre Bitte die von ihnen erwünschte Wirkung hatte, denn ein Brief oder ein Telefonat würden niemals denselben Effekt erzielen. Und Evelyn war sich noch nicht einmal sicher, ob Beth überhaupt allein verreisen konnte.

Daher würde es nicht einfach werden, Beths Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Dennoch war Evelyn bereit, mit ihr zu sprechen und herauszufinden, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab. »Ich werde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was ich herausbekomme.«

»Okay.« Jennifer griff mit der einen Hand nach ihrem Taschentuch, packte mit der anderen ihre Handtasche und erhob sich. »Vielen Dank. Ich übernachte im einzigen Motel der Stadt, im Shady Lady. Wenn Sie mich kontaktieren wollen, müssen Sie dort anrufen, denn diese gottverlassene Gegend hat ja noch nicht einmal Handyempfang.«

Obwohl Evelyn früher dasselbe über Hilltop gedacht hatte, verletzte sie diese Aussage doch ein bisschen. Nicht nur, weil sie wusste, wie sehr Amarok diesen Ort liebte, sondern weil sie mittlerweile selbst die unglaubliche Schönheit, Freiheit und die frische, wenngleich kalte Luft schätzen gelernt hatte. Trotzdem zeigte sie keine Reaktion, denn es irritierte sie mehr, dass Jennifer sich noch immer so anhörte, als erwarte sie schnelle Resultate. »In Ordnung, aber behalten Sie bitte im Kopf, dass meine Bemühungen vielleicht nicht zu der Information führen, die Sie sich erhoffen. Und schon gar nicht, bevor Sie abreisen.«

»Ich reise nirgendwo hin«, antwortete Jennifer. »Zumindest nicht so lange, bis der Mistkerl sagt, wo er Jans Leichnam versteckt hat.«

Evelyn konnte eherne Entschlossenheit aus ihrer Stimme heraushören. »Und was ist mit dem Baby?«

»Es gibt doch auch Ärzte hier, oder nicht?«

»Gewiss, in Anchorage. Aber – «

»Dann wollen wir hoffen, dass wir in den nächsten Tagen oder Wochen herausfinden, was er mit Jans Leiche gemacht hat, so dass ich nach Hause zurückkehren kann.«

Evelyn empfand den Druck, dass Jennifer Hall in hochschwangerem Zustand in der Stadt verweilen wollte, alles andere als angenehm. Sie hatte Lyman gerade erst kennengelernt und keine Ahnung, was sie von ihm zu erwarten hatte. Es war durchaus denkbar, dass er sich weigerte, das Thema überhaupt anzusprechen.

Andererseits hatte sie selbst eine Schwester und wusste, dass es ihr an Jennifers Stelle ähnlich ergehen würde. »Ich werde tun, was ich kann.«

»Danke«, antwortete Jennifer, und Evelyn ging zum Ausgang hinüber, um ihr die Tür aufzuhalten.

Evelyn kehrte an ihren Schreibtisch zurück, öffnete erneut Lymans Akte und blätterte darin, um den Namen des Ermittlungsbeamten herauszusuchen, der den Fall in Minneapolis bearbeitet hatte. In diesem Moment steckte der Neurologe Jim Ricardo seinen Kopf durch die Tür – der Nachfolger von Dr. Fitzpatrick, der im letzten Jahr gekündigt hatte, um seiner Entlassung zuvorzukommen.

»Haben Sie eine Minute Zeit?«

Zuerst wollte sie ablehnen, denn vor ihr lag ein arbeitsreicher Tag, und sie war mit anderen Dingen beschäftigt. Auf der anderen Seite war es vielleicht besser, ihn anzuhören und sein Anliegen schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Immerhin war es für sie eine große Erleichterung, nicht mehr vorsichtig um Dr. Fitzpatrick herumschleichen zu müssen, der ihr das Leben so schwer gemacht hatte. Der einundvierzigjährige Dr. Ricardo hatte zwar nicht die Erfahrung des älteren Fitzpatrick, aber zumindest versuchte er nicht, ihr die Kontrolle über die Einrichtung zu entreißen. »Klar. Was gibt’s?«

»Ich würde unseren neuen Insassen gerne in eine Studie einbeziehen.«

»Wen? Lyman Bishop?«

»Ja.«

»In die Studie zur Empathiefähigkeit?«

»Dafür könnten wir ihn auch gebrauchen, aber ich dachte eher an eine neue Studie, die ich demnächst beginnen möchte. Ich würde gerne untersuchen, ob Menschen mit asozialen Persönlichkeitsstörungen leichter imstande sind, die Reaktionen des vegetativen Nervensystems auf Täuschungsversuche zu unterdrücken.«

»Und dadurch den Lügendetektortest bestehen.«

»Genau.«

Frühe Studien, die von David Raskin und Robert Hare in den späten Siebzigern unternommen wurden, hatten ergeben, dass Psychopathen bei Lügendetektortests nicht besser abschnitten als andere Leute. Mittlerweile waren jene Erkenntnisse umstritten. Manche Forscher behaupteten, weil Psychopathen sich nicht vor Vergeltung oder Bestrafung fürchteten, mache sie das weniger anfällig für Stress als andere Menschen. Daher verstand Evelyn, warum Ricardo diese Frage zu beantworten wünschte, ganz egal, welches Resultat dabei herauskommen würde. Zumindest würde er tiefere Einblicke in das Thema gewinnen. Dennoch war sie nicht bereit, jemand anderem Umgang mit Lyman zu gewähren. »Hört sich interessant an, aber ich möchte eigentlich nicht, dass Bishop involviert wird.«

»Warum nicht?«

»Er ist erst zu kurz hier. Geben Sie mir Gelegenheit, ein paar Wochen mit ihm zu arbeiten und festzustellen, wie kooperativ er überhaupt sein möchte und auf welche Weise er Ihrer Studie nützen könnte.«

Ricardo starrte sie erstaunt an. »Das ist das erste Mal, dass Sie mir jemanden verweigern. Was ist anders an diesem Insassen?«

»Wie Sie wissen, haben die meisten Menschen mit asozialen Persönlichkeitsstörungen keine besonders ausgeprägte Impulskontrolle, weshalb es ihnen auch an der Selbstdisziplin fehlt, eine ausreichende Schulbildung abzuschließen –«

»Es sei denn, man wäre der Ansicht, dass einige der weltweit größten Geschäftsleute Psychopathen sind«, unterbrach er sie. »Diese These ist ja auch schon aufgestellt worden.«

Damit hatte er nicht unrecht. Psychopathen fühlten sich stärker zu Handel und Wirtschaft hingezogen als zu anderen Berufen. Natürlich gab es unter ihnen auch Polizisten, Rechtsanwälte und Chirurgen. Aber Evelyn bezog sich nicht auf Psychopathen, die innerhalb des Gesetzesrahmens blieben. »Okay, die sind vielleicht auch Psychopathen, aber sie bringen keine Leute um. Unter den Individuen, die bei uns landen, haben nur wenige eine so profunde Bildung wie Dr. Bishop. Er war im Bereich biomedizinische Forschung an der Universität von Minnesota tätig, als Genetiker von Fruchtfliegen, um genau zu sein, und hat eine Menge zur Krebsforschung beigetragen.«

»Sind Sie sich sicher?«

Sein sarkastischer Unterton erstaunte sie. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Vielleicht hat er ja irgendwie getrickst – wie dieser Forscher von der Universität Iowa, der Blutproben fälschte, um die Testresultate von HIV-Impfungen aufzubauschen und dadurch höhere Subventionen zu bekommen.«

Evelyn konnte Ricardos Verdacht nachvollziehen. Psychopathen gehörten in der Regel nicht zu den Menschen, die ihre Laufbahn durch harte Arbeit vorantrieben. Wenn sie zum Erlangen ihrer Wünsche die Regeln verletzen oder die notwendigen Voraussetzungen fingieren mussten, taten sie das oft genug. »Nach allem, was ich bislang gehört habe, scheint seine Arbeit untadelig gewesen zu sein. Zusammen mit einem anderen Genetiker hat er Chromosomensätze mithilfe von DNA-Sequenzierung analysiert und dadurch ermöglicht festzustellen, welche Arten von Zellmutationen Krebs verursachen.«

»Bei Fliegen, ja.«

»Menschliche Zellen unterliegen denselben Prozessen.«

»Das hört sich zwar nobel an, aber ich bezweifle, dass sich sein Fehlverhalten nur aufs Morden beschränkte. Sie wissen ja, zu welch krimineller Vielseitigkeit die meisten Psychopathen fähig sind.«

Dies war ebenfalls richtig, doch Evelyn hatte den Eindruck, dass Lyman Bishop sehr wohl nach einem Moralkodex lebte, auch wenn dieser anders war als bei normalen Menschen. Was er für seine Schwester geleistet hatte, war bewundernswert. »Trotzdem möchte ich nicht, dass er unsere Forschungsergebnisse aus purem Vergnügen absichtlich torpediert. Überlassen Sie ihn also bitte mir.«

Ricardo nickte, obgleich er ganz offensichtlich von ihrer Antwort enttäuscht war. »In Ordnung. Aber geben Sie mir Bescheid, sobald Sie ihn freigeben können.«

»Liegt Ihnen so viel daran, mit einem klugen Psychopathen zu arbeiten?«, fragte sie.

»Sie sind alle klug.«

»Vielleicht eher schlau, manipulativ und betrügerisch, aber nicht so klug wie Dr. Bishop.«

»Nun haben Sie wirklich mein Interesse geweckt.«

»Ich werde Sie schon bald auf ihn loslassen.«

»Okay.« Er griff nach dem Kalender auf ihrem Schreibtisch und stellte ihn auf das aktuelle Datum ein, da Evelyn das versäumt hatte. »Ach, übrigens: Annie plant ein Abendessen übernächsten Freitag. Sie fühlt sich etwas einsam hier, so weit weg von ihrer Familie. Sie würde sich freuen, wenn Sie und Amarok ebenfalls kommen könnten.«

Wenn Ricardos Frau mit der vor allem zu dieser Jahreszeit herrschenden Kälte, Dunkelheit oder Isolation nicht zurechtkam, würde er früher oder später die Koffer packen und in seine Heimatstadt San Francisco zurückkehren müssen. Evelyn wollte aber keinesfalls auf ihn verzichten, denn sie hatte gerade erst zwei Teamkollegen ersetzt, die im Jahr zuvor ausgefallen waren. Daher musste sie wohl oder übel dieses Abendessen und andere Geselligkeiten, die Ricardos Frau veranstaltete, über sich ergehen lassen, obwohl ihr Annie nicht allzu sehr lag. Sie war eigenartig und ihrer Ansicht nach ein wenig zu dominant. Und da Evelyn sich den ganzen Tag mit schwierigen Persönlichkeiten beschäftigte, hatte sie in ihrer Freizeit lieber weniger komplizierte Menschen um sich. »Wir kommen gerne. Was können wir mitbringen?«

»Keine Ahnung. Annie fährt heute nach Anchorage, um einen Tafelaufsatz und neues Porzellan zu besorgen, obwohl ich gar nicht verstehe, warum unser übliches Geschirr nicht ausreicht. Meine Frau hat mehr Schüsseln, als sie ihr Lebtag benutzen kann, aber wenn ihr das Einkaufen einen Sinn vermittelt und sie glücklich macht, soll es mir recht sein.«

Wie Evelyn war auch Ricardo sehr von seiner Arbeit fasziniert. Da abweichendes Verhalten meist nur dem Selbstzweck diente, brachte es selten die gewünschten Resultate, zumindest nicht auf lange Sicht. Psychopathen zerstörten ihr eigenes Leben, während sie das Leben anderer vernichteten. Warum sie diese Wechselwirkung nicht verstanden oder es ihnen anscheinend nichts ausmachte, war eines der vielen Geheimnisse, die Evelyn bei Lyman Bishop zu ergründen hoffte. Auch er hatte sich selbst der Möglichkeit beraubt, weiter für seine Schwester sorgen zu können und seine Arbeit voranzubringen. Außerdem hatte er seine Freiheit verloren. »Ich frage meine Frau und gebe Ihnen dann Bescheid. Wir werden sicher einen schönen Abend miteinander verbringen.«

»Danke.« Er ging Richtung Tür und blieb dann stehen. »Sie wird in Anchorage auch eine Geburtshelferin besuchen.«

»Dann ist sie also schwanger?« Seit Evelyn nach Hilltop gekommen war, hatte sie nicht eine einzige schwangere Frau getroffen, zumindest nicht bis heute Morgen. Und nun war sie soeben mit einer in Kontakt gewesen und erfuhr gleich von der nächsten.

»Ich hoffe es. Wenn wir nämlich nicht bald ein Kind empfangen, befürchte ich, dass sie mich zu einer Behandlung gegen Unfruchtbarkeit mitschleppen wird, und das …«

Er schien nach den richtigen Worten zu suchen.

»Das würde dieser schon jetzt schwierigen Phase weiteren Stress auflasten«, half ihm Evelyn.

Seine Lippen verzogen sich zu jenem schmerzlichen Lächeln, mit dem er ihr bereits am Tag seiner Anstellung gegenübergetreten war, als er erzählte, dass seine familiäre Situation alles andere als rosig war. »Ja«, sagte er und verließ das Zimmer.

Evelyn starrte ihm nach. Wenn Annie schwanger werden würde, wäre sie vielleicht erfüllter und zufriedener in Alaska – und Evelyn könnte weiter mit Jim zusammenarbeiten.

Als sie sich wieder Lyman Bishops Akte zuwandte, fand sie endlich den Namen des Ermittlungsbeamten und griff zum Telefon. In Gedanken war sie noch immer bei Annie und Jennifer und überlegte, ob ein Baby auch in ihr eigenes Leben passen würde. Dann klopfte es an der Tür, und Penny streckte den Kopf ins Zimmer.

»Lyman Bishop möchte mit Ihnen sprechen.«

»Schon wieder?« Sie legte den Hörer auf, noch bevor der Anruf durchgestellt werden konnte. »Und warum?«

»Das sagt er nicht.«

Sie dachte an Jennifer Hall. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit oder gar die Chance, auf die sie gewartet hatten. »Dann sollen ihn zwei Gefängnisaufseher in einen freien Verhörraum bringen.«

2. Kapitel

»Sie haben schöne Augen, aber das wissen Sie ja bereits.«

Evelyn starrte durch die Plexiglasscheibe, die sie von Lyman Bishop trennte. »Danke.«

»Welche Farbe haben sie genau?«

Da Evelyn entschlossen war, lieber sein Spiel mitzuspielen, als ihm kritisch oder empfindlich gegenüberzutreten, ließ sie ihn frei reden. Mal sehen, wohin das führte. »Haselnussbraun.«

Er kniff die Augen zusammen und lehnte sich vor. »Ich dachte, sie seien grün. Von hier aus ist das schlecht zu erkennen.«

Aus gutem Grund. Die Trennscheibe aus Plexiglas sollte dafür sorgen, dass Evelyn unversehrt blieb. »An manchen Tagen sehen sie heller aus«, ließ sie ihn wissen.

»Dazu diese vollen Wimpern und das lange, schwarze Haar – eine sehr schöne Kombination.«

»Wollten Sie mich deshalb sprechen? Um mir Komplimente über mein Äußeres zu machen?«, fragte sie.

Er lachte leise, wurde dann aber so abrupt ernst, dass sie schon glaubte, sich seine Leichtigkeit nur eingebildet zu haben, die ohnehin nicht zu dieser Situation passte. »Würde es Sie erstaunen zu hören, dass ich die ganze Zeit an Sie denken muss?«

Die Psychopathen, mit denen sie zu tun hatte, versuchten oft, Emotionen in ihr zu erwecken – indem sie Zuneigung oder Bewunderung beteuerten oder, was noch häufiger vorkam, indem sie sexuelle Anspielungen machten. Sie wollten auf diese Weise ihre Bedeutung unterstreichen, und nichts gab ihnen stärker das Gefühl von Wichtigkeit, als eine heftige Reaktion bei ihrem Gegenüber auszulösen. Anscheinend war Bishop – ein weicher, bebrillter Mann im mittleren Alter, mit unauffälligen braunen Augen und teilweise kahlem Schädel – in dieser Hinsicht nicht anders, trotz seiner Intelligenz. Sollte er verärgert darüber sein, dass er nach Hilltop, weit weg von seiner Schwester, die in Minnesota lebte, verlegt worden war, so zeigte er das nicht. Wie alle Insassen in Hanover House trug er einen orangefarbenen Overall. Außerdem Handschellen und eine Kette um den Bauch, da er sich außerhalb seiner Zelle befand. Angesichts der Gelassenheit seiner Bewegungen und Stimme hätte er jedoch ebenso gut seinen Laborkittel tragen können.

Für Evelyn war seine ruhige Art eine willkommene Abwechslung von dem wesentlich aggressiveren Verhalten manch anderer Insassen. Viele zogen eine Show ab, vor allem bei ihrer Ankunft. Anthony Garza, der ihr gleich nach der Eröffnung von Hanover House so viel Ärger bereitet hatte, war ein eklatantes Beispiel dafür gewesen. Und dennoch: Obwohl sie einerseits eine gewisse Erleichterung spürte, fand Evelyn Bishop beunruhigender. Letztendlich waren Lügen und Irreführung ja die Werkzeuge gewesen, mit denen Jasper vor etlichen Jahren seine Erfolge erzielt hatte. Er hatte sie im Alter von sechzehn Jahren getäuscht und in einen Hinterhalt gelockt, noch bevor sie imstande war, zu begreifen, wie entsetzlich manche Menschen sein konnten.

»Ganz und gar nicht.« Sie bemühte sich dahinterzukommen, warum Lyman Bishop um dieses Gespräch gebeten hatte. Worauf zielte er ab? Was für ein Spiel wollte er in Gang setzen? Sie hatte den Eindruck, dass er ein hochgradig methodischer Mensch war und nichts ohne Grund tat. »Da wir uns erst vor ein paar Stunden begegnet sind und ich Ihnen erklärt habe, dass wir uns von nun an regelmäßig sehen werden, ist es nur natürlich, dass Sie mir gegenüber eine gewisse Neugier empfinden.«

Er saß auf einem Stuhl, der am Boden festgeschraubt war und das einzige Möbelstück innerhalb des Raumes darstellte. Seine Hände lagen gefaltet in seinem Schoß. »Ich bezweifle zwar, dass es etwas mit Neugier zu tun hat – aber ja, ich werde Spaß an unseren Sitzungen haben. Es gibt sicher eine Menge Themen, über die wir uns unterhalten können.«

»Nun, für mich gewiss«, antwortete sie, »denn ich interessiere mich für die Sichtweisen von Psychopathen im Hinblick auf ihre Umwelt. Warum aber sollten Sie an mir interessiert sein?«

Sie hatte fast erwartet, dass er erneut seine Bewunderung für ihr Aussehen bekunden würde, und war daher froh, dass er mehr in die Tiefe ging und ihre Erwartungen hinsichtlich seiner Intelligenz und Kultur nicht enttäuschte.

»Sie sind eine Überlebende«, antwortete er. »Sie schlagen zurück. Das bewundere ich durchaus.«

Als er erfuhr, an welchem Ort er seine Strafe verbüßen würde, hatte er wahrscheinlich alles gelesen, was er über Evelyn und ihre Arbeit in die Finger bekommen konnte. Vielleicht hatte er sogar schon vor seiner Ergreifung von Hanover House gehört. Die Idee einer derartigen Institution war Evelyn bereits kurz vor ihrem Schulabschluss gekommen, und sie hatte sich lautstark dafür eingesetzt, nachdem sie ihr Studium beendet hatte. Die Suche nach einem Ort, an dem sie gemeinsam mit anderen Kollegen die notwendigen therapeutischen Maßnahmen zur Bekämpfung von Psychopathie entwickeln konnte, glich einem Feldzug, der auch in den Medien Resonanz fand. Dies war zum Teil auch der Grund dafür, dass Jasper sie kurz vor ihrem Umzug nach Alaska aufspüren konnte, obschon er indessen erneut untergetaucht war. »Dann wissen Sie also über Jasper Bescheid.«

»Ja. Was er Ihnen angetan hat, muss ein fürchterlicher Schock für Sie gewesen sein.«

Ein Schock, den Lyman wohl indirekt genoss. »Das war es, ja. Aber ich bin nicht gewillt, über dieses Thema zu sprechen.« Viele der Insassen versuchten, den Umfang ihrer Seelenqual auszuloten, weshalb Evelyn es sich zur Regel gemacht hatte, nicht über ihre Vergangenheit zu sprechen. Es ging ja darum, dass sie mehr über die Insassen erfuhr, nicht umgekehrt.

»Wir haben alle unsere – wunden Stellen.«

»Meinen Sie damit das, was Ihre Mutter Ihnen angetan hat?« Da er Jasper direkt nach ihrem flüchtigen Kennenlernen ins Gespräch gebracht hatte, wollte sie ihm zeigen, dass sie derartige Spielchen ebenso gut beherrschte wie er.

Er mahlte kurz mit dem Kiefer, aber sonst blieb sein Gesichtsausdruck unverändert. »Genau. Jener Tag wird mir ein Leben lang in Erinnerung bleiben.« Er stieß die Worte pointiert hervor, als ob sie einen bitteren Geschmack in seinem Mund hinterließen. Doch schon einen Moment später lockerte er die Hände wieder, die er zu Fäusten geballt hatte. »Das war natürlich auch für mich ein fürchterlicher Schock.«

»Weshalb Sie keine positiven Gefühle für Ihre Mutter hegen können.«

»Ich habe meine Mutter gehasst. Obgleich mein Erlebnis nicht halb so brutal ablief wie Ihres, so war es doch – schmerzhaft.«

Unter Umständen war es in mancher Hinsicht sogar noch schmerzhafter gewesen. War er es also womöglich gewesen, der seine Mutter aufgespürt und ermordet hatte?

Denn jemand hatte genau das getan. Als Lyman dreißig Jahre alt war, wurde seine Mutter aus nächster Nähe erschossen, als sie eines Abends spät aus ihrem Auto stieg. Ihr Mörder hatte sie einfach auf der Fahrbahn liegenlassen. Man hatte ihn nie gefunden. Es gab keine Zeugen, und abgesehen von der Kugel, die ihr Herz durchbohrt hatte, konnte die Polizei keine rechtsmedizinischen Beweise am Tatort sichern. Lyman war der Hauptverdächtige und hatte kein Alibi. Allerdings war die Vorgehensweise so verschieden von seinen späteren Tötungsdelikten gewesen, dass sich – außer dem Tatmotiv – keine weitere Verbindung zu ihrem Tod herstellen ließ.

»Was Sie durchgemacht haben, tut mir leid«, sagte sie und meinte das auch so. Kein Kind sollte jemals auf so herzzerreißende Weise verlassen werden. Wer konnte wissen, wie grundsätzlich anders Lyman hätte sein können, hätte er eine bessere Mutter gehabt? Indessen hatten nicht alle Psychopathen eine schreckliche Kindheit. Überraschenderweise hatten einige sogar gute Eltern und kaum frühkindliche Traumata erlebt. Dennoch war es bei den gewalttätigsten Kriminellen fast immer so, dass sie auf irgendeine Weise missbraucht oder vernachlässigt worden waren.

»Ich danke Ihnen. Ich glaube, wir werden gut miteinander zurechtkommen, wenngleich ich nicht an den Sinn Ihrer Arbeit hier glaube.«

Diese unerwartet bissige Anmerkung brachte sie zum Blinzeln. »Das ist jetzt etwas sehr direkt, finden Sie nicht?«

»Man hat mir oft vorgeworfen, zu direkt zu sein. Tatsächlich muss ich zugeben, dass ich keinen Sinn darin sehe, anderen etwas vorzugaukeln. Wenn ich bei etwas skeptisch bin, finde ich es nur fair, meine Haltung von Beginn an offenzulegen.«

Nun verstand Evelyn, warum er nie eine feste Beziehung aufrechterhalten konnte. Er war zwar vom Kopf her schlau, aber wesentlich weniger geschickt als andere Psychopathen, wenn es darum ging, normale gesellschaftliche Umgangsformen vorzutäuschen. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Bezieht sich Ihre Skepsis auf mich oder auf meinen Beruf?«

»Darüber steht das Urteil noch aus.« Er lachte leise, hörte aber sofort damit auf, als er bemerkte, dass sie nicht mitlachte. »Ihr Beruf ist eine andere Sache. Es täte mir leid, wenn ich Sie beleidigt hätte«, fügte er hinzu.

»Tatsächlich?«, fragte sie

Er schien verwirrt. »Wie bitte?«

»Täte es Ihnen wirklich leid, wenn Sie mich beleidigt hätten?«

Er dachte einen Moment darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht. Ich finde es unlogisch, ja sogar lächerlich, dass ich mich für die Wahrheit entschuldigen soll, wo ich es doch nicht einmal böse meine.«

Also versuchte er tatsächlich, sich der üblichen sozialen Umgangsformen zu bedienen, obgleich er diese nicht verstand. Das fand Evelyn interessant, denn es offenbarte einen gewissen Einsatz. »Die Wissenschaft der Psychologie stand von jeher in der Kritik, Dr. Bishop. Da sind Sie wohl kaum der Erste.«

»Das mag richtig sein. Aber selbst Sie müssen zugeben, dass wir Kritiker fundierte Argumente haben.«

»Auf die ich dann mit ebenso überzeugenden Gegenargumenten antworten könnte.«

»Wären es tatsächlich überzeugende Gegenargumente oder bloß Rechtfertigungen? Sie haben doch sicher vom Problem der Replizierbarkeit gehört und diesem Professor für Psychologie an der Universität von Virginia, dem es nicht gelang, grundlegende psychologische Studien zu verifizieren?«

Natürlich hatte Evelyn von Brian Nosek gehört. Von einhun