Inhaltsverzeichnis

Originaltitel: Hantō o deyo II

© 2005 by Ryū Murakami

All rights reserved

 

 

 

In Liebe, Dein Vaterland wurde 2005 in Japan

in zwei separaten Bänden veröffentlicht.

Band 1 der deutschen Ausgabe trägt den Untertitel:

I: Der Invasion

ISBN E-Book: 978-3-903061-63-7

ISBN Hardcover: 978-3-902711-76-2

 

 

© 2019, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-903061-67-5

 

Lektorat: Zeus E. Jungrecht

Cover: Jürgen Schütz

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-80-9

 

 

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Ryu Murakami

Jahrgang 1952, ist neben seiner Tätigkeit als Filmemacher einer der interessantesten japanischen Schriftsteller der Gegenwart. Mit dem Akutagawa-Preis ist er Inhaber des wichtigsten Japanischen Literaturpreis.

 

Klappentext:

Band II: Der Untergang 

Japan befindet sich in einer dystopischen Gegenwart. Amerika lässt seinen einstigen Verbündeten im Stich und Hunderttausende von Obdachlosen ziehen durch das von einer gigantischen Wirtschaftskrise gebeutelte Land. 
Nordkorea, das seine Beziehungen zu den USA inzwischen verbessert hat, beschließt, die Schwäche des verhassten Nachbarn auszunutzen, und plant eine heimtückische Invasion. Getarnt als aus Nordkorea geflüchtete Dissidenten besetzt eine Einheit aus neun Elite-Soldaten das Baseball-Stadion der japanischen Hafenstadt Fukuoka und nimmt die 30.000 Zuschauer als Geiseln. Während die ohnmächtige japanische Regierung hysterisch sinnlose Maßnahmen ergreift, nimmt in Fukuoka ein absurder Albtraum seinen Lauf. Im Zuge der Geheimoperation »In Liebe, Dein Vaterland« sollen weitere 120.000 Soldaten folgen und den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas verwandeln. 

Ryu Murakami zeichnet in seiner zweiteiligen Dystopie über einen möglichen Einmarsch nordkoreanischer Truppen im friedliebenden Japan eine bitterböse Satire über eine Nation, in der die Schere zwischen Arm und Reich zwar immer größer zu werden scheint, aber Tradition vor Effizienz gestellt wird; und die nordkoreanische Diktatur, die ohne Zweifel Jahrzehnte hinter der westlichen Welt zurückliegt. 

Unparteiisch, furios, zynisch und raffiniert durchdacht. Ein epischer Politthriller von beklemmender Aktualität, wie nur Altmeister Ryu Murakami ihn schreiben kann. 

»Eine phänomenale Meisterleistung der Erzählkunst.«
METRO

»Im Jahr zuvor war Coin Locker Babys von Ryu Murakami erschienen 
und hatte mich stark beeindruckt.«
HARUKI MURAKAMI, IN: VON BERUF SCHRIFTSTELLER(DUMONT)

 

Ryū Murakami

In Liebe, Dein Vaterland

II: DER UNTERGANG

 

Roman | Septime Verlag

 

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

 

 

 

 

Phase Two 5

 

6. April 2011

 

Das Totenschiff

 

 

Noch immer nichts. Mori sah auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. Sechs Minuten nach zwölf Uhr mittags. Felix, der den Polizeifunk abhörte, hatte gesagt, die Koryos seien auf dem Weg nach Odo und würden um zwölf in der alten städtischen Siedlung dort eintreffen. Mori und Toyohara hatten ihre Fahrräder an einem Kobini direkt vor der Atagobashi abgestellt, einer Brücke über den Muromi. Versteckt hinter einem der massiven Betonpfeiler, die die Stadtautobahn A1 stützten, blickten sie in Richtung Yokatopia-Straße. Nicht dass es ihnen jemand aufgetragen hätte, aber Mori, Besitzer eines Fahrrads, hatte einfach von sich aus beschlossen, mal zu gucken. Toyohara war mitgefahren, weil auch er ein Fahrrad hatte und außerdem ein Fernglas, das er so fest umklammert hielt, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren.

Die nordkoreanischen Truppen lagerten vor dem Hochhaushotel Sea Hawk in der Nähe des Fukuoka Domes. Sie nannten sich Expeditionskorps Koryo, aber in Ishiharas Gruppe sprachen alle nur von den »Koryos«. Ando hatte sie zuerst so genannt, und allen hatte dieser Name gefallen. Er hatte einen gewissen Witz.

Mittlerweile hatten die Koryos täglich eine halbstündige Fernsehsendung bei NHK Fukuoka, in der sich eine Moderatorin mit dem »Propaganda- und Führungsoffizier« Jo Su-ryeon unterhielt. Dieser hatte heute angekündigt, dass Unterkünfte für die nachkommenden 120.000 Soldaten auf dem aufgeschütteten Land in Odo und anderen Teilen des westlichen Bezirks errichtet werden sollten. Die Ausschreibungen seien beendet und man könne sofort mit den Bauarbeiten beginnen, die sicherlich eine wirtschaftliche Neubelebung Fukuokas zur Folge haben würden. Jo lächelte. Jede wie auch immer geartete Aggression gegen die Neuankömmlinge würde mit Vergeltungsmaßnahmen in Tokio und anderen japanischen Städten geahndet, fügte er nicht gerade in drohendem, aber doch unmissverständlichem Ton hinzu. Diese Gespräche wurden stets von 8.30 Uhr bis 9.00 Uhr ausgestrahlt, und andere NHK angeschlossene Sender auf Kyūshū waren live zugeschaltet. In den Rundfunkanstalten außerhalb Kyūshūs galt die Sendung jedoch als reine Propaganda, deshalb brachten diese nur Zusammenfassungen in ihren regulären Nachrichten.

Jo berichtete von den Verhaftungen der Volksfeinde, wie es aus Sicht des Expeditionskorps Koryo zu der Schießerei in Daimyō-itchōme und dem Zwischenfall im Ōhori-Park gekommen war und erläuterte die Pläne der Nordkoreaner für die Zukunft. Sie gewährleisteten freien Handel, aber nur unter besonderer Rücksichtnahme auf die arbeitende Bevölkerung. Jo geißelte die andauernde Blockade, die die japanische Regierung über die Bucht von Hakata und somit den Hafen verhängt habe, da sie den so entscheidenden Warenaustausch mit China, Südkorea und Taiwan behindere. Im Übrigen erkläre sich das Expeditionskorps Koryo bereit, UN-Inspektoren und -Beobachter in der besetzten Zone zuzulassen, sobald die Zeit reif sei, und garantiere eine baldige, dem Völkerrecht entsprechende Wiedereröffnung der südkoreanischen, chinesischen, amerikanischen und aller anderen Konsulate unter Gewährung ihrer exterritorialen Rechte. Durch seine Fernsehauftritte wurde Jo Su-ryeon zum prominentesten Mitglied des Expeditionskorps Koryo, und wegen seines guten Aussehens, seiner sonoren Stimme und seiner stets schlüssigen Erklärungen war er besonders bei den japanischen Damen äußerst beliebt. Selbst die NHK-Moderatorin, die man für die Gespräche mit ihm ausgewählt hatte, errötete jedes Mal, wenn er ihr in die Augen sah.

Auch Mori fragte sich, wie jemand, der der gleichen Spezies angehörte wie er, so anders aussehen konnte. Denn mit seiner rundlichen Statur und seinen Pausbacken hatte er große Ähnlichkeit mit einer Eule. Sein Gesicht war so weich und teigig wie ein frisches Brötchen, und Augen, Nase und Mund wirkten wie in diese Masse hineingedrückt. Jo Su-ryeons Wangenknochen hingegen hätten einer griechischen Statue alle Ehre gemacht. Seine Haut spannte sich so glatt und makellos darüber wie Kunststoff. Moris Äuglein lagen tief in ihren Höhlen wie Steinchen im Sand, während Jos schön geformte Augen die Klarheit tiefer stiller Bergseen besaßen.

Die unbewohnten Siedlungen und die verlassene Grundschule in Odo sollten vorläufig als Unterkünfte für die 120.000 Nachhutsoldaten von Koryo dienen. Den Landstreifen im Norden von Odo gab es schon länger, aber im Zuge der Wirtschaftskrise hatte sich die Bewohnerzahl stark vermindert, und einige Jahre zuvor hatte ein Taifun derartige Verwüstungen hinterlassen, dass sich die Siedlung mitsamt Grundschule in eine Geisterstadt verwandelt hatte. Koryo hatte der Stadt Fukuoka das gesamte Gebiet abgekauft und Angebote von Privatunternehmern eingeholt, die Kanalisation sowie die Wasser-, Strom- und Gasversorgung wieder in Stand setzen würden. Die Arbeiten sollten an diesem Nachmittag beginnen, und Mori und Toyohara warteten auf die bevorstehende Ankunft der Bausoldaten von Koryo.

Toyohara nahm die andere Seite der Brücke ins Visier. Er war ein stämmiger Typ mit kurzen Gliedmaßen und kahl geschorenem Kopf, und irgendwie sah es aus, als wüchse ihm das Fernglas aus dem Gesicht. Mori hätte auch gern mal durch den alten deutschen Feldstecher gesehen, aber er wusste nicht, wie er fragen sollte. Mori hatte keine Erfahrung damit, Dinge mit anderen zu teilen. Sein älterer Bruder hatte nie Spielzeug oder Schulsachen mit ihm geteilt. Als dieser ihre Eltern mit einem Küchenmesser niedergestochen hatte, war auch Mori schwer verletzt worden. Anschließend hatte sein Bruder sich selbst getötet, und Mori war in ein staatliches Waisenhaus gekommen, aber auch dort hatten die Kinder ihre Spiel- und Schulsachen nicht geteilt. Alles gehörte den Stärksten oder denen, die sich bei den Betreuern Liebkind machten.

Wenn Mori vor dem Einschlafen oder vor Erschöpfung die Augen schloss, sah er immer wieder die gleichen Szenen aus dem Waisenhaus vor sich. Der Gemeinschaftsraum war voller Kinder, die Videospiele oder mit Bauklötzen spielten, während er selbst allein am Fenster saß und hinausblickte. Auch draußen auf dem Sportplatz saß er allein unter einer Pappel, während die anderen Kinder Frisbee oder Fußball spielten oder Seil sprangen. Irgendetwas hatte Mori stets von Bauklötzen, Videospielen und Fußball ferngehalten, etwas, das schwieriger zu überwinden war als jede räumliche Entfernung. Und wie man sich etwas von jemandem auslieh, gehörte zu den Dingen, von denen er überhaupt nichts verstand.

Toyohara ließ das Fernglas sinken. Seine Hände wirkten blutleer. Er hatte die Angewohnheit, alles mit derart übertriebenem Kraftaufwand festzuhalten, dass seine Finger jedes Mal ganz weiß wurden. Zum Beispiel, wenn er die Griffe seines Fahrradlenkers umklammerte. Als er merkte, dass Mori sein Fernglas betrachtete, huschte sein Blick zwischen ihm und dem Fernglas hin und her. »Das ist ein deutsches Fabrikat«, erklärte er. »Ich weiß«, antwortete Mori, da Toyohara ihn bereits zum vierten Mal über diesen Umstand aufklärte. Es sah nicht aus wie eines dieser modernen kompakten Geräte, die man im Theater oder bei Sportveranstaltungen benutzte. Es hätte zu einem Offizier in einem alten Kriegsfilm gepasst. Die Metallteile glänzten tiefschwarz, aber das lederne Etui war rissig und der Riemen zerschlissen und verfärbt.

Mori war überzeugt, dass sich um das Fernglas eine besondere Geschichte rankte. Er mochte Bücher über historische Ereignisse und Kultur und hatte ein starkes Interesse an Dingen, die alt waren. Deshalb hätte er Toyohara auch gern gefragt, was es mit dem Fernglas auf sich habe, wusste aber nicht, wie er es anstellen sollte. Nicht dass ihm keine konkrete Frage eingefallen wäre, da gab es einige: Es sieht so elegant aus, hast du es von jemandem bekommen? Es scheint sehr alt, aus welcher Zeit es wohl stammt? Wie nah kann man das Sea Hawk dadurch sehen? Doch zugleich brachten ihn sein Interesse und seine vielen Fragen so durcheinander, dass er am Ende überhaupt nichts sagte.

Eigentlich hatte er sich noch nie richtig mit Toyohara unterhalten. An den letzten beiden Tagen hatten sie auf ihren Fahrrädern die Militärpolizei von Koryo verfolgt, unterwegs aber kaum miteinander gesprochen. Dabei war an beiden Tagen eine Menge geschehen, noch dazu ziemlich Fürchterliches. Besonders gestern. Viele Menschen waren ums Leben gekommen, dieser Offizier von Koryo hatte sich selbst in die Luft gejagt, und die Autokanone des Mannschaftstransportwagens hatte vor ihren Augen einen Bus zerfetzt. Dennoch hatten die beiden Jungen den ganzen Tag kaum drei Worte gewechselt. Natürlich hatte es auch an der Aufregung gelegen sowie an den Kugeln, die in nächster Nähe an ihnen vorbeigeschossen waren, aber auch später auf dem Heimweg hatten sie nicht über das Erlebte gesprochen.

Toyohara blickte etwa dreißig Sekunden auf das Fernglas in seiner Hand, dann vierzig Sekunden in Moris Gesicht, dann wieder zwanzig Sekunden auf das Fernglas, bevor er Mori noch einmal dreißig Sekunden nachdenklich anstarrte. Mori hatte den Eindruck, er überlegte, ob er ihm das Fernglas geben wollte, aber nicht wusste wie. Mori war nur 1,65 Meter groß und Toyohara noch einen halben Kopf kleiner, aber seine Schultern waren breit und muskulös und seine Arme und Beine bei all ihrer Kürze ausgesprochen kräftig. Ishihara nannte ihn manchmal sogar »Hulk«, weil es da eine gewisse Ähnlichkeit gab. Überdies hatte Toyohara außergewöhnlich viele Haare, seine Körperbehaarung reichte bis zum zweiten Finger- und Zehenglied. Seine Augenbrauen waren zusammengewachsen. Dafür hatte er ein kleines Babygesicht, aber das fiel kaum auf, weil sein Haaransatz fast bis an die Brauen reichte.

Toyohara hatte als Kind Tuberkulose bekommen und war von seinen Eltern getrennt aufgewachsen. Sie lebten in Tokio, Toyohara schickte man zu seinem Großvater väterlicherseits in die Präfektur Saga südwestlich von Fukuoka, wo dieser Postvorsteher in einem Provinzstädtchen war. Der Großvater, ein Abkömmling des berühmten Samurai-Clans Nabeshima, war sehr stolz auf diese Abkunft und erzog seinen Enkel mit äußerster Strenge. Toyohara musste Kendō lernen und wurde dabei einmal mit einem Holzschwert ziemlich schwer am Kopf verletzt. In der sechsten Klasse sah er die Zeichentrickserie Marco, in der ein kleiner Junge 3.000 Meilen weit reist, um seine Mutter zu finden. Er beschloss, sich ebenfalls auf den Weg zu seiner Mutter zu machen, und bestieg mit einer Bahnsteigkarte einen Hochgeschwindigkeitszug nach Tokio, wurde aber gleich erwischt. Am nächsten Tag stieg er bewaffnet mit dem japanischen Schwert seines Großvaters erneut in den Shinkansen, entführte den Zug und tötete den ersten Schaffner, der ihn zu überwältigen versuchte. Anschließend versuchte er, die Leiche zu enthaupten, denn sein Großvater hatte ihm eingeschärft, man müsse einem Feind, nachdem man ihn getötet habe, den Kopf abschlagen, ihn in die Höhe halten und seinen Sieg verkünden. Toyohara verehrte seinen Großvater, den er Opapa nannte, und fürchtete ihn zugleich. Er war überzeugt, sein Opapa würde ihn für die Enthauptung des Schaffners loben, aber dieser hatte seither nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen. Toyohara begriff nicht, warum die Geschichten aus der Zeit der Streitenden Reiche, die sein Großvater ihm erzählt hatte, nicht auch in die moderne Zeit passten. Warum sollte etwas, das vor fünfhundert Jahren Gültigkeit besessen hatte, heutzutage schlecht sein? Ebenso wenig verstand der Junge, warum etwas in einer Schlacht als heldenmütig galt, im gesellschaftlichen Leben jedoch als Verbrechen. Als Toyohara sich der Gruppe anschloss, hatte er Ishihara eines der wertvollsten Schwerter aus der Sammlung seines Großvaters zu Füßen gelegt.

Die beiden Jungen beobachteten weiter die Yokatopia-Straße. Der Himmel war bewölkt. Obwohl der Wetterbericht einen auch für Anfang April ungewöhnlich kühlen, windigen Tag angekündigt hatte, trug Toyohara nur ein buntes Hawaiihemd, Baumwollshorts und Flip-Flops. Das Hemd war mit roten, gelben und grünen Totenschädeln bedruckt, und er hatte es wegen seiner breiten Schultern so groß gekauft, dass es ihm bis zu den Knien reichte und aussah wie ein Babydoll, weil es seine Shorts verdeckte. Toyohara trug meistens auch im Winter kurze Hosen und Flip-Flops. Vielleicht war seine Körpertemperatur höher als bei normalen Menschen. Mori hatte ein blaues Hemd ebenfalls in Übergröße an, zu weite Jeans und eine schwarze Nylonjacke, die ihm viel zu klein war. Er hatte sie für 3.000 Yen in einem Outlet in Kashii erstanden, aber leider hatte es nur Medium gegeben, sodass er nicht einmal den Reißverschluss zubekam. Er hatte sie trotzdem gekauft, weil der Verkäufer behauptete, sie stehe ihm gut. Die anderen Kunden machten einen weiten Bogen um Toyohara und Mori.

Aus der Ferne ertönten Rotoren und bald kreiste ein Hubschrauber mit der Aufschrift nhk fukuoka über dem Hotel Sea Hawk. Das Expeditionskorps Koryo hatte verkündet, jeden Hubschrauber abzuschießen, der das Hotel oder ihr Lager überflöge, außer die von NHK oder der Zeitung Nishi Nippon Shimbun. »Da kommen sie«, sagte Toyohara und verstaute sein Fernglas im Etui. Sämtliche Wagen fuhren zur Seite und bildeten eine breite Gasse. Die Fahrbahn, die voller Autos jeglicher Größe und Farbe gewesen war, war plötzlich in beide Richtungen frei. Sobald die Panzerfahrzeuge von Koryo auftauchten, lag so etwas wie elektrische Spannung in der Luft. Mori liebte diesen Augenblick. Ein mit zwei Maschinengewehren ausgerüsteter Mannschaftstransportwagen kam von links um die Kurve, gefolgt von einem Minibus und einem weiteren MAW. Der NHK-Hubschrauber schwebte in beträchtlicher Entfernung über der Straße.

Toyohara schob sein Fahrrad vom Parkplatz und stieg auf. Es war ein Damenrad ohne Querstange mit einem Korb auf dem Lenker, dennoch war der Sitz zu hoch für seine kurzen Beine, sodass er im Stehen fahren musste. Das Fahrrad schwankte hin und her, während er beschleunigte. Auch Mori stieg auf. Er hätte sich die Fahrzeuge gern aus der Nähe angesehen, aber es war klüger, sich zu verziehen, bevor die Koryos die Wohnsiedlung erreichten, die nicht weit weg von den Lagerhäusern lag, die die Ishihara-Gruppe besetzt hielt. Außerdem würde Takei heute die Waffen verteilen. Zu diesem Zweck sollten sie sich am Nachmittag in Ishiharas Wohnzimmer in Haus C versammeln. Was für eine Waffe er wohl bekommen würde?

Takei hatte die Waffen im Keller von Haus G versteckt, von wo er sie in der Nacht mithilfe von Mori, Yamada, Tateno und Hino in Haus C gebracht hatte. Haus G war immer verschlossen. Takei war kurzsichtig, weitsichtig und hatte einen Astigmatismus, außerdem gab es an der Tür kein Licht und er brauchte ewig, um das Schlüsselloch zu finden, dennoch überließ Takei seinen Schlüssel nie jemand anderem. In Haus G, ehemals ein Textillager, roch es nach Staub und alten Stoffen. Sobald man auf den Boden trat, wirbelten Wolken von Stoffpartikeln auf, gegen die Hino offenbar allergisch war. Er schnaufte und schnupfte und musste immer wieder niesen.

Die Waffen waren in einem etwa dreißig Quadratmeter großen Raum ganz hinten im Keller verstaut. Es war stockdunkel, bis Kaneshiro seine Taschenlampe einschaltete. An der hinteren Wand stapelten sich einige billige Koffer. Mori und Yamada hievten einen herunter, legten ihn auf den Boden, Takei öffnete ihn und beugte sich erwartungsvoll darüber. »Da, seht!«, sagte er. In dem Koffer waren drei lange flache Metallkoffer und fünf Wachspapierpakete, jeweils von der Größe eines gebundenen Buches. Takei hob einen der Koffer auf seine Knie und öffnete den Deckel. Ein Gewehr mit silbrig schimmerndem Griff und Lauf kam zum Vorschein. Der Abzug und die anderen beweglichen Teile waren aus schwarzem Stahl. Mori stockte der Atem. Es war das erste Mal, dass er ein echtes Gewehr aus der Nähe sah. »Boah!« Yamada entblößte seine Hasenzähne. »Wie schön«, flüsterte Tateno und wollte es streicheln, aber Takei versetzte ihm einen Klaps auf die Hand. »Kommt, schnell, wir tragen sie raus«, sagte Kaneshiro, aber Takei nahm das Gewehr in die Hand. »Das ist eine Dragunow«, murmelte er verzückt, worauf er Kaneshiro, Yamada, Hino und Mori im Licht seines Smartphones der Reihe nach ansah und grinste wie die Katze in Alice im Wunderland. Dabei zog er die Mundwinkel immer mehr in die Höhe, sodass sein Mund schließlich aussah wie ein Halbmond.

»Das ist das legendäre Scharfschützengewehr Dragunow«, wiederholte Takei, noch immer lächelnd. Er hatte sich die Haare braun gefärbt, aber es hieß, er werde dieses Jahr achtundvierzig. Sein Gesicht war in keiner Weise markant, es wirkte irgendwie leer und hinterließ keinen Eindruck. Wenn er an einer Wand, gleich welcher Farbe, stand, schien er einfach damit zu verschmelzen, bis er schließlich verschwunden war. Nicht dass er hässlich gewesen wäre, aber weder seine Gestalt noch sein Gesicht hatten klar erkennbare Umrisse. Takei hätte die Dragunow am liebsten an Ort und Stelle geladen und das Zielfernrohr montiert, aber Kaneshiro hielt ihn davon ab. Dazu hätten sie jetzt keine Zeit. Takei, Kaneshiro und Mori trugen die drei flachen Metallkoffer, während Hino und Yamada die Wachspapierpakete nahmen.

 

Nachdem Mori eine Zeit lang sehr schnell den Bürgersteig der Yokatopia entlanggefahren war, erreichte er den Wohnbezirk Toyama. Auf der anderen Straßenseite tauchte die Grundschule auf. Die Kinder hatten Mittagspause, dennoch läutete es unvermittelt, sodass Mori sich an seine Schulzeit erinnert fühlte, und die Schüler wurden über Lautsprecher aufgefordert, unverzüglich ihre Klassenräume aufzusuchen. Das nostalgische Läuten erschien ihm fehl am Platz inmitten der Aufregung, die die Mannschaftstransportwagen hervorriefen. Die meisten Kinder kehrten folgsam in ihre Klassenzimmer zurück, einige Neugierige rannten jedoch zum Schultor, um sich die Panzerwagen anzusehen. Diese Wagen sah man jetzt häufig, und die Bürger hatten sich an den Anblick gewöhnt. Niemand lief beim Geräusch ihrer Dieselmotoren mehr davon.

Am Tag zuvor war es im Ōhori-Park zu einer Schießerei gekommen, bei der zahlreiche Menschen getötet worden waren. Die Szenen waren immer wieder im Fernsehen zu sehen gewesen. Da NHK aus der Vogelperspektive gedreht hatte, war der Eindruck, den diese Aufnahmen vermittelten, ein ganz anderer als der, den Mori am Schauplatz des Geschehens aus nächster Nähe erhalten hatte – Köpfe, Arme und Beine waren durch die Luft geflogen, und ein Kind war von Kugeln zerfetzt worden. Das allgemeine Entsetzen war groß, denn niemand hatte bisher gesehen, wie japanische Bürger von Maschinengewehren niedergemäht wurden, wenn man von Dokumentationen über den Krieg einmal absah, der immerhin über ein halbes Jahrhundert zurücklag. Trotz allem hatten die städtischen Behörden nach dem Vorfall im Park keinerlei konkrete Anweisungen oder Bekanntmachungen herausgegeben, ja, nicht einmal davor gewarnt, sich den Fahrzeugen des Expeditionskorps Koryo zu nähern. Es hieß nur lapidar, man solle potenziell gefährliche Orte vermeiden, ohne dass überhaupt der Name des Expeditionskorps erwähnt wurde. Auch bei der Durchsage im Schulhof wurde nicht gesagt, die Kinder sollten in ihre Klassenzimmer zurückkehren, weil ein Trupp von Koryo im Anmarsch sei. Fürchtete man, eine solche Warnung könnte als feindselige Gesinnung gedeutet werden?

Zaungäste sammelten sich entlang der Straße, um die Durchfahrt des Mannschaftstransportwagens von Koryo zu beobachten. Angestellte und Kunden stürzten aus dem Convenience Store, dem Spirituosengeschäft, dem Reisladen und der Post, um nichts zu verpassen. Man rauchte, trank Saft aus Dosen und diskutierte aufgeregt mit seinen Bekannten. Schaulustige säumten die Straße wie bei einem Festumzug oder einem Marathonlauf. Niemand schien sich zu fürchten, obwohl sich erst gestern im Ōhori-Park eine Tragödie abgespielt hatte, bei der Menschen erschossen worden waren. Was vielleicht an einem Gewöhnungseffekt lag, da die Bürger von Fukuoka die Vorgänge immer wieder in den Nachrichten gesehen hatten und genauestens Bescheid wussten.

Am gestrigen Nachmittag gegen eins hatten zwei Sonderpolizisten von Koryo und fünf Präfekturpolizisten aus Fukuoka gemeinsam ein Restaurant im Ōhori-Park aufgesucht, um eine Verhaftung vorzunehmen. Kurz darauf kamen Lärm und Schüsse aus dem ersten Stock. Als vier Polizisten von Koryo aus einer anderen Truppe auf das Gebäude zurannten, gerieten sie in einen aus vier Reisebussen auf dem Parkplatz abgefeuerten Kugelhagel. All das wurde von einem NHK-Hubschrauber gefilmt und von einer großen Anzahl von Passanten beobachtet. Die ersten Schüsse waren eindeutig aus den Bussen gekommen, in denen sich ein Sondereinsatzkommando der Präfekturpolizei Osaka versteckt hielt. Ein Koryo-Soldat wurde in den Nacken getroffen, sein Kopf wurde weggerissen, bevor er zusammenbrach. Die übrigen drei suchten Deckung und erwiderten das Feuer mit Maschinenpistolen, worauf die Parkbesucher in Panik in alle Richtungen flohen. Ein Querschläger zertrümmerte die Fenster des Restaurants, sodass die Gäste ins Freie stürzten und genau in die Schusslinie gerieten. Im Restaurant zu bleiben und sich zu ducken, hätte sie möglicherweise gerettet. Doch offenbar wusste in Japan kein Mensch, wie er sich im Fall eines plötzlichen Feuergefechts zu verhalten hatte.

Das Expeditionskorps Koryo gab unverzüglich eine Erklärung zu dem Vorfall ab, in der es »aufs Schärfste« gegen die japanische Regierung und »diesen unverzeihlichen Akt brutaler Aggression« protestierte, der zu schweren Verlusten unter der Zivilbevölkerung und Angehörigen der Polizei Fukuoka sowie ihrer eigenen Truppe geführt habe. Dennoch wolle man dieses eine und letzte Mal von Vergeltungsmaßnahmen absehen. Die sogleich eingetroffene Verstärkung von Koryo hatte die vier Busse mit Autokanonen zerstört und buchstäblich das gesamte Sondereinsatzkommando der Polizei Osaka getötet. Als das SEK das Feuer eröffnete, hatten viele Leute, unter ihnen auch Mori, bei den Koryo-Soldaten Schutz gesucht. Nach diesem Zwischenfall folgten noch mehr Jugendliche den Mannschaftstransportwagen, um bei den Verhaftungen der Volksfeinde zuzusehen. Da Koryo auf einer Pressekonferenz versprochen hatte, keine Zivilisten anzugreifen, solange sie sich nicht feindselig verhielten, hatte der Einsatz des Sondereinsatzkommandos von japanischer Seite die Glaubwürdigkeit der Nordkoreaner ironischerweise nur erhöht.

Die Präfekturpolizei von Osaka erklärte verärgert und zu ihrer Verteidigung, man habe vorgehabt, Offiziere des Expeditionskorps Koryo festzunehmen, um an Informationen zu gelangen. Hätte man den Park zuvor evakuiert, wäre der Gegner gewarnt gewesen. Die unerwartete Ankunft der zweiten Koryo-Truppe habe die Beamten in Gefahr gebracht, man habe feuern müssen, und als unter den Passanten Panik ausbrach, sei die Lage außer Kontrolle geraten. Diese Verlautbarung trug wenig dazu bei, den Zorn der Medien und der Bürger zu besänftigen. Die Leitung der Polizei Osaka, insgesamt über zehn Personen, übernahm die Verantwortung für das Fiasko und trat geschlossen zurück. Die japanische Regierung verurteilte die Aktion als eigenmächtig. Der Chefkabinettssekretär erklärte, die Strategie, einen nordkoreanischen Offizier gefangen zu nehmen, leuchte ihm zwar ein, nicht jedoch die stümperhafte Ausführung des Plans.

Dennoch wollte niemand so recht glauben, dass eine regionale Polizeibehörde eigenmächtig einen Angriff auf das Expeditionskorps Koryo unternahm. Medien und Öffentlichkeit argwöhnten, dass die japanische Regierung von der Aktion gewusst hatte und nun der Polizei die Verantwortung zuschob. Sechsundvierzig Zivilisten waren ums Leben gekommen, darunter sechs Kinder unter zwölf. Es gab vier Verletzte. Die Krankenwagen waren nicht schnell genug vor Ort gewesen, und Menschen, die Schüsse in Bauch, Schultern oder Oberschenkel abbekommen hatten, waren einfach verblutet oder an einem Schock gestorben. Doch weder der Magistrat der Stadt Fukuoka noch die japanische Regierung sprachen von einer Entschädigung für die Opfer.

 

Mori raste in Richtung der Lagerhäuser hinter Toyohara her, der mit aller Kraft in die Pedale trat, sodass sein Hintern hin und her schwankte. Mori hatte eigentlich ein Kinderrad, das aber wegen seiner fünf Gänge recht schnell war. Die beiden Jungen hatten die Räder völlig verrostet in der verlassenen Wohnsiedlung gefunden. Die Ketten waren herausgesprungen und die Reifen fehlten, aber Fukuda, Ando und Felix hatten, handwerklich begabt, wie sie waren, die fehlenden Teile aufgetrieben und ihnen geholfen, die Räder zu reparieren. Überall lagen alte Fahrräder herum. Mori hätte Yamada auch gern eines geschenkt, aber der konnte nicht fahren.

Er war nicht der Einzige. Keiner der fünf Satanisten konnte Rad fahren, ebenso wenig wie Kaneshiro, Takeguchi, Ōkubo, Fukuda, Felix und Hino es konnten. Mori hingegen hatte ungefähr ein halbes Jahr vor der Sache mit seinem Bruder ein Fahrrad von einem Parkplatz gestohlen und sich das Fahren selbst beigebracht. Yamada hatte nie eines besessen und folglich auch nicht gelernt zu fahren. Normalerweise bekam man im Kindergartenalter eines von den Eltern oder Großeltern geschenkt, die dem Kind beibrachten, wie man damit fuhr, indem sie das Fahrrad hinten festhielten, bis das Kind diese Kunst unversehens beherrschte. Mitunter halfen auch ältere Geschwister oder Freunde. Aber Yamada war ohne Familie aufgewachsen, er hatte keine Brüder und auch keine Freunde. Bei den anderen war es genauso. Keiner in Ishiharas Gruppe hatte eine normale Kindheit verbracht und von den Eltern Radfahren oder Schwimmen gelernt oder mit Brüdern oder Freunden Fußball gespielt.

Die Wohnsiedlung Toyohama gehörte zu den ersten Gebieten, die man dem Meer abgerungen hatte, doch nach der Erschließung neuer Viertel waren immer mehr Bewohner abgewandert, sodass die meisten der identischen kleinen Häuser leer standen und verfielen. Bald nach der Schließung des großen Einkaufszentrums war das ganze Viertel völlig heruntergekommen. Zeugnisse des Verfalls säumten Moris Strecke: eine umgestürzte Marienfigur in einem von Unkraut überwucherten Garten, eine alte Frau im Unterrock, die Wäsche aufhängte, ein Haufen leerer Schnapsflaschen in einer Gasse, ein Bambuskäfig ohne Vogel an einer maroden Dachtraufe, ein Familienaltar in einem dämmrigen Raum, sichtbar durch zerbrochene Fenster, eine mit Graffiti und zerrissenen Plakaten bedeckte Betonmauer, eine wie ein riesiges Kondom geformte Propangasflasche in einem Vorgarten, ein magerer Hund an einer kurzen Kette, eine von Ameisen bedeckte zertretene Milchtüte auf einer Schwelle, ein Briefkasten, besprayt mit dem unbeholfenen Bild einer Vagina, Kinder, die sich auf einer Veranda über Mangahefte beugten oder auf einem unbebauten Grundstück Kohlweißlinge jagten oder sich die Mütze eines anderen Kindes zuwarfen und dafür von einer jungen Frau in gelben Sandalen gescholten wurden. All das zog unbeachtet an Mori vorüber, der die zertrümmerten Busse des Sondereinsatzkommandos nicht aus dem Kopf bekam. Bis in die Eingeweide hatte er das Rattern des Maschinengewehrfeuers gespürt. Fantastisch, wenn all das hier genauso zu Bruch ginge. Er ahmte das Geräusch nach – ratatatatat – und stellte sich vor, wie die Schnapsflaschen zerbarsten und der Hund, die Kinder und ihre noch ziemlich junge Mutter zerfetzt würden.

Um abzukürzen, bog Toyohara mehrmals nach links oder rechts ab, weshalb Mori, der weiter geradeaus fuhr, ihn ab und zu aus den Augen verlor. Aber da die Siedlung rechtwinklig angeordnet war, gab es eigentlich keine Abkürzung, und Toyohara tauchte irgendwann wieder vor ihm auf. Wo mochte der Mannschaftstransportwagen sein? Die Koryos fuhren niemals Vollgas, sodass er ihnen bei all ihren Ausfahrten stets mühelos mit dem Fahrrad hatte folgen können. Obwohl kein anderer Wagen sie je behinderte und sie nie halten oder die Geschwindigkeit drosseln mussten, fuhren sie nicht schnell, vermutlich um sich den Straßenverlauf einzuprägen oder unter keinen Umständen einen Unfall zu verursachen.

Die Nordkoreaner schienen überhaupt sehr darauf zu achten, keine Ressentiments bei der Bevölkerung zu schüren. Nicht dass sie Waisenhäuser gestiftet, älteren Bürgern über die Straße geholfen oder Unkraut im Park gejätet hätten, doch beispielsweise achteten sie strikt darauf, ihr Lager sauber zu halten. Außerdem waren sie immer höflich und verstießen nie gegen die guten Sitten. Jo Su-ryeon verbeugte sich zu Anfang und zu Ende jeder seiner Sendungen tief vor seinem Publikum. Die von Koryo festgenommenen »Volksfeinde« waren ausnahmslos wohlhabende und einflussreiche Personen und nicht sonderlich beliebt bei der Allgemeinheit. Außerdem hatte Koryo, noch ehe die städtischen Ambulanzen eintrafen, Verletzte aus dem Ōhori-Park ins Staatliche Krankenhaus Kyūshū transportiert. Die Nordkoreaner hatten auch die Überreste der zerfetzten Leichen eingesammelt, in Plastikplanen verpackt und den Boden und die Gebäude von Blut und Körperteilen gereinigt. Später hatte ein Offizier den Verletzten Blumen ins Krankenhaus gebracht.

Nicht lange vor der Schießerei war es zu einer eindrucksvollen Begegnung zwischen einem narbengesichtigen Koryo-Offizier und einer Gruppe älterer Bürger gekommen, die im Park Zeichnungen anfertigten. Die Szene war befremdlich und berührend zugleich gewesen. Aber sonderbarerweise konnte Mori sie sich nicht mehr bildlich vor Augen rufen, überhaupt waren seine Erinnerungen an die Ereignisse nur bruchstückhaft. Sie tauchten auf und verschwanden, beinahe wie Toyohara, der vor ihm fuhr.

Auf der rechten Seite kam das verrammelte Einkaufszentrum in Sicht. Auf der linken lagen an einem bewaldeten Hang verstreut ein paar Schreine. In der feuchten Erde hinter einem der Schreine sammelte Shinohara gern Futter für die Frösche, Hundertfüßer und Spinnen, die er in seinem Lagerhaus züchtete. Zwischen Krankenhaus und Grundschule war ein Convenience Store, in dem Mori und Yamada häufig etwas kauften, manchmal Sandwiches und Cola, die sie gern mit Blick auf das Meer verzehrten. Auf dem Weg lagen auch eine Mittelschule und der McDonald’s, in dem sich die örtlichen Rocker trafen. Ein Stück weiter hatte man eine schöne Aussicht auf den Ozean.

Mori kannte sich hier so gut aus, dass er sich jede Straße vor Augen rufen konnte. Doch seine Erinnerung an die gestrigen Ereignisse im Ōhori-Park war völlig unzusammenhängend und bestand nur aus sich wiederholenden Flashbacks. So sah er zum Beispiel vor sich, wie sich der Körper eines von einer Gewehrkugel getroffenen alten Mannes in einer grünen Strickjacke zuerst aufblähte und dann zerbarst. Er gehörte der Zeichengruppe an und hatte sich zu Beginn der Schießerei geduckt, beide Arme um den Kopf gelegt und geschrien wie ein kleines Kind. Einer der Koryos war direkt an ihm vorbeigelaufen, um in einem Graben Deckung zu suchen. Ein Geschoss verfehlte ihn knapp und traf den alten Mann in den Rücken. Bevor er zusammenbrach, wölbte sich sein Unterleib für eine Sekunde und platzte dann auf, sodass es Blut und Eingeweide regnete. Als er bei seiner Rückkehr den anderen davon erzählte, erklärte Takei, dies sei die Wirkung einer besonderen Munition. Die Scharfschützen der Sondereinsatzkommandos verwendeten Patronen mit einer weichen Spitze, die beim Aufprall explodierten, die inneren Organe zerfetzten und beim Austritt eine riesige Wunde hinterließen, zehnmal so groß wie die Eintrittswunde. Das Geschoss hatte den alten Mann in der grünen Strickjacke in den Rücken getroffen, war diagonal durch ihn hindurchgegangen und an seinem Unterleib wieder ausgetreten, aus dem sich die mit Kot vermischten zerfetzten Eingeweide dunkelrot ergossen.

 

Toyohara stellte sein Fahrrad am Eingang zu Gebäude C ab und rannte die Treppe hinauf. Mori folgte ihm. Sie schlossen ihre Räder nicht ab. An den verlassenen Lagerhäusern würde sie sowieso niemand klauen. Mori war völlig außer Atem, aber es war kein unangenehmes Gefühl, ebenso wie er keinen Schmerz verspürt hatte, als man ihn im Heim gezwungen hatte, einen Marathon zu laufen. Er hatte zwar Krämpfe bekommen, die er aber nur als leichtes Unbehagen empfunden hatte. Er und Yamada, der auch rennen musste, hatten irgendwann wegen Sauerstoffmangel das Bewusstsein verloren. Der Arzt im Waisenhaus war sehr erstaunt über diesen Verlauf. Beiden Jungen fehlte es offenbar an den Substanzen, die das Schmerzempfinden stimulieren. Um den Grad ihrer Schmerzunempfindlichkeit zu testen, hatten sich Mori und Yamada gegenseitig gewürgt oder sich mit Sicherheitsnadeln in die Haut gestochen, bis die Betreuer und der Arzt sie dabei erwischten und es ihnen verboten. An einigen Körperteilen verspürten sie ein schmerzähnliches Gefühl, zum Beispiel in Kopf und Bauch. Bei Schlafentzug taten ihnen auch die Augen weh. Außerdem konnten sie Hitze und Kälte unterscheiden. Der Arzt sagte, es handle sich nicht um einen erblichen Gendefekt, vielmehr sei die Ursache für diesen Zustand vermutlich psychischer Natur. Bis irgendetwas die Produktion der nötigen Substanzen wieder anrege, sollten sich die beiden Jungen besonders vor Schnittwunden hüten, da sich diese infizieren konnten.

In Ishiharas Wohnzimmer hatten sich bereits alle versammelt. Es herrschte allgemeine Aufregung, weil die Waffen verteilt werden sollten. Ishihara saß in seinem Schaukelstuhl und betrachtete mit schläfriger Miene einen alten Band mit Aktfotos von einer früheren Pornodarstellerin. Kaneshiro, Fukuda und Takeguchi standen in der Mitte des Raums. Fukuda und Takeguchi hatten offenbar gerade eine ganze Batterie neuer Bomben hergestellt, die sie als Cookies bezeichneten. Mori wurde von Yamada begrüßt, der zu seiner schwarzen Brille und seinem Bürstenschnitt eine beige Jacke, eine cremefarbene Baumwollhose und ein pinkfarbenes T-Shirt trug. Die schwarzen Lederstiefel hatte er ausgezogen, um den Teppich nicht zu beschmutzen. Darauf legte Ishihara großen Wert.

Yamada jobbte an der Rezeption eines Love Hotels, in einem Massagesalon oder einer Sauna. Trotz der schwierigen Wirtschaftslage fand er immer etwas. Einmal hatte Mori einen Massagesalon besucht, in dem Yamada arbeitete, weil dieser ihm eine kostenlose Behandlung versprochen hatte. Es war zehn Minuten vor Geschäftsschluss und am Empfang nichts von Yamada zu sehen. Er sagte der nicht mehr ganz jungen Chinesin dort, er sei ein Freund von Yamada, woraufhin sie ihn in einen kleinen Raum mit gedämpftem Licht führte, in dem unter anderem ein von einem Vorhang umgebenes Bett Platz hatte. Dort lag Yamada, nackt und vollständig eingeölt. Im Schein einer kleinen roten Glühbirne glänzte sein Rücken rötlich. »Super, du bist wirklich gekommen«, sagte er, als er Mori bemerkte, und entblößte seine Hasenzähne. Von seinem verdienten Geld kaufte sich Yamada drei Anzüge, alle beige. Einer sei italienisch, behauptete er, aber in Wirklichkeit war er in Honduras hergestellt worden. Mori hatte hin und wieder einen Job als Lagerarbeiter oder lief als lebendes Werbeplakat durch die Straßen. Mitunter half er auch in einem Buchladen aus. Das gefiel ihm am besten, weil er so billiger an Bücher kam.

 

Toyohara berichtete, dass in Kürze zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Panzerfahrzeuge von Koryo in dem aufgeschütteten Gebiet von Odo eintreffen würden. Auf dem Fernsehschirm in Ishiharas Wohnzimmer waren die beiden Wagen bereits zu sehen. »Also habt ihr euch wieder mit den Rädern rumgetrieben, du und Mori?«, fragte Ishihara. Toyohara nickte. Die anderen musterten die beiden ohne Neugier. Niemand hatte Interesse an dem gezeigt, was Mori und Toyohara am Tag zuvor gesehen und gehört hatten. Niemand hatte nachgefragt, was sich im Ōhori-Park tatsächlich abgespielt hatte.

Mori hatte Yamada zwar davon berichtet, aber der hatte kaum reagiert. Und wenn schon, schien er zu denken. Natürlich war Mori nicht gerade ein guter Erzähler, außerdem waren die Ereignisse immer wieder im Fernsehen gezeigt worden. Yamadas Reaktion war ihm nicht unverständlich. Er kannte diese Haltung von sich selbst. Wahrscheinlich konnte sein Freund einfach nicht mit anderen teilen, was ihn bewegte. Wenn Kinder etwas Schönes oder etwas Trauriges erleben, einen Film, ein Bilderbuch oder eine Landschaft betrachten, sind sie beeindruckt und haben das Bedürfnis, ihren Geschwistern oder Freunden davon zu erzählen. Indem ein Mensch anderen von seinen Erlebnissen erzählt und den Erzählungen anderer zuhört, lernt er, sich auszutauschen. So hatte es in einem Buch gestanden, das Mori im Heim gelesen hatte. Doch so etwas war ihm fremd, er wusste nicht, was es hieß, Gefühle zu teilen.

Mori war in einer Neubausiedlung außerhalb Tokios aufgewachsen. In Saitama. Sein Vater war in der Zentrale einer großen Immobilienfirma in Tokio beschäftigt gewesen, die ein Jahr nach Moris Geburt pleite gegangen war. Um den Kredit für ihr Haus und die Gebühren für den teuren Privatkindergarten, in den Moris älterer Bruder ging, bezahlen zu können, musste der Vater, als er kein Arbeitslosengeld mehr bekam, im Sägewerk eines Bekannten eine Stelle annehmen, bei der er eines Tages Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand einbüßte. Moris Vater war immer wortkarg gewesen, aber nach dem Verlust seiner Finger sprach er kaum noch etwas und ging auch nicht mehr aus dem Haus. Nach einer Psychotherapie fand er einen Aushilfsjob bei einem Fleischer in der Nachbarschaft, für den er Frikadellen und Kroketten briet. Für 680 Yen die Stunde, wie Moris Mutter nicht müde wurde zu betonen. Tausende von Malen hatte Mori das gehört, immer wieder: Euer Vater verdient 680 Yen die Stunde. Da die Einkünfte des Vaters nicht reichten, jobbte auch die Mutter in einem Hamburger-Imbiss, und lange Zeit gab es bei ihnen zum Abendessen nichts als Hamburger und Kroketten. Unentwegt bekamen Mori und sein Bruder von der Mutter zu hören, wie schwer sie arbeitete, um sie auf private Schulen schicken zu können. Sie selbst war in ihrer Kindheit an einer staatlichen Schule gemobbt worden. Als Mori bei der Aufnahmeprüfung für eine private Mittelschule durchfiel, weinte und lamentierte seine Mutter die ganze Nacht, während sein Vater sich mit Whisky betrank und wie immer stumm die Wand anstarrte. So hatte Mori nicht den geringsten Begriff von geteiltem Leid oder geteilter Freude. War eine Gruppe ohne jede Vorstellung von Gemeinschaft überhaupt in der Lage, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen?

Als Ishihara das Expeditionskorps Koryo zu ihrem Feind erklärt hatte, waren alle von Kampfesstimmung ergriffen worden. Kaneshiro und Takei waren zwar die treibenden Kräfte, aber da es innerhalb der Gruppe keine Hierarchie gab, fehlte die für einen Feldzug nötige Befehlskette. Mori und Toyohara folgten Koryo nicht, weil es ihnen jemand befohlen, sondern weil es ihnen niemand verboten hatte. Ursprünglich hatten sich Jungen wie Mori und Yamada Ishihara überhaupt erst angeschlossen, weil er ihnen nicht sagte, was sie zu tun und zu lassen hätten. Jetzt hatten sie beschlossen, gegen Koryo zu kämpfen, aber es gab keine Strategie. Niemand wusste, was nötig war, um eine Kampftruppe zu bilden, und es dachte auch keiner darüber nach. Niemand hatte Erfahrung damit, einen Plan aufzustellen, Aufgaben zu verteilen und zu kooperieren. Selbst die fünf Satanisten hatten keinen Anführer und auch nie einen Plan gehabt. Sie hatten einfach eine Geschichte erfunden, um die Erwachsenen zu täuschen.

Mori überlegte, ob die Lagerhäuser als Basis für Anschläge auf die neuen Unterkünfte auf dem aufgeschütteten Gebiet dienen konnten, wenn die 120.000 Nachhutsoldaten eintrafen. Aus einer breiten Fensterfront in Ishiharas Zimmer hatte man einen Blick auf einen Teil von Odo, wo die neuen Behausungen geplant waren. Dort standen über dreißig Wohnhäuser, die meisten unbewohnt. Geblieben waren nur Alte und Leute, die nirgendwo anders hinkonnten. Starb jemand, wurde die Leiche oft lange Zeit nicht gefunden. Dennoch hatte ein Offizier von Koryo bei der Besichtigung angeblich gesagt, sie hätten Ähnlichkeit mit den Apartments für höhere Funktionäre in Pjöngjang. In der Regel verfügten sie über zwei kleine Räume und einen Koch- und Essbereich und sollten jeweils von etwa zehn Soldaten bewohnt werden.

Mori fand es extrem unrealistisch, die Unterkünfte angreifen zu wollen. Unmöglich, überhaupt gegen Koryo zu kämpfen. Einem Militärexperten im Fernsehen zufolge waren die Busse im Ōhori-Park von 33-mm-Autokanonen zerfetzt worden. Er hatte die riesigen Dinger ja mit eigenen Augen gesehen. Die Männer des Sondereinsatzkommandos darin hatten lichterloh gebrannt – wie lebende Fackeln. Wie in einem amerikanischen Film mit Spezialeffekten. Die Autokanonen hatten die Busse innerhalb weniger Sekunden in Skelette aus Metall verwandelt.

Takei, der ein halbes Jahr in einem islamistischen Terrorcamp im Jemen verbracht hatte, schlug mehrere Vorgehensweisen vor. Eine davon war, das Lager der Koryos mit Mörsern anzugreifen, die allerdings in Takeis Waffenarsenal fehlten. Außerdem könnten sie Panzerabwehrraketen gegen die Mannschaftstransportwagen einsetzen, aber die standen auch nicht auf seiner Liste. Auf Kaneshiros Einwand, dass es doch keinen Zweck habe, sich Strategien mit Waffen auszudenken, über die man gar nicht verfüge, erwiderte Takei, echte Guerilleros raubten ihren Feinden die Waffen, um sie dann gegen sie einzusetzen. Doch auch das schien aussichtslos. Einig war man sich vorläufig nur, dass Fukuda und Takeguchi Bomben bauen und Takei die Waffen, die er versteckt hielt, an alle verteilen sollte.

»Los, teil sie jetzt sofort aus!«, verlangte Kaneshiro gereizt. Er saß auf dem Sofa. Doch Takei wollte zuerst eine Art Vorführung veranstalten, statt die Waffen einfach auszugeben. Die fünf Satanisten, Toyohara und Ando, die als Modelle fungieren sollten, bereiteten sich im zweiten Stock auf ihren Auftritt vor. Mori setzte sich zu Yamada, Matsuyama, Ōkubo und Felix auf den Teppich. Auf dem Sofa saßen neben Kaneshiro noch Fukuda, Takeguchi und Shinohara. Takeguchi und Hino knieten auf dem Boden. »Kann denen jemand mal sagen, sie sollen sich gefälligst beeilen?«, raunzte Kaneshiro, woraufhin Ishihara im Schaukelstuhl von seinem Fotoband aufblickte und sagte, er solle sich mal nicht in die Hose scheißen. Er schien sich nicht sonderlich für die Waffenverteilungszeremonie zu interessieren. Allerdings konnte Ishihara in einem Augenblick zu Tode gelangweilt wirken, um dann im nächsten total aufzudrehen. Mori blieb er ein vollkommenes Rätsel.

Kaneshiro warf einen wütenden Blick zum zweiten Stock hinauf. Er war nicht größer als Mori, aber sehr mager. Wahrscheinlich wog er gerade mal halb so viel wie dieser. Dementsprechend schmal war sein Gesicht, er hatte kleine Augen, eine kleine Nase und einen kleinen Mund. So ein Gesicht hätte sich Mori auch gewünscht, auch wenn es nicht regelmäßig war, aber der ganze Aufbau, das Zierliche daran erweckte den Eindruck einer Pflanze, und man bekam es nie satt. Kaneshiro aß fast nichts. Mori hatte immer wieder beobachtet, wie er lustlos an einem Energy-Riegel nagte. Er selbst hingegen litt schon seit seiner Kindheit unter seinem unförmigen Eulenkörper und seinem teigigen Brötchengesicht. Sein Vater, es ließ sich nicht leugnen, war etwas zu dick, aber seine Mutter und sein älterer Bruder waren normalgewichtig gewesen. Wenn Mori rannte oder sich ein bisschen bewegte, schwankte er und geriet schnell außer Atem. Er schnaufte dann regelrecht. Weil sein Atem so pfiff, hatte ihm ein Lehrer in der Grundschule den kränkenden Spitznamen »die Pfeife« verpasst.

»Ich will jetzt meine Waffe«, murrte Hino.

»Was kriege ich denn für eine?«, fragte Matsuyama, und Felix fügte hinzu, seine solle möglichst leicht sein.

Fukuda und Takeguchi erklärten den anderen ihre neue Erfindung, die sie Cookie nannten, weil sie so klein und handlich war. Die Bömbchen waren rund, oval, dreieckig oder wie Sterne geformt und passten leicht in eine Handfläche. Sie sahen tatsächlich aus wie Kekse und waren aus einem hochexplosiven Sprengstoff namens RDX, Mehl, Backpulver, Salz, Schweineschmalz und Wasser geformt. RDX explodiere nicht bei Hitze, weshalb man sie wirklich im Ofen backen könne. »Und kann man sie dann auch essen?«, fragte Tateno. »Quatsch«, erwiderte Takeguchi. »Die sind giftig und lösen epileptische Anfälle aus.« Der von Takeguchi und Fukuda verwendete Sprengstoff RDX stammte von der irakischen Armee. Er war vom Schwarzmarkt, und Takeis Kontakte im Jemen hatten ihn als Olivenseife verpackt nach Japan verschifft. Takeguchis und Fukudas Labor befand sich im Keller von Haus E. Der Zutritt war allen anderen verboten, aber es kam sowieso nie jemand in seine Nähe.