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Inhalt

 

ESTRELLAS RACHE

VERZWEIFLUNG, HOFFNUNG, NEUBEGINN

DAS RÄTSEL DER MUSKETIERE

ROBIN UND MARIAN

DER FLUCH

ABENTEUER STORYS

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand

Cover: Del Nido

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2019 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen sowie mit tatsächlichen

Ereignissen sind unbeabsichtigt.

Abdruck, auch auszugsweise,

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Produced in Germany.

ESTRELLAS RACHE

Box 1 – Story 1

»Er kommt von Lee!«

Samuel Bush, Erster Offizier der SILVER STAR, setzte das Fernrohr mit den verkratzten Messingverzierungen ab. Seine wilden, rötlichen Augenbrauen zogen sich zusammen und über seiner Nasenwurzel entstand eine scharfe Falte.

»Das kann uns nur recht sein, Mister Bush«, erklang es hart, aber in einem Timbre, das einen merkwürdig bis ins Mark berührte.

Estrella Avilla de Aragon strich sich das wilde lockige Haar aus dem Gesicht und starrte hinaus auf den tief blauen Horizont. Die Fregatte weit hinten ließ sich nur erahnen.

»Ein verfluchter Engländer«, zischte die Corsarin. »Ich erkenne ihn am Focksegel. Wir werden ihn vernichten!«

Sie wandte sich um und rief mit mächtiger Stimme über das Deck: »Handelsflagge setzen! Geschütze bereithalten, aber abdecken. Keiner zeigt sich über der Reling!«

»Aye, aye, Lady Captain«, bestätigte der Bootsmann.

Estrella wandte sich wieder um und schien das sich langsam aber stetig nähernde Schiff mit den Augen aufzusaugen. »Komm!«, zischte sie und es klang wie eine Kobra vor dem tödlichen Biss. »Ich reiße dir den Arsch auf!«

Sam Bush lehnte sich langsam an die Bordwand und begann seine Pfeife zu stopfen. Sein dichter graurötlicher Bart vibrierte im Wind. Die Wanten und die Takelage knarrten, die Segel der SILVER STAR blähten sich, als signalisierten sie Vorfreude auf das Kommende.

Bush musterte seinen Lady-Captain. Er sah das Glitzern in ihren Augen. Unbändige, unterdrückte Wut, die aus tiefster Seele aufzusteigen schien.

Ja – Sam Bush wusste nur zu gut, was in Estrella vor sich ging.

Die Hände der Corsarin umkrampften so fest die Reling, dass die Knöchel weiß hervortraten. Unruhig scharrten ihre Stiefelsohlen auf den Planken.

Vor ihren Augen verwischte sich das wogende Meer und das Bild wandelte sich in eine gaffende, kreischende Menschenmenge. Estrella spürte die harten, schwieligen Hände der beiden Henker, die sie zum Pranger führten. Ganz London schien sensationslüstern auf den Beinen zu sein.

»Zieht sie aus!«, schrie eine sich überschlagende Stimme und bald stimmte die Meute mit ein. Eine alte hakennasige Frau grapschte an Estrellas Busen und zerriss dabei die ehemals weiße Rüschenbluse.

»Zieht ihr diese Männerhosen aus!«, geiferte ein anderes aufgebrachtes Weib. Es glich einem Spießrutenlaufen, bis man sie endlich grob auf dem Marktplatz an das Prangergerüst stieß …

Estrella begann trotz des scharfen Westwindes zu schwitzen. Sie zuckte zusammen, als Bush sie berührte.

»Captain! Es ist vorbei.«

Hilflos starrte Estrella ihn an. Dann schüttelte sie sich und ihr Blick wurde hart. Sie knurrte unheildrohend: »Nein, Mr. Bush, es beginnt erst noch!«

Bush stieß sich von der Bordwand ab und stapfte – sich breitbeinig gegen die Schräglage des Schiffes stemmend – zum Ersten Kanonier.

»Diego, wenn er nahe genug ist, verpasst du ihm einen genau auf den Bug. Und zwar dicht unter der Wasserlinie.«

Diego, ein feuriger Andalusier und der beste Kanonier der westlichen Hemisphäre, grinste breit.

»Ist mir ein Vergnügen, Señor Offizier.«

Busch nickte befriedigt. Er wusste, dass man sich auf Diego verlassen konnte. Der schoss auf hundert Yards einer Drohne die Eier ab. Falls sie welche hätte. Bush kicherte in sich hinein. Inzwischen hatte Estrella sich an den Bugsteven geklemmt. Von tief unten rauschte die Gischt zu ihr herauf.

»Der Schlund der Hölle ist für euch, verdammte Inglis«, fauchte sie.

Erneut tauchten die grässlichen Bilder der Vergangenheit auf. Fünf Jahre war es her, und doch schien es erst eben gewesen zu sein. Estrella hörte das Ratschen, als ihre Kleidung zerriss. Fühlte den rauen Wind auf dem völlig entblößten, der gaffenden Menge feilgebotenen Körper. Sie spürte das kalte Metall der Hand- und Fußschellen, als man sie an den Pranger kettete. So scharf, dass ihre Gelenke knackten. Einer der Henker stieß ihr ein Rundholz in die Scheide. Mit jeder Faser ihrer Seele fühlte Estrella noch den Schmerz und musste sich zusammennehmen, um nicht jetzt noch aufzuschreien. Dann kam die Peitsche. Fünfzig scharfe Hiebe. Das Blut rann ihr von Brüsten und Schultern. Die Menge johlte und ein nahestehendes altes Weib stieß ihr ihren nackten, schmutzigen Fuß in den Bauch …

Die Corsarin schüttelte sich.

»Schiff kommt näher«, riss sie die Stimme des Ausgucks aus den Erinnerungen.

Der Kopf der Corsarin ruckte herum. Überdeutlich zeichnete sich die englische Fregatte ab. Mit dem Fernrohr erkannte sie die Uniformen der Offiziere.

Estrella knirschte mit den Zähnen. Bald würden sie nackt vor ihr um Gnade winseln. Doch es würde keine Gnade geben. Sie würde die Bande auslachen, so wie die Gaffer damals vor Vergnügen gegrölt hatten, als die Henker ihr die kleinen heißen Kohlenpfannen unter die nackten Fußsohlen geschoben hatten. Sie würde diese Hurenböcke an noch empfindlicherer Stelle rösten.

Es dauerte noch bald eine Stunde, bis der Engländer so nahe kam, dass man seine Bugwelle hören konnte.

Estrella sprang in die Mitte des Decks.

»Rote Flagge hissen!«

Zeitgleich donnerte Bushs Befehl, sodass man glaubte, die Takelage würde erzittern: »Feuer frei!«

Während Diegos erste Kugel genau ihr vorbestimmtes Ziel traf, schienen Estrellas Augen in einem unwirklichen Licht zu glühen.

»Betet zu eurem Gott …«

 

*

 

Sie sah, wie das Schiff gurgelnd in den Wogen versank. Wie ein Abgesang versuchte die englische Flagge noch zwei schwache wedelnde Bewegungen zu machen. Dann zeigten nur noch einige Luftblasen in der giftgrünen See, was hier geschehen war.

Abrupt wandte sich Estrella um.

»Mister Bush«, rief sie ihrem Ersten Offizier zu. »Geben Sie Kurs Süd-Südwest, zwei Strich.«

»Aye, aye, Lady Captain!«, bestätigte er und gab den Befehl an den Steuermann.

Sogleich legte sich die SILVER STAR hart in den Wind. Die Gischt der Bugwelle spritzte und im Licht der Abendsonne schienen sich die hochwirbelnden Wassertropfen in funkelnde Diamanten zu verwandeln.

Estrella baute sich vor ihren Gefangenen auf. Nur acht hatten den Kaperkampf überlebt. Drei vornehme Damen, der Erste Offizier und einige der Mannschaft.

»Bootsmann! Lasst jedem der Gefangenen zehn Peitschenhiebe verabreichen. Damit sie gleich wissen, wo sie sind.«

Der Bootsmann kam grinsend mit einigen Matrosen heran. »Zuerst die Damen, wie es die Höflichkeit geziemt?«

Estrella überlegte kurz. »Die Damen werden zusehen. Was mit ihnen geschieht, entscheide ich später. Allerdings dürfen Sie ihnen etwas Luft verschaffen. Oben herum.«

Der Bootsmann hatte verstanden.

Da fing Estrella einen Blick von Lady Helen de Vere auf.

Estrella schluckte. Dieser Blick ging ihr bis in die Seele. Stolz steckte darin. Kein herrschender Blick – keine Furcht. Unbändiger Stolz und … sie konnte es nicht beschreiben.

Als der Bootsmann ihr derb an die Schulter griff, machte Estrella rasch zwei Schritte auf die Lady zu. »Wartet noch – vorerst. Bringt sie zum Oberdeck.«

Der Bootsmann schaute erstaunt, zuckte dann aber die Achseln. Estrella war der Captain und deshalb der Boss. Niemand auf der SILVER STAR würde jemals ihre Anweisungen infrage stellen.

Estrella Avilla de Aragon stellte für die Mannschaft eine Art Göttin dar. Unantastbar. Sie gehorchten ihr blind. Denn sie hatte sie aus einem miesen, furchtbaren Leben in stinkenden Gefängnislöchern befreit. Sie waren staatenlos. Vogelfrei. Ja! Aber auf dem Schiff durften sie Menschen sein. Wenn auch nicht zivilisiert. Aber ihr Lady-Captain sorgte dafür, dass alles im Rahmen blieb. Sie konnten sich auf sie verlassen – und sie sich auch auf ihre Männer.

Auf dem erhöhten Ruderdeck, mittschiffs, erwartete sie die Gefangene.

Mit erhobenem Haupt kam diese herauf.

Estrella musterte sie. Sie stellte keine direkte Schönheit dar, aber sie strahlte etwas Besonderes aus. Etwas, was – Estrella fluchte innerlich – sie veredelte. Scheinbar unverwundbar machte.

Die Corsarin spuckte undamenhaft über die Reling. Verdammt! Was hinderte sie daran, dieses Weib splitternackt an den Rahen hochziehen zu lassen und sich an ihrem Gejammer zu erfreuen?! Sie war eine englische Hure! Wie eine von diesen Weibern, die damals Beifall geklatscht hatten, als man Estrella hilflos den Foltergesellen am Pranger auslieferte. Diese Weiber hatten sich aufgegeilt, als der Profoss ihr den Peitschenstiel in den Anus geschoben hatte.

Estrella atmete heftig.

Sie stampfte mit dem Stiefel auf die Planken. »Auf die Knie! Barfuß!«

Inzwischen drang das Klatschen der Peitschen zum Oberdeck herauf und vermischte sich mit den Schmerzensschreien der Gemarterten.

Estrella ließ das kalt.

»Weißt du, was ich mit dem verlausten Pack noch tun werde?«, zischte sie zu Lady de Vere. »Ich werde ihre Genitalien so behandeln, dass sie sich wünschen, als Eunuchen auf die Welt gekommen zu sein.«

»Ihr habt schlechte Erfahrungen mit den Briten? Was haben Euch diese Männer getan?« Leise, aber deutlich kam diese Frage aus dem Mund der Gefangenen.

»Was sie mir getan haben?!« Estrella würgte es im Hals. Am liebsten hätte sie dieser Gans eine Ohrfeige verpasst.

Doch dann war da wieder dieser Blick. Scheiße!, durchzuckte es die Piratin. Das war ihr noch nie passiert.

»Weshalb liegst du noch nicht auf den Knien? Soll ich dich an den Daumen die Rahen hinaufziehen lassen?«, herrschte sie die Frau an.

Die Gefangene zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Wenn es Euch Genugtuung verschafft, so tut es. Knien werde ich nicht und meine Schuhe und Strümpfe werde ich auch nicht ausziehen.«

Sie warf mit einer koketten Kopfbewegung das lange, aber nun wirre Haar in den Nacken.

Estrella lief die Galle über. »Mr. Bush!«, schrie sie von oben.

»Captain?!«

»Diese englische Lady bittet euch um hundert Stockschläge auf ihre nackten Fußsohlen!«

Der Erste Offizier und zweite Kommandant der SILVER STAR trabte heran.

Die Gefangene lächelte nur und meinte leise: »Ich werde nicht um Gnade winseln. Aber ob Eure Seele bei meiner Bestrafung ruhig bleibt, bezweifle ich. Ich habe Euch nämlich nichts Böses angetan.«

Estrella schluckte, als sie beinahe in den dunklen Augen der Gefangenen zu versinken schien.

»Dann kommt, Madame«, knurrte der hünenhafte Bush. »Werde mich persönlich eurer zarten Söhlchen annehmen.«

»Wartet!«, stieß Estrella hervor. Eine Spur zu schnell, wie sie sich selbst schalt. »Bringt sie in meine Kabine.«

Nun schaute Bush doch etwas merkwürdig drein.

»Wie Ihr befehlt«, brummte er und zog die Engländerin mit sich.

 

*

 

Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Estrella ihre Kajüte betrat. Ihre Gefangene saß auf einem Stuhl am Kartentisch. Der Oberkörper lag auf der Tischplatte zwischen den Kartenrollen. Die Frau schlief den Schlaf der Erschöpften.

Erst wollte Estrella sie unsanft in die Seite treten. Doch etwas in ihrem Innern hielt sie davon ab.

»Hölle«, zischte sie. Sie wusste, dass sie dieser Frau nichts tun würde. Ohne es sich recht bewusst zu sein, hegte sie tiefe Sympathien für diese Engländerin. Es gab ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Estrella konnte es nur noch nicht erklären.

Sie setzte sich auf ihren Diwan, den sie einmal von einem arabischen Piraten erbeutet hatte, und zog sich die Stiefel aus. Sie massierte ihre leicht verschwitzten Füße. Dann lief sie zu dem kleinen Schrank hinüber und goss sich einen Rum ein, der jedem Kneipenwirt in Dover die Sprache verschlagen hätte.

Beim Henker, durchfuhr es die schöne Corsarin. Sie hatte ein Problem. Sie wusste, dass sie diese Frau weder foltern, noch auf dem Sklavenmarkt verkaufen würde. Die Freiheit durfte sie ihr aber auch nicht geben, denn das hätte ihre Mannschaft erstaunt.

Sie konnte sie als persönliche Dienerin behalten. Das wäre eine Lösung. Aber bei allen Seeteufeln! Sie musste sie dazu bringen, auf dem Deck barfuß vor ihr zu knien. Sonst würde Estrella vor ihren Leuten das Gesicht verlieren. Aber wie sollte sie der Frau klar machen, dass sie das tun sollte? Vor allem, dass sie danach freiwillig als Dienerin auf nackten Füssen zu laufen hatte.

Estrella saß mit untereinander geschlagenen Beinen barfüßig auf dem Diwan, die Ellenbogen seitlich auf den Knien aufgestützt, den Oberkörper weit vorgebeugt und betrachtete mit schräg liegendem Kopf die schlafende Lady. Es brodelte in ihr. Ihre Zehen bewegten sich unablässig, ständig strich sie mit ihrer freien Hand wilde Haarsträhnen zurück.

Verdammt! Was faszinierte mich an dieser Frau? Weshalb liegt sie nicht längst in Ketten im Bugraum?

Die Corsarin kippte schließlich einen weiteren Becher Rum mit weit nach hinten geworfenem Kopf in ihre Kehle. Jedem Spelunkenwirt hätte das zur Freude gereicht. Heiß wärmte der Fusel sie auf. Langsam kippte ihr Kopf wieder nach vorne, ihre Blicke fielen automatisch wieder auf die Lady. Estrella war verwirrt. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Wie ein Raubtier hatte sie die Gefangene mehrmals umkreist, von allen Seiten betrachtet, aber es hatte ihr nichts geholfen. Sie fühlte sich leer und ratlos.

Diese Lady irritierte sie völlig. Selbst im Schlaf wirkte sie noch anmutig, ja edel und … stark.

Diese Frau war eindeutig anders. Nicht wie diese … diese englischen Huren, dachte Estrella und verzog verachtungsvoll die Lippen. Und du gehörst doch dazu!

Am liebsten hätte sie das Rumglas nach der Lady geworfen. Sie hasste sie, hasste sie für ihr sicheres, selbstbewusstes Auftreten, für ihren Stolz, für ihr bloßes Dasein. Innerlich stöhnte Estrella auf.

Was sollte sie bloß tun? Sie wollte dieser Frau nicht wehtun, etwas in ihr sträubte sich mit aller Macht dagegen. Wild biss sie auf ihrer Unterlippe herum, spürte gar nicht, wie die feine Haut in kleinen Rissen aufplatzte.

Sie glitt wieder von ihrer Pritsche herab und begann erneut nervös in der Kajüte umherzulaufen. Viel Platz dafür hatte sie nicht. Aber wie ein ungebändigtes Tier schlich sie von einer Wand zu der anderen, ihre Verzweiflung wuchs mit jedem Schritt, ihre Wut und ihr Zorn steigerten sich, wie damals, als sie …

Die Lady stöhnte auf, ihr Kopf glitt zur Seite und schlug dumpf auf die Holzplatte auf. Es konnte kaum wehgetan haben, trotzdem wachte sie dadurch sofort auf. Ihre Augen öffneten sich weit und Estrella konnte sehen, dass die Lady alles voll erfasste, und auch sofort erkannte, wo sie sich befand.

Bewundernswert, dachte Estrella für sich. Die ruhigen Augen, die sich sofort auf sie richteten, erschütterten sie dennoch wieder bis ins Mark. Etwas war in ihnen, etwas, was sie nicht erklären konnte.

Mit einem Schritt war sie bei der Lady und riss deren Kopf an den Haaren heftiger zurück, als sie eigentlich wollte. Sie sah kurz den Schmerz in deren Blick aufglimmen, aber der wich sofort wieder dem stolzen Strahlen, das diesen Augen einfach eigen war.

»Hör zu! Du bekommst nur diese eine Chance! Auf diesem Schiff wirst du barfuß laufen! Keine Drohungen, keine Folter, aber Barfüßigkeit!«

Die Lady griff mit einem leisen Lächeln nach hinten und umfasste sanft Estrellas zitterndes Handgelenk.

»Ich sagte schon, ich werde es nicht tun!« Verzweiflung schlich wieder in Estrella hoch, sie hoffte inbrünstig, dass die Lady es ihr nicht ansah.

Aber sie hatte das Gefühl, als könnte sie ihr bis auf den Grund ihrer Seele blicken.

»Es ist ganz einfach. Tod, Sklavenmarkt oder Dienerin auf meinem Schiff! Ihr dürft wählen!«

Eisig spie sie es der Engländerin in das Gesicht. Die Lady lächelte immer noch, aber Estrella erkannte, dass sie verstanden worden war. Die Lady war also keineswegs dumm oder nur kokett. Sie verstand absolut, in welcher Situation sie sich befand. Tief schauten sich die zwei Frauen stur in die Augen, keine schien einen Zoll nachgeben zu wollen. Estrella hatte das Gefühl zu versinken, aber sie wusste, wenn sie jetzt nachgab, dann würde sie die Frau töten müssen, und das konnte sie nicht. Diesen Kampf musste sie gewinnen.

Die Engländerin lächelte immer noch, als ihre Hand Estrellas Handgelenk losließ. Unendlich langsam löste auch Estrella ihren Griff aus den wirren Haaren der Lady. Mit einem fast zu hastigen Schritt wich sie von ihr zurück und stieß mit den Beinen an ihre Pritsche. Keinen Moment lang lösten sich die Augenpaare voneinander. Außer ihren Atemzügen war in der Kajüte nichts zu hören.

»Ihr werdet mich wohl töten müssen.« Die Lady sagte dies mit solch einer Gelassenheit, dass es Estrella beinahe den Atem verschlug.

Dieser verdammte Stolz! Nein, diese Frau war eindeutig nicht so, wie die anderen Frauen, die sie bisher kennengelernt hatte.

Wild blickte sie sie an.

»Was hat man Euch angetan?« Fragend schaute die Lady sie an.

»Du Miststück warst doch dabei!«, schleuderte Estrella es ihr entgegen.

»Oh, war ich das?« Leicht zornig zog die Lady eine Augenbraue in die Höhe. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst!« Ihre Augen blickten irritiert.

Estrella schoss in die Höhe. Zornig ballte sie die Hände zu Fäusten, ihre Knöchel knackten. Warum hatte sie die Lady vorher nur nicht von Bush bearbeiten lassen? Welcher Teufel hatte sie bloß geritten, dass sie überhaupt nur eine Sekunde lang nachgegeben hatte? Was für ein Fehler! Hochmütig reckte sie ihr Kinn vor.

»Also, du darfst wählen. Wenn dir dein Leben etwas Wert ist, dann gib nach, denn ich werde dich nicht zwingen. Vor versammelter Mannschaft wirst du dich niederknien, mit nackten Füssen, und dich vor mir verneigen! Wenn du dies nicht tust vor Ablauf der Nacht, dann weiß ich, dass du einen anderen Weg gehen wirst.« Damit verließ Estrella rauchend vor Zorn ihre Kajüte und knallte die Holztür mit solch einer Kraft zu, dass die Lady erschrocken auf ihrem Stuhl zusammenfuhr.

Nachdenklich blickte die Lady zu einem der winzigen Fenster in der Kajüte. Es war noch tiefste Nacht. Ruhig senkte sie den Kopf. Es war Zeit, sich Gedanken um ihre nahe Zukunft zu machen. Sie lächelte leise vor sich hin. Diese Piratenbraut hatte ordentlich Temperament unter ihrem Hintern. Irgendwie beeindruckte sie das. Natürlich könnte auch sie spielend barfuß rumlaufen, was war denn schon dabei? Aber das musste sie diese Corsarin ja nicht wissen lassen. Nachdenklich ließ sie sich zurücksinken.

Auf Deck lief Estrella wie von Furien gehetzt auf und ab. Keiner ihrer Jungs wagte es auch nur, sie anzusprechen. Wenn sie so war, dann ging man ihr möglichst aus dem Weg. Wütend knallte sie die Hände auf die Reling.

Was mache ich nur mit ihr? Was, verdammt noch mal, mache ich nur mit ihr? Und was ist bloß mit mir los?

Sie warf ihren Kopf weit nach hinten und blickte in die glitzernde und blinkende Sternennacht hinauf. Eine Sternschnuppe löste sich und glitt lange durch die Dunkelheit.

Was mache ich nur mit einer Frau, deren Stolz nicht zu beugen ist?

Ratlos und nur noch mehr verwirrt starrte sie fast blind in die Nacht hinaus. Die restlichen verbliebenen Stunden vergingen äußerst langsam.

 

*

 

Die Kajütentür knarrte. Die Corsarin vernahm es selbst durch den Nachtwind, der sich pfeifend in der Takelage fing. Die Segel blähten sich prall und die SILVER STAR machte rasche Fahrt.

Estrella schätzte, dass sie in weniger als vier Tagen die San Luca Bay erreichen würden. Dort wurde ihre Ladung – sechshundert englische Gewehre und zweihundert Fässer Pulver – sehnsüchtig von den Freiheitskämpfern erwartet.

Leise Schritte tappten auf der Treppe zum Oberdeck.

Die Corsarin lehnte an der Heckreling auf der Plattform über der Kajüte. Ihr wildes schwarzes Haar umwehte ihr Gesicht wie ein Schleier. Die beiden Positionsfackeln reflektierten in ihren Pupillen und vermittelten den Eindruck, ihre Augen schienen zu glühen.

Lady Helen de Vere hatte das Oberdeck erreicht und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah die Corsarin vor dem vollsten Sternenhimmel, den sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte.

Sie spürte die kühle Nässe, welche die Gischt auf den Planken hinterlassen hatte, unter den blossen Sohlen. Ja, sie hatte sich selbst erniedrigt und Estrella Avilla de Aragon barfüßig auf dem Oberdeck aufgesucht. Den Rock hatte sie an den Seiten hochgeschürzt. Ihre nackten Beine zeichneten sich weiß in der Nacht ab.

Die Corsarin sah Helen entgegen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz wie wild zu pochen begann.

Mierda! Mierda!, durchzuckte es sie immer wieder. Was sollte das?

Ihre Finger umkrampften seitlich ihres Körpers die Reling – genauso wie am Morgen, als sie den Engländer aufbrachte. Mit etwas gespreizten Beinen suchte sie Halt gegen die Windneigung des Schiffes.

Estrella wippte mit den blossen Zehen, denn in ihrer Wut war sie ohne Stiefel auf das Deck gestürmt. Normalerweise sah man sie nur bei gewagten Entermanövern barfuß. Das verlieh ihr in den Wanten ungeahnte Beweglichkeit. Ihre Sohlen zeigten sich dadurch hart und wenig empfindlich.

Nur dadurch hatte sie damals die Feuertortur überstanden, obwohl sie sich die Seele aus dem Leib geschrien hatte.

Wieder überkam sie der Gedanke, diese Engländerin stellvertretend für die geilen Londoner Weiber einfach foltern zu lassen. Doch es gab etwas, was sich in ihrem Innern dagegen sperrte. Nur bei dieser Frau. Bei den anderen Weibern kannte sie keinerlei Skrupel und das machte sie so unsicher.

Lady de Vere schritt auf nackten Füssen auf sie zu, blieb dicht vor ihr stehen und sank dann in die Knie. Sie legte den Kopf dicht zwischen die blossen Füße der Corsarin.

Leise drang ihre Stimme von unten an Estrellas Ohr. »Ich erniedrige mich nicht, weil ich den Tod oder die Folter fürchte. Trotzdem möchte ich leben.«

Estrellas Magen verkrampfte sich. Sie widerstand dem Gedanken, ihr einen kräftigen Fußtritt zu versetzen.

In einiger Entfernung erkannte die Corsarin die Silhouette ihres Ersten Offiziers. Sam Bush hatte die Szene beobachtet.

»Steh auf und geh zurück in die Kabine. Ich spreche später mit dir«, kam es rau aus dem Mund der Corsarin.

Sie sah Helen nach, als diese das Oberdeck verließ.

Estrella fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Ihr Atem ging stoßweise. Erst allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie schaute zum Himmel auf zu den Hunderten von Gestirnen.

Oh ihr Götter, helft mir!

 

*

 

Estrella hatte schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie die Glocke geweckt, wenn die Nachtwache die Zeit angab.

Unruhig warf sich die Corsarin auf ihrem Lager von einer Seite auf die andere. Bilder der Vergangenheit tauchten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Endlich öffnete sie die Augen und setzte sich aufrecht. Sie stieß mit dem linken Fuß gegen einen Körper.

Vor dem Diwan, auf dem Boden, lag Helen de Vere. Auf den blanken Holzdielen, zusammengerollt wie ein Baby.

Estrella atmete tief durch. Wie sie die Frau so auf dem Boden liegen sah, überkam sie das Mitleid.

Die Corsarin beugte sich zu ihrer Gefangenen herab und schüttelte sie leicht. Benommen wandte sie den Kopf. Dann wollte sie hochfahren, doch Estrella drückte ihren Oberkörper sanft zurück.

Zu sanft eigentlich. Hätte Bush das gesehen, er hätte an seinem Lady-Captain etwas gezweifelt.

»Leg dich auf den Diwan, bevor du dir das Kreuz verrenkst. Du wirst es noch brauchen«, stieß die Corsarin hervor. Dann stieg sie über die halb Liegende herüber und stapfte zu dem kleinen Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Sie entkorkte vernehmlich die Rumflasche und spülte sich mit einem ordentlichen Schluck den Mund aus. Es brannte in der Kehle und Estrella fluchte innerlich wie ein Marktweib aus Dover.

Wieso soff sie plötzlich so viel von diesem Zeug? Normalerweise ekelte es sie an.

Indessen hatte sich Helen auf dem Diwan zusammengerollt.

»Verfluchte Inglis«, zischte die Corsarin und verließ ihre Kajüte.

Barfuß marschierte sie über die morgendlichen feuchten Planken der SILVER STAR. Sie schaute hinauf zum Fock und dachte daran, wie sie vor zwei Jahren dieses Schiff mit einer altersschwachen Schaluppe gekapert hatte. Der irische Kauffahrer war so verblüfft, dass er keinerlei Gegenwehr einleitete. Gnädig hatte Estrella ihm die Schaluppe überlassen.

Inzwischen hatte sich die SILVER STAR zu einer Legende entwickelt.

Die britische Regierung hatte eine hohe Belohnung auf die Versenkung des Corsaren ausgesetzt. Estrella lachte bei dem Gedanken laut auf. 25.000 Goldtaler war sie der Admiralität wert.

Sam Bush trat neben seinen Lady-Captain. Aus seiner Pfeife kräuselten sich bläuliche Wolken.

»So guter Dinge? Das freut mich.«

Die Corsarin lehnte sich an die Reling. Sie nahm ihm die Pfeife aus dem Mund. »Lass mich ein paar Züge machen.«

Samuel Bush stellte den einzigen Vertrauten für sie an Bord dar. Der etwa sechzigjährige Erste – zäh wie Leder und gutmütig wie ein Walross – hatte ihr das Kämpfen beigebracht. Er kannte Estrella, seit sie fünfzehn Jahre alt war. Er wurde auch Augenzeuge, wie die Engländer ihre Eltern ermordeten, nur, weil sie mit den Siedlern der Neuen Welt sympathisierten.

»Ich dachte lediglich darüber nach, was die Engländer es sich kosten lassen, nur um uns in London hängen zu sehen.«

Der Alte grunzte. »Hoffen wir, dass wir sie noch lange ärgern können.«

Die Corsarin stieß den Rauch durch die Nase und lachte hart auf. »Glauben Sie mir, Mr. Bush, ich bin der Stachel im Fleisch der verfluchten Inglis!«

Sie reichte dem Ersten die Pfeife zurück und rief ihrem Bootsmann zu: »Señor Gorre, holen Sie die Gefangenen auf Deck!«

»Si, Capitano«, erwiderte er und stiefelte mit vier Matrosen sogleich los.

Die Corsarin selbst kehrte in ihre Kajüte zurück. Helen hatte die Augen geöffnet und blickte Estrella entgegen.

Diese atmete tief durch und sagte hart: »Steh auf, Inglis! An Deck mit dir! Beweg deinen Arsch!«

Als Helen eben durch die Tür ins Freie treten wollte, rief die Corsarin: »Kannst du schwimmen?«

Leicht erstaunt wandte sich die Gefangene um und nickte.

»Gut«, kam es von der Corsarin. »Geh aufs Kapitänsdeck und warte dort.«

Sie selbst zog ihre Stiefel an und schnallte ihren Degen um die Hüften. Mit den Händen fuhr sie sich durch das wilde Haar. Dann enterte sie das Deck.

Dort knieten bereits die aus dem Bugverlies geholten Gefangenen. Ein penetranter Gestank zog sich über das Deck. Dann sah die Corsarin es und brach in höhnisches Gelächter aus. Dabei trat sie dem am nächsten knienden Engländer in die Seite.

»Das lob ich mir. Bepisst und beschissen habt ihr feinen Herrn euch!«

Dann wandte sie sich den beiden Frauen zu. Nun erst konnte sie sich ihre weibliche Beute genauer ansehen. Eine der Frauen mochte gerade zwanzig Jahre alt sein, die andere schon nahe der siebzig. Beide wirkten sehr mitgenommen und schauten ängstlich drein.

Estrella beugte sich zu der älteren Frau herab und zischte: »Hast du auch die Schlüpfer voll?«

Die Gefangene schluckte und flüsterte dann: »Nein, Mylady, aber … bitte … ich … wir …«

Die Corsarin runzelte gespielt die Stirn, obwohl sie genau wusste, worum es ging. »Ihr müsstet was?«

»Ich kann nicht mehr!«, stieß da die Jüngere hervor und schon tropfte es auf die Planken der SILVER STAR.

Sogleich versetzte die Corsarin ihr einen Tritt, dass sie mehrere Meter über das Deck rutschte.

»Du verfluchtes Ferkel! Das wirst du auflecken!«

»Lasst sie!«

Estrella wirbelte herum. Helen stand auf der Treppe zum Oberdeck und schrie herunter. »Ihr seid eine Sadistin! Sollen ihre Blasen platzen? Was denkt Ihr euch?«

Die Corsarin wurde bleich vor Wut. Sie machte einen Satz auf die Treppe zu, riss Helen die Stufen herab und stieß sie auf die Planken. Schwer schlug sie auf. Ein feiner Blutfaden rann aus ihrem rechten Mundwinkel. Tränen des Schmerzes verklärten ihre Augen.

Die Corsarin beugte sich zu ihr herab und brachte ihr Gesicht ganz nahe an das der Engländerin. »Hör zu!«, fauchte sie. »Noch ein Wort und du hängst mit deinen Brüsten an der obersten Rahe.«

Helen wischte sich über den Mund. Das Blut verschmierte und gab ihr ein groteskes Aussehen. »Tut es doch«, flüsterte sie. »Ihr verdammte Sadistin! Ihr scheint ja Freude an der Folter zu haben. Peitscht mich oder zieht mir die Haut ab – was immer euch einen Orgasmus bereitet. Aber bitte … lasst diese Frauen nicht leiden, wenn nur ein winziger Funken Menschlichkeit in Euch sein sollte …«

Estrella blickte die am Boden Liegende an, als wollte sie diese mit blossen Händen erwürgen. Ihr Atem ging stoßweise.

Verdammte Inglis-Hure, durchzuckte es ihr Gehirn.

Wie gebannt starrte die gesamte Mannschaft auf ihren Lady-Captain. Selbst der Wind schien eine Schweigeminute eingelegt zu haben.

Dann – unendlich langsam – richtete sich Estrella auf. Sie spuckte seitlich über die Luvreling.

»Geh aufs Oberdeck, wie ich es dir befahl«, kam es leise, aber gefährlich. Dann wandte sie sich abrupt ab und starrte auf die anderen Gefangenen.

»Mister Bush«, kam es rau aus ihrem Mund. »Diese Menschen sollen sich säubern und … erleichtern. Sorgt dafür, dass sie im Meer ein Bad nehmen können. Aber achtet auf Haie. Es wimmelt hier davon. Zwei Mann mit Musketen in die Wanten.«

»Aye, aye, Captain!«, gab der Erste zurück. »Los! Runter mit den bepissten Klamotten!«, herrschte er die Gefangenen an. »Werft das Zeug über Bord!«

Über eine Strickleiter kletterten die Engländer nackt in das Wasser.

»Hauptsegel einholen!«, gellte das Kommando der Corsarin über das Schiff. Nun erst erklomm sie die Treppe zum Oberdeck, wo Helen auf sie wartete.

Da geschah etwas, womit Estrella in keiner Weise gerechnet hatte. Die Engländerin warf sich vor ihr zu Boden und küsste der Corsarin die Stiefelspitzen.

Estrella stand wie in Eisen gegossen. Ihre Gedanken wirbelten.

»Danke«, hauchte Helen von unten.

»Verflucht! Steh auf! Meine Nachsicht hat absolut nichts mit dir zu tun. Steh auf oder ich lasse dich auspeitschen, bis dein Blut die Planken tränkt!«

Die Corsarin stampfte mit dem Stiefel so fest auf, dass es nur so krachte.

Mierda! Was macht dieses Weib?

Estrella wusste, dass sie keine ihrer blutrünstigen Drohungen ausführen würde. Sie wandte sich um und ließ den Blick irritiert über das Deck der SILVER STAR gleiten. Die anderen Gefangenen kletterten soeben wieder an Bord.

Estrella trat nahe an das Geländer des Oberdecks. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor. Die Gelenke knackten. Ein Zeichen der sich in ihr überschlagenden Gefühle.

»Sorgt dafür, dass die Frauen sich um die Hüften herum bedecken können! Die Männer bleiben nackt!«, rief sie nach unten. Dann drehte sie sich wieder zu Helen um. Sie deutete auf eine lange Strickleiter, die vor dem Heckgeländer lag.

»Wirf sie hinunter und zieh dich aus.«

Helen schaute etwas entgeistert.

»Mach schon!«, knirschte Estrella durch die Zähne und warf ihren Degen ab. Dann kleidete sie sich aus.

»Ab ins Wasser, ich komme mit. Aber halte dich in meiner Nähe – wegen der Haie!«

 

*

 

Die Sonne neigte sich bereits blutrot zum Horizont, als der Ruf aus dem Ausguck alle aufschauen ließ.

»Schiff von Steuerbord!«

Sofort rannte Estrella zum Bootsmann und riss ihm das Fernrohr aus der Hand. Nur undeutlich konnte sie das immer wieder in den Wellentälern verschwindende Schiff ausmachen.

»Kann man Flagge erkennen?«, schrie sie zum Ausguck.

»Noch nicht, Capitano!«

»Sofort Meldung machen!« Sie wandte sich um. »Mister Bush! Die Gefangenen sofort unter Deck und in Ketten!«

»Aye, aye, Lady Captain!«

Die Männer, die völlig nackt in einer Ecke bei den Enterseilen gehockt hatten, wurden hart hochgerissen. Die beiden Frauen schauten ängstlich von ihren Eimern auf. Aus Segeltuch hatten sie sich notdürftig einen Rock gemacht. Bis zum Bauchnabel blieben ihre Oberkörper nackt. Barfuß schrubbten sie auf den Knien das Deck.

»Die Frauen legt nur in Fußeisen, aber weitab von den Männern«, bestimmte die Corsarin. Dann warf sie einen Blick zu ihrer Kajüte. Helen ließ sich nicht blicken. Estrella beschloss, nach dem Rechten zu sehen.

»Sofort Meldung, wenn Schiff näher kommt!«, befahl sie, dann eilte sie zur Kajüte.

Das Erste, was Estrella registrierte, war der Duft nach gutem Essen. Wie versteinert blieb sie stehen. An dem einfachen Herd hantierte – seit dem Bad nackt – Lady Helen de Vere.

Die Corsarin hatte eine harte Bemerkung auf der Zunge, doch dann besann sie sich. Helen meinte es nur gut. Langsam trat Estrella näher und schaute in den Topf.

»Wie hast du denn das fertiggebracht?«, kam es erstaunt aus ihrem Mund.

Helen lächelte. »Ich bin als gute Köchin bekannt«, kam es leise zurück. »Aber du hältst mich ja für eine arrogante englische Gans.«

Estrellas Blick verfinsterte sich für einen Moment. Doch dann reckte das energische Kinn vor.

»Komm hier herüber!«

Wortlos folgte ihre Gefangene. Die Corsarin riss eine der zahlreichen Truhen auf und wühlte darin. Endlich hatte sie etwas gefunden, was sie zufriedenstellte. Ein einfaches, aber doch hübsch gearbeitetes andalusisches Kleid. Sie warf es Helen zu. »Hier! Zieh das an! Ich will nicht, dass du nackt herumläufst.«

Helen wollte etwas erwidern, aber mit einer kurzen Handbewegung schnitt die Corsarin ihr das Wort ab.

»Ich bin gleich zurück.« Mit diesen Worten verließ sie die Kajüte. Doch nur eine Sekunde später riss sie die Tür wieder auf. »Falls du dich an Deck blicken lässt, schlage ich dir den Kopf ab!«

Wumm! Die Tür knallte zu.

Sam Bush stand an der Steuerbordseite und starrte durch sein Fernrohr.

»Das Schiff hat abgedreht«, bemerkte er, ohne sich zu der Corsarin umzuwenden.

Estrella atmete durch. Na ja – eigentlich war es ihr ganz recht. Sie wollte nicht unbedingt ihre brisante Ladung gefährden. Erst hatte sie diese den Engländern abgenommen und nun sah sie keinen Grund, sie durch mögliche Entermanöver wieder zu verlieren.

»Bueno! Aber geben Sie weiter Obacht, Mr. Bush.«

»All right, Lady.«

Die Corsarin kehrte in die Kajüte zurück. Helen stand neben dem Tisch. Ein Gedeck hatte sie aufgelegt.

Estrella runzelte die Stirn. »Was soll das? Leg ein zweites Gedeck auf und iss mit mir.«

Helen lächelte. Dann folgte sie der Anweisung.

»Das ist gut. Wirklich … ausgezeichnet«, äußerte die Corsarin nach den ersten Bissen. »Wieso kannst du so gut kochen?«

Helen zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht so behütet aufgewachsen, wie du vielleicht denken magst. Die meiste Zeit musste ich mich selbst durchschlagen.«

Estrella sah sie lange an. Dann lehnte sie sich langsam in dem alten Lehnstuhl, den sie mal erbeutet hatte, zurück und fragte: »Wer sind die anderen beiden Frauen?«

»Ich habe sie erst auf dem Schiff kennengelernt. Die Ältere ist Lady Joan Ferguson, die Jüngere Lady Gwendolyn Anbross. Lady Ferguson ist ihre Gouvernante.«

Estrella kniff die Augen zusammen. »Und wo wollten die … Ladys hin?«

Helen stützte das Kinn in die Hände. »Nach Guatemala. So wie ich auch.«

»Interessant! Was beabsichtigtet ihr dort zu tun?«

»Ich für meinen Teil wollte meinen Onkel besuchen. Don Louis de Varga.«

Die Augenbrauen der Corsarin ruckten nach oben. »Ein Spanier?«

»Portugiese. Meine Mutter ist Spanierin.«

Estrella stand abrupt von ihrem Stuhl auf und machte zwei rasche große Schritte auf den kleinen Schrank zu. Sie entnahm ihm eine Rumflasche und entkorkte sie mit vernehmlichem Geräusch. Sie nahm einen solchen Schluck, dass ein Teil des Rums an ihrem Kinn und Hals herunterlief.

Dann setzte sie die Flasche ab und blickte Helen fest an. Auf ihrer Stirn entstand eine steile Falte. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie der Lady die Flasche hin und grunzte: »Hier! Nimm!«

Helen schüttelte den Kopf.

»Nimm!« Estrella stampfte heftig mit dem Fuß auf.

Helen sah es für geboten an, doch die Flasche zu nehmen und einen kleinen Schluck zu trinken. Sie verzog das Gesicht. Es brannte wie Feuer in ihrer Kehle.

Die Corsarin lachte rau. »Meine kleine Lady ist gar keine reinrassige Inglis. Wer hätte das gedacht?«

Sie entriss ihr die Flasche und kippte den Rest des Inhalts durch die Kehle. Hart stellte sie die nun leere Flasche auf den Tisch. »Was ist mit den anderen? Auch halbe Portugiesen?«

Helen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Die Gouvernante bestimmt nicht.«

Die Corsarin stellte ihren rechten Fuß fest auf Helens Oberschenkel und stützte den Ellenbogen aufs Knie. Das Kinn ruhte nun in der einen Handfläche. Ihr Gesicht befand sich ganz dicht vor dem der Lady.

»Das ist gut«, kam es leise und zischend. »Dann habe ich gleich eine Aufgabe für dich.«

Da Lady Helen de Vere die Corsarin nun fragend anschaute, fuhr diese fort: »Du darfst der Gouvernante nämlich die Bastonade verpassen. Sagen wir – fünfzig auf ihre nackten verrunzelten Sohlen.«

Die Angesprochene zuckte zusammen. »Nein!«, stieß sie hervor. »Das kann ich nicht!«

Estrella nahm ihren Fuß von Helens Oberschenkel und zuckte die Achseln.

»Schade. Dann bekommt sie von mir hundert Hiebe.«

Helen sprang auf. »Ihr seid eine Sadistin! Ihr liebt es, Menschen zu quälen!«

Die Hände der Corsarin zuckten nach vorn und rissen Helen an den Kragenrüschen des Kleides zu sich heran. »Hör zu, du kleine Halbinglis, das ist nichts gegenüber dem, was man mir in London am Pranger angetan hat.« Sie schleuderte es ihrer Gefangenen ins Gesicht.

Helen war bleich geworden. Estrella stieß sie auf den Stuhl zurück. Ihr Busen wogte bei jedem Atemzug. Man spürte die Aufgewühltheit der Corsarin mit jeder Nervenfaser.

Helen schluckte und fragte leise: »Was hat man euch angetan? Oh Gott, ich ahne es. Ich habe die Narben auf eurem Rücken beim Schwimmen gesehen.«

Estrella stützte sich schwer auf die Tischplatte. »Die Peitsche ist beileibe nicht das Schlimmste gewesen.«

Dann stieß sie sich vom Tisch ab und verließ wie von Furien gehetzt die Kajüte.

 

*

 

Schwere See kündigte den nächsten Morgen an.

Estrella Avilla de Aragon stand auf dem Oberdeck. Der scharfe Wind ließ ihr Haar wie eine pechschwarze Pferdemähne wehen. Die Rüschen ihres weißen Hemdes, das die Brustansätze freiließ, kräuselten sich noch stärker. Tief sank der Bug der SILVER STAR immer wieder in die Wellentäler ein. Der Himmel zeigte ein bedrohliches Grau.

Sam Bush hangelte sich die Treppe zum Deck hinauf und klammerte sich an die Reling. »Es wird ein lustiges Wetter!«, schrie er gegen den Wind an.

Die Corsarin lachte hart auf. »Sind wir das nicht gewöhnt, alter Freund? Soll der Satan doch tanzen!«

Bush grinste. Diese Frau kann nichts erschüttern, durchzuckte es ihn. Laut erwiderte er gegen das Getöse aus Wind und See: »Aber unsere unfreiwilligen Passagiere im Bug werden kotzen.«

Estrellas Finger krampften sich um das Teakholz des Geländers. »Sollen sie sich die Seele aus dem Leib holen.«

Bush schüttelte den Kopf. »Besser, sie kotzen auf Deck. Da kann man es besser wegspülen.«

Die Corsarin verzog das Gesicht. Dann rief sie: »Bringt sie herauf und kettet sie irgendwo fest.«

»Aye, aye, Lady Captain.« Bush tippte an seinen dreieckigen Hut.

Wenig später lagen die Gefangenen an der Luvseite, mit einer dicken Kette verbunden. Den Seefahrern machte der Sturm nichts aus, aber die Frauen erbrachen sich mehrmals.

Die Corsarin wandte angewidert den Kopf ab. Sie befahl, mehrere Eimer Wasser über die Gefangenen zu gießen.

Bald setzte zusätzlich noch ergiebiger Regen ein. Estrella rannte die Holzstufen herab und rief ihrem Ersten Offizier den Befehl zu: »Mr. Bush, lassen Sie halbe Leinwand setzen! Schicken Sie zwei Mann in den Ausguck! Ich möchte nicht von einer dreimal verfluchten englischen Fregatte überrascht werden! Morgen sind wir an unserem Ziel!«

Der Erste machte das Zeichen des Verstehens.

Die Tür zur Kajüte wurde Estrella beinahe aus der Hand gerissen. Eine Böe trieb Regen in den Raum. Estrella schüttelte sich, sodass das Wasser nur so aus dem Haar stob. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.

Auf dem Boden vor dem Diwan lag stöhnend Helen. Der Corsarin lag eine zynische Bemerkung auf der Zunge, doch dann unterdrückte sie diese und machte zwei Schritte auf die Liegende zu. Sie sank in die Hocke und hob sanft Helens Kopf hoch. Aus einem leichenblassen Gesicht blickten zwei matte Augen zu ihr auf.

»Bei Poseidon«, fluchte Estrella. »Auch das noch! Das Püppchen ist seekrank.«

Helen versuchte sich mit aller Kraft aufzurichten, doch es blieb ein vergebliches Unterfangen.

Estrella schloss für einen Moment die Augen, ehe sie flüsterte: »Keine Panik. Tief durchatmen. Es geht vorbei.« Mit ungeahnten Kräften hob die Corsarin Helen de Vere auf die Arme und legte sie auf den Diwan. »Aber kotz mir nicht die Bude voll«, knurrte sie.

Dann wandte sie sich um. Mit der linken Hand fuhr sie sich durch das noch vom Regen und Gischt feuchte Gesicht. Die SILVER STAR sackte in ein Wellental. Helen stöhnte laut auf, erbrach sich aber nicht.

Die Corsarin sprang auf und riss die Kajütentür auf. Sofort fegte der Sturm herein. »Mr. Bush!«, schrie sie durch das Heulen in der Takelage.

Der Erste hangelte sich zur Kapitänskajüte.

»Lady Captain?«

»Sam, Sie kannten doch immer ein altes Hausmittel gegen Seekrankheit. Sie haben mich damals damit für alle Zeiten kuriert.«

Trotz des Unwetters umspielte plötzlich ein Lächeln die Lippen des alten Seebären. »Für die Lady?«, meinte er. »Ihr seid sehr fürsorglich.«

Auf der Stirn der Corsarin entstand eine steile Falte. »Bin ich das?«

Das Regenwasser lief ihr über Augen und Wangen.

Der Alte berührte sanft ihre Schulter. »Vor mir braucht Ihr nichts zu verbergen. Ich komme gleich zurück.«

Was Bush wenig später mit Helen de Vere auf Deck veranstaltete, konnte man nur als wahre Rosskur bezeichnen. Nachdem er ihr einen Liter eines Gebräus aus Fischlake und Salzwasser eingeflößt hatte, drehte sich der Magen der Lady so um, dass man schon befürchten musste, ihre gesamten Innereien würden sich nach außen stülpen.

Eine halbe Stunde später lag Helen auf dem Diwan und konnte sich vor Schwäche absolut nicht mehr bewegen. Bush flößte der Wehrlosen nun zwei mächtige Gläser Rum ein. Helen wollte sich erneut übergeben, aber dann schloss sie die Augen und fiel in einen komaähnlichen Schlaf.

Der Alte richtete sich auf. »All right, da passiert nichts mehr. In etwa fünf Stunden wird sie aufwachen und keine Seekrankheit mehr kennen.«

Estrella lachte. Sie wusste aus Erfahrung, dass diese Gewaltkur tatsächlich Wirkung zeigte. Sie band Helen auf dem Diwan fest, damit sie nicht bei der gewaltigen Schräglage des Schiffes auf den Boden rollte.

Da wurde die Tür zur Kapitänskajüte aufgerissen. »Wrack voraus!«

 

*

 

Atemlos sah die Mannschaft mit an, wie die Corsarin sich zu dem immer stärker krängenden Schiff hinüberhangelte.

Fünf starke Trossen verbanden die SILVER STAR mit dem Wrack der spanischen Galeone. Sam Bush stieß mit dem Fuß an die derben Stiefel, die Estrella achtlos auf das Deck geworfen hatte, bevor sie zum Wrack überwechselte.

»Teufelsweib!«, zischte er und spie den Priem aus.

Estrella schwang sich nun über die Reling. Immer wieder schlugen die aufgebrachten Wogen über Deck. Die Tür zur Kapitänskajüte des Wracks schwang knarrend hin und her. Mühsam schaffte es die Corsarin, die Kajüte zu entern. Hier sah es aus, als habe eine Kanonenkugel eingeschlagen. Die Fenster waren von den Wogen zersplittert worden und immer wieder schlug das Wasser mit Macht ein. Das Schiff knirschte und ächzte.

Estrella wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Hastig suchte sie nach dem Logbuch. Sie entdeckte es nass und zerfleddert unter dem halb zerbrochenen Kartentisch. Rasch versuchte sie es zu sichten und fand bald, was sie sich erhoffte.

»Na also, liebe Spanier. Genau, was ich brauche!«

Sie rannte an Deck zurück und schrie durch das Tosen von Wind und Wellen: »Mr. Bush! Das Schiff hat jede Menge Gold in seinem Bauch!«

»Deibel!«, zischte der Erste und laut rief er zurück: »Da werden wir kaum noch dran kommen!«

»Doch! Vier Mann herüber! Wir haben zehn Minuten!«

Bush verschluckte sich beinahe an seinem Priem. Doch dann kam Leben in ihn.

»Jack, René, Salvatore und Georg! Rüber da!«

Als einer der Angesprochenen nicht gleich spurte, schnauzte der Erste: »Beweg deinen Arsch oder der Lady-Captain wird ihn dir nackt gerben!«

Das wirkte.

In kürzester Zeit hatten die vier das Kunststück vollbracht, auf das Wrack umzusteigen. Immer bedenklicher wankte es in den haushohen Wellen.

Die Corsarin war bereits unter Deck verschwunden.

Mittels eines Korbes, mit dem man eine Art Seilbahn baute, wurden Goldbarren auf die SILVER STAR transportiert.

Doch gerade schwenkte der fünfte Korb herüber, da baute sich in einer Entfernung von etwa hundert Schiffslängen eine an Höhe nicht übersehbare Wasserwand auf.

Eine sogenannte Death-Wave.

»Teufel und Generäle«, entfuhr es Bush.

Er beugte sich weit über die Reling und schrie, so laut er konnte: »Alles rüber zur SILVER STAR. Tempo, Tempo!«

Die Corsarin steckte gerade den Kopf aus der Ladeluke des Wracks. »Was ist …«

Bush zeigte nur nach Osten.

Selbst auf diese Entfernung war erkennbar, dass der Corsarin alles Blut aus dem Gesicht wich.

Hektisch wandte sie den Kopf wieder zu Bush. »Alle Segel setzen und Trossen kappen!«

»Kommt erst rüber! Rasch!«

»Führen Sie meinen Befehl aus, Bush!«, donnerte die Corsarin zurück. Selbst durch den heulenden Sturm bekam der Erste beim Klang dieser Stimme eine Gänsehaut.

Er wandte sich um und schrie seine Befehle über das Deck. Zwei Leute begannen, die Trossen mit ihren mächtigen Haumessern zu durchtrennen. Bush wusste genau, weshalb Estrella diesen Befehl gegeben hatte. Würde die Todeswelle über den zusammengekoppelten Schiffen zusammenschlagen, würden von der SILVER STAR kaum mehr als ein paar Planken übrig bleiben. Konnte sie sich freischwimmen, gab es eine winzige Chance.

Wie eine Mauer rollte die Wasserwand auf die Schiffe zu. Drüben – auf dem Wrack – schrie Estrella Befehle. Die vier Männer machten sich daran, sich zur SILVER STAR herüberzuhangeln. Dem ersten gelang es noch relativ gut, doch als sich der zweite an die Vordertrosse hängte, wurde diese gekappt. Mit einem Aufschrei, den der Sturm verwehte, stürzte er ins Wasser. Die anderen beiden enterten über die Hecktrosse das Corsarenschiff und schafften es gerade, bevor auch diese Trosse gekappt war.

Mit bleichem Gesicht blickte Bush zu dem Wrack, das jetzt sogleich mächtig rollte.

»Estrella! Los!«, schrie der alte Sam Bush verzweifelt. Die Angst um diese Frau stand ihm förmlich auf der Stirn und sein Herz fühlte sich an, als würde es in einer Zwinge stecken.

Er wusste, der Corsarin blieb höchstens noch eine Minute, dann musste die SILVER STAR mit vollen Segeln abdrehen.

Estrella stieg auf die teilweise zerschmetterte Heckreling des Spaniers. Sie hatte ein langes, lose schwingendes Seil aus der Takelage fest umgriffen. Bush wusste, dass die Corsarin eine Meisterin in dieser Seilschwingtechnik war. Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, um eine Punktlandung auf dem hinteren Oberdeck über der Kapitänskajüte der SILVER STAR hinzulegen.

Bush presste die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Seine Augen hingen wie hypnotisiert an der Todeswoge. Jeden Augenblick musste sie über den beiden Schiffen zusammenbrechen und dann …

Da!

Estrella ging leicht in die Hocke, um sich abzustoßen. In diesem Moment schwankte das Wrack um beinahe neunzig Grad. Etwas löste sich aus der zerfetzten Takelage und traf die Corsarin noch während ihres Absprungs am Kopf.

Ein Schrei bahnte sich seinen Weg über das Deck der SILVER STAR. Doch er stammte nicht von Sam Bush.

Jemand stieß ihn derb zur Seite und dann flog ein Schatten an ihm vorbei – auf die scheinbar höhnisch grinsenden Wogen zu.

 

*

 

Estrella erwachte. Sie versuchte, sich auf ihrem Lager aufzurichten. Doch mit einem Stöhnen sank sie zurück. Ein Mühlrad schien in ihrem Kopf in andauernder Bewegung zu sein. Alles drehte sich. Dazu war ihr speiübel.

Dann spürte sie etwas Kühles auf ihrer Stirn. Es tat gut – egal, wo es auch herkam.

Die Benommenheit schwand langsam. Der Ton der Glocke drang an Estrellas Ohr.

Acht Glasen!

Blinzelnd öffneten sich ihre Augen. Sie erkannte nur Schatten. Allmählich gewann das Bild an Schärfe.

»Helen …«, murmelte sie, als sie erkannte, wer sich da über sie beugte.

»Ruhig«, mahnte die Engländerin und legte der Corsarin einen frisch mit kühlem Wasser getränkten Lappen auf die Stirn. Dann begann sie Estrellas Schläfen sanft zu massieren.

Die Corsarin schloss wieder die Augen. Sie gab sich dem Geschehen hin. Ihr Körper entspannte sich zusehends.

Helen de Vere wechselte erneut den Lappen, dann trat sie an das andere Ende des Diwans und zog die wertvoll bestickte Decke zur Seite. Sie hockte sich auf die weiche Liege und massierte nun langsam, aber intensiv Estrellas Fußsohlen.

Die Corsarin streckte sich wohlig. Helen massierte sanft von den Fersen bis zu den Zehen. Erst den rechten, dann den linken Fuß. Helen musste zugestehen, dass die Corsarin ziemlich gepflegte Füße besaß, wenn sich auch die Sohlen sehr hart anfühlten. Helen hob nun die Füße der Corsarin etwas an, beugte sich vor und küsste ihre großen Zehen.

Sie spürte, wie Estrella sich versteifte.