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Für Andrea

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Inhalt

Zur Geschichte der Demokratie in der Schweiz: eine Einleitung

Der grosse Sprung nach vorn (1861–1874)

Weltweit fortschrittlichste Verfassung

Gesellschaftlicher und politischer Aufbruch

Die Links-Allianz im Bundesparlament

Widersprüche zwischen Volksrechten und Bürgerrechten in den 1860er-Jahren

Antisemitischer «Mannlisturm» im Aargau, 1861–1863

Kein Platz für Juden neben dem weissen Kreuz, 1863–1874

Baselland: Diamant ohne Strahlkraft

Ancien Régime: im Spannungsfeld von Partizipation und Ausgrenzung

Landsgemeinden: Landleute und Untertanen

Konfessionelle Körper

Landgemeinden: Dorfbürger und Beisassen

Revolten und Revolutionen: aus der Vormoderne in die Moderne (1700–1804)

Konflikte und Entwürfe vor 1789

Von der Französischen zur Helvetischen Revolution

Von der Republik zur Restauration (1798–1829)

Errungenschaften und Grenzen der Helvetik

Restauration: Körper statt Bürger

Regeneration, Verfassung, Bundesstaat (1830–1860)

Gelungene Kantonsreformen, gescheiterte Bundesreform

Die ersten Volksrechte in St. Gallen und der Waadt

Kulturkampf, 1848, Eisenbahnbarone

Von der Totalrevision zum Landesstreik (1875–1918)

Freisinn: weniger Citoyens – mehr Bourgeois

Konservativismus: zwischen Sozialkatholizismus und reaktionärer Avantgarde

Aufschwung der Arbeiterbewegung

Autoritärer Staat – vitale Opposition (1919–1949)

Bürgerliche im Bann von Nationalismus und Korporatismus

Sozialdemokratie und Richtlinienbewegung

Zwischen heiligem Egoismus und humaner Solidarität

Geistige Landesverteidigung: von der Allmacht in die Krise (1949–1992)

Übertriebener Antikommunismus, nicht bewältigte Vergangenheit

Uniform und Laufgitter

Aufstand gegen die «Diktatur der Patrioten»

Von der patriotischen Rebellion zur Klima- und Frauenbewegung (1992–2020)

Geistige Landesverteidigung ohne Konkordanz

Linke und Liberale – zwischen Widerstand und Anpassung

Die Wende von 2019

Zur Zukunft der Demokratie in der Schweiz: zehn Herausforderungen

Anhang

Zeittafel

Anmerkungen

Bibliografie

Dank

Zur Geschichte der Demokratie in der Schweiz: eine Einleitung

«Im 19. Jahrhundert waren wir eine revolutionäre Nation; heute sind wir eine der konservativsten der Welt.» (Max Imboden, Helvetisches Malaise, 1964)1

«Am stärksten zeigte sich die neue Offenheit in der nachhaltigen Wirkung der feministischen Bewegung.» (Elisabeth Joris, Linke Alternativen, neue Solidarität und aufmüpfige Frauen, 2019)2

Als der Staatsrechtler und spätere Nationalrat Max Imboden seine «Grau in Grau» (Hegel)3 gemalte Analyse veröffentlichte, befand sich die Schweizer Demokratie in ihrer farb- und leblosesten Phase seit 1830. Nach der Annahme des Frauenstimmrechts 1971, die der Basler «Radikal-Demokrat» nicht mehr erlebte, wäre seine Diagnose wohl um einiges heller ausgefallen. Die im Wallis aufgewachsene Historikerin Elisabeth Joris ist ein Kind dieser Zeit. Ihr Text über die Folgen von 1968 in der Zentralschweiz hat eine stark lilafarbene Prägung. Keine Bewegung hat in den letzten fünfzig Jahren die Schweiz derart stark demokratisiert wie die feministische. Fand radikale Demokratie im «revolutionären» 19. Jahrhundert weitgehend unter Ausschluss der Frauen statt, bilden sie heute deren dynamischen Mittelpunkt.

Vier Demokratiefragen

Mit dem Frauenstimmrecht fand die Schweiz wieder den Anschluss an die europäische Demokratiedebatte. In dieser kreuzen sich vier breit abgestützte Annahmen.

– Die erste lautet: Die rein repräsentative Demokratie, die den Souverän von den Sachentscheiden ausschliesst, hat sich überholt. Die Zeiten, in denen die Bürgerinnen und Bürger bloss ihre Vertretungen wählen konnten, sind vorbei.

– Zum schweizerischen Gegenmodell werden in der zweiten Annahme Einwände erhoben wie: Die direkte Demokratie lässt zu, dass eine Mehrheit die Menschenrechte, beispielsweise die Religionsfreiheit, verletzt, und sie erschwert die politische Integration der grossen Anzahl zugewanderter Personen, sogar deren Kinder.

– In der dritten Annahme wird an beiden Systemen kritisiert, dass der Einfluss ausserdemokratischer Mächte mindestens so gross ist wie derjenige des Parlaments sowie der Bürgerinnen und Bürger.

– Und eine vierte moniert eine Übermacht von Exekutive und Staatsapparat – gegenüber den natürlichen und juristischen Personen, den Bürgerschaften wie auch den Parlamenten.

Dieses Buch ist keine politisch-philosophische Abhandlung über «Demokratische Gerechtigkeit» (Müller), sondern ein Geschichtsbuch über die Entstehung und Entwicklung der Demokratie in der Schweiz. Aber die erwähnten Fragwürdigkeiten kommen in den meisten Kapiteln zur Sprache. Vor allem die Spannung zwischen vergleichsweise starker Partizipation und relativ scharfer Ausgrenzung begleitet die Demokratiegeschichte über die drei Jahrhunderte, die hier dargestellt werden. So war die Schweiz das erste europäische Land, in dem sich 1830 das Prinzip der Volkssouveränität nachhaltig durchsetzte, aber das letzte, das im 19. Jahrhundert die Juden und im 20. Jahrhundert die Frauen in den Souverän aufnahm. Auch die Frage der Autonomie der Republik gegenüber demokratisch nicht legitimierten Mächten wie den Kirchen, Eisenbahnbaronen, Wirtschaftsverbänden oder Grossbanken stellte sich immer wieder. Was die Staatsmacht betrifft, wurde diese – im Unterschied zu den Nachbarländern – erst im 20. Jahrhundert zu einem grossen Problem. Von 1914 bis 1952 herrschten – mit Ausnahme der 1920er-Jahre – Dringlichkeits- und Vollmachtregimes. Diesen folgte im Kalten Krieg ein für Liberale des 19. Jahrhunderts unvorstellbarer Ausbau des Staatsschutzes und der polizeilichen Überwachung.

Im Folgenden werden die wichtigsten Begriffe eingeführt und der Aufbau des Buches erläutert.

Organismus und Mechanismus

Ein Gegensatz, der die Auseinandersetzungen um Demokratie, Partizipation und Ausgrenzung immer wieder prägte, war derjenige zwischen «Organismus» und «Mechanismus». Die von Konservativen erfundene Begrifflichkeit unterscheidet zwischen einem kollektiv-gemeinschaftlichen Organismus, der vorpolitische und oft übermenschliche Ursprünge hat, und einem «Artefakt», der isolierte «Atome» bloss mechanisch «aggregiert». Ein klassischer Organismus ist die alteidgenössische Landsgemeinde, die sich als Körper eines historisch privilegierten Kollektivs mit gemeinsamem Glauben und althergebrachten Ritualen verstand. Der schweizerische Traditionalismus, der nie eine monarchische Verkörperung hatte, hielt und hält daher umso stärker am «Volkskörper» und dessen Geburt im Mittelalter fest.

Aus liberaler Sicht handelt es sich bei der – laut Konservativen – künstlichen Vergesellschaftung und Staatlichkeit um ein politisches Gemeinwesen mündiger Individuen, die sich als Personen und in Assoziationen freiwillig verbunden haben. Der Citoyen ist keine atomisierte Einzelmaske, sondern ein autonomer und vernetzter Mitgestalter. Die drei Bundesverfassungen von 1848, 1874 und 1999 sind stark, aber nicht ausschliesslich durch diese Konzeption geprägt. Ein ständisches Element im «Bund» genannten Nationalstaat sind beispielsweise die «Stände»-Kammer und das «Stände»-Mehr. Jene wurde 1848 von Radikalen infrage gestellt. Auf dieses wurde beim 1874 eingeführten Gesetzesreferendum aus radikalen und demokratischen Gründen verzichtet – nach einem präsidialen Stichentscheid.

Die direkte Demokratie, die sich ab den 1860er-Jahren kantonal und ab 1874 national durchsetzen konnte, baut grundsätzlich auf dem liberal-individuellen, also mechanistischen Konzept von Aufklärung und Revolution auf, hatte und hat aber aufgrund des landsgemeindlichen Erbteils eine organizistische Schlagseite. Dabei ist die Gemengelage von französisch-revolutionärer und alteidgenössisch-landsgemeindlicher Prägung in der Romandie eine andere als in der Deutschschweiz und eine völlig andere als in der Zentral-und Ostschweiz. So stimmte etwa die Romandie deutlich für die gleichberechtigte Aufnahme der Juden 1866 und der Frauen 1959 in den Souverän, während die Zentral- und Ostschweiz jeweils zu achtzig Prozent dagegen waren. Ein Mechanismus lässt sich leichter verändern und ergänzen als ein Organismus.

Korporatismus und Republikanismus

Die schärfsten Brüche mit dem Traditionalismus geschahen nach der gescheiterten Helvetik während der Regeneration (1830–1848), mit der Bundesverfassung 1848, dann aber vor allem mit der Demokratischen Zürcher Bewegung in den 1860er-Jahren und der Totalrevision der Bundesverfassung 1874. Ihnen gelang es, sowohl die Bürgerrechte, beispielsweise der Juden oder Armengenössigen, als auch die direktdemokratischen Volksrechte und zusätzliche soziale Garantien auszuweiten. Letztere waren die Konsequenz aus der Erfahrung, dass die soziale wie politische Autonomie kreditabhängiger Kleinbesitzer und lohnabhängiger Besitzloser eine höchst prekäre war.

Vor dem Hintergrund einer beschleunigten Industrialisierung entstand aus der gewerkschaftlichen Selbstorganisierung und den linken Flügeln jener Demokraten und Radikalen, die in den 1860er- und 1870er-Jahren den Klerikal-Konservativismus und das «System Escher» besiegt hatten, die Sozialdemokratie. Ihr gelang es, die Lebensverhältnisse zu verbessern und die Arbeiterschaft politisch zu ermächtigen, was im Landesstreik von 1918 gipfelte. Dieser zeitigte auf betrieblicher Ebene gewichtige Fortschritte. Gleichzeitig beschleunigte er bei den alten Antipoden des Kulturkampfes die gegenseitige politische Annäherung, die zu einem Bürgerblock und zu einer Revitalisierung eines organizistischen Korporatismus selbst in Teilen des Freisinns führte. Das symbolische Zentrum des bürgerlichen Zusammenschlusses bildete eine Armee, die noch im 19. Jahrhundert politisch und gesellschaftlich eine im europäischen Vergleich marginale Rolle gespielt hatte. Der Prozess der Militarisierung verband sich ab 1914 mit einem dem hergebrachten Republikanismus fremden Autoritarismus, einer Einschränkung der Volksrechte und der parlamentarischen Kompetenzen, einer monetaristischen Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie einem nationalistischen Antisemitismus, der auch viele Liberale erfasste.

Gegen die korporatistisch-ständestaatliche Gefährdung liberaler, demokratischer und gewerkschaftlicher Errungenschaften bildete sich in den 1930er-Jahren ein Bündnis, das in vielem dem radikal-demokratisch-sozialen Bündnis der 1860er- und 1870er-Jahre glich. Die Richtlinienbewegung, in der die Arbeiter- und Angestelltenorganisationen, Jungbauern, unabhängige Demokraten, kritische Intellektuelle, katholische Dissidenten und die politische Linke mitmachten, setzte der konservativen Abstammungsnation eine politische und alternative Abstimmungs-«Nation» entgegen. Deren zivilgesellschaftlicher Aufbruch, der Ende der 1930er-Jahre aus parteipolitischen Gründen zerbrach, fand 1942 eine Fortsetzung in der breiten und vielfältigen Opposition gegen die «Boot ist voll»-Politik. Die Rück- und Abweisung Tausender Flüchtlinge in den sicheren Tod war die Folge von organizistischer Ausgrenzung aus dem Volkskörper und eines undemokratischen Vollmachtenregimes.

«CH-Cement» und soziale Bewegungen

Während die erste Geistige Landesverteidigung 1938 bis 1942 bloss eine beschränkte Wirkung entfaltete, prägte die zweite von 1948 bis 1989 die Schweiz ausserordentlich stark. Sie kreierte über den militärischen Widerstandsmythos und mit einem überdrehten Antikommunismus einen erneuerten Organizismus. Das in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre offizialisierte Gegensatzpaar Wehrmann–Hausfrau, das sich zum älteren Schweizer– Ausländer gesellte, wurde durch die Kombination von Antikommunismus, Arbeitsfrieden und Hochkonjunktur erst richtig zementiert. Das Zwei-Drittel-Nein zum Frauenstimmrecht 1959 war der Ausdruck eines männlich-militärischen Volkskörpers. Das krass abweichende Ja der drei welschen Kantone weist darauf hin, dass der «CH-Cement» (Meier/Rosenmund) in der Romandie brüchiger war.

Wie im 18. Jahrhundert die Revolten, im 19. Jahrhundert die Regeneration sowie die Dreiheit von Demokraten, Radikalen und Grütlianern oder im 20. Jahrhundert die Arbeiter-, Frauen- und Richtlinienbewegungen, hatte der 68er-Aufbruch eine mechanistische Wirkung. Er zersetzte den männlich-militärischen Sozialkörper derart, dass das Frauenstimmrecht ab 1969 und der Zivildienst ab 1989 auch in der Deutschschweiz mehrheitsfähig wurden. Damit sei auch geklärt, was in diesem Buch als soziale Bewegung verstanden wird: Ein Volks- oder Religionskörper, der sich in Bewegung setzt, indem er einem Führer folgt und so die Unmündigkeit seiner Glieder bekräftigt, wird hier nicht als solche betrachtet. Ein Beispiel dafür ist der stark klerikal-korporatistisch geprägte «Mannlisturm» gegen die Gleichberechtigung der Aargauer Juden (1861–1863). Das Gegenteil bildet etwa die in ihrer Organisation, aber auch in ihrer Zielsetzung emanzipatorische Demokratische Zürcher Bewegung (1865–1869).

Ist aber nicht jede Mobilisierung für mehr Volksrechte eine demokratische? Wenn deren Hauptziel nicht die Ermächtigung des Eigenen, sondern die Ausgrenzung des Fremden oder Anderen ist, ist sie es nicht. Der Begriff Demokratie macht in der Moderne nur Sinn, wenn er kollektive Souveränität mit individuellen Menschenrechten, Volksrechte mit Bürgerrechten verknüpft. Dies trifft auch auf den zeitgenössischen, das (christliche) Schweizervolk als Kollektivkörper verstehenden Nationalkonservativismus zu. Dass seine fast drei Jahrzehnte andauernde und nur selten unterbrochene geistige Dominanz von Klima- und Frauenstreiks gebrochen wurde, ist die jüngste Bestätigung in einer 300-jährigen Demokratiegeschichte: Soziale Bewegungen zersetzen kollektive Körper, mentalen Zement, nationale Identitäten.

Ausserdemokratische Mächte

Was die Übermacht ausserdemokratischer Faktoren betrifft, war bis 1848 der Klerikalismus das Hauptproblem. Ab den späten 1850er-Jahren sahen die Demokraten und die Radikalen die Autonomie der Republik zusätzlich durch die Eisenbahnbarone bedroht. Die Bundesverfassung von 1874 war daher ein Sieg sowohl über die Macht der Kirche als auch über die des Grosskapitals. Ab den 1880er-Jahren begann der Aufstieg der Wirtschaftsverbände, die später besonders stark von den Vollmacht- und Dringlichkeitsregimes profitierten. Seit dem Ersten Weltkrieg üben insbesondere die Exportindustrie, die Grossbauern und die Banken einen massiven Einfluss auf die Exekutive, die Verwaltung und die Abstimmungskämpfe aus. Die Macht der Verbände erlebte ihren Höhepunkt in den 1980er-Jahren, wurde dann aber durch die aussenpolitische Spaltung der Bürgerlichen und die Globalisierung der Wirtschaft geschwächt. Was sich verschärft hat, ist der Einfluss der Lobbys im Parlament sowie das Problem der ungleichen Geldmittel und der fehlenden Finanztransparenz in Abstimmungs- und Wahlkämpfen.

Eine viel grössere Herausforderung als der «liberale Korporatismus», wie der unglückliche Begriff für die Verbandsmacht lautet, ist der «nationale Korporatismus». Er hat den politischen Ausschluss eines Viertels der hier wohnenden, arbeitenden und zahlenden Menschen zur Folge. Was die Macht der Exekutive und der Verwaltung betrifft, wird diese – wie die Finanzkrise gezeigt hat – für die Rechte des Souveräns und des Parlaments dann eine Gefahr, wenn ausserdemokratische «Grossmächte» wie die Grossbanken sie zu Rechtsbrüchen verführen.

Konsens und Dissens

Die vorliegende Demokratiegeschichte folgt nicht der üblichen Konkordanzteleologie. So betrachtet sie den Arbeitsfrieden und die Zauberformel als Kinder des Kalten Kriegs. Die Schweizer Geschichte bestätigt, dass Dissens und Konflikte die Demokratie belebt und lange Phasen ohne grundsätzliche Debatten und soziale Bewegungen sie gelähmt haben. Die Tatsache, dass es in der Schweiz nach 1848 selten zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen gekommen ist, bedeutet nicht, dass die Konflikte weniger radikal gewesen wären als in Bürgerkriegs- und Putschstaaten. So war der schweizerische Kulturkampf in den 1860er- und 1870er-Jahren inhaltlich grundsätzlicher als der preussische, bei dem der Polizeistaat eine ungleich grössere Bedeutung hatte.

Wenn es bezüglich Gewalt etwas spezifisch Schweizerisches gibt, ist es das Fehlen starker Repressionskräfte im 19. Jahrhundert. Der Bauernkrieg von 1653, der die Finanzierung stehender Heere verhinderte, hat später den Liberalen und Radikalen den Demokratieaufbau und das «Nation building» erleichtert. Dass es beim Landesstreik, der sich mit einer preussisch geprägten Massenarmee konfrontiert sah, zu keiner Gewalteskalation kam, ist wesentlich der Zurückhaltung der Arbeiterbewegung zu verdanken. Sie erklärt sich nicht zuletzt aus deren Identifikation mit den republikanischen Grundwerten, die man dem Bürgertum, dem Bundesrat und vor allem der Generalität entgegensetzte.

Volksrechte und Bürgerrechte

Das Buch beginnt mit jener Zeit, in der es der Schweiz gelang, sowohl die Rechte als auch die Zahl der Partizipierenden auszuweiten. Der liberale, säkulare, demokratische, soziale und ökologische Mehrfachfortschritt der Bundesverfassung von 1874 war die Frucht einer Synergie dreier emanzipatorischer Sozialbewegungen: der demokratischen, der kulturkämpferischen und der gewerkschaftlich-frühsozialistischen. 1865 kämpften sie erstmals gemeinsam in der – völlig unterschätzten – Solidaritätsbewegung für die Emanzipation der Sklaven in den USA. Die Schweiz von 1874 blieb die progressivste Republik Europas bis 1906, als Finnland das Frauenstimmrecht einführte.

Der gleichzeitige Widerstand gegen das radikal-demokratisch-soziale Bündnis wurde von zwei Kräften getragen, die sich allerdings nur punktuell vereinigen konnten, wie zusätzlich im zweiten Kapitel aufgezeigt wird. Die Wirtschaftsliberalen waren gegen den Ausbau der Volks- und der sozialen Rechte, aber nicht gegen denjenigen der Bürgerrechte. Sie lenkten am Schluss ein, auch weil die politischen Konflikte schlecht waren fürs Geschäft. Die katholisch-konservative Kraft bekämpfte die Judenemanzipation, die Säkularisierung und Stärkung des Schulwesens, die Förderung von Einwohnergemeinden und die Zentralisierung des Bundes. Beide standen sie im Sezessionskrieg (1861–1865) auf der Seite der Sklavenhalterstaaten.

Im dritten und vierten Kapitel wird nach den Ursprüngen des Spannungsfelds Partizipation–Ausgrenzung im 18. Jahrhundert gesucht. So werden die Landsgemeinden und Landgemeinden, aber auch die etwas andere Romandie vorgestellt. Anhand der Konflikte, Aufstände, Revolten und Assoziationen vor und nach der Französischen Revolution wird die Entwicklung politischer Alternativen und zivilgesellschaftlicher Aufbrüche als eine Entwicklung aus der Vormoderne in die Moderne beschrieben. Die bedeutenden Auseinandersetzungen zwischen 1861 und 1874 sowie die alteidgenössischen und französischen Erbschaften aus dem 18. Jahrhundert bieten die Hintergrundfolien, vor denen die Entwicklungen zwischen den beiden Epochen und danach beleuchtet werden.

Methodisches und Formales

Da viele Themen in mehreren Zeitphasen auftauchen, erfahren die wichtigsten in jenen Kapiteln eine besondere Vertiefung, in denen sie eine Schlüsselrolle spielen. Das bedeutendste Beispiel, das regelmässig zur Sprache kommt, ist die Frage nach der Ausgrenzung und Beteiligung von Frauen. Seine Zuspitzung erfuhr der Komplex Geschlechtertrennung/Diskriminierung/Emanzipation im Umfeld der Geistigen Landesverteidigung (1949–1992). Deshalb wird das seit dem 19. Jahrhundert anhaltende Ringen um die politische Gleichberechtigung der Frauen im neunten Kapitel unter Sprengung des zeitlichen Rahmens thematisiert.

Was die Anmerkungen betrifft, suchte ich einen Mittelweg zwischen der Weigerung des französischen Historikers Georges Duby, den «gesamten Zettelkasten» auszubreiten, und der von diesem kritisierten «deutschen Mode» des Fussnotenkults. Die Direktzitate werden einzeln nachgewiesen, alle anderen Aussagen und Fakten im Rahmen von Sammelanmerkungen am Schluss der insgesamt 28 Unterkapitel. Eine Ausnahme bildet wegen der zahlreichen Originalquellen das allererste Kapitel.

Das Buch, das einen Zeitraum von über 300 Jahren umfasst, baut wesentlich auf der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur auf. Dazu gehören auch die eigenen, mehrheitlich auf Quellenarbeit beruhenden Publikationen. Für zwei der zehn Kapitel habe ich zusätzliche Primärquellen bearbeitet. Ich studierte für das erste Kapitel die damaligen Broschüren und Zeitungen sowie die Ständerats- und Kommissionsprotokolle zwischen 1870 und 1874. Im achten Kapitel (1919–1949) habe ich die – aus meiner Sicht – arg vernachlässigte Wochenzeitschrift Die Nation durchgearbeitet.

Das Verfassen des zweiten Teils des neunten (1971–1992) und des zehnten (1992–2020) Kapitels bereitete mir am meisten Mühe, weil ich selbst Teilnehmer und Teilhaber dieser Zeit gewesen bin. Ich habe redlich versucht, dem Grundsatz sine ira et studio – ohne Zorn und Vorliebe – von Publius Tacitus (58–120 n. Chr.) nachzuleben. Der Autor der «Annalen» war Historiker und Politiker.4

Der grosse Sprung nach vorn (1861–1874)

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Gedenkblatt zur Annahme der neuen Bundesverfassung vom 19. April 1874 (Zentralbibliothek Zürich).

So viel demokratischer Fortschritt war nie zuvor und nie mehr danach. Am 19. April 1874 sagen bei einer Stimmbeteiligung von 82 Prozent 63 Prozent der Schweizer Männer Ja zu einer neuen Bundesverfassung, die damals die weltweit progressivste ist. Sie vereint das Referendumsrecht mit demokratischen, liberalen, sozialen und ökologischen Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Juden, der Armengenössigen und der Neuzuzüger – aber nicht der Frauen, die Säkularisierung des Schulwesens und Eherechts, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Abschaffung der Todesstrafe, die Grundlagen für das Fabrik- und das Waldgesetz sowie die Vereinheitlichung von Armee und Recht.5

Motor dieses Fortschritts ist eine Synergie von drei Bewegungen: den Zürcher Demokraten, die 1869 das «System Escher» stürzen, den linksfreisinnigen Kulturkämpfern, die durch die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit 1870 neuen Auftrieb erhalten, und den demokratisch-sozialen Grütlianern, welche die beiden verbinden. Hinzu kommen ein allgemeiner Aufschwung des Vereins- und Pressewesens sowie die Einflüsse des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 und der Pariser Kommune 1871.

Der Aufbruch der Zivilgesellschaft findet Ausdruck im Bundesparlament, wo Demokraten und Radikale, von denen viele Grütlianer sind, bestens zusammenarbeiten. Dabei gelingt es ihnen, das liberale Zentrum um Alfred Escher zu marginalisieren, ohne es zu verlieren. Nachdem die erste Vorlage 1872 an einer unheiligen Allianz von Konservativen und Radicaux – den welschen Radikalen – gescheitert ist, führen eine Relativierung des Zentralismus und eine Verschärfung des Kulturkampfes 1874 zu einer satten Mehrheit.

Weltweit fortschrittlichste Verfassung

Referendum für den Citoyen

Die direkte Demokratie, die sich bislang auf das obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen und auf das Initiativrecht zur Totalrevision der Bundesverfassung beschränkt hat, wird um das fakultative Referendum für Gesetzesänderungen und allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse erweitert. Die nötige Unterschriftenzahl ist mit 30 000 relativ tief. Zur Stärkung der Stellung des mündigen Citoyens und des Prinzips der politischen Gleichheit wird auf das bei Verfassungsänderungen geltende Ständemehr verzichtet. Damit setzt sich das aufklärerisch-individualistische Argument des Solothurner Radikalen Simon Kaiser durch, dass man «von der einzigen lebendigen Kraft, die den Staat konstruiert, nämlich dem Bürger, auszugehen hat». Man dürfe «nicht zugeben», dass «historische» Gebilde wie etwa die Stände «die unverrückbare Basis des Volks- und Staatslebens sind». Unter anderem weist Kaiser darauf hin, dass beim Ständemehr der Einfluss eines Urners dreissigmal grösser sei als derjenige eines Berners. Die direktdemokratische Errungenschaft auf Bundesebene befördert die Einführung kantonaler Referenden für jene Hälfte der Bürger, die dieses Recht noch nicht besitzen, und des Initiativrechts auf Teilrevision der Bundesverfassung 17 Jahre später.6

Mehr Freiheit und Gleichheit

Noch eindrücklicher sind die liberalen Fortschritte. Den Juden wird endlich die Kultus- und damit die Religionsfreiheit gewährt, die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft wird von derjenigen zu einer christlichen Konfession gelöst. Damit hat sich auch in der Schweiz als letztem Land in Europa die Judenemanzipation durchgesetzt. Deren Ablehnung insbesondere durch die Katholisch-Konservativen unter der Führung ultramontaner Geistlicher ist das schlagkräftigste Argument für ein Nein zur Verfassung von 1874 gewesen. Die individuellen Freiheitsrechte werden stark ausgeweitet. Die Religionsfreiheit gilt nun für alle, und zwar ab dem 16. Altersjahr, die kirchliche Steuerpflicht für Konfessionslose wird ausdrücklich verboten und die geistliche Gerichtsbarkeit abgeschafft. Grosse gesellschaftliche Bedeutung haben die faktische Einführung der Zivilehe, die Festschreibung des Rechts auf Ehe, die Abschaffung all der ökonomischen, moralischen, polizeilichen und kirchlichen Ehehindernisse, das Verbot von Brauteinzugsgebühren, die Legitimierung der bislang stark diskriminierten vorehelich geborenen Kinder durch eine nachfolgende Ehe. Die Begräbnisplätze, deren kirchliche Kontrolle häufig zu hässlichen Auseinandersetzungen geführt hat, werden den Gemeindebehörden überantwortet.

Die Niederlassungsfreiheit für kantonsfremde Schweizer, die mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 2,7 Millionen ausmachen, wird verbindlicher gestaltet. So ist es verboten, Bürger ohne «Zeugnis sittlicher Aufführung» abzulehnen oder wegen einer strafrechtlichen Verurteilung oder Verarmung auszuweisen. Nach einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten sind sie den Ortsbürgern politisch gleichgestellt, haben aber keinen Anteil an «Bürger- und Korporationsgütern». Besonders griffig ist die Bestimmung, dass die Kantone ihre Gesetze bezüglich Niederlassung und Stimmrecht in den Gemeinden dem Bundesrat zur Genehmigung vorzulegen haben. Diese Massnahme führt zu einer Stärkung der Einwohnergemeinden und damit des modernen Gleichheitsprinzips gegenüber den Bürgergemeinden und Korporationen mit ihrem traditionellen Privilegienkonzept. Weniger umstritten ist die Verankerung der ohnehin bereits praktizierten Handels- und Gewerbefreiheit.

Der gewichtigste liberaldemokratische, aber auch soziale, säkulare und humane Fortschritt ist der neue Schulartikel. Er verpflichtet die Kantone, insbesondere die konservativ-konfessionalistischen, einen Primarschulunterricht anzubieten, der «obligatorisch, unentgeltlich und genügend» ist sowie von Angehörigen aller Bekenntnisse «ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit» besucht werden kann.7

Verfassungsgerichtsbarkeit und Arbeiterschutz

Die aus heutiger Sicht wohl erstaunlichste liberale Bestimmung ist die Einführung der staatsrechtlichen Beschwerde, die man bei einer den kantonalen Behörden übergeordneten Gerichtsinstanz einreichen kann. Damit die aus Sicht der konservativen Stände «fremden Richter» ihre Arbeit bewältigen können, wird das Bundesgericht zu einer ständigen Einrichtung gemacht. Gemäss Alfred Kölz ist die staatsrechtliche Beschwerde «die erste Form der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa überhaupt».8 Dass Gesetze, Beschlüsse und Staatsverträge des Bundes von einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen bleiben, ist damals kein grosser Stein des Anstosses, weil die Bundeszuständigkeiten relativ gering sind.

Ebenfalls ein europäisches Novum ist der Arbeiterschutzartikel, den es bislang nur in den französischen Revolutionsverfassungen von 1793 und 1848 gegeben hat. Das daraus folgende Fabrikgesetz von 1877 beinhaltet die Bewilligungspflicht für die Eröffnung eines Fabrikbetriebes, das Verbot der Kinderarbeit unter 14 Jahren, die Höchstarbeitszeit von elf Stunden pro Tag, die Begrenzung der Nachtarbeit, Massnahmen zum Schutz der Gesundheit und vor Unfällen, die Haftung der Fabrikanten für Tod, Verletzungen oder Krankheit. Dieser soziale Fortschritt entsteht unter dem Einfluss der Glarner Landsgemeinde von 1864 und der demokratischen Zürcher Verfassung von 1869 sowie der Pariser Kommune von 1871.

Der Hauptstreitpunkt ist das liberale Prinzip der Privatautonomie, in die zugunsten der «Humanität und Gerechtigkeit», wie es der Waadtländer Radikale und spätere Bundesrat Louis Ruchonnet ausdrückt, eingegriffen wird. Er sei zwar im Allgemeinen für «vollständige Freiheit in Privatbeziehungen», doch habe die Erfahrung gelehrt, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich selten verständigen können. Dies habe nicht nur für diese, sondern für das gesamte Land negative Folgen. Obwohl Ruchonnet ein Föderalist ist, will er die Regelung dem Bund anvertrauen, denn es könnten in «einigen Kantonen die Interessen der grossen Fabrikanten und ausgedehnten Industriezweige die Stimme der Gerechtigkeit verstummen lassen».9

Autonomie der Republik

Mit dem Arbeiterschutz werden nicht nur das «Gesamtinteresse des Landes» und das Gesamtwohl der Citoyens über die privaten Wirtschaftsinteressen gestellt. Damit werden die Autonomie der Republik und das Funktionieren der Demokratie gegenüber einem neuen erstarkenden Machtfaktor, dem nach ausserdemokratischen Markt- und Profitgesetzen funktionierenden Kapital, bekräftigt. Mit diesen Eingriffen ins Privateigentum erfüllt sich die Prophezeiung kirchlicher Kreise, die bei den Klosteraufhebungen genau vor solchen Fortsetzungen gewarnt haben.

Auch die antiklerikalen Artikel der neuen Verfassung haben – abgesehen vom mobilisierenden Charakter – den Hauptzweck, die Autonomie der Republik gegenüber der historischen Grossmacht Kirche zu sichern und auch zu demonstrieren. Dazu gehören all die erwähnten Freiheitsrechte, welche die Autonomie des Individuums, also die Grundlage einer modernen Demokratie, schützen. Dazu gehören die Säkularisierung des Schul-, Rechts-, Zivilstands- oder Friedhofwesens, insbesondere der auch symbolisch bedeutende Umzug der Zivilstandsregister vom Pfarrhaus ins Amtshaus. Dazu gehört die Bestimmung, dass die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet der Genehmigung des Bundes unterliegt. Ein höheres Gut, das es hier zu schützen gilt, ist der konfessionelle Frieden. Das Verbot, neue Klöster zu gründen, und die Verschärfung des Jesuitenverbots haben mehr symbolische Bedeutung: Ein auf dem weltanschaulichen Fundament der Aufklärung stehendes Gemeinwesen zeigt der fundamentalistischen Gegenaufklärung, die sich mit der päpstlichen Unfehlbarkeit von 1870 die Krone aufgesetzt hat, die Zähne. Es ist kein Zufall, dass die Kulturkampfartikel nach dem Zweiten Vatikanum (1962–1966), welches die Stossrichtung des Ersten Vatikanums (1870/71) stark relativiert und teilweise umkehrt, obsolet werden.10

Humanität und Ökologie

In starkem Widerspruch zu beiden Landeskirchen stehen die humanen Inhalte der Verfassung von 1874, insbesondere das Verbot der Todesstrafe und von Körperstrafen. In beiden Debatten zeigt sich, dass die Idee der Emanzipation eng mit dem Menschen-und auch dem Gottesbild zusammenhängt. Wer den Menschen als grundsätzlich schlecht betrachtet und in Gott vor allem den Strafenden sieht, mutet dem Staat, einer menschlichen Einrichtung, die Höchststrafe zu. Dass die Todesstrafe nach einem Rechtsrutsch bei den Wahlen 1878 und nach einer Volksabstimmung 1879 den Kantonen wieder ermöglicht wird, zeigt, wie tief verankert die repressive Mentalität und wie fortschrittlich die Totalrevision von 1874 gewesen ist.

Die Bundesverfassung von 1874 ist auch die erste in Europa, welche ökologische Zwecke beinhaltet. Dazu gehören neben dem Vogel-, Fisch- und Wildschutz der Wasserbau gegen Überschwemmungen und der Waldschutz. Dieser will Holzkahlschläge sowie Waldübernutzung für gewerbliche und industrielle Zwecke verhindern und die Wiederaufforstung der Hochgebirgswälder fördern.11

Frauen und Armee

Allerdings hat auch die neue Bundesverfassung von 1874 ihre Lücken und Tücken. Der grösste Mangel ist das Fehlen des Frauenstimmrechts, das von niemandem in der Bundesversammlung beantragt wurde. Diese ist auch nicht eingestiegen auf die Petition der Genferin Marie Goegg-Pouchoulin, Mitbegründerin der internationalen Friedens- und Freiheitsliga und Präsidentin der Association internationale des femmes, «Gesetze einzuführen, welche die Frauen zivilrechtlich auf die gleiche Stufe stellen wie die Männer». Ebenso wenig Beachtung gefunden hat die Bernerin Julie von May, ebenfalls Mitglied der Frauenassoziation, mit ihrem Artikel «La part des femmes dans la révision fédérale» (1870) und ihrer Broschüre «Die Frauenfrage in der Schweiz» (1872). Wenn sich die Feministinnen trotzdem für die Totalrevision einsetzen, liegt das daran, dass diese in den Worten der Historikerin Beatrix Mesmer «den Weg zu einer Änderung des Ehe- und Zivilrechts öffnete». Insbesondere die Aufhebung der Ehebeschränkungen bedeutet für beide Geschlechter einen grossen Fortschritt.12

Defizite bleiben weiter das Fehlen des Initiativrechts, der Verbleib beim Majorzsystem, das den Freisinn bevorzugt und alle anderen benachteiligt. Das wichtigste sozialpolitische Versäumnis ist der Verzicht auf die Schaffung einer ersten Sozialversicherung. Auch das Nachgeben der Deutschschweizer Radikalen und Demokraten bei der Vereinheitlichung des Zivilrechts ist ein grosser Mangel. Ein nachhaltiger Schwachpunkt ist der Verzicht auf ein einheitliches «Schweizerbürgerrecht», wie es von Radikalen, Demokraten und Grütlianern gefordert worden ist. Als grösste Hypothek für «die volle Entfaltung der Zivilgesellschaft in der Schweiz» (Kölz)13 wird sich die Wehrverfassung erweisen. Das Problem liegt weniger in der nach den Erfahrungen des Deutsch-Französischen Kriegs zwingenden Bildung eines «Bundesheers» aus den «Kontingenten der Kantone». Es liegt vielmehr in der Unterschätzung jener Gefahr, vor welcher die welschen Radikalen, insbesondere Ruchonnet und James Fazy, gewarnt haben: einer Aushöhlung der «republikanischen Sitten und Gewöhnungen» und der Verwandlung von Schweizern in «preussische Militärs». Wie gross die Skepsis gegenüber einer «Verpreussung» ist, zeigt sich in den deutlichen Verwerfungen aller Armeevorlagen in den Jahren 1876, 1877, 1895, 1896 und 1903.

Wie naiv viele Deutschschweizer Freisinnige insbesondere der Gefahr innerer Armeeeinsätze begegnen, illustriert die Aussage des Thurgauer Johann Karl Kappeler in der Ständeratskommission vom 22. Oktober 1873: «Bei den überall angebrachten Sicherheitsventilen werde das Militär im Innern glücklicherweise nur äusserst selten noch eine Verwendung finden müssen. Die ganze Wehrkraft konzentrierte sich nach aussen.» Erst zwei Jahre zuvor hat der Militäreinsatz beim Zürcher «Tonhallekrawall» fünf Todesopfer gefordert. Und zwei Jahre danach werden im Gotthardtunnel vier streikende Stollenarbeiter erschossen.14

Der «fremde Gast»

Zu diesem Zeitpunkt hat der Klassenkampf, ein Hauptthema des 20. Jahrhunderts, den Kulturkampf, ein Hauptkonflikt des 19. Jahrhunderts, abgelöst. Warum der sozialdemokratischen Linken 1918 nicht der gleiche Durchbruch gelingt wie der radikaldemokratischen Linken 1874, darauf wird später eine Antwort gesucht. Wie tief greifend die Änderung durch die neue Bundesverfassung ist, zeigt eine Aussage des Bundesrats in seiner ersten Botschaft zur Totalrevision vom Juni 1870. Die Landesregierung ist sich der Tatsache bewusst, dass «die Schweiz (zwar) das Land der politischen Freiheit» ist, die «religiöse Freiheit jedoch von jeher durch Gesetz und Sitte sehr beschränkt» geblieben ist; deshalb seien «Anstände zwischen Staat und Kirche bis auf den heutigen Tag in vielen Kantonen an der Tagesordnung». Dem folgt der mutige Hinweis: «Der Gedanke der religiösen Freiheit entstand in dem freien Land jenseits des Oceans; er kam als ein fremder, mit vielem Misstrauen angesehener Gast nach dem alten Europa zurück und auch da nicht zum ersten in unsere Täler.»15

In der Folge soll aufgezeigt werden, wie es damals möglich wurde, gleichzeitig den «fremden Gast», das liberale Herzstück von 1874, und das Referendumsrecht, das demokratische Herzstück, gegenüber dem nicht nur Konservative, Föderalisten und Liberale, sondern anfänglich auch viele Radikale Vorbehalte äusserten, in dasselbe Verfassungsgebäude aufzunehmen.

Gesellschaftlicher und politischer Aufbruch

Helveter-Grütlianer-Dreigestirn

Die Schlüsselrollen im wohl stärksten zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der Schweizer Demokratiegeschichte spielen die Zürcher Demokraten, die radikalen Kulturkämpfer und der Grütliverein, der bis in die frühen 1860er-Jahre ein «harmloser Handwerksgesellenbund» (Gilg) gewesen ist. Dank ihrer Verknüpfung können die drei Bewegungen jene Dynamik entwickeln, die es für die Schaffung einer neuen Verfassung braucht. Verkörpert wird diese Synergie in der «Personalunion des Helveter-Grütlianer-Dreigestirns Bleuler-Bernet-Klein» (Gruner).16

Die drei Persönlichkeiten, die Aktivisten und Amtsträger zugleich sind, haben in den frühen 1860er-Jahren zuerst die Führung der aus der gleichnamigen radikalen Studentenorganisation entstandenen Männer-Helvetia und dann diejenige des sozialpatriotischen Grütlivereins übernommen. Der Winterthurer Salomon Bleuler wird zum führenden Kopf der Demokratischen Bewegung im Kanton Zürich, der St. Galler Friedrich Bernet öffnet den Linksfreisinn für die demokratische und die soziale Frage, der Basler Freisinnige Wilhelm Klein ist zusätzlich mit der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) verbunden. Alle drei gehören dem Nationalrat an: Bleuler von 1869 bis 1884, Bernet, der 1872 stirbt, von 1864 bis 1869, und Klein von 1863 bis 1887. Alle drei verfügen sie über eigene Zeitungen: Bleuler den Landboten, Bernet die St. Galler Zeitung, Klein den Volksfreund. 1858 sind sie bei der Gründung der Männer-Helvetia dabei gewesen. Die Helvetia versteht sich als «interkantonale radikale Gesellschaft in Opposition zu den Interessen der Wirtschaftsführer und zum Zweck einer Reaktivierung des schweizerischen politischen Lebens im fortschrittlichen Sinne». Gegen ihre beiden Hauptfeinde, die Konservativen und das wirtschaftsliberale Zentrum um den «Eisenbahnbaron» Alfred Escher, streben sie eine Totalrevision der Bundesverfassung an. Der Sozialhistoriker Erich Gruner, der in seinem Werk «Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert» der Verbindung der bildungsbürgerlichen Mitglieder der Helvetia mit bildungsbeflissenen Handwerkern viel Aufmerksamkeit schenkt, bezeichnet die Studierten als «Kader» der «antikapitalistischen Opposition» gegen «die Partei der sogenannten Bundesbarone» und den Grütliverein als «Avantgarde des Freisinns für die Revision der Bundesverfassung».17

Solidarität mit den USA

Die erste gemeinsame Kampagne von Radikalen, Demokraten und Grütlianern, die Gruner als «Linke» bezeichnet, ist die Solidaritätsbewegung für die USA im Frühling 1865. Ausgelöst wird sie durch die Kapitulation des Südstaatengenerals Robert E. Lee am 9. April 1865 und verstärkt durch die Ermordung von Präsident Abraham Lincoln fünf Tage später. Am Anfang der Kampagne steht Florian Gengel, ein freisinniger Vorkämpfer der Volksrechte und Chefredaktor des damals radikaldemokratischen Bund. Die meisten der 302 Adressen genannten Solidaritätsbotschaften werden an Kundgebungen, Versammlungen und Vereinsanlässen verabschiedet. So ist es am 3. Mai eine 4000-köpfige Volksversammlung in Genf, und vier Tage später folgt die Glarner Landsgemeinde. In den Mittellandkantonen kommen Bürger und Behörden zu kommunalen «Wahlversammlungen» zusammen, um den Nordstaaten ihre Gratulation und ihr Beileid auszudrücken. Die Solidaritätsbotschaft des Männerchors Herzogenbuchsee, der die «schlichte Majestät der Menschheit» feiert, trägt 143 Namen. Der Linken dient die Solidaritätsbewegung für die Sklavenbefreier gleichzeitig als erste Massenbewegung für die Totalrevision der Bundesverfassung. Die sich häufenden Begriffe «Selbstregierung», «demokratische Republik», «freie Arbeit», «Menschenrechte», «Emanzipation» oder «Union» zeigen die innenpolitische Stossrichtung gegen die Konservativen und die Wirtschaftsliberalen an, welche grossmehrheitlich die Südstaaten unterstützt haben.18

Die Schweizerische Kirchenzeitung, eine wichtige Predigtunterlage, hat bereits 1863 nach der Emanzipationsrede Lincolns und nach dem Aargauer Konflikt um die Gleichberechtigung der Aargauer Juden gehöhnt: «Der Bundesrabbiner könnte dann in Bern die Unionshymne anstimmen: Wir glauben All’ an einen Gott / Jud, Christ und Hottentot!» (25.4.1863) «Hottentot» ist damals ein gebräuchlicher Begriff für Schwarze. Die Schwyzer Zeitung schreibt zwei Jahre später: «Es ist sonach dieser Kampf in Nordamerika die Wiederholung des schweizerischen Sonderbundskrieges im grossen Massstab.» (22.4.1865) Laut dem Historiker George Müller wehrten sich die Konservativen «gegen den Einbruch eines mechanischen und dogmatischen Freiheitsbegriffs in einen historisch gewachsenen Organismus, der keine starre politische Gleichmacherei vertrug». Mit der Unterstützung der ehemaligen Sonderbundskantone für die Konföderierten «tat sich noch einmal deutlich die ganze Problematik des Begriffs ‹Freiheit› auf: zwischen dem demokratischen Freiheitsbegriff der Aufklärung, der das Staatswesen in gleichberechtigte Individuen auflöste, und der Freiheit, erlebt als traditionsgebundenen Organismus».19

Die Wirtschaftsliberalen hingegen stehen wegen der Abhängigkeiten der Schweizer Textilindustrie, aber auch der Exportindustrie im Allgemeinen, dem Süden näher als dem Norden. Gottfried Keller schreibt 1861 im Zürcher Intelligenzblatt, dass «etwas spezifisch Verhängnisvolles an der Baumwolle» klebe. Dass sie auf alle, «die mit ihr zu schaffen haben, einen unleugbaren Einfluss behauptet und mit dem innern Leben eines tiefer gefassten Patriotismus, einer gründlichen Humanität, oft genug in Widerspruch gerät». (27.3.1861) Escher, dem damals schon von Radikalen und Konservativen, beispielsweise in der Luzerner Zeitung vom 3. Mai 1865, vorgeworfen wird, «auf dem Piedestal von Sklavenreichtümern gross geworden» zu sein, vertritt nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Zürcher Grossen Rat die Haltung: «Neutralität, rückhaltlose Neutralität, sei und bleibe der Leitstern der Politik der Schweiz gegenüber dem Auslande». Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Schweizer auf der Seite der Nordstaaten steht und die offizielle US-Regierung diejenige von Lincoln ist, nützt eine solche Haltung dem Süden. Die Escher nahestehende NZZ hält noch am 25. November 1864 an der Meinung fest, «die Anerkennung des Südens als kriegführende Macht» könne «kaum mehr mit Fug und Recht verweigert» werden. Nachdem sie am 7. Mai 1865 die Solidaritätsbewegung als «Lust am Demonstrationenmachen» lächerlich gemacht hat, kontert der Bund: «Wir finden es übrigens natürlich, dass die NZZ, welche bis in die jüngste Zeit durch Dick und Dünn mit dem Süden sympathisierte, jetzt zu einer Sympathieadresse für den Norden» ein so «sauersüsses Gesicht macht». (8.6.1865) Der Graben zwischen Radikaldemokraten und Wirtschaftsliberalen ist schon vor Beginn der Zürcher Bewegung abgrundtief.20

«Blütezeit der Vereine»

Die Aufbruchstimmung der 1860er-Jahre äussert sich auch «im ungeahnten Aufschwung des Vereinslebens». Der Mathematikprofessor und Statistiker Hermann Kinkelin, von dem diese Wertung stammt, hat die spektakuläre Zunahme von Vereinen und ihren Mitgliedern 1872 in einer Grossstudie erfasst. Ende 1871 gibt es in der Schweiz 3552 Vereine für Bildungszwecke im breiten republikanisch-demokratischen Sinne des Wortes. Diesen gehören 235 010 Mitglieder an, wobei die «Vereinsseligkeit» zur Folge hat, dass viele Bürger und auch Bürgerinnen mehrfach organisiert sind. 1411 Vereine sind nach 1860 gegründet worden, was einem Wachstum von 66 Prozent zwischen 1861 und 1871 entspricht. Etwa ein Drittel der Vereine sind Gesangschöre, denen auch viele Frauen angehören. Am stärksten zugenommen haben in den 1860er-Jahren Vereine der Mittel- und Unterschichten, Bauern-, Handwerker- und Gewerbe- sowie Arbeitervereine. Allerdings ist die Romandie, die bloss einen Sechstel aller Mitglieder stellt, untervertreten. Hier dürfte das Erbe des «hyperindividualistischen Code civil» (Gruner) eine starke Rolle gespielt haben. Die soziale Dynamik äussert sich in der französischsprachigen Schweiz dafür stärker über direkte Aktionen, beispielsweise Streikbewegungen. Der unter der Schirmherrschaft des radikaldemokratischen Bundesrats Karl Schenk entstandene Bericht hält zur «Blütezeit der Vereine» fest: «Überall schliesst man sich zusammen, um mit vereinten Kräften das zu erreichen, was dem Einzelnen für sich allein nicht möglich wäre.» Zusätzlich zu diesem Gedanken der Kooperation betont der Innenminister das Primat der Zivilgesellschaft – gegenüber Staat wie Wirtschaft: «So manche Anregung von gemeinnützigen Ideen und Institutionen und Durchführung derselben auf dem Gebiete der Politik, Wissenschaft, Kunst, Gewerbe und Industrie in Staat, Kanton und Gemeinde ist der Initiative der Vereine zu verdanken.»21

Die Zürcher Volksbewegung (1863–1869) gegen die «Geldaristokratie» bestätigt eine demokratiepolitisch bedeutende Gewichtsverschiebung: von den Gemeinden zu den Vereinen. Dies bedeutet eine Lockerung vorgegebener Verbindlichkeiten zugunsten freiwilliger Zusammenschlüsse. Und sie hat in den Worten von Martin Schaffner zur Folge, dass sich «an den grossen Demonstrationen des Spätherbstes» von 1867 «nicht eine Masse, sondern Gruppen von Teilnehmenden» versammeln. «In diesen Gruppen muss man das organisatorische Rückgrat der Bewegung sehen.» Zudem wirken sie als deren Schule: «In den Vereinen lernten die Mitglieder die formalen Verfahren der Vereinsdemokratie kennen, gewöhnten sich an die informellen Regeln der Versammlungsdisziplin.» Sogar die NZZ, deren Lager an den Landsgemeinden von Mitte Dezember 1867 als «neue Aristokratie», «Geldmacht», «Sklavenhalter von fern und nah» tituliert wird, schreibt am 16. Dezember 1867 über die 20 000 Teilnehmenden: «Die Haltung des Volkes war ruhig, einseitig eingenommen, aber nicht fanatisch.»22

Demokratische Bewegung gegen das «System»

Hohes Niveau hat nicht nur die politische Kultur, davon zeugen auch die Inhalte. Das erste Programm der Zürcher Volksbewegung, das im März 1863 an einer laut Bleuler 550-köpfigen Versammlung in Unterstrass beschlossen worden ist, beinhaltet zwölf Forderungen: «1. Glaubensfreiheit, 2. Presse- und Vereinsfreiheit, 3. Abschaffung des Metzgrechts, 4. Abschaffung der Todesstrafe, 5. Progressivsteuer, 6. Aufhebung der Diskriminierung von Konkursiten, 7. Nur direkte Wahlen für den Grossrat, 8. Volkswahl der Bezirksbeamten, 9. Leichterer Zugang zu den Gerichten, 10. Schaffung von Einwohnergemeinden, 11. Initiativrecht auf Verfassungsrevision, 12. Gründung einer Staatsbank.»23 Wie ernst es den Zürcher Demokraten mit der Glaubensfreiheit ist, hat deren späterer Führer Gottlieb Ziegler bereits 1859 mit einem Vorstoss für die Gleichberechtigung der Juden bewiesen. Die elfte Forderung wird von der Regierung aufgenommen. Dies führt zu einem Volksbegehren für eine Verfassungsrevision, verbunden mit einer Kaskade von Grossversammlungen im Winter 1867/68.

Am 26. Januar 1868 werden mit grosser Mehrheit bei einer Stimmbeteiligung von 90 Prozent die Totalrevision und die Wahl eines Verfassungsrats beschlossen. Beim ersten Wahlgang vom 8. März steigt die Beteiligung auf 94 Prozent an und ist dreimal so hoch wie bei den vier Kantonsratswahlen seit 1850. Danach kommt es zu 400 Eingaben zuhanden der Verfassungsväter, die häufig aus Versammlungen stammen. Einige betreffen auch die Rechte der Frauen, die dann allerdings keine Berücksichtigung finden. Über das weitgehend verwirklichte Programm von Unterstrass gehen in der Zürcher Verfassung die folgenden Errungenschaften hinaus: Direktwahl der Exekutive, Obligatorisches Referendum, Unentgeltlichkeit der Volksschule und der militärischen Ausrüstung, Förderung des Genossenschaftswesens und Arbeiterschutz, Erbschaftssteuer, Humanisierung des Strafrechts. Am 18. April 1869 wird bei einer Stimmbeteiligung von 91 Prozent mit 35 458 Ja- gegen 22