Verlag und Autor danken dem Aargauer Kuratorium

für die Unterstützung bei der Drucklegung dieses Werks.

 

 

 

© 2019, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-68-2

 

Lektorat: Gudrun Schury

Cover: Jürgen Schütz

Coverbild: © Franjo Seiler

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-79-3

 

 

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Markus Bundi

 

1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte. Zuletzt von ihm erschienen: Planglück(Erzählungen, 2017) und Ankunft der Seifenblasen (Gedichte, 2018). Für seine Arbeiten als Schriftsteller und Herausgeber wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Markus Bundi legt 2019 mit Alte Bandebei Septime nach seiner vielbeachteten Kriminalnovelle Emilies Schweigen den ersten umfangreichen Kriminalroman vor. 

 

Klappentext

 

Am Stauwehr wird eine Wasserleiche gefunden. Der Fall entpuppt sich aber für Hauptkommissar Walle Troller schnell als unliebsam, er erkennt, dass sein langjähriger Kollege von der Sitte, Markowitsch, den Mord von langer Hand geplant hat. Alles ist so arrangiert, dass einzig Walles Zwillingsbruder als Täter infrage kommt, und er muss mitansehen, wie dieser zu Unrecht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Der Hauptkommissar wird beurlaubt und fragt sich, ob er mit gut fünfzig und frisch geschieden bereits endgültig überholt worden ist. Während sich die Mordfälle häufen und die junge Kollegin Jette Hagen seine Stelle übernimmt, versucht sich Walle Troller allmählich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, getreu dem Motto: Erst denken, dann schießen. 

Er, Walle Troller, Jahrgang 1967, unglücklich geschieden, körperlich angeschlagen, mag guten Wein und Science-fiction-Filme, ist vor allem aber rücksichtslos gegen sich selbst – und seines Zeichens Hauptkommissar im süddeutschen (fiktiven) Jedastedt. Sie, Jette Hagen, Jahrgang 1985, ursprünglich ein Landei aus der Pfalz, fährt mit Vorliebe Harley, steht auf Country, raucht Kette, ist bisexuell und blitzgescheit – und ihres Zeichens Partnerin von Walle. So ungleich das Paar, so herausragend ihre Aufklärungsquote: Intuition und Verstand, Humor und ein Hauch Ironie garantieren einen knallharten Krimi bis zur letzten Seite, der über die Landesgrenzen hinaus – vom süditalienischen Stiefel bis in die norddeutsche Tiefebene – reicht. Da scheiden sich Gut und Böse links und rechts des Rheins, doch Ursache und Wirkung lassen sich längst nicht so klar auseinanderhalten wie die Quelle von der Mündung. Und was für das Ermittlerduo gilt, meint die Leserinnen und Leser nicht minder: Wer in den Himmel will, muss durch die Hölle gehen.

Markus Bundi legt nach seiner vielbeachteten Kriminalnovelle Emilies Schweigen den ersten umfangreichen Kriminalroman vor. Raffinesse und Realität gehen Hand in Hand, keine tollpatschigen Polizisten, kein Handy ohne Empfang, und alle Autos springen an … 

»Nach der Lektüre atmet man denn auch nicht durch und suhlt sich in der Befriedigung, der Fall habe sich nun auch für die Lesenden geklärt. Im Gegenteil: Man ist versucht, die Geschichte nochmals zu lesen.« 
Beatrice Eichmann-Leutenegger, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
über Emilies Schweigen

Markus Bundi

Alte Bande

Kriminalroman | Septime Verlag

 

 

 

 

 

 

für Alice

 

 

 

 

 

1

 

 

Frieda wurde am frühen Dienstagmorgen tot aus dem Wasser gefischt, angetrieben am Rechen des Stauwehrs. Hauptkommissar Troller lag noch in den Puppen, Jette war auf sich gestellt. Sie versuchte erst gar nicht, den Mann aus dem Bett zu holen, drückte stattdessen auf das Gaspedal. Die Frühschicht war – einem ungeschriebenen Gesetz folgend – ihr überlassen. Für eine weitere Wasserleiche am Rechen würde Walle Troller nicht einmal den Weg zur Kaffeemaschine auf sich nehmen. Das wusste sie. Doch es störte sie nicht.

Jeder hatte seine Zeit, Troller und sie waren ein eingespieltes Team, ihre Aufklärungsquote konnte sich sehen lassen. Und so lange das so blieb, interessierte sich niemand dafür, wann wer von ihnen in Aktion war; sie arbeiteten eh zu viel.

Der Morgen war trist, nebelverhangen, typisch November, in Gedanken war Jette Hagen schon beim Wochenende, das sie auf dem Land, in den Weinbergen bei ihrer Familie, verbringen würde. Frieda?

Der Kollege am Telefon hatte keinerlei Zweifel geäußert, ganz entgegen den Richtlinien. »Frieda ist aufgetaucht, Kraftwerk Nord.« Dabei war das Identifizieren von Wasserleichen alles andere als leicht. Papiere trugen angeschwemmte Tote selten mit sich. Dennoch vermied man es, lediglich auf einen Verdacht hin Angehörige in die Pathologie zu bitten, zumindest so lange, wie alle anderen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft waren.

Jede Stunde im Wasser setzte den Prozess der Entmenschlichung fort. Gnadenlos. Das war kein Anblick für Laien, geschweige denn für Angehörige. Eine Wasserleiche schlug jedem aufs Gemüt; die Gewöhnung schuf ein wenig Milderung, ermöglichte einen anderen, doch kaum weniger trostlosen Blick. Aufgequollenes Fleisch, je nach Verheerungen in den unnatürlichsten Farben, oder auch nur grau. Grau wie grauenhaft. Eine zähflüssige Masse, unter der die Erde durchzuschimmern begann. Jener Staub, zu dem die Menschen alle wieder werden. Leichen dieser Prägung, so hatte die Kommissarin für sich entschieden, waren nicht mehr Menschen, stellten vielmehr ein lebloses Etwas dar, organische Überreste, die gleichwohl zu identifizieren waren, zurückzuführen auf einen Namen, der einmal einem Menschen gehört hatte. Einzig das Feuer noch setzte den Opfern auf so entstellende Weise zu.

Feuer und Wasser, Jette fiel dazu im Moment nichts mehr ein. Ihr stand der Sinn mehr nach Erde und Luft, nach festem Stand und klarer Sicht. Sie mochte den Morgenverkehr, auch wenn die Straßen in den knapp vier Jahren, die sie nun in Jedastedt ermittelte, merklich voller geworden waren. Die Menschen schienen genug zu haben von überfüllten U-, S- und anderen Bahnen, zogen stattdessen den Stau und die tägliche Dosis Abgase den morgendlichen Einpferchungen unter ihresgleichen vor. Dabei ließ sich immerhin der Radiosender frei wählen.

Kein Anlass für Frust oder Aggression, kaum einer hupte, jeder war mit sich beschäftigt, telefonierte oder glotzte, hörte Musik oder kaute, kaute irgendwas.

Es herrschte Einvernehmen, man fügte sich mit seinem Wagen ein und ließ sich treiben. Auch eine Wasserleiche schaute nicht mehr auf die Uhr, ging es Jette durch den Kopf, ganz im Gegensatz zu den Kollegen, die vor Ort warteten, mit Eintüten und Wegschaffen auf ihr Einverständnis warten mussten.

Jette hatte den Stadtrand erreicht, es war höchste Zeit, sich ernsthaft mit den anstehenden Dingen zu befassen. Und sie beschlich ein ungutes Gefühl, eines, das sich gegen die Wahrscheinlichkeit zu stellen schien. Der »Kriminalistenreflex«, wie Troller das nannte. Die Wahrscheinlichkeit für Suizid war bei Wasserleichen am Rechen hoch, sehr hoch sogar. Wahrscheinlichkeiten spielten ihnen jedoch bei den Ermittlungen nicht immer in die Hände. Ansonsten gäbe es keine komplizierten Fälle, keine ungelösten. Ansonsten wäre ihr Job uninteressant, gar überflüssig.

Lag Friedas Fall anders und gehörte also – statistisch gesehen – zu den Ausnahmen, dann, das wusste Jette, wäre das Wochenende akut gefährdet. Was hätte die Wirtin der Roten Laterne in den Selbstmord treiben können? Das Gesicht der Kommissarin hellte sich wieder auf. Ihr fielen auf einen Schlag mehrere gute Gründe ein, die Frieda zu einem frühzeitigen Abgang hätten bewegen können, und sie parkte das Auto beinahe ein wenig zu flott zwischen dem Streifenwagen der Kollegen und dem Kombi der Pathologin ein.

Jette griff nach dem Mantel auf dem Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen, dachte: kein Knall, kein Schaden, sah sich die Karosserie der drei Autos aber doch genauer an. »Sag ich doch, kein Knall, kein Schaden«, und sie zündete sich eine Zigarette an.

Am Fundort der Leiche kein großer Bahnhof, wegen einer Wasserleiche wurde kein Aufhebens gemacht, nicht in Jedastedt. Spuren gab es keine zu sichern, und das Interesse der Presse an Funden beim Kraftwerk Nord hielt sich mittlerweile in Grenzen. Womöglich hatten die Vertreter der schreibenden Zunft von der toten Frieda noch nicht einmal Wind bekommen. Um diese Uhrzeit arbeitete nur, wer musste.

Inzwischen hatte, passend zur Jahreszeit, feiner Nieselregen eingesetzt. Beste Voraussetzungen für eine Lungenentzündung. Jette schlug den Mantelkragen hoch, die entzündeten Bronchien und der drohende Totalschaden, jenes Feuer, das sich vor drei Jahren nur noch mit einer Dreißigerschachtel Antibiotika und einer Unzahl an Fieberträumen hatte löschen lassen, war noch nicht vergessen. Seither wusste sie um die Kraftlosigkeit, das Ausgeliefertsein, seither wusste sie um die Sterblichkeit des Menschen. Bis zu jener Erkrankung, die sie mehrfach durchgeschüttelt und auf sich selbst zurückgeworfen hatte, war Jette sich ihrer eigenen Verletzlichkeit nicht bewusst gewesen, hatte sich vielmehr für unverwundbar gehalten. Mit einem Mal hatte die Jugend ausgehustet.

Jette hielt sich am Mantelkragen fest, ging die letzten Schritte zu den Kollegen hin und nickte wortlos in die Runde.

Keine Frage, es war Frieda. Allzu lang hatte dieser Körper nicht im Wasser gelegen. Die beiden Kollegen von der Streife warteten nur noch darauf, dass sie ihren Segen, der Pathologin das Zeichen fürs Zusammenpacken gab. Der Pensionär, der die Leiche entdeckt und pflichtbewusst die Polizei gerufen hatte, war noch vor Jettes Eintreffen mitsamt seinem Dackel wieder nach Hause geschickt worden. Was hätte man den Mann fragen sollen? Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Dackel der eigentliche Finder. Wer auf den Hund gekommen ist, hat sich entschieden, den Weg nicht mehr selbst zu bestimmen. Eine von Trollers Weisheiten.

Jette gebot sich Einhalt, für Gedankenspiele würde später noch Zeit sein: Gerda die Große, sie maß auch ohne Absätze über eins achtzig, hatte den Finger demonstrativ am Reißverschluss. Man wollte den Sack zumachen, zurück in die Stadt, zurück an die Wärme.

– Willst du noch genauer hinschauen?

Jette blies Rauch aus und schüttelte den Kopf. Das folgende Zippgeräusch war den Umstehenden vertraut, es war der Beginn jenes Rituals, dem sie sich verpflichtet hatten. Eines Tages würde sie dieses Geräusch in die Träume verfolgen, dachte sie, schnippte den Zigarettenstummel zur Seite und kassierte vom jüngeren der beiden Beamten ein »Ökodino«. Sie nickte dem glattrasierten Jüngling freundlich zu, musterte ihn beiläufig, doch es war noch zu früh für ein Wort, zu nass und zu kalt, zu früh für alles, selbst für Jette. Ihr ungutes Gefühl war sie jedoch trotz guter Gründe nicht losgeworden und wandte sich noch einmal Gerda zu.

– Wirst du noch genauer hinschauen?

Gerda reagierte nicht, die Frage war rhetorisch, das wussten beide. Die Frau vom Gefrierfach, wie Troller sie nannte, die Königin der Forensik, die Frau Hagen stets ein wenig Furcht einflößte, schaute immer genauer nach. Würde sie nicht alle an Körpergröße überragen, sie hieße nicht Gerda die Große, sondern Gerda die Akribische, die ungekrönte Eiskönigin Jedastedts.

 

Frieda hieß mit bürgerlichem Namen Friedrich Aufderhalden, stammte ursprünglich aus der Schweiz, hatte sich jedoch über viele Jahre hinweg zu einem der wenigen Originale der Stadt entwickelt, und dies noch bevor er sich dazu entschlossen hatte, Frau zu sein. Jette sah schon die Schlagzeile vor sich: »Das Ende von Travestie-Frieda«. Dazu war keine Fantasie vonnöten. Egal, wie es zum Tod der Wirtin gekommen war, die Presse hatte wieder Stoff.

Diese Revolverblätter!, wie Troller gern schimpfte, nicht ohne ihr erklärt zu haben, was es mit der Bezeichnung auf sich hatte: Dreht die Trommel erst einmal, kommt sie so schnell nicht mehr zum Stillstand. Ob dabei mit Platzpatronen, Leuchtmunition oder tatsächlich scharf geschossen wird, ist einerlei – anders als beim Hai: Gehen in dessen Revolvergebiss eines Tages die Zähne aus, krepiert er elendiglich. Wer überleben will, muss zubeißen können. Walles Erklärungen waren zwar nur bedingt kompatibel mit dem, was die Kommissarin ihrerseits dazu im Internet recherchiert hatte, so viel aber stand fest: Frieda war ein dankbares Opfer noch über ihren Tod hinaus, wenngleich sie wohl weder Schussverletzungen aufwies noch einem Haifischbecken entnommen worden war. Oder doch?

Kein guter Tag, dachte Jette und ärgerte sich darüber, den Mantel, als sie die Rückfahrt antrat, nicht wieder ausgezogen zu haben. Weil Gerda genauer hinschauen würde, fände sie auch Hämatome, wie sie fast jede Wasserleiche aufwies, sei es vom Aufschlagen auf Grund, sei es vom Anecken unterwegs. Oder die Hämatome stammten von Schlägen vor der letzten Reise im Fluss. Für Hämatome gab es viele mögliche Ursachen, und Gerda gehörte nicht zu jenen ihres Fachs, die sich dann festlegen wollten, ob post mortem oder davor.

Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte sie der Mordkommission einen Vortrag über das Zustandekommen von Hämatomen gehalten, über falsche Schlüsse, die der Laie zog, nicht zuletzt wegen unzähliger Fernsehkrimis: Wenn ein Fall in vierzig Minuten gelöst sein soll, dann kann die Pathologie nur Eindeutigkeiten liefern, was mit der Realität allerdings wenig zu tun hat.

Sie erinnerte sich: Ein jeder Organismus hat seine Eigendynamik. Wer daran Zweifel hege, solle einem Huhn den Kopf abschlagen und es danach davonrennen sehen. Jette hatte es vorgezogen, auf das Experiment zu verzichten, nicht weil sie sich das Köpfen des Huhns nicht zutraute, doch verspürte sie wenig Lust, am Ende die Sauerei aufzuwischen. An der Autorität Gerdas hätte sie so und so nicht rütteln wollen, ihre forensischen Erkenntnisse entbehrten jeder Spekulation. Die Pathologin lieferte ausschließlich Fakten. Und je bekannter die Person auf ihrem Tisch, desto hartnäckiger die Zweifel der Staatsanwaltschaft.

Was jedoch am Standardprozedere zunächst nichts änderte: ermitteln in alle Richtungen. Keine Nichte, kein Weinberg, kein heiteres Beisammensein, stattdessen ermitteln in alle Richtungen. So etwas konnte Klein-Selma noch nicht verstehen, denn das meinte die unheile Welt, und ebendiese brachte der Beruf mit sich: das Versehrte, das Kaputte und Unzulängliche … das Allzumenschliche.

– Scheiß drauf!

Jette stieg vom Gas. Wegen einer Wasserleiche würde sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen; einige Befragungen, Aussagen und Fakten sinnstiftend bündeln, und ab in die Pfalz.

Sie machte Halt beim Bäcker. Nun regnete es richtig. Der Tag, kaum angefangen, hatte jedoch eine zweite Chance verdient. Mit einem frischen, noch dampfenden Croissant im Mund ließ sich ganz anders weiterfahren.

 

– Und? Was macht unser Treibgut?

Jette fuhr zusammen. Sie hatte beim Betreten des Büros mit niemandem gerechnet. Zuallerletzt mit Troller.

– Darf ich erst den Mantel ausziehen? Hat dich Scarlett wieder mal nicht schlafen lassen, hm?

Troller hob die Kaffeetasse, als wolle er seiner Kollegin zuprosten, stellte die Tasse dann aber, ohne getrunken zu haben, wieder hin.

– Sie hat sich in der Küche übergeben, direkt vor dem Kühlschrank.

– Na, da wäre ich auch aus dem Konzept geraten.

– Und ich bin reingetreten.

Jette riss sich zusammen, prustete nicht los, ließ sich mit dem Hinsetzen noch ein wenig Zeit. Die Vorstellung, wie Troller schlaftrunken zum Kühlschrank wandelte und beim Ergreifen des Plastikgriffes in das Erbrochene von Scarlett trat, wollte sich so schnell nicht abschütteln lassen.

– Sie hat jetzt Hausverbot … das war ein Scherz. Eine Sauerei war das. Aber ich werde die Sorte wechseln, ab sofort.

– Von Kurzhaar zu Langhaar?

– Du hörst nicht zu. Die Kartäuserin bleibt, nur das Katzenfutter wird ein anderes. Will ja wohl keiner so genau wissen, wie Fleischabfälle und Chemikalien miteinander vermischt werden. Wer den Deckel öffnet, ist selber schuld. Meine Schuld. Scarlett hat ein empfindsames Wesen. So geht das nicht weiter. Aber sag, was ist jetzt mit Frieda?

Jette hatte sich in der Zwischenzeit hingesetzt und entfernte mit Daumen und Zeigefinger letzte Brösel des Croissants aus den Mundwinkeln.

– Du weißt es also schon.

– Der Michel war vor dir zurück, guter Mann. Ein wenig zu korrekt vielleicht, passt aber in dein Beuteschema, nicht wahr?

– Gerda will noch genauer hinschauen.

– Verstehe.

Mehr gab es zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen. Die Kommissarin wusste, Troller würde in sich kehren, sich einmal auf seinem Bürostuhl drehen und schon bald zu einem Spaziergang aufbrechen. Standardverfahren hin oder her, Hauptkommissar Walle Troller wich von seiner Ermittlungsmethode nicht ab. Erst denken, dann schießen, lautete einer seiner Grundsätze, den er Jette schon an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag preisgegeben hatte.

Schon damals hatte sich Jette gefragt, wie Troller so lange hatte überleben können. Der Mann passte in kein Muster, weder sah er aus wie ein Fernsehkommissar, was sie zuweilen bedauerte, noch verhielt er sich danach, was sie hingegen schätzte. Doch Walle verhielt sich auch nicht wie ein echter Kommissar.

Dieser Troller war ein Überbleibsel aus einer Zeit, die Jette nicht miterlebt hatte, die es aber vielleicht auch nie gegeben hatte. Stattlich, das war der Mann, und sanftmütig, wenigstens auf den ersten Blick. Doch Gnade allen Verbrechern der Welt, wenn er dieses Funkeln in den Augen hatte, den andern gleich mehrere Schritte voraus war. Trollers Augenblitze erzeugten unmittelbar Atemnot. Jette war überzeugt, Walle hatte in solchen Momenten den Teufel in den Augen, war nicht mehr er selbst, schreckte dann vor unvorstellbaren Widerwärtigkeiten nicht mehr zurück, sondern dachte sie zu Ende. Mit dem Teufel hatte das freilich wenig zu tun. Der Hauptkommissar schloss mit niemandem einen Pakt, er war nur rücksichtslos gegen sich selbst.

Keiner legte sich vorsätzlich mit Troller an. Das gab Sicherheit.

Die Befragungen würden an ihr und den Kollegen hängen bleiben. Auch das Koordinieren und Erteilen der Aufträge war Jettes Sache. So hatte es sich eingespielt, so war es gut, und die Kommissarin überlegte, welchen Auftrag sie Katterer geben würde, dem Michel, wie Troller ihn nannte, dabei hieß er weder Mike noch Michael, sondern Hans Georg.

Solche ursprünglichen Fehlbenamsungen interessierten den Hauptkommissar jedoch nicht. Hans Georg war Michel, weil er eben ein Michel war. Für Gerda hatte Troller den Namen Sibir, und auch Jette ließ er nicht gelten. Das sei ja völlig verkehrt, antwortete er einmal auf ihre Frage, warum er sie nicht bei ihrem richtigen Namen nenne. Wenn er »Jette« nur schon höre, denke er an Cuxhaven, an eine Rettungsschwimmerin im besten Fall, doch dann würde er gar nichts mehr verstehen, denn dieser Nordslang gehe ihm so ziemlich ab, die s-pinnen dort oben doch, und das meine er keinesfalls rassistisch, er sei aber nun halt mehr der erdige, der eingemittete Typ. »Kennst du die Geschichte von König Wenzel? Dem war schon als Säugling in der Kirche bewusst, dass Wenzel kein Name für ihn war – und er kackte ins Taufbecken.«

Die Kommissarin startete den Computer, ja, sie mochte Troller. Der Mann war schräg, und er war, das nahm sie am meisten für ihn ein, ungeheuer geistreich. Ob die Betonung eher auf »ungeheuer« oder auf »geistreich« lag, hing von der Situation ab. So war der Troller gestrickt, so dachte er; kein Mensch lässt sich eindeutig zu- oder einordnen: Weil es eben keine einfachen Menschen gibt.

Jette erwischte sich nicht das erste Mal beim Gedanken, dass jemand Walles markige Sprüche aufzeichnen sollte. Am Ende würde dabei ein neues und zugleich revolutionäres Lehrmittel der Kriminalistik herauskommen. Dass eine von Jettes Großmüttern, jene, von der sie den Namen hatte, tatsächlich aus Cuxhaven stammte, konnte selbst der Hauptkommissar nicht ahnen. Auch das wusste sie inzwischen: Trollers herausragende Gabe war seine Intuition. Wirkte er weit weg, war er in Wahrheit näher an der Lösung des Falls als alle andern. Darum beneidete sie ihren Partner, darum vertraute sie ihm. Und deswegen war Jette glücklich, dass es nicht bei der »neuen Susi«, wie Troller sie seinen Kollegen ursprünglich angekündigt hatte, geblieben war.

– Angie, ich geh dann mal los.

Die Kommissarin nickte in ihren Bildschirm, und als sie wieder aufsah, war Troller durch die Tür. »Nicht wegen der Stones, glaub das nicht«, hatte ihr Walle vor Zeiten erklärt, »wegen Tomb Raider, kennst du den Film?« Das gefiel ihr und auch, dass er wie nebenbei erklärt hatte, sie sei vielleicht ja so etwas wie sein guter Engel. Er hatte schon Charme, der Troller. Wenn er wollte. Ob er auch das Remake von Tomb Raider gesehen hatte?

Jette blieb auf ihrer Suche nach Angehörigen erfolglos, Friedrich Aufderhaldens Zeit schien erst in Jedastedt begonnen zu haben, der Computer bot nichts, oder sie suchte am falschen Ort. Bestimmt aber hatte Frieda einen Treuhänder oder einen Steuerberater gehabt, so oder so, es führte kein Weg an der Roten Laterne vorbei. In ihrem Kopf entwickelte sich die Geschichte erdrückender Schulden; immerhin war die Rote Laterne ein zwielichtiger Ort, eine Geldwäscherei? Vor Jahren noch ein Puff, das wusste sie, wenngleich sie damals hier noch keinen Dienst getan hatte.

Sie hatte ein offenes Ohr, wenn die Kollegen von früher sprachen. Nur wer zuhört, lernt – noch ein Trollergesetz, eines, das sie zu beherzigen gelernt hatte. Wer einen Ort und seine Menschen verstehen wollte, musste eine Ahnung von der Vergangenheit haben. Vielleicht harmonierten Troller und sie auch deswegen: Sie konnten beide zuhören. Und Jette hörte auf ihre innere Stimme. Allerdings kam von dieser Seite bislang nichts. Vielleicht war das Gefühl, das sie auf der Hinfahrt zum Fundort am Kraftwerk Nord begleitet hatte, noch immer zu diffus und überdeckte jeden klaren Gedanken.

Bestätigte Gerda den Selbstmord, würde sie am Freitag fahren … zuweilen kamen sich Kriminalistenreflex und Wunschdenken in die Quere. Frieda war bestimmt verschuldet und wenn nicht verschuldet, dann hatte ihr das Frausein zu schaffen gemacht. Die psychische Belastung bei einer solchen Verwandlung war nicht zu unterschätzen. Frieda und Friedrich waren sich ins Gehege gekommen. Zwiegespräche, Dissonanzen … wäre doch plausibel.

Da Frieda auf dieselbe Adresse wie die Rote Laterne registriert war, hatte sie wohl in einer der Wohnungen über der Kneipe gehaust. Die Kommissarin suchte im Netz nach anderen Bewohnern, nach einem Hausmeister. Einfach hinfahren, klingeln, dafür war es noch zu früh. Gerda anzurufen, hatte keinen Sinn, die Frau vom Gefrierfach würde es genau nehmen, und sie meldete sich, wenn sie fertig war. Jette griff nach der Zigarettenschachtel. Auf dem Weg nach draußen würde sie nachsehen, ob sich schon Kollegen von der Sitte oder der Drogenfahndung eingefunden hätten.

 

 

 

 

2

 

 

Troller hatte sich bei der Roten Laterne absetzen lassen. Er würde einen Spaziergang machen, sich umsehen, nachdenken. Der Regen hatte aufgehört, kalt war es noch immer, der Hauptkommissar zog die Wollmütze tiefer ins Gesicht. Die Rote Laterne befand sich zwischen den letzten Wohnquartieren und der Industriezone. Mittlerweile war der Übergang fließend, die Stadt war in den letzten Jahrzehnten gewachsen, dennoch schlug ihm hier etwas Modriges entgegen. Oder die Tristesse, die ihn befallen hatte, war dem eigenen Missmut geschuldet, rührte einzig von innen her.

Wirkte die Gegend ausgestorben oder er?

Troller verspürte eine Müdigkeit, die an Niedergeschlagenheit grenzte und wenig mit seinem frühmorgendlichen Fehltritt zu tun hatte. Immerhin, er gab für seinen Zustand nicht Scarlett die Schuld, ganz so schlecht ging es ihm nicht, und der Hauptkommissar zwang sich zu einem aufrechten Gang.

Ältere Menschen wohnten hier, ehemalige Arbeiter aus den Fabriken, die meisten heute im Ruhestand. Ein wenig Blutauffrischung aus dem Osten hatte es nach der Wende gegeben, der Ausländeranteil hielt sich in Grenzen. Der eine oder andere hatte sich hinter den Gardinen postiert, das spürte Walle, die Unsichtbaren hatte er schon immer gespürt, und sie fragten sich wohl, wer da jetzt, die Wollmütze ins Gesicht gezogen, durch ihr Quartier schlich. Beobachten und beobachtet werden, das war des Menschen Schicksal.

Der Hauptkommissar kannte dieses Spiel, wusste auch um die Regeln für Fortgeschrittene: Im Beobachtetwerden die Beobachter beobachten, das machte die Kunstfertigkeit aus, Fassade und Durchlässigkeit, das verlangte sein Beruf. Wie einer geht, um das Denken zu animieren, so wie einer denkt, um das Gehen zu befördern, nicht zwingend das Fortgehen oder Wegkommen, aber das Weitergehen.

Er warf einen Blick durch die dunklen Fenster ins Innere der Kneipe. Zu sehen war fast nichts. Eine leere Kneipe war eine leere Kneipe. Nichts deutete auf das Verschwinden Friedas. Auf dem Parkplatz standen zwei Autos, ein roter Ford Mustang, der noch aus dem vergangenen Jahrtausend stammte, und ein grauer VW Golf, der, würde man ihn durch die Waschanlage fahren, wohl wieder als weißer Wagen herauskäme.

Der Hauptkommissar hatte durch die schmutzgetrübten Scheiben auch einen Blick ins Innere der beiden Autos geworfen. Unverfänglicher Kram. Leere Einkaufstüten, Schirm und Zeitung im einen, ein auf dem Armaturenbrett festgeklebter Schlumpf mit Kochmütze und Schöpfkelle sowie drei halbvolle Flaschen Mineralwasser im Fond des andern. Troller notierte die Kennzeichen. JED-FA und JED-IS plus je eine vierstellige Zahl. Der Golf gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit Frieda. Den Jedi würden sie in Bälde auch zuordnen können, ob der Besitzer nun Ritter, IS-Sympathisant oder Unbeteiligter war.

 

Der Weg zum Wasser war weiter, als Troller gedacht hatte. Er ging schon eine Viertelstunde und hatte die kleine Fußgängerbrücke noch nicht erreicht, die er von früher her kannte, jene Brücke, die er auf Radtouren mit dem Bruder oft überquert hatte. In seinem Gedächtnis waren die Strecken hier noch immer als Distanzen auf zwei Rädern abgespeichert.

Ging sein Atem schwer? Und das Denken? »So tröstet sich ein alter Mann«, sprach er, sprach es gut vernehmbar, wenngleich Zuhörer fehlten. Er wusste, dass Intelligenz an der Schnelligkeit des Denkens gemessen wurde, die Schnelligkeit eigentlich das wichtigste, wenn nicht das einzige Kriterium war. Tempo, Teufel, Troller, was aber war das für eine Wissenschaft?

Die Schachuhr konnte ein sehr unangenehmer Gegner sein, daran erinnerte er sich wohl, ihm war Talent attestiert worden, dennoch hatte er noch vor Ende des Gymnasiums entschieden, seine Zeit nicht länger auf diese Art abzusitzen. Die Figuren auf dem Brett waren ihm verdächtig geworden, suspekt in ihrer Leblosigkeit. Es gab keine Abweichungen, keine falschen Bewegungen, keine Fassade, den Gegenspieler einmal ausgeschlossen. Die Figuren indes, die den jungen Mann mehr und mehr in ihren Bann schlugen, folgten nur zeitweise festgesetzten Regeln, sie brachen aus, sie brachen ein, da ein Geniestreich, dort eine Verzweiflungstat – das zeichnete die Figuren aus Fleisch und Blut aus.

Die Handlungen der Menschen spielten sich zwischen russischem Roulette und vorgezeichneten Zügen ab, auf diesem weiten Feld zwischen den Extremen, immer dort, wo Absichten nur scheinbar klar waren, Ursache und Wirkung zuweilen die Plätze tauschten.

Troller hatte nach und nach ein anderes Denken kennengelernt, eines, das sich im Verborgenen abspielte, unbeobachtet von ihm zu Ergebnissen kam, angeregt durch die Literatur, durch Filme oder auch Musik. Und wenn er sich genügend Schlaf gönnte. Tage später, manchmal auch Monate danach schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, den er dann zurückführen konnte, dessen Anstoß vielleicht in einer Zeile lag, in einer Szene oder einem Refrain, und dieses Glücksgefühl war jeder Berechnung fern, war durch ein gezieltes, lediglich mechanisches Denken nicht zu erlangen.

Eine friedliche Gegend, meldete Walles Wahrnehmung, noch immer, fügte er hinzu, nur an die Bezeichnung »Naherholungsgebiet« würde er sich nie gewöhnen. Auch bislang unverbauten Flächen musste eine Funktion zugewiesen werden, das war das Diktat der Zeit.

Auf der Fußgängerbrücke stand Cesare. Troller hatte ihn gleich an der Silhouette erkannt. Der alte Perlini war schon vor einiger Zeit ins Quartier der Roten Laterne umgezogen, zuvor war er Hausmeister gewesen, just in jener Siedlung, in der auch er zu Hause war, bis zu seiner Scheidung zu Hause gewesen war. Und für einmal begegnete Walle dem Zufall ohne Argwohn.

– Cesare, Mensch, so früh schon auf den Beinen?

– Walle! Che sorpresa! Was treiben dich in diese Gegend?

Die beiden Männer schüttelten sich freundschaftlich die Hand, dann stellte sich Troller ans Geländer, wie eben noch Cesare gestanden hatte, und blickte auf den Fluss. Cesare Perlini, ein Kopf kleiner als der Hauptkommissar, diesem jedoch an Masse ebenbürtig, stellte sich neben ihn.

– Was macht die Rücken? Ti fa male?

Walle Troller beugte sich ein wenig vor, stützte die Unterarme auf dem Geländer ab. Cesare tat es ihm gleich, blieb jedoch aufrecht stehen.

– Mein Körper tut seinen Dienst wieder ganz ordentlich, danke der Nachfrage.

– Und der Kopf auch, nicht wahr, Walle? Ich weiß dich. Du hast eine Fall, du bist für Arbeit hier.

– Wenig Wasser für die Jahreszeit.

– Sì. Aber du willst nicht unter die Fischer gehen, ich nehme an.

– Ach, mein Freund, das Fischen im Trüben gehört, wie du weißt, durchaus zu meinen Aufgaben. Aber sag, was glaubst du, würde eine Leiche, hier ins Wasser geworfen, überhaupt flussabwärts treiben?

– Ma, che cazzo! Habt ihr wieder jemande gefunden, ja?

Perlini hatte sich Troller ein wenig zugewandt. Der Kommissar starrte weiterhin in dieselbe Richtung flussabwärts, als wollte er seiner Vorstellung auf die Sprünge helfen.

– Nein, Walle, das glaube ich nicht. Kaum Wasser, nix Strömung. Wer hier reinfällt, bleibt hier liegen. Ma dimmi –

– Wir haben heute früh Frieda herausgezogen, beim Stauwehr unten.

Der Alte bekreuzigte sich mehrere Male, Troller ließ das Geländer los und wandte sich seinem Freund zu.

– Sprich zu mir, Cesare, weißt du etwas? Hast du eine Ahnung?

Perlini schnäuzte sich, auch dieses Trompeten lag noch in Trollers Ohr. Cesare hatte sich, fiel ihm jetzt auf, über die Jahre kaum verändert, der Mann war kompakt wie eh und je. An den Schläfen lediglich ein wenig ergraut, obwohl er inzwischen über siebzig war.

– Sag, weißt du was? Lass uns ein paar Schritte gehen.

Die wilde Gestik, die man von jedem Südländer erwartete, war Cesare schon immer schuldig geblieben. Nicht dass es dem Mann an Temperament fehlte, er schien nur von unnützen Bewegungen nichts zu halten. Wenn es drauf ankam, packte Perlini zu, wenn es sich hingegen nur um scheinbare Dringlichkeiten handelte, war er die Gelassenheit in Person. Arbeitete die Zeit für ihn, dann ließ er die Hände im Schoß. »Wozu eine Laubbläser anschaffen, wenn der Wind weht?«

Schon zu Hauswarts Zeiten war der Mann um Weisheiten nicht verlegen gewesen. Stets gutgelaunt. Vielleicht aber war auch das nur scheinbar. Troller hatte den Weg flussabwärts eingeschlagen, und er verlangsamte den Gang, als er Cesares angestrengtes Trippeln bemerkte. Er wollte den Uferweg entlang nach möglichen Einstiegsstellen Ausschau halten. So viel war gewiss: Wie auch immer Frieda zu Tode gekommen war, irgendwo zwischen hier und dem Rechen war sie ins Wasser gegangen oder gefallen.

Der alte Hausmeister sprach von einer Spinne, die aber andere weben ließ, und dass dieser Tod einigen sehr ungelegen käme, doch Troller verstand nicht alles, was Cesare zu Protokoll gab, da dieser mehr und mehr ins Italienische abdriftete. Erst hörte er ein »ricco« heraus, was im Nachhall dann doch eher wie »ricotta« klang, wähnte sich schon in einer Pizzeria, meinte dann aber »faccia di merda« aufgeschnappt zu haben, was er doch so auch schon vernommen, … oder hatte Perlini von »la famiglia« gesprochen, was er früher gern und oft getan hatte, weil ihm die Familie über alles ging? Und wieder und wieder »è morto« und »dio«, wahlweise »dio mio«.

So sehr Troller die Einzelheiten von Perlinis Ausführungen entgingen, so unzweifelhaft drang die Sorge in Cesares Stimme an sein Ohr. Als aber der Frosch quakte, hellte sich das Gesicht des Italieners wieder auf.

– Du änderst nie dich, Walle, was? Willst du nicht rangehen?

– Das ist der Staatsanwalt. Da muss ich nicht rangehen, er will mir nichts Neues mitteilen. Er wird in der Zwischenzeit von der Wasserleiche erfahren haben, und er möchte mich anmahnen, dem Fall oberste Priorität zu geben, weil Frieda eine stadtbekannte Figur war, weil die Presse groß anrichten wird, weil wir Ergebnisse brauchen, und weil dies und weil das.

– Capisco. Aber Walle wird die Fall abschließen, ich weiß das.

– Erst einmal lösen, mein Freund, dann abschließen. Zurzeit ist noch alles offen, fast alles.

Troller atmete tief ein, da war viel Feuchtigkeit in der Luft. Neuerdings fühlte sich die Schwerkraft anders an, als hätte er an Gewicht zugelegt. Er aber wusste, dass das nicht stimmte, hatte sich, obschon er das sonst nie tat, vergangenes Wochenende im Hotel auf eine Waage gestellt. Er war nicht schwerer geworden. Dennoch schien es Walle so, als werde er stärker zu Boden gedrückt. Neuerdings? Jeder Schritt fiel ins Gewicht. Sein Atem ging merklich schwerer. Auch der Speichelfluss hatte sich verändert. Kaum hatte er die Zähne geputzt, hatte sich wieder ein Belag gebildet. Pelz im Mund. Oder Pilze? Hatte er inwendig zu schimmeln begonnen?

Deswegen aber würde er, Walle Troller, nicht zum Arzt gehen. Zu viel Selbstwahrnehmung schadete, hatte ihn bei der Scheidung fast den Verstand gekostet. Das sollte ihm eine Lehre sein. Eine kaputte Liebe ließ sich aber nicht so einfach ausblenden, Selbstermahnungen halfen da wenig. Wer sich ein dickes Fell zugelegt hat, darf sich über ein pelziges Gefühl im Mund nicht wundern. Und dass er neuerdings träumte, aus seinen Augen liefe Blut statt Tränen, und das immer dann, wenn er sich im Spiegel anschaute …

Was er sich dazu auch immer ein- oder ausreden wollte, es beruhigte Walle nicht. Da verschoben sich Gewichte, unabsehbare Verrückungen, die keine Hotelwaage anzuzeigen in der Lage war. Von Traumdeutung indes hielt ein Troller noch weniger als von der Schulmedizin. Er war mit seinen einundfünfzig Jahren definitiv in der zweiten Halbzeit angelangt, genau genommen im letzten Drittel. Das war es vielleicht. Vielleicht war es nur das Alter. Perlini hatte Unrecht, er, der Hauptkommissar, hatte sich verändert; eigentlich hatte sich alles verändert in den letzten zwei, drei Jahren.

– Du glaubst nicht an Selbstmord, siccuramente? Ich sehe deine Gesicht.

Troller griff sich unwillkürlich mit der Hand unter die Mütze und zog sie schließlich vom Kopf.

– Und du, Cesare, glaubst du an Selbstmord?

 

Jette saß mit Shirin und Wolfgang Markowitsch, dem Kollegen von der Sitte, am Sitzungstisch. Auch der junge Katterer hatte sich dazugesellt, allerdings ohne Einladung. Shirin schien noch nicht ganz da, ließ den Teebeutel in der Tasse kreisen und bespielte ihr Phönchen.

– Okay, Leute. Wir haben heut früh Frieda am Kraftwerk Nord aus dem Wasser gefischt. Todesursache ungeklärt. Frieda war früher, noch bis vor knapp zwei Jahren, Friedrich Aufderhalden, Schweizer Staatsbürger, das noch immer, der sich aber schon vor langer Zeit hier in der Stadt niedergelassen hat und sich vorzugsweise in zwielichtigen Kreisen bewegt … bewegte. Kollege Markowitsch wird dazu gleich mehr sagen. Wie ihr wisst, führte Frieda die letzten Jahre die Rote Laterne – nach dem Wechsel. Wie ich herausfand, ist die Kneipe Teil einer KG, der die Liegenschaft gehört; die Liste der Kommandit-Gesellschafter habe ich angefordert. Der Befund der Pathologie steht – selbstredend – noch aus. Ein Selbstmord ist also nicht ausgeschlossen, noch nicht. Staatsanwalt Häusermann hat aber angeordnet, dass wir Ermittlungen aufnehmen sollen, ihr wisst schon: in alle Richtungen.

– Häusermann, geh du voran!

– Danke, Shirin, ein wertvoller Beitrag. Doch hören wir, was uns Wolfgang zu berichten hat.

Markowitsch war der dienstälteste Kollege auf dem Revier, er hatte alle Abteilungen durchlaufen, teilweise mehrfach, und stand kurz vor der Pensionierung. Er wusste alles, vor allem konnte er Geschichten erzählen, die sich noch vor dem digitalen Zeitalter zugetragen hatten, und war deswegen weit wertvoller als jeder Computer. Zwei Schwächen indes hatte der Mann: Zum einen konnte er sich nicht kurzfassen, sodass Shirin sich erneut dem Teebeutel zuwandte, Jette in Gedanken ins kommende Wochenende abschweifte und lediglich Hans Georg Katterer in regelmäßigen Abständen das Erzählte mit einem interessierten Gesichtsausdruck zu quittieren versuchte, was hinwiederum gar nicht so leicht war, denn zum andern stotterte der Kollege von der Sitte, was eigentlich von seinen Zuhörern eine erhöhte Aufmerksamkeit erforderte, wollte man seinerseits mit dem Zunicken nicht ebenfalls ins Stolpern geraten.

Das Wichtigste blieb gleichwohl allen haften: Friedrich Aufderhalden war in der Vergangenheit Stammkunde auf dem Polizeiposten gewesen, seine Akteneinträge waren rekordverdächtig. Erstaunlich daran war, dass man ihn nie richtig zu fassen bekommen hatte. Aufderhalden habe den Beinamen »Schweizer Aal« gehabt, der »glitschige Fritz«, der wahlweise mit wasserstoffblondem oder blau gefärbtem Haar vernommen worden war.

– Sssssssss-sooo viel Gel, wie der in sein Ha-Ha-Haar strich, der muss wohl Aktien bei W-W-W …Wella gehabt haben!

Eine Zeitlang soll er Informant für das BKA gewesen sein. Auch dieses Gerücht, führte Markowitsch mit einigen Zusatzschlaufen und weiteren Plattitüden aus, sei allerdings nie bestätigt worden. Zunächst stand der umtriebige Eidgenosse im Verdacht, der RAF wegen nach Deutschland gekommen zu sein, dann fand man ihn in der Antiatomkraft-Bewegung wieder; ein Linker, ein Alternativer, der in unterschiedlichen Milieus aktiv gewesen, a-a-a-a-ber nie radioaktiv, nie straffällig geworden sei. Wie Aufderhalden sein Geld verdient habe, sei ein Rätsel geblieben. Irgendwann sei man zum Schluss gekommen, der Mann müsse von Haus aus vermögend sein, ein waschechter Paradeplatzschweizer eben.

Markowitsch hatte noch dies und das erzählt, konnte aber über die jüngste Geschichte nichts berichten, da die Rote Laterne seit der Schließung als Puff vor gut drei Jahren nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Sitte fiel. Wolfgangs Bericht bezog sich allein auf Friedrich, wenngleich auch ihm die Travestie des merkwürdigen Mannes nicht entgangen war. So schloss der Kollege denn auch mit den Worten:

– Er möge in F-F-Frieda ruhen.

Der erhoffte Applaus blieb zwar aus, doch hatte Markowitsch immerhin die Aufmerksamkeit am Tisch wiederhergestellt, ein leises Schmunzeln von Shirin erfreut zur Kenntnis genommen und auch das Nicken der Kommissarin. So ließ er sich mit vergleichsweise geringem Aufwand, einem Dankeschön inklusive Schulterklopfen, aus dem Sitzungszimmer hinauskomplimentieren.

– Shirin, das private Umfeld, ja? Ich bin daran gescheitert. Nimm Kontakt mit den Schweizer Behörden auf. Frag deine Leute. Ich will etwas über die engsten Vertrauten von Frieda erfahren und auch, ob wir nicht doch jemand über sein – pardon – ihr Ableben zu informieren haben.

– Meine Leute?!

– Jetzt tu nicht so. Wenn du dir schon keinen Schlaf gönnst, dann spar dir wenigstens die Empfindlichkeiten.

Jette bereute im selben Augenblick, was sie gesagt hatte. Shirin war stolz auf ihre türkischen Wurzeln und verfügte deswegen über Kontakte, die sich für so manche Ermittlung schon als wertvoll erwiesen hatten. Warum hatte sie die Kollegin angefahren? Die Empfindlichkeiten lagen wohl eher auf ihrer Seite. Seit dem Fund der Leiche war sie ihr Unwohlsein nicht mehr losgeworden. Der Gedanke, dass es womöglich kein Selbstmord war, schlug ihr aufs Gemüt.

– Und das Geschäftliche, wie immer. Auch wenn uns Markowitschs Äußerungen wenig Hoffnung machen, das sollte dich reizen, oder? Finde heraus, wie F-F-Friedas Zah-ah-ah-ahlen aussehen … Entschuldigung. Die Unterlagen zur KG sind vielleicht schon bei dir eingetroffen. Äh, Michel, was machst du eigentlich hier?

– Hat dich Häusermann nicht informiert? Ich bin euch neu zugeteilt, auf Probe.

Die Kommissarin wusste das, hatte diesen Umstand verdrängt. Anordnungen des Staatsanwalts waren zwar stets unmissverständlich, was aber an der Fragwürdigkeit so mancher Weisung nichts änderte. Kein guter Morgen, schoss es ihr durch den Kopf, kein guter Anfang. F-F-Fuck Frieda! Und Jette atmete ruhig aus. Reiß dich zusammen, vernahm sie nun doch ihre innere Stimme. Sammle dich, Mädchen! Troller und sie hatten im Umgang mit Staatsanwalt Häusermann ihre eigene Strategie entwickelt. So tun, wie wenn …, sich später auf Missverständnisse berufen, andere Prioritäten vorschieben oder sich kleinmütig geben, im Notfall unterwürfig, spätestens dann lenkte Anatol Häusermann ein und markierte den verständnisvollen Chef. Und von wegen Beuteschema, dieser Katterer war im Gegensatz zu ihrem Noah ein Milchbubi, mit so etwas würde sie nicht einmal spielen …

– Und übrigens, ich heiße Hans Georg.

– Na dann, Kollege Hans G-Punkt, wir wollen Licht auf die Bühne bringen. Ich will wissen, was es mit dieser Verkleidung auf sich hat. Mach dich schlau. Vielleicht war Frieda-Friedrich in medizinischer Obhut, psychologisch betreut und oder physiologisch. Womöglich hat sie Psychopharmaka oder auch Hormone zu sich genommen, weiß der Geier, was trieb diesen dubiosen Mann zum Frausein … und vielleicht in den Selbstmord? Klar?

 

Als die beiden das Sitzungszimmer verlassen hatten, fiel auch bei Jette der Groschen. Katterer naschte bereits an Shirin, da hatte es ein Vorspiel gegeben, schon bevor der stramme Junge in ihr Team befördert worden war. Sie hatte den beiden also eben eine Freude gemacht, indem sie ihnen denselben Auftrag in anderen Worten gegeben hatte: sich so und anders näher mit Frieda zu beschäftigen.

Gute Zusammenarbeit trägt immer Früchte, so dachte sie, sinnstiftend, und dachte zugleich an Troller und daran, was sie selbst nun als Nächstes tun sollte.

 

 

 

 

3

 

 

Troller schlenderte den Uferweg entlang weiter flussabwärts. Er zog die Visitenkarte hervor, die ihm Cesare beim Abschied zugesteckt hatte: »Salvatore Perlini, Fleisch vom Feinsten«. Aus dem gescheiterten Fußballprofi war ein Großverteiler von Würsten, Schnitzeln und Lammkeulen geworden. Wie doch die Zeit verging. Walle hatte noch den Teenager vor Augen, wie er im Trikot der AS Roma das Treppenhaus hinunterhastete. Er hatte durchaus Ambitionen gehabt, der Junge des Hausmeisters, doch ein zu schwaches Knie. Jahre später noch konnte Cesare bedauern, dass Totti einer wie Salvatore bei den Giallorossi fehlte, von der Squadra azzurra ganz zu schweigen. Salvatore musste inzwischen bald vierzig sein, ein erfolgreicher Großmetzger, wenn Troller Cesares Worten Glauben schenken wollte.

Die Visitenkarte machte Eindruck. Salvatore Perlini war nicht nur Auslieferer, er war der Chef der Firma …, der persönlich einmal die Woche die Rote Laterne belieferte. Vielleicht kann dir Salvatore weiterhelfen, ruf ihn an, hatte Cesare noch gesagt. Und das würde der Hauptkommissar auch tun, allein schon, um das Bild, das er von Perlini junior hatte, auf den aktuellen Stand zu bringen.

War Frieda hier entlanggegangen? Auf der Suche nach einer geeigneten Einstiegsstelle? Irgendwie musste Frieda von der Roten Laterne zum andern Ende am Stauwehr gelangt sein. Und wenn er diesen Weg freiwillig eingeschlagen hatte und dies auch noch nachts, so musste sie feste Kleider getragen haben, eine dicke Jacke oder einen Mantel. Auch eine Selbstmörderin will nicht schon auf dem Weg zum Tatort erfrieren. Er würde bei den Kollegen nachfragen. Vielleicht fände sich auf dem Weg noch ein entsprechendes Kleidungsstück. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie die Klamotten fein säuberlich zusammengelegt bei der Einstiegsstelle auffänden. Selbstmörder, die das Wasser wählen, handeln nicht spontan, das wusste Troller. Vielmehr planten sie ihren Abgang minutiös, regelten die Dinge zu Hause, manche kündigten gar ihren Job, brachten den Hund ins Tierheim, und ausschließlich alle schrieben sie einen Abschiedsbrief, oder fast alle.

Wer ins Wasser geht, hinterlässt keine Unordnung. Wenn die Leiche aber lediglich in diesem Gewässer entsorgt worden war, befand sie sich davor aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Kofferraum und war zum Fluss gefahren worden.

Mit oder ohne Wagen, selbstbestimmt oder fremdbestimmt … Hauptkommissar Troller spielte die Szenarien durch, den Blick auf die Uferböschung gerichtet. Die Schwerkraft zerrte nun nicht mehr so sehr an ihm, er ging aufrecht, beinahe unbeschwert, sog die frische Luft ein, und ihm war, als öffnete er an diesem Tag die Augen ein erstes Mal. Er würde vorwärts gehen, weitersehen, noch war nicht aller Tage Abend, noch war er, Walle Troller, in Jedastedt der Hauptkommissar.

Das Flussbett war an der Stelle, an der sich Troller jetzt befand, schmaler, die Strömung stärker, auch wegen des Zuflusses zweier kleiner Bäche weiter oben. Ihm stieg der Geruch von Fäulnis in die Nase. Vielleicht ein Abwasserkanal in der Nähe, ging es Walle durch den Kopf, unterhalb des Wasserspiegels, und er verließ den Kiesweg, denn das Schilf stand günstig, und es war höchste Zeit, dem Druck nachzugeben.

Hier würde wohl ein menschlicher Körper abgetrieben werden, nach einer geeigneten Einstiegs- oder Entsorgungsstelle suchte Troller indes vergebens. Enten vergnügten sich im Wasser, am Ufer hielt ein Reiher stoisch Ausschau, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Selbst wenn er eine Tüte altes Brot dabeigehabt hätte, die hiesigen Bewohner würden ihm nicht weiterhelfen. Jeder Friede ist labil, das wusste Walle: Wirst du einer Idylle gewahr, sei auf der Hut. Und er ließ einen fahren. Eben noch war dem Hauptkommissar ein roter Stofffetzen auf der gegenüberliegenden Uferseite aufgefallen, da meldete sich der Frosch an seiner Brust erneut.

– Angie, das ging aber fix! Und? Wer war’s?

– Niemand war’s, hoffentlich, du Komiker. Wo steckst du?

– Gehe den Fluss entlang, grad ziemlich entspannt, bin kurz vor der Eisenbahnbrücke, und du?

– Rate mal.

– Entschuldige. Aber sag, was hatte Frieda an, als ihr sie heut früh aus dem Wasser gezogen habt?

– Verstehe. Aber nein, ich kam zu spät, die hatten den Sack schon bis zum Kinn zugemacht. Soll ich nachfragen?

– Bitte tu das, eilt aber nicht. Und Häusermann?

– Wenn Mord, dann Pressekonferenz.

– Wären unsere Verbrecher nur auch so berechenbar wie der Herr Staatsanwalt. Und? War’s Mord?

– Ich hab ein ungutes Gefühl. Gerda wird frühestens am Nachmittag für Gewissheit sorgen. Hör zu, ich habe den Koch ausfindig gemacht. Der wusste von nichts. Hab ihn aber überzeugt, die Kneipe wie üblich zu öffnen.

– Kluges Mädchen.

– Er wird um zehn dort sein. Die Bedienung ebenfalls.

– Wie auch wir dort eintreffen werden.

– Korrekt.

– Ich geh noch bis zur Eisenbahnbrücke und kehre dann um. Kannst du bitte Peer herschicken, damit er den Abschnitt von der Brücke bis zum Stauwehr unter die Lupe nimmt? Vielleicht findet er noch das Kleiderbündel.

– Troller!

– Was, mein Engel?

– Peer gehört zu jenen Menschen, die ihren Urlaub wirklich antreten. Schon vergessen? Der hockt seit einer Woche mit seiner Liebsten bei den Schwiegereltern in Den Haag.

– Seit einer Woche? … Ja –.

– Bitte streng dich nicht an: Ja, das geht. Aber wir haben Verstärkung zugeteilt bekommen.

– Stimmt! Der Michel, nicht wahr? Auch gut, schick den Michel her.

– Halt dich jetzt mal lieber ran, alter Mann, sonst triffst du noch zu spät in der Roten Laterne ein.

– Ja, Schatz.

In der Zwischenzeit hatte sich der rote Stofffetzen als kaputter Regenschirm zu erkennen gegeben. Troller warf noch einen Blick auf das Display und stellte fest, dass ihn zuvor, als er noch mit dem alten Perlini unterwegs gewesen war, nicht Häusermann, sondern seine Tochter angerufen hatte, und er aktivierte die Sprachbox.

Mit Heikes Stimme im Ohr schlenderte Walle der Eisenbahnbrücke entgegen, ein Schnellzug überquerte den Fluss, und er stellte sich vor, wie Frieda tot oder lebendig aus einem der Zugfenster flog. Troller ersetzte das Zugfenster durch einen offenen Güterwaggon, doch auch auf diese Weise war Aufderhalden kaum ins Wasser gelangt. Und er lächelte, allerdings mehr der Worte seiner Tochter wegen, die er vergangenes Wochenende in Konstanz besucht hatte.