Andreas Marneros

Die List

Mythen und Psychologie

herausgegeben von Wulf Bertram

Zum Herausgeber von »Wissen & Leben«:

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest/Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo/Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu. 1985 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags in Stuttgart, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Im gleichen Jahr gründete er zusammen mit Thure von Uexküll und medizinischen Fachkollegen die Akademie für Integrierte Medizin, deren Vorstand er seitdem angehört. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen ein Minimum an Spaß machen müsse und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet neben seiner Verlagstätigkeit als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für sein Lebenswerk, seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit im Sinne des Stiftungsgedankens«, wurde Bertram 2018 der renommierte Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen, deren Ziel es ist, zu einer humaneren Welt beizutragen, in welcher der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht.

Impressum

Andreas Marneros

Bonn

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Schattauer

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Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © Adobe Stock/bht2000

Lektorat: Volker Drüke, Münster

Projektmanagement: Dr. Stephanie Born, Stuttgart

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40034-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11594-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20436-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Danksagung

Frau Professor Dr. Anke Rohde und Frau Dr. Valenka Dorsch danke ich sehr herzlich für die erste Lektorierung des Werkes und ihre wertvollen Anregungen.

Mein Dank gilt auch dem Lektor für wissenschaftliche Literatur Volker Drüke für die exzellente Zusammenarbeit.

Wer hat Angst vor den Chinesen? Oder: Ein listiger Prolog

»Nun immer zu! wir wollen es ergründen

In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden.«

J. W. v. Goethe »Faust. Die Tragödie« (V. 6255 – 6256)

Unerwartete Wiederbegegnungen sind immer aufregend. So war für mich die unerwartete Wiederbegegnung mit dem Interesse an der List aufregend. Ich hatte bis dahin gedacht, ich hätte mit ihr abgeschlossen. Wir gehen getrennte Wege, und der eine nimmt von dem anderen keine Notiz – dachte ich. Die Beziehungsklärung zwischen ihr und mir hatte zwar viele Jahre in Anspruch genommen, war aber schon in meiner Jugendzeit abgeschlossen. Nachdem ich meine kindliche Traumatisierung durch die List erfolgreich bewältigt hatte, dachte ich »Jetzt ist Schluss mit listig«. Welche Traumatisierung? Es war eine privat-persönliche listogene Traumatisierung im kindlichen Alter, worüber ich Ihnen gerne im 2. Kapitel erzählen möchte.

Nun aber ist sie wieder da, die List. Und sie droht wieder mit Traumatisierungen – doch diesmal, in meinem fortgeschrittenen Alter, mit einer anderen Art von Traumata: nicht mehr mit privat-persönlichen, sondern mit kollektiv-abendländischen. Sie drohen zu entstehen durch massive Angriffe aus Fernost, und zwar aus dem Reich der Mitte. Um die List droht nämlich ein Kampf der Kulturen zu entstehen. Chinesische imperiale Ansprüche auch auf diesem Gebiet sind nicht zu übersehen. Der casus belli dreht sich um die Frage:

»Wer ist der Herr der List?«

Wieso denn das? könnten Sie berechtigterweise fragen. Jede Kultur hat ihre List, oder? Das dachte ich auch, bis ich las:

Die abendländische Kultur leide an »Listignoranz«, und »Europäer verblüffen durch niederschmetternde Listblindheit, und zwar sowohl hinsichtlich – meist inkompetenter – Listanwendung als auch in Bezug auf das fast immer misslingende rechtzeitige Durchschauen von List« – meint der Sinologe Harro von Senger in »Die Kunst der List« (2001, S. 9 f.). Im Gegensatz zur chinesischen Kultur, die eine lange, Jahrhunderte alte Tradition in Sachen List habe. Und in Konfrontation mit der chinesischen »Listweisheit« [erkenne] die »westliche Selbstherrlichkeit (. . .) eine ihrer Achillesfersen – die eigene Listblindheit« – sagt derselbe Diagnostiker in derselben transkulturellen listologischen Propädeutik (ebd., S. 10).

Dies wirft ein Autor den Abendländern vor, in einer Mischung von (fast) Jeremiade(1) (was das Abendland betrifft) und (fast) Hymnologie(1) (was China betrifft), auch durch chinesische Wörter und chinesische Schriftzeichen bereichert, ein großer Bewunderer der chinesischen Kultur und Kenner der chinesischen Sprache: der soeben zitierte Sinologe und Jurist Harro von Senger(1), dem wir in diesem Buch wiederholt begegnen werden.

Was die chinesische Listkultur betrifft, mag es wohl so sein. Was ich darüber weiß, weiß ich vorwiegend von ihm durch seine einschlägigen Publikationen. Aber auch die meisten anderen listaffinen Autoren des deutschsprachigen Raumes beziehen sich diesbezüglich größtenteils auf ihn, wenn ich die Literaturquellen zur List richtig überschaue.

Was aber die abendländische Kultur zum Thema List betrifft, dazu hat jeder ihrer europäischen Liebhaber seine eigenen Erfahrungen, sein eigenes Wissen und seine eigene Meinung. Und so können wir guten Gewissens sagen:

Die abendländische Kultur ist voll der List, sie prahlt sogar damit!

Wir wollen keineswegs die Thesen des sinologischen Listpapstes und anderer sinophiler Listgelehrter anfechten, was das chinesische Reich der List betrifft. Doch wir wollen sie höflichst bitten, die sieben Säulen des abendländischen Listhimmels genauer zu betrachten und entsprechend zu würdigen. Es gilt für alle die Einladung, sie im 2. Kapitel zu besichtigen und in den nachfolgenden Kapiteln den damit verbundenen Geschichten zu lauschen.

Ja, wir Abendländer können über die List viele Geschichten erzählen. Und das soll in diesem Buch auch geschehen – nicht ohne Amüsement und Humor. Listvoller Humor und humorvolle List sollen dabei das Ernste, ja manchmal auch das Schaurige begleiten und damit manches abmildern.

Aber dennoch, mit all denen, die uns in diesem Buch begegnen werden, beabsichtigen wir nicht, uns von dem Vorwurf der abendländischen Listblindheit und Listignoranz, den der sinophile Sinologe und seine Gefolgschaft uns machen, einfach so reinzuwaschen. Die Vorwürfe nehmen wir ernst. Aber wir bitten darum, dass auch unsere Entgegnungen ernst genommen werden.

Das Abendland braucht keine Angst vor den Chinesen zu haben. Auch nicht in Sachen List!

Aber stimmt der Satz »Wir beabsichtigen nicht, uns von dem Vorwurf der abendländischen Listblindheit und Listignoranz, den der sinophile Sinologe und seine Gefolgschaft uns machen, einfach so reinzuwaschen«?

Habe ich nicht mit den obigen Ausführungen schon suggeriert, wie obsolet das »Reinwaschen« ist? Nicht die Grundlosigkeit der Vorwürfe angedeutet?

Habe ich mich damit nicht einer Sprachlist bedient, um mich und alle anderen Abendländer doch von dem Vorwurf der »niederschmetternden Listblindheit« und der »westlichen Listignoranz« freizusprechen, indem ich sage, dass ich gerade das nicht will? Ist es nicht eine Form von List, wenn jemand etwas kundtut, indem er das Gegenteil behauptet?

Ach, diese listige Sprache! Zusammen mit der listigen Psyche, dem listigen Verstand, den listigen Tieren, den listigen Mikroben, den listigen Viren und den listigen Genen bildet sie eine mächtige listige Bande.

War sie auch in diesem Prolog am Werk?

Wieso übrigens »reinwaschen«?

Gäbe es dafür überhaupt einen Grund?

Versuchen wir gemeinsam, listreich wie auch listfrei, das herauszufinden.

Willkommen zu dieser Listexpedition!

Andreas Marneros

Bonn, Sommer 2019

1 Auf den Spuren des listreichen Odysseus und des »listigen Jesus«

»Wer lehret mich? was soll ich meiden?

Soll ich gehorchen jenem Drang?«

J. W. v. Goethe »Faust. Die Tragödie« (V. 630 – 631)

Achilles’ Entkleidung, des Schlangenbisses Heilung und des Teufels Überlistung durch listige Engel

Es gibt kluge List, die Probleme löst, und es gibt kluge List, die Probleme schafft.

Apollodor(1) in seiner »Bibliotheke« (III, 171) andere Mythographen (etwa die, die im W. H. Roschers(1) »Ausführliches Wörterbuch der griechischen und römischen Mythologie« zitiert sind) erzählen uns folgende Anekdote über eine kluge, problemlösende List:

Eine Prophezeiung sagte voraus, dass die Griechen Troja ohne die Mitwirkung von Achilles(1) nicht erobern könnten. Doch wenn Achilles in Troja kämpfe und Ruhm erlange, werde er nicht lebend nach Griechenland zurückkehren. Das wollten seine Eltern verständlicherweise unter allen Umständen vermeiden. Sie nahmen deshalb den Jungen aus der Obhut Chirons – des weisen Kentauros, bei dem er zur Erziehung und Ausbildung war –, verkleideten ihn als Mädchen und versteckten ihn im Palast des Königs Lykomedes von Skyros, wo er unter dem weiblichen Namen Pyrrha mit den Töchtern des Königs zusammen aufwuchs. Die Griechen wussten jedoch: Ohne den göttlichen Achilles war der Krieg nicht zu gewinnen. Wo aber war er? Mittlerweile musste er erwachsen sein (und wie später zu erfahren war, hatte er sogar in seinem Versteck eine der Königstöchter geheiratet und mit ihr den Sohn Neoptolemos bekommen, dem wir bald als Akteur einer anderen List begegnen werden).

Doch schon vor Beginn des Feldzuges gegen Troja gelang es dem listreichen Odysseus(1), Achilles zu finden und ihn mit einer List zu entlarven.

Odysseus kam als Händler in den Palast von Skyros und ließ eine Menge Geschenke, alles Frauenkram, in der Halle ausbreiten. Etwas abseits stellte er ein Schwert und einen Kriegsschild zur Schau; manche Augenzeugen sagen, dass er dazu in eine Kriegstrompete blies. Sofort warf eine der Frauen ihre Kleider ab, und damit wurde der nackte Körper eines schönen, kräftigen jungen Mannes sichtbar. Der entkleidete Starke und Schöne griff begierig und mit leuchtenden Augen nach den Waffen – er war, wie man leicht erraten kann, Achilles.

Mit einer List war das Problem gelöst – die Griechen jubelten, die Trojaner zitterten. Und Achilles fiel tatsächlich ruhmreich im zehnten und letzten Kriegsjahr.

Sophokles(1) dagegen beschreibt in seiner Tragödie »Philoktetes« die folgende problemschaffende und eine moralische Konfliktsituation erzeugende List:

Philoktetes(1), einer der griechischen Heeresoffiziere des trojanischen Feldzuges, wird von einer Schlange in den Fuß gebissen. Die Wunde entzündet sich und bereitet ihm unendliche Schmerzen. Er kann sein Bein nicht mehr bewegen, und die Wunde riecht fürchterlich. Seine Schreie und sein qualvolles Stöhnen demoralisieren das Heer. Infolgedessen trifft die Heeresführung die Entscheidung, Philoktetes mit seinen Waffen auf Lemnos, das im Drama des Sophokles als menschenleer dargestellt wird, in einer geschützten Höhle mit einer Quelle abzusetzen. Philoktetes hegt großen Groll und Hass gegen die Heeresführung, die ihn so behandelt hat. Aber er hat eine Trumpfkarte in der Hand. Er besitzt nämlich eine Geheimwaffe: Sein Bogengeschoss ist ein Geschenk von Herakles(1) und hat übernatürliche Eigenschaften, was die anderen Heeresführer offensichtlich nicht wissen. Und sie wissen auch etwas anderes Entscheidendes nicht – sie werden es erst fast zehn Jahre später erfahren.

Helenos, ein trojanischer Seher, hat den Griechen das Geheimnis verraten: Ohne Philoktetes’ heraklische Waffe ist es unmöglich, Troja zu erobern. Das Heer beschließt darauf, eine Mannschaft nach Lemnos zu schicken, bestehend aus dem klugen Odysseus, dem tapferen Neoptolemos, dem Sohn des inzwischen gefallenen Achilles, und einem Späher, um an die Wunderwaffe des Philoktetes zu kommen. Auf Lemnos angekommen, offenbart Odysseus dem tugendhaften Neoptolemos(1) seinen listigen Plan. Er selbst, Odysseus, kann nicht in Philoktetes’ Nähe kommen, weil er einer derjenigen war, die dessen Absetzen auf der damals unbewohnten Insel initiiert haben und deswegen von ihm gehasst werden. Neoptolemos muss den Plan allein ausführen. Odysseus’ List(1) sieht so aus: Neoptolemos muss Philoktetes anlügen, dass er im Zorn den Feldzug verlassen hat und bei den Griechen deshalb in Ungnade gefallen ist. Und dass er seinerseits die Heeresführung dafür hasst. Damit soll ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Heereshassern entstehen, um der Entwendung der Wunderwaffe den Boden zu bereiten.

Neoptolemos gerät in einen Konflikt.

Er will ehrlich und offen und tugendhaft sein; was das Heer jedoch von ihm verlangt, ist nach seinen Vorstellungen nicht tugendhaft. Odysseus’ List riecht für ihn schlimmer als Philoktetes’ Wunde. Odysseus kann Neoptolemos jedoch überzeugen, dass seine Pflicht gegenüber dem Vaterland höher steht als eine einmalige und vorübergehende Verletzung dessen, was man landläufig Tugendhaftigkeit nennt. Nach vielem Hin und Her entscheidet sich Neoptolemos schweren Herzens, die von Odysseus erdachte List anzuwenden. Während der Ausführung jedoch überkommen ihn wieder Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns.

Die List bringt für ihn eine Prüfungssituation mit sich.

Wie auch immer, Neoptolemos kann das Vertrauen des kranken Philoktetes gewinnen, sodass dieser ihm die begehrte Waffe des Herakles aushändigt. Philoktetes will damit Neoptolemos dessen vorgetäuschten Wunsch erfüllen, die sagenumwobene Waffe berühren und küssen zu dürfen. Währenddessen aber wird Philoktetes plötzlich bewusstlos. Da steht nun Neoptolemos, mit der begehrten Waffe in der Hand, die den Krieg beenden und seinen Landsleuten den Sieg und ihm selbst nebenbei großen Ruhm bringen kann. Vor ihm liegt Philoktetes, der ein Hindernis für den Sieg und das Ende des Krieges ist. Doch der ist bewusstlos und machtlos.

Die List bringt Neoptolemos in eine Kampfsituation, in der Moral gegen Moral kämpft. (Diese Konfliktsituation zwischen Moral und Moral wird in einer – naja: fiktiven – Diskussion zwischen Aristoteles(1) und Sophokles dargestellt in Marneros 2013.)

In dieser Konfliktsituation zwischen moralischem Handeln dem Einzelnen gegenüber und höherer verpflichtender Moral gegenüber seinem Vaterland entscheidet Neoptolemos zuerst zugunsten des Individuums. Er will Philoktetes seine Waffe zurückgeben, sobald dieser wieder bei Sinnen ist, die List offenbaren und ihm die Wahrheit sagen. Das erzürnt den hinzugekommenen Odysseus, der starken Druck auf Neoptolemos ausübt und sogar bereit zu sein scheint, physische Gewalt gegen ihn anzuwenden. Die Lage wird gefährlich für Neoptolemos. Der bleibt standhaft, ist aber weiter in der Konfliktsituation und in der gefährlichen Lage, in die die List ihn gebracht hat.

Übrigens wird der Konflikt des Neoptolemos schließlich durch Herakles’(1) Intervention aufgelöst. Er kommt als der »Apó Mechanés Theós« (einige Jahrhunderte später latinisiert in »Deus ex machina«) hinzu und stellt sowohl die individuelle als auch die überindividuelle Moral wieder her. Er schenkt Philoktetes die vollständige Genesung und damit die Wiederaufnahme in die Führung des griechischen Heeres. Und so bringt Philoktetes selbst die Wunderwaffe nach Troja und trägt damit entscheidend zum Sieg der Griechen bei.

Die listogene Konfliktsituation wurde erst mit göttlicher Hilfe aufgelöst.

Das waren zwei listige Geschichten aus dem Umfeld des Trojanischen Krieges, der übrigens mit einer List beginnt und mit einer List beendet wird, worüber wir später sprechen werden. Zwei Geschichten, die uns zwei der vielen Gesichter der List zeigen. Aber auch manche psychologischen Mechanismen, Hintergründe und Folgen – Intelligenz, planendes Denken, Kreativität, Perspektivität, Intentionalität, Emotionalität und Konfliktsituationen –, die hinter oder um die List herum stehen, werden in diesen beiden Geschichten schon sichtbar.

Doch wie stehen alle diese Aspekte zueinander?

Und warum erzählen die Menschen – von Homer und Hesiod, von Äsopos und Jean de la Fontaine, von Moses und den Evangelisten, von Hermann Bote (des »Eulenspiegels« Ur-Autor) und Johann Wolfgang von Goethe (der Spät-Autor des »Reineke Fuchs«), bis hin zu den Gebrüdern Grimm und Christa Wolf – so gerne und eindrucksvoll Listgeschichten?

Wie wäre es denn, wenn wir gemeinsam – listreich oder listfrei – versuchen, das herauszufinden, auf den Spuren des listreichen Odysseus, des »listigen Jesus« und anderer internationaler Listgrößen, Listdichter, Listsänger, Listmystagogen und sonstiger Listosophen des Abendlandes wandernd? (Übrigens, denken Sie nicht, dass die irritierende Bezeichnung »listiger Jesus(1)« von mir stammt. Gott behüte uns vor dem Verdacht der Blasphemie! Sie stammt von einem seiner treuen Diener; wir werden ihn im 5. Kapitel zu Wort kommen lassen.)

Doch bitte mit Humor, mit Gelassenheit und tabufrei!

Damit werden wir später dann hoffentlich auch manche Antworten auf listige und listfreie Fragen finden.

Eine Frage kann ich übrigens schon jetzt beantworten. Die Frage nämlich, warum jedem Kapitel dieses Buchs ein Zitat aus Goethes »Faust. Die Tragödie« vorangestellt ist:

Weil der Teufel Gott um Erlaubnis bittet, den vermeintlichen Gottesknecht Doktor Faust, der

»Philosophie

Juristerei und Medizin,

Und leider auch Theologie

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn«,

auf den Prüfstand zu stellen. Der Teufel will beweisen, dass auch ein solcher Mensch verführbar ist. Gott gibt ihm die Erlaubnis.

Und der Teufel tut es. Er verführt den Herrn Doktor. Mit einem Listpandämonion!

Mit einer nicht enden wollenden Walpurgisnacht der List.

Wie die teuflische Versuchung ausgeht, wissen Sie schon längst: Der listige Teufel wird am Ende selbst überlistet. Von listigen Engeln. Sie schnappen dem Teufel des Faustens unsterbliche Seele listig weg! Aber es könnte sein, dass Sie Goethes Tragödie bisher nicht unter dem Listprisma gesehen haben. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, auch diese Perspektive zu entdecken.

2 Am Anfang war das Trauma . . . und das Trauma war bei Gott

»O dass dem Menschen nichts Vollkommnes wird,

Empfind ich nun.«

J. W. v. Goethe »Faust. Die Tragödie« (V. 3241 – 3242)

Die List und die Sündenliste

Die Bewältigung von traumatischen Erfahrungen muss gefeiert werden. Champagner ist dafür nicht angebracht – abgesehen davon, dass er Einiges an Geld kostet. Schreiben passt da viel besser – und es kostet kaum etwas. Damals als Jugendlicher habe ich das versäumt. Aber ich wusste zu der Zeit auch noch nicht sehr viel darüber, was ich mit dem Schreiben ausdrücken kann. Nun tue ich es, nachdem ich im reifen Alter wieder Besuch von meiner alten Bekannten, der List, bekommen habe – wie ich Ihnen im Prolog gebeichtet habe. Jetzt habe ich das Privileg des Alters. Ich weiß Einiges mehr, denke ich, auch über Traumata. Nichtsdestotrotz hätte ich eigentlich, einer von vielen Regeln der Traumatherapie folgend, diese Zeilen schon am Ende meiner Gymnasiastenzeit schreiben sollen. Nicht wissensreich, sondern zum einen als eine Art triumphalen Befreiungsschreis und Bewältigungsnachweises eines kindlichen Traumas; zum anderen aber, in etwas späterer Zeit, auch als Ehrerbietung an die Weisheit und den Psychologiegehalt der Mythen. Mythen sind nämlich Vehikel, die Botschaften und Weisheiten von ihrem Ursprung in die Ewigkeit transportieren – wie auch ich wiederholt festgestellt habe – etwa bei meinem »Abenteuer mit Prometheus und Herakles« (zu finden in Marneros 2015) oder wie ich meine Gespräche mit Sisyphos und Minotauros dokumentiert habe (Marneros 2018).

Nun aber, nachdem das Gespenst der schon im Prolog angedeuteten und im 19. Kapitel ausführlich dargestellten chinesischen Gefahr mit einem neuen Trauma droht – diesmal kein kindliches, sondern ein gerontologisches – tue ich es, ich schreibe also darüber. Die fernöstliche Gefahr hat alles wieder aufgedeckt. Sie schleuderte Gestalten in das Licht meines Bewusstseins, die in der Tiefe meiner Wissens- und Erlebenswelt schlummerten: Traumata und ihre Bewältigung, Weisheit und Psychologie der Mythen, Schätze der Geschichte und der Literatur, Geheimnisse der Philosophie und Religion und auch manches andere.

Haben Sie Interesse, zu erfahren, wer der kindlichen Seele ein Trauma zufügte? Und was für eines es war? Und wie und wodurch seine Bewältigung schließlich möglich war? Und was es mit der Weisheit und Psychologie der Mythen, den Schätzen der Geschichte und Literatur oder den Geheimnissen von Philosophie und Religion auf sich hat? Wenn ja, bin ich gerne bereit, es Ihnen zu erzählen.

Dass Sie weiterlesen, ist ein Hinweis darauf, dass Sie zumindest neugierig darauf geworden sind. Prima! Fangen wir an.

Zuerst: Wer war der Traumaverursacher bzw. die Traumaverursacherin?

Das weiß ich nicht genau. Und das ist gut so. Dieses Unwissen schützt nämlich vor späteren therapeutisch induzierten Schuldzuweisungen. Ich weiß also nicht genau, ob die Traumaverursacherin meine Oma Melpomene war, für mich die oberste Instanz in Fragen der Metaphysik, oder meine Mutter Anna, eine sehr gläubige Christin. Ich weiß auch nicht, ob ich als Traumaverursacher Herrn Andreas, meinen Lehrer in der Grundschule, der ansonsten eine sehr wesentliche und höchst positive Rolle für meine Gesamtentwicklung spielte, nennen soll. Oder war es etwa mein Onkel Nikolaos, der Priester, der uns Kinder u. a. sonntags in der Katecheseschule in die Religion einführte?1 Oder war es doch Jesus selbst mit seinen Evangelisten und Aposteln? Oder sogar Gottvater höchstpersönlich, wie er zu seinen alttestamentarischen Propheten und Protagonisten sprach? Nach bestem Wissen und Gewissen – ich kann den Traumaverursacher nicht benennen.

Egal! Wahrscheinlicher ist: Die Traumatisierung war das Ergebnis der liebevollen Bemühungen aller vier unmittelbar beteiligten Personen zusammen. Sicherlich ungewollt, ein nicht beabsichtigter Kollateralschaden sozusagen. Die Rolle von Jesus, seinen Evangelisten und Aposteln, wie auch die des Gottvaters mit seinen Propheten und alttestamentarischen Protagonisten war nur mittelbar relevant für die Entstehung des kindlichen Traumas. Sie waren daran bloß als Strippenzieher hinter den Kulissen beteiligt, könnte man sagen. Wobei, falls Letzteres zutrifft, die Bagatellisierung ihrer traumatogenen Relevanz noch zu diskutieren wäre.

Wie auch immer, alle meine vier irdischen Bezugspersonen hatten etwas gemeinsam: Sie erzählten gerne Geschichten und Märchen, vor allem Geschichten und Märchen aus der Bibel. Und welche biblische Erzählung ist faszinierender für kindliche Ohren als die Geschichte von Adam(1) und Eva(1)? Nicht einmal die Katastrophengeschichte der Sintflut mit der spektakulären Tierrettungsaktion konnte mit Adam und Eva, mit der Schlange und mit der Vertreibung aus dem Paradies mithalten. Und die Geschichtenerzähler erklärten mir, dass der Urknall, der die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies verursacht hatte, die List war. In Gefolgschaft der List seien auch Ungehorsam, Rebellion, böse Neugier und manche anderen Übel ins All geschossen worden. Alle diese listogenen Ungeheuer begleiteten List und Mensch bis heute. Natürlich konnte bzw. kann die Geschichte von Adam und Eva, der Schlange und der List auch anders gedeutet werden. Etwa als Wissensdurst, als Streben nach Autonomie, nach Selbstachtung und Würde. Aber das brachten mir, therapeutisch wirksam, erst Jahre später Prometheus und seine alten Griechen mit Hilfe von Aristoteles, dem »Lehrer des Abendlandes«, wie ihn trefflicherweise Hellmut Flashar (2013) nennt, und seiner antiken Kollegen nahe. Falls jemand Interesse an dieser Aufklärungsarbeit hat, kann er sie finden in (meiner) »Suche nach Orientierung«. Es handelt sich um das schon erwähnte »Abenteuer mit Prometheus(1) und Herakles«, beschrieben in »Feuer für ausgebrannte Helden«. Dessen Werk vollendeten dann im Sinne der endgültigen Heilung die Lichtgestalten der Aufklärung(1) des 18. – 20. Jahrhunderts – in meiner Wahrnehmung hauptsächlich deutsche Denkarchitekten –, die in mir »die zunehmende Bewunderung und Ehrfurcht« für den »bestirnte[n] Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« erweckten. So im Sinne Immanuel Kant(1)s berühmtem ersten Satz im »Beschluss« seiner »Kritik der praktischen Vernunft«: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (Kant 1827, S. 236)

Biblische Geschichten sind häufig spannender als Krimis. Das Problem bei ihnen – und bei vielen anderen religiös gefärbten Erzählungen – ist jedoch ihr Ende. Sie beginnen verheißungsvoll, Spannung ankündigend, und können bedrohlich enden. Ihre versteckte oder offene Drohung steckt in einem kraftvollen »Und die Moral von der Geschicht’ . . .«. Bei der geliebten Vierererzählerbande meiner Kindheit war die Moral von der Geschicht’ – der religiösen – immer oder fast immer ein hartes und knalliges »Du sollst nicht . . .!« bzw. »Du darfst nicht . . .!«. Ein knallhartes Verbot, also! Oder ein unverletzbarer und autokratischer Imperativ: »Du musst . . .!«

Konkurrenz zu den biblischen Erzählungen bildeten die wunderschönen und faszinierenden Geschichten aus der griechischen Mythologie, die uns ebenfalls reichlich erzählt wurden – vor allem von den Lehrern. Allerdings endete keine oder fast keine davon mit dem kraftvollen »Die Moral von der Geschichte ist, du sollst nicht . . .!«, oder ». . . Du darfst nicht . . .!« Oder ». . . Du musst . . .!«. Abgesehen natürlich von Äsopos’(1) Fabeln. Aber die waren ja keine Mythen. Sie waren die fabelhaft maskierte »Moral von der Geschicht«. Im Allgemeinen blieb uns bei der Erzählung von griechischen Mythen ein knallhartes Verbot wie auch ein unverletzbarer und autokratischer Imperativ (»Du musst . . .!«) erspart. Anders als bei den biblischen Geschichten.

So viel zu den Traumaverursachern.

Und jetzt kann ich Ihnen eine weitere Frage beantworten – die nach dem psychischen Trauma, das die kindliche Seele quälte.

Es entsprang einer Liste: Der Sündenliste(1) der Bibel!

Genauer gesagt: Traumatogen war hauptsächlich die List auf der Liste der biblischen Sünden.

Und noch genauer gesagt: Das uns übermittelte heilige Verbot der List(1).

Die List war vom Gottvater, von seinem Sohn Jesus, von den Evangelisten und sonstigen Aposteln, von meinem Priester-Onkel Nikolaos, von meinem Lehrer Herr Andreas, von meiner Oma Melpomene und von meiner Mutter heilig verboten. Uns Kindern war sonnenklar: Bruch eines heiligen Verbots bedeutet Verbannung in die Hölle! Und die Hölle war in der kindlichen Phantasie mit Schwefel, Flammen und folternden Dämonen verbunden.

Und ich musste befürchten, dass ich nicht listfrei war.

Das knallharte Verbot der List war noch härter und noch knalliger, wenn sie in eine Reihe mit anderen schweren Sünden eingereiht wurde. Übrigens kann ich den Verursacher dieser Steigerung, die das kindliche Trauma zweifelsohne verstärkte, ganz genau benennen: Es war mein Priester-Onkel in der Katechese-Stunde. Er trug uns nämlich eine lange Reihe von schweren Sünden bzw. »bösen Gedanken« vor, begleitet von der Mahnung »Der, der auch nur eine von diesen Sünden begeht, wird von Gott bestraft«. Und alle Kinder wussten, wie Gott die Sündigen bestraft: Mit der Hölle natürlich!

Die Reihe der schweren Sünden bzw. »bösen Gedanken« lautete: »Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Ausschweifung, neidischer Blick, Lästerung, Hochmut, Narrheit.« Und natürlich »List«2. Erst viel später habe ich entdeckt, dass die Hauptersteller dieser Sündenliste(2) Markus(1), der Evangelist, und Paulus(1), der Erstmissionar, waren: Mit prohibitiver Autorität prahlt sie in Markus(2) (7, 21) und in Paulus(2) in der Epistel an die Römer (1, 29 – 31).