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JAGO PRINZ

Mozarts

LETZTES REQUIEM

Kriminalroman

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IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.

Coverbild: Joseph Lange, ©Internationale Stiftung Mozarteum

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Beatrix Binder, Simone Lettner

eISBN 978-3-7025-8075-9

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
ISBN 978-3-7025-0969-9

www.pustet.at

da der tod |: genau zu neimageen :| der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekaimaget gemacht, daß sein bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! – und ich danke meinem gott daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit |: sie verstehen mich :| zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren glückseeligkeit keimageen zu lernen.

[…]

– und für diese glückseeligkeit danke ich alle tage meinem Schöpfer, und wünsche sie vom Herzen Jedem meiner Mitmenschen.

Wolfgang Amadé Mozart
Brief an seinen Vater vom 4. April 1787

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Epilog

Anhang

REQUIEM Text und wortgetreue Übersetzung

Übersetzung der lateinischen und italienischen Zitate

Glossar

Zum Autor

1

Nicht etwa im althergebrachten Gewande mit schwarzer Kapuze und scharfer Sense, weder mit Engelsflügeln voll himmlischer Hoffnung noch auf Bocksfüßen zwischen pestilenzialischen Schwefelschwaden, auch nicht komödiantisch mit zähneklapperndem Schädel auf zuckendem Skelett, nicht einmal sachlich betäubend im weißen Kittel – nein, mit der Musik trat er ein, unsichtbar und geruchlos, spürbar, aber spurlos. Als ob er sein Opfer sorgfältig wählen wollte, durchschwebte er mit den zeitlosen Klängen des Requiems von Wolfgang Amadé Mozart die Menge der Anwesenden, die sich am Abend des 5. Dezembers in der Stiftskirche Sankt Peter versammelt hatte, um dem Todestag des Salzburger Genies mit der Aufführung seiner Totenmesse bei Kerzenlicht zu gedenken.

Wie entsprungen aus dem Notengespinst der mozartschen Partitur auf dem Dirigentenpult, ließ er zunächst die Flamme einer Kerze über dem Notenständer mit einem schneidenden Hauch erlöschen, noch bevor der in sich gekehrte Kapellmeister der Salzburger Philharmoniker Isaac Löwenstein, die spitze Hakennase und den strengen Blick unter der schlohweißen Mähne wie gebannt auf die Noten gerichtet, seinen Stab in der allgemeinen Stille aufheben und den Orchesterkörper zum Schwingen führen konnte.

Dann ging der Tod weiter.

Beflügelt durch die sanfte Imitation der tieferen Holzbläser über dem seufzenden Begleitsatz der Streicher, streifte er zu Beginn des Introitus am Chorleiter Samuel Libeskind vorbei, gerade als dieser, wachsam gebückt im Schatten einer dem Publikum verborgenen Ecke der Vierung, die Arme ausbreitete und in einem stummen Schrei den Mund in Richtung Chor aufriss, um die Kaskade der kurz übereinander hallenden Requiem-Rufe der Bass-, Tenor-, Alt- und Sopranstimmen auszulösen.

Und suchend schlich er weiter.

Vom forte ertönenden Et lux perpetua angestachelt, ließ er das Doppelkinn des jovialen, genüsslich die Hände reibenden Präsidenten des Mozartianums Theodor König in der Kanzel über den Gang vom Haupt- zum rechten Seitenschiff leicht erbeben, bis Schweißperlen auf der massigen Stirn und den schlotternden Rotbacken des mächtigen Mannes dessen Freude an der Masse zahlender Besucher leicht versalzten.

Aber auch dort machte er nicht halt.

Als die berühmte Sopranistin Cecilia Vinci mit seidiger Stimme beim Solo Te decet hymnus einen Strahl von Wärme in den kühlen Dunstkreis von Lang- und Querhaus entsandte, hatte er bereits die erste Reihe der Kirchenbänke mit den Stadthonoratioren durchstreift, unter denen die bildschöne Gestalt der Sekretärin des Mozartianums, Magdalena Rosenthal, von der überirdischen Klangwelle auffallend heftig erschüttert wurde.

Und schon war er fort.

Einige Plätze hinter ihr brachte er zu Beginn der streng erhabenen Fuge des Kyrie den in eine Taschenpartitur des Requiems vertieften Emeritus der Musikwissenschaft und geachteten Mozartspezialisten Martin Heinrich Schneiderhahn kurz aus der Fassung.

Doch auch bei ihm verweilte er nicht lange.

Kaum hatte der greise Professor seinen irritierten Blick hinter der goldumrandeten Brille wie auf der Suche nach einem unsichtbaren bösen Geist um sich herum schweifen lassen, hatte sich Letzterer noch vor der kontrapunktischen Entfaltung des Kyrie in das rechte Seitenschiff fortgestohlen, um neben dem Reliquiengrab des heiligen Rupert Pater Ägidius, Erzabt des Stifts St. Peter und Leiter des Ordo Sancti Benedicti in der Salzburger Provinz, einen Besuch abzustatten. Zu spät verhüllte der hagere Mönch das verfinsterte Gesicht unter der spitzen Kapuze seiner schwarzen Kukulle, war der Spuk doch längst an ihm vorbei in die zitternden Schatten des Gewölbes entschwunden, beschwingt von der immer dichter werdenden Stimmführung der Kyrienfuge.

Wähnte ich mich auf der letzten rechten Bank des Mittelschiffes in Sicherheit, irrte ich gewaltig. Zwei Wogen tiefsten Frosts und sengender Glut schlugen mitten im Stimmengeflecht des Kyrie jäh über mir zusammen. In einem Atemzug schwankte ich zwischen einer nie empfundenen, unheilvollen Verzweiflung und einem unwirklichen, übermütigen Freudentaumel, ohne einen erkennbaren Grund für die plötzliche Gefühlserschütterung finden zu können. War es die klangliche Wirkung des archaisch anmutenden Adagios am Ende des Kyrie? Die modale Schlussformel hatte ich doch schon früher bei anderen Aufführungen des Requiems gehört, ohne auch nur annährend in ähnliche Wallungen zu geraten. Vielleicht war es aber auch die hinreißende Interpretation unter der Leitung von Isaac Löwenstein? Er schien an dem Tag zwar mit ungewöhnlicher, befremdlicher Besessenheit zu dirigieren, aber sein bewegender, nie banaler Führungsstil war mir vom Besuch zahlreicher Konzertveranstaltungen der Salzburger Philharmoniker durchaus bekannt. Oder war es die suggestive Atmosphäre der prunkvollen Peterskirche im flackernden Schein der Kerzen? Auch diese war mir nicht neu, galt die Aufführung des Requiems bei Kerzenlicht an Mozarts Gedenktag doch seit Jahren als festes Ritual des Salzburger Konzertlebens. Oder war es womöglich nur die überdurchschnittlich strenge winterliche Kälte? Gegen das Frostwetter, sei es auch durch das feuchte Mauerwerk der Kirche verschärft, war ich mit warmer Bekleidung hinreichend geschützt. Nein, etwas anderes, etwas Unheimliches, ja etwas Übersinnliches, da war ich mir sicher, lag in der Luft, ungreifbar zwar, aber stets präsent. Und doch – vielleicht wollte der Tod mich verschonen, damit ich die schaurigen Ereignisse erzählen konnte, die unsere Mozartstadt in den folgenden Tagen erschüttern sollten; möglicherweise war ich ihm zu unbedeutend; wahrscheinlicher war meine Zeit schlicht und einfach noch nicht gekommen – auf einmal war er verflogen, noch bevor ich ihn fassen konnte.

Beim Dies Irae schlug er schließlich zu. Isaac Löwenstein schien als Erster sein Kommen geahnt zu haben, ja ihn beinahe heraufbeschwören zu wollen, indem er den Einsatz zu Beginn der Totensequenz erst nach einer langen, atemverschlagenden Pause mit weit ausholender Schlagfigur gab. Wie viel Absicht hinter der etwas theatralisch wirkenden Geste des Dirigenten steckte, ließ sich nicht genau eruieren, denn im Verlauf des Dies Irae sah er so aus, als ob er allmählich in eine andere Klangsphäre entrückt werden würde und die Kontrolle über das musikalische Geschehen verlöre: Er hielt keinen Blickkontakt mehr mit Orchester und Chor, krümmte sich immer bedrohlicher zur Partitur auf dem Dirigentenpult hin, und sein Schlag ging bisweilen sogar gegen die musikalische Richtung des Dies Irae, quasi als dirigiere er eine andere Passage – wenn nicht sogar ein anderes Werk. Bei der Verlangsamung des Tempos am Schluss des Stückes ging es noch dramatischer zu. Was zunächst wie die zwar etwas abenteuerliche, aber doch künstlerisch vertretbare Einführung eines nicht vorgeschriebenen Rallentandos anmuten konnte, artete wenig später in ein kühnes Musikexperiment aus, als dieses in ein monumentales Ritardando mündete, und geriet zuletzt zum klanglichen Affront gegen das Publikum, als der Dirigent die Taktschläge so ausdehnte, dass das ursprüngliche Tempo nicht mehr zu erkennen war. Kaum waren Orchester und Chor rat- und atemlos verstummt, kappte der Tod mit einem Schlag die unsichtbaren Fäden, die Isaac Löwenstein noch lose an die Partitur banden. Der taumelnde Kapellmeister versuchte noch einmal mit einer Hand den Stab emporzuheben, griff mit der anderen schwerfällig nach dem Dirigentenpult und sank, Notenständer und Partitur in einem schallenden Krachen mit sich nach unten reißend, rückwärts auf den Schachbrettboden vor der rotmarmornen Balustrade des Presbyteriums.

2

Wenn es einen Zuhörer gab, dem all dies nichts anzuhaben schien, dann wohl mein Sitznachbar zur Rechten. In einem abgewetzten Parka undefinierbaren militärgrünen Farbtons gemächlich nach vorne gerutscht, Stirn und Blick mit einer flinken Handbewegung unter der Kapuze verborgen, die Beine über den Rücken seines am Boden leise schnurrenden Hundes lässig ausgestreckt, war er in tiefsten Schlaf gesunken, kaum hatten die Einleitungstöne des Requiems die letzten Wölbungen des Langhauses erfüllt.

Der stachelige Dreitagebart, die abgetragene Kleidung und die Gesellschaft des großen falben Labradors zu seinen Füßen wiesen ihn auf den ersten Blick als einen hiesigen Obdachlosen aus, der sich mit seinem vierbeinigen Lebensgefährten auf der Suche nach einem warmen Unterschlupf in die Peterskirche eingeschlichen haben dürfte und wohl den Wortlaut des Requiems auf eine sehr konkrete Art und Weise umzusetzen gedachte. Aus der zwar nicht ewigen, aber doch unerschütterlichen Seelenruhe vermochte ihn jedenfalls weder die feuchte Kühle der Kirche noch die ergreifende Intensität der Musik zu bringen, schon gar nicht die schwebende Todesahnung: Als ob er seinen Gleichmut unter Beweis stellen wollte, fing er gleich beim Introitus an, in einem rossinischen Crescendo zu schnarchen, das der tiefgehenden Klangsteigerung der mozartschen Einleitung eine durchaus ebenbürtige, wiewohl stilistisch ungleiche Konkurrenz machte.

Requiem aeternam dona eis, Domine … Unruhe breitete sich schon beim ersten Vers des Introitus unter den Zuhörern um uns herum aus. Als Sitznachbar fühlte ich mich irgendwie für die Lage verantwortlich und versuchte, ihn mit dem Ellenbogen, am Anfang sanft, dann aber immer energischer, zu schubsen, um wenigstens das kehlige Geräusch zu dämpfen. … Requiem aeternam … Vergebens. Einige aufgebrachte Zuschauer im Stehen hinter uns schickten hörbar missgestimmte Zischlaute in seine Richtung. … dona eis … Nichts. »Banause!«, fauchte eine wutentbrannte Dame unbestimmten Alters von der vorderen Sitzbank. … Domine … Wieder nichts. Beim Et lux perpetua luceat eis meinte sein rechter Sitznachbar, ein etwas biederer, betagter Mann in altmodischer Tracht, ihm mit einer Flüsterpredigt über die fromme Tugend des Schweigens ein Licht aufstecken zu müssen. … Et lux perpetua … Fehlanzeige. … luceat eis … Ein Licht ging indes jemandem aus der hinteren Reihe auf: Beim anschließenden Solo Te decet hymnus, Deus schickte sich ein gewitzter Pensionist hinter mir an, dem gemütlich weiter schnarchenden Mithörer durch liebevolles Pfeifen leicht anbiedernd entgegenzukommen, in der Hoffnung, der alte Kniff möge den Herrn milde stimmen. … Et tibi reddetur votum … Das tat es wohl, fing mein gnädig weiter tief schlummernder Nachbar doch an, selbst jedem Schnarcher einen friedlichen Pfeifton folgen zu lassen, während der Labrador zu seinen Füßen ab und zu gelassen knurrte. So entfaltete sich parallel zum Requiem für Soli, Chor und Orchester ein kunstvolles Pfeifduett mit tierischer Begleitung, zu dem sich immer wieder weitere Mitwirkende mit zornigen Zwischenrufen, zermürbenden Zischlauten und zaghaftem Zetern gesellten. Pfiff ein Nachbar, ruhte der Schnarcher und brummte der Hund. Requiem aeternam dona eis … Pfiff der Schnarcher, schwieg der Pfeifer und stöhnte ein Nachbar: »Hören Sie auf, Herrgott noch mal!« … Domine … Schnarchte der Schnarcher, ruhte der Hund, flehte ein Zuschauer: »Ich bitte Sie!« … Exaudi orationem meam … Sosehr die Menge ihn zerfleischen mochte, sägte der eingefleischte Schnarcher weiter. … Ad te omnis caro veniet … Ohne Erbarmen. … Kyrie eleison, Christe eleison

Als der Zorn der Zuhörer am Schluss des Dies Irae kaum noch zu bändigen war, fand das postmoderne Parallelkonzert zeitgleich zum polternden Sturz des Dirigenten ein abruptes Ende. In perfektem Einklang kamen Hund und Herrchen blitzartig auf ihre sechs Beine. Ersterer huschte flugs über meine Füße in den Gang des Mittelschiffes, Letzterer schwang sich mit einer Hand auf der Banklehne agil über mich hinweg, wobei er mit der anderen Hand die pelzgefütterte Kapuze seines Parkas herunterstreifte. Noch bevor ich mich ducken konnte, eilten beide zum Podium hin.

Fast mehr erstaunt über das kuriose Gespann als über den gefallenen Kapellmeister, stand ich hastig auf und lief ihnen hinterher. Der Labrador bahnte uns mit seinem bissigen Gebell den Weg durch den Auflauf der Schaulustigen, die sich bereits vor der Balustrade des Altarraums versammelt hatten. Kurz vor dem Podium ertönte hinter ihm die kräftige, mir seltsam vertraute Bassstimme seines Herrchens mit unverkennbarem Wiener Akzent: »Chefinspektor Stiller, lassen Sie mich bitte durch.«

3

Der plötzliche Einbruch des Todes hatte das Ensemble im Presbyterium in zwei Lager gespalten. Blankes Entsetzen herrschte unter den dicht aneinandergedrängten Chor- und Orchestermitgliedern im Halbkreis hinter dem regungslosen Dirigenten: Noten wurden mit aufgerissenem Mund fest an die Brust gedrückt, die Blicke versteinert auf den Toten geheftet; Flöte, Oboe, Klarinette oder Fagott ließ man in der einen Hand trostlos liegen, während man sich entgeistert mit der anderen über Stirn, Mund oder ans Kinn fuhr; mancher klammerte sich starr vor Schreck an seiner Geige oder Bratsche unter dem Arm oder an seinem Bassetthorn und seiner Posaune auf den Knien fest; andere umschlangen pietätvoll das Violoncello, wieder andere den Kontrabass.

Einen markanten, quasi grotesken Kontrast dazu bildete der ekstatische Gesichtsausdruck von Isaac Löwenstein: Wie in tiefster Trance sah der etwas abseits daliegende Kapellmeister mit träumerischen Augen und seligem Lächeln in weite Ferne, als ob er eine überirdische Vision empfangen würde. Sein Körper lag vollkommen gelöst auf dem Boden unter der achtseitigen Vierungskuppel, die Arme friedlich auf der Brust verschränkt. – Die ewige Ruhe in Person.

Zwischen dem friedvollen Toten und dem erschütterten Kreis der Lebendigen hatte sich die Sopranistin Cecilia Vinci niedergekniet. Sie richtete ihre tränenfeuchten, dunklen Augen in unergründlicher Trauer fest auf Isaac Löwensteins bleiches Gesicht und hielt seine kreideweiße Rechte zärtlich in ihren feinen Händen, indes sich ihre langen schwarzen Haare geschmeidig mit der schlohweißen Mähne des Dirigenten verflochten und das Spiel von Licht und Schatten auf dem rotweißen Schachbrettmuster des Kirchenbodens ohne Unterbrechung weiterführten. Auf den Boden neben sie legte sich der Labrador mit traurigen Kulleraugen und flaumigen Hängeohren, und sie begann ihn geistesabwesend zu streicheln.

Als der Chefinspektor sich über Isaac Löwenstein beugte und nach seinem Puls tastete, blickte sie ihn an. Etwas Unergründliches flackerte in ihren großen dunklen Augen. Für eine flüchtige Weile, die kein Ende finden wollte, verlor er sich wie gebannt in der unruhig lodernden Schwärze und konnte seinen Blick von ihrem nicht lösen. War es die Trostlosigkeit im Angesicht des Todes, die durch die undurchschaubare Tiefe ihrer Pupillen schimmerte? Würdevolle Standhaftigkeit? Aufrichtige Zuneigung? Unterdrückte Wut? Sie musste leise vor sich hin summen, denn zwischen ihren veilchenfarbenen, leicht gekräuselten Lippen vernahm Stiller einen melancholischen, hypnotisierenden Sirenengesang wie aus fernen Zeiten sachte ausströmen:

Ei non respira più … fredde ha le membra

Padre mio … caro padre … padre amato … io manco … io moro

Je länger das Herz des Dirigenten stillstand, umso lebhafter spürte Stiller, wie sein eigenes unter dem Einfluss der trauervollen, seufzenden Melodie immer heftiger raste. Je kälter sich die Hand des Toten anfühlte, umso heißer wurde es ihm unter dem eindringlichen Blick der Sängerin. Erst als er bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, erwachte er aus seiner Trance. Er stand gefasst auf, zog sie mit sich hoch, nahm ihren Arm und geleitete sie, gefolgt von seinem leise winselnden Hund, zurück zu den anderen Musizierenden. Sie ließ sich willenlos führen und sank im Halbkreis ihrer Kollegen aufgelöst zu Boden.

Erst dann fiel es ihm auf: Ein fast unmerklicher weißer Hauch stieg gleich einer dünnen Rauchfahne langsam aus Isaac Löwensteins Mund empor, den Frieden seines verträumten Lächelns in befremdender Weise störend. Er mochte seinen Augen nicht trauen und näherte sich rasch der Leiche des Dirigenten, doch der schmale Dunstfaden war schon verflogen. War es eine Halluzination oder hatte er gerade die Seele eines Verstorbenen entschwinden sehen? Unwillkürlich blickte er zu den goldenen Statuen der Salzburger Patrone Rupert, Vitalis, Virgil und Amand vor dem monumentalen Hochaltar empor, als suche er bei ihnen einen spirituellen Rat für eine wunderliche Erscheinung, die nicht ganz in seinen kriminalpolizeilichen Erfahrungsschatz hineinpassen wollte. Sein detektivisch geschulter Verstand gewann jedoch bald wieder die Oberhand: Mit einer energischen Handbewegung bat er alle Anwesenden in der Kirche, und insbesondere die Schaulustigen an der Altarbalustrade, wieder auf ihre Plätze zurückzukehren und auf weitere Anweisungen zu warten. Dann rief er den Leiter der rechtsmedizinischen Abteilung direkt von seinem Handy an und begann, den Toten gründlich zu untersuchen.

4

Gehöre ich zu den einfachen Konzertbesuchern, oder bin ich doch etwas mehr als ein bloßer Zuschauer?, fragte ich mich, während ich noch unschlüssig den Schaulustigen folgte, die, widerwillig und ohne ihre Enttäuschung zu verhehlen, zurück zu ihren Plätzen strebten. Schon vor der ersten Kirchenbank kramte ich Notizbuch und Stift aus der Tasche meines Mantels, versteckte mich dann im rechten Seitenschiff hinter der nächsten Säule und fing an, fieberhaft in das kleine Heft hineinzukritzeln. Etwas sagte mir, dass das, was sich gerade ereignet hatte, nicht nur eine journalistische Sensation war, die die ersten Seiten der morgigen Zeitungen füllen würde: Das war der Beginn einer Geschichte, die – bereichert durch die gebotene Zutat literarischer Fiktion – ein echter Kriminalroman werden konnte. Und dass gerade ich, ein Journalist mit langjähriger Erfahrung in der Polizeiberichterstattung der Stadt Salzburg, in der letzten Reihe neben dem künftigen Hauptermittler gesessen hatte, musste mehr als nur Zufall sein: Es war ein Wink des Schicksals.

Einen Roman zu verfassen war schon immer mein Traum gewesen. – Welcher Journalist hofft denn nicht insgeheim, irgendwann ein echter Schriftsteller zu werden und jenen qualitativen Sprung vom kurzlebigen Tagesbericht zur hohen, unvergänglichen Literatur zu schaffen? Ob es nun meine dem Berufsethos verpflichtete Wahrheitsliebe gewesen war, die mich bisher davon abgehalten hatte, oder doch ein gewisser Erfolg als Reporter, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Vielleicht fehlte mir das Talent für eine literarische Laufbahn. Oder ich hatte noch nicht die richtige Inspiration gefunden, den entsprechenden Rahmen, die passende Story. Letztere hatte ich aber jetzt definitiv vor Augen: Ein toter, höchstwahrscheinlich ermordeter Dirigent während der Aufführung des berühmten Requiems von Mozart war nichts Alltägliches; dieses unerwartete Ereignis schien wie gemacht für die Entwicklung einer spannenden Kriminalgeschichte. Und einen Krimi zu schreiben war durchaus eine Aufgabe, die ich mir zutrauen konnte. Denn letztlich bewegt sich der Kriminalroman immer innerhalb der engen Grenzen der wirklichen Welt, ist an reale Bedingungen und konkrete Umstände gebunden, muss stets Sachlichkeit und Realitätsnähe wahren, um glaubwürdig zu wirken, steht also als literarisches Genre der journalistischen Reportage nahe, und ganz besonders natürlich der Polizeiberichterstattung, meinem Fachgebiet.

Wollte ich also den literarisch vielversprechenden Vorfall in der Peterskirche zu einem Kriminalroman werden lassen, der den Leser durch seinen Realismus überzeugen und in seinen Bann ziehen konnte, brauchte ich im Prinzip, so dachte ich in der unbedarften Naivität des unerfahrenen Literaten, nur die Grundregel jeder guten Reportage zu beachten: Fakten und Akteure für sich sprechen zu lassen und zugleich mich und meine Persönlichkeit möglichst zurückzunehmen. Das Erzählideal eines außenstehenden Beobachters, der sich möglichst aus dem Fall heraushält, um sachlich darüber berichten zu können, stand allerdings in krassem Widerspruch zu den unabdingbaren Voraussetzungen für das Entstehen des Kriminalromans selbst. Um die Geschichte überhaupt erzählen zu können, musste ich an Informationen kommen, die nur Insider auf Ermittlungsebene haben konnten. Wollte ich als objektiver Erzähler den Fall aus allen möglichen Perspektiven ausleuchten, Hintergründe und Zusammenhänge zutage fördern, die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren glaubhaft darstellen, musste ich möglichst dicht am Geschehen bleiben, mit den beteiligten Personen in Verbindung treten, mich quasi in sie und ihren Modus Operandi hineinversetzen – kurz: Ich musste mich in die polizeiliche Untersuchung einbringen.

Dass ich auch dafür prädestiniert war, verrät ein Detail aus meiner beruflichen Vergangenheit, über das zu berichten ich noch keine Gelegenheit hatte. Ich kannte Chefinspektor Stiller bereits länger, verband mich doch mit ihm eine zwar lange zurückliegende, dennoch durchaus fruchtbare Kooperation: Ich hatte früher bei seinen Ermittlungen als inoffizieller Informant gearbeitet, zunächst in Wien, als ich meine Journalistenkarriere bei einer kleinen lokalen Zeitung begonnen hatte, später in meinem Heimatort Salzburg, als ich in der Polizeiberichterstattung dieser Stadt eine fest etablierte Größe geworden war. Ich hatte ihn damals immer wieder mit zuverlässigen Informationen und wertvollen Hinweisen zu möglichen Straftaten versorgt, auf die ich bei meiner Tätigkeit als Reporter der Verbrechensund Unfallmeldungen unvermeidlicherweise gestoßen war. Manche dieser Auskünfte hatten sich sogar als entscheidend für die Aufklärung des jeweiligen Falles erwiesen. Allerdings hatten wir uns mit der Zeit aus den Augen verloren – ich selbst hatte ihn nicht wiedererkannt, als ich mich neben ihm auf den freien Platz in der letzten Kirchenbank gesetzt hatte, während er mit dem Gesicht unter der Kapuze seines Parkas langsam in Morpheus’ Arme glitt. Auch war unsere damalige Zusammenarbeit nicht ganz reibungslos verlaufen – was zwischen einem Ermittler und einem Journalisten wohl unausbleiblich ist. Nichtsdestoweniger war ich zuversichtlich, die alten Beziehungen ausspielen zu können, um meine literarischen Pläne in die Tat umzusetzen. Gelang es mir, wieder in meine alte Rolle als Informant hineinzuschlüpfen – was auch dem frisch aus Wien gekommenen Chefinspektor angesichts meiner Erfahrung in der Salzburger Polizeiberichterstattung als nützlich erscheinen dürfte –, konnte ich meinerseits vielleicht in die Ermittlungsarbeit miteinbezogen werden und so einen Blick aus der Nähe auf den Kriminalfall werfen. Dass ich darüber hinaus Stiller auch persönlich kannte, würde es mir umso leichter machen, mich in ihn hineinzudenken, seine Vergangenheit ins Spiel zu bringen, wo es narratorisch sinnvoll war, und, das war das Wichtigste, sein Vertrauen zu gewinnen.

Als der Chefinspektor sich über den leblosen Körper des Dirigenten beugte, beobachtete ich ihn daher mit angespannter Aufmerksamkeit und lauerte mit Stift und Notizbuch in den Händen auf meine Chance, mit ihm wieder in Kontakt zu treten und meine Dienste als Informant anzubieten. Zu meinem Erstaunen flossen mir die Worte inzwischen nur so aus der Feder, sodass ich dem erzählerischen Schwall in meinem Kopf mit dem Stift kaum nachkommen konnte. Mochte der Kriminalfall noch in den Anfängen stecken, der Kriminalroman hatte schon längst begonnen, in meinen Gedanken Gestalt anzunehmen.

5

Memento moreris … Hieß es nicht anders?, fragte sich Chefinspektor Stiller, die feine Schrift auf dem perlweißen Seidentuch näher betrachtend, das er in der Fracktasche des toten Dirigenten gefunden hatte. Schon der Wortlaut des Requiems war ihm schleierhaft genug vorgekommen, soweit er im Schlaf etwas davon hatte mitbekommen können, aber hier war er buchstäblich mit seinem Latein am Ende. Noch rätselhafter mutete ihn die Zeichnung über dem lateinischen Motto an: zwei verschnörkelte M nebeneinander, Ersteres als Großbuchstabe in Form eines Lesepults, über dem ein offenes Buch lag, Letzteres als Kleinbuchstabe zu einem breiten Grinsen in einem großen Totenkopf stilisiert … Er überlegte kurz. Das erste M unter dem Buch stand wohl für Memento, das zweite m im feixenden Schädel für moreris – das leuchtete ihm schon ein; aber was hatte dies alles überhaupt für eine Bedeutung, ja was könnte das mysteriöse Symbol überhaupt sein – ein Wappen, ein Siegel, ein Emblem? Jemand musste es abgebildet haben, indem er das feinfaserige, durchscheinende Tuch über das Original gelegt und dessen Konturen mit einem schwarzen Stift nachgezogen hatte – wahrscheinlich der Dirigent selbst …

»Überlassen Sie die irdische Hülle des ehrwürdigen Maestros der Fürsorge des Leichenhüters, verehrter Kollege!«, riss ihn eine sonore, mit einem humorvollen Unterton gewürzte Stimme plötzlich aus seinen Gedanken. Hinter ihm streifte ein vierschrötiges, kahlköpfiges Mannsbild in einem weißen, zum Bersten knappsitzenden Kittel ein Paar kobaltblaue Latexhandschuhe mit einem lauten Schnalzen genüsslich über die Hände. »Thilo Horvath, von Beruf Primarius der Totenchirurgie, aus Berufung Alchemist des Todes«, präsentierte sich der Hüne, ohne die Hand zu drücken, die ihm der verblüffte Chefinspektor gereicht hatte. »So sehr ich auch meine Verbundenheit für Ihren Anruf durch einen kräftigen Händedruck zum Ausdruck bringen möchte, verehrter Kollege, muss ich meine Hände leider möglichst jungfräulich für die bevorstehende Berührung mit dem Tod bewahren«, rechtfertigte er sich etwas blumig und beugte sich über den Dirigenten, während sich die hinter ihm abwartende Mannschaft von drei bis vier Weißkitteln gleichmäßig über das Podium verteilte.

»Endlich eine Leiche, die ihren Namen verdient!«, rief er begeistert aus und fuchtelte theatralisch mit den Fingern in der Luft, als ob er sich vor lauter Aufregung nicht entscheiden konnte, wo er mit der Untersuchung des Leichnams anfangen sollte. Sein Wortschwall war nicht zu bändigen, und so verzichtete Stiller darauf, Fragen zu stellen, in der Hoffnung, aus dem Redefluss doch noch wertvolle Hinweise zum Todesfall herausfiltern zu können. »Haben Sie eine Ahnung, verehrter Kollege, was es heißt, in dieser Stadt einem honorablen Metier wie meinem nachzugehen? Immer wieder nur Selbstmörder, die sich von einem der beiden Stadtberge gestürzt haben – leider mit Vorliebe direkt vom Mönchsberg auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße. Nichts bleibt übrig. Fleischklumpen in bunten Kleidungsstücken, wie unser Thomas Bernhard – Gott hab ihn selig, verehrter Kollege, auch wenn er nicht an ihn glaubte – es mal passend formuliert hat. Aber hier ist es anders. Ganz anders, Verehrter … Schauen Sie mal her: Alles perfekt konserviert, dazu noch in dem tadellosen Frack gewissermaßen schon für die Bestattung angekleidet. Wie übernatürlich die durchsichtig bläuliche Blässe des Antlitzes, wie ekstatisch angespannt die verglühten Augensterne … Können Sie sich eine erhabenere Art vorstellen, dem Schnitter Tod entgegenzutreten, als mitten in der transzendenten Harmoniesphäre der Musik, ja diese sogar in der andächtigen Kulisse der Peterskirche selbst am Dirigentenpult zum Leben erweckend, verehrter Kollege? Ich habe einmal davon geschwärmt, irgendwann wie Gustav von Aschenbach im leicht fauligen Dunst der Lagune von Venedig sanft an Cholera dahinzusiechen, aber eine so kunstreiche Manier hinzuscheiden wie diese übertrifft bei weitem jegliche Wunschvorstellung! Kein Wunder, dass sich in seinem Gesicht noch dieser Ausdruck höchster Verzückung abzeichnet, als hätte ihn eine mystische Vision, die göttliche Offenbarung, das Nirwana erlöst … Dunkle Stigmata auf den Handflächen hat er sogar davongetragen … Die Natur kann hier auf jeden Fall nicht allein am Werk gewesen sein …«

»Wie meinen Sie das?«, konnte Stiller die Nachfrage nicht unterdrücken.

»Eine Kraft außerhalb des natürlichen Ablaufs der Ereignisse scheint ihn ins Jenseits befördert zu haben …«

»Können Sie bitte etwas präziser sein?«, drängte ihn der Chefinspektor zunehmend angespannt. Horvath hielt abrupt inne, blieb einen Moment lang still, hob schließlich seinen Blick vielsagend auf und antwortete sichtlich pikiert: »Präziser? Herr Chefinspektor, ich kenne die Menschen Ihres Schlages allzu gut: Kaum hat man eine bloße Vermutung geäußert – eine unter vielen möglichen, die freilich noch eines endgültigen wissenschaftlichen Nachweises bedarf –, machen sie aus ihr im Handumdrehen eine unwiderlegbare Wahrheit, um sich gleich auf die Jagd nach den Tätern begeben zu können. Aber ich bin nach vielen Jahren als Facharzt für Rechtsmedizin bei der Kriminalpolizei dieser Stadt zum Glück gegen Ihre Berufskrankheit gänzlich immunisiert. Daher lasse ich Ihnen nur die Wahl: Entweder gebe ich Ihnen die nüchternen, für Sie höchstwahrscheinlich nichtssagenden klinischen Befunde aus dieser ersten, notgedrungen noch ganz oberflächlichen und deshalb wenig aufschlussreichen Beschau mit wissenschaftlicher Exaktheit wieder – Hyperpigmentation der Gesichtshaut, überdurchschnittliche Erweiterung der Pupillen, Hyperkeratose an den Handflächen, Mees’sche Nagelbänder … oder Sie lassen meiner poetischen Ader freien Lauf und geben sich mit den so wunderschön vagen wie kriminalistisch unbelasteten Abschweifungen einer ästhetisch empfindsamen Seele zufrieden. Denn wenn ich Ihnen rein hypothetisch sagen würde, die Leiche scheine aus einer ersten flüchtigen Beobachtung, die freilich nie den Anspruch wissenschaftlicher Gewissheit erheben könne, mögliche Anzeichen – und ich meine wirklich mögliche – einer eventuellen Vergiftung aufzuweisen …«

»Also Giftmord«, konnte sich der Chefinspektor nicht zurückhalten. Das »Ich wusste es!« des aufgebrachten Leichenbeschauers überhörend, drehte er sich rasch zum Publikum hin, ließ seinen scharfen Blick durch die drei Kirchenschiffe und das Querhaus schweifen und fing gleich an, mit einem routinierten Automatismus gedanklich auszurechnen, wie viele mögliche Ausgänge die Kirche haben konnte und entsprechend wie viele Polizeikräfte benötigt würden, um sie zu bewachen. Noch bevor der Chefinspektor seine Gleichung abschließen konnte, tat sich wie bestellt die Seitentür zur Sakristei am Ende des Querschiffes zu seiner Rechten geräuschvoll auf, und ein junger Mann in dunkelblauer Uniform trat ungestüm ein, gefolgt von einigen Kollegen der nahen Polizeistation.

6

Vom blitzartigen Entree der Ordnungshüter überrascht, wich ich hinter die Säule zurück und lauschte angestrengt dem Gespräch zwischen ihrem Anführer und Stiller. »Gibt es einen besseren Weg, einen neuen Chefinspektor willkommen zu heißen, als ihm gleich eine Leiche auf dem Präsentierteller zu servieren?«, stellte sich der Neuankömmling im Überschwang jugendlicher Verwegenheit vor, zog seine Dienstkappe und nahm straff Haltung vor seinem Vorgesetzten an. »Das nenne ich wahre Gastfreundschaft, Chef, und da kann uns Salzburgern keiner das Wasser reichen, wahrlich nicht. Denn wenn schon, dann lassen wir es richtig krachen: Da sind wir nicht so knauserig wie die Wiener. Und für Sie haben wir dazu noch ein erstklassiges Willkommensgeschenk ausgesucht: Wie ehemals Guido Brunetti dürfen Sie gleich mit einem Dirigenten hier bei uns debütieren, und das in der Mozartstadt …« »Brunetti?«, fragte Stiller irritiert. »Commissario Guido Brunetti, Venezianisches Finale … der allererste Krimi von Donna Leon … auch ein Stardirigent bei der Aufführung …«, versuchte der junge Polizist etwas verunsichert zu erklären. »Donna Leon?«, unterbrach ihn der Chefinspektor barsch. »Das hier ist kein Kriminalroman, Herr …« »Gruppeninspektor Biba Franz, stets zu Diensten, Chef.« »Gut, Inspektor Biba: Stellen Sie vielmehr sicher, dass jeder Gang der Kirche von einem der Kollegen der Stadtpolizei bewacht wird«, wies Stiller mit energischem Ton den geknickten Gruppeninspektor zurecht. »Niemand darf die Kirche ohne mein Wissen verlassen!«

Als Biba den Chefinspektor vor der Balustrade des Altarraums endlich allein ließ, um die Wache mit den anderen Polizeibeamten aufzustellen, sah ich meinen Moment gekommen. »Das ist leider bereits geschehen, Stiller«, schaltete ich mich ein. Geduldig hatte ich hinter der Säule zwischen Mittel- und rechtem Seitenschiff auf die Gelegenheit gewartet, den Chefinspektor anzusprechen, in der Hoffnung, für mein Romanvorhaben mehr über den Fall zu erfahren, ja vielleicht sogar wie in früheren Zeiten als Informant in irgendeiner Form an den bevorstehenden Ermittlungen beteiligt zu werden. Viel Konkretes anzubieten hatte ich noch nicht, doch das, was mir in der Kirche aufgefallen war, dürfte nicht ohne eine gewisse Brisanz sein. »Ich wusste, dass Sie irgendwann wie ein Aasgeier hier auftauchen würden, aber so früh hatte ich Sie nicht erwartet«, empfing mich Stiller eher kühl. »Eigentlich haben wir während des Konzerts nebeneinander auf der letzten Kirchenbank gesessen, aber Sie haben die ganze Zeit – mitten im Tathergang – tief und felsenfest geschlafen …«, entgegnete ich und versuchte zugleich, ihn durch relevante Hinweise zum Fall milder zu stimmen. »Deswegen haben Sie vielleicht manches nicht bemerken können …« Stiller zog die linke Augenbraue hoch. »Zum Beispiel?« »Zwei prominente Gäste sind nicht mehr an ihren Plätzen«, begann ich und sah in mein Notizbuch, als hätte ich ihre Namen dort notiert. »Der eine hat sich klammheimlich vom Tatort durch die Sakristeitür entfernt, um sich einige Zeit später unauffällig wieder unter den Sängerchor zu mischen«, fuhr ich fort. »Der andere hat die Kirche kurz nach Löwensteins Tod verlassen, ohne zurückzukehren.« Stiller tat so, als ob ihn meine Hinweise nicht sonderlich interessierten. »Richtig verdächtig sind mir eher diejenigen, die alle naslang ohne Befugnis am Tatort herumschnüffeln – ganz unabhängig davon, welche vermeintlich handfesten Informationen sie zu haben glauben oder ob sie früher für die Polizei als Informant gearbeitet haben«, sagte er spitz und warf einen missbilligenden Blick auf den Notizblock in meiner Hand. Ich ließ Heft und Stift schleunigst in meiner Manteltasche verschwinden. »Es ist nicht so, wie Sie denken, Herr Chefinspektor …«

»Wirklich? Ich wette, Sie haben bereits den Titel für die morgige Ausgabe Ihrer Zeitung notiert.«

»Da irren Sie sich: Ich glaube hingegen, ja ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht mehr für die Zeitung schreiben werde, jedenfalls nicht über das, was in der Kirche geschehen ist.«

»Ich habe noch nie von einem Journalisten gehört, der darauf verzichten würde, in der Presse über einen solchen Fall zu berichten. Wozu verstecken Sie sich sonst hinter der Säule und machen sich die ganze Zeit Notizen?«

Ich überlegte kurz, ob ich mein schriftstellerisches Unternehmen nicht doch lieber verschweigen sollte. Ich wusste aber, dass er es früher oder später herausfinden würde, daher entschied ich mich, mit offenen Karten zu spielen. »Ich glaube, dass hinter diesem Fall mehr steckt als der einfache Tod eines berühmten Dirigenten …«, deutete ich vorsichtig an. Stillers Augen wurden zu Schlitzen. »Jetzt machen Sie sich aber wirklich verdächtig …«, sagte er argwöhnisch. »Ich meinte nur, dass der Fall durchaus literarisches Potenzial hat, und es wäre schade, wenn dieses nicht ausgeschöpft werden würde …« Stiller schnaubte mürrisch. »Mir scheint, ich bin hier von lauter Literaten umgeben: Soeben hat mein Gruppeninspektor mich mit dem Commissario eines venezianischen Krimis gleichgesetzt, der Leiter der rechtsmedizinischen Abteilung redet wie aus einem Buch von Thomas Mann, und Sie möchten offenbar alle übertreffen und sogar einen ganzen Roman darüber schreiben. Und ich dachte, Sie wollten mir wie in alten Zeiten nur als Informant behilflich sein …«

»Natürlich, primär möchte ich als Informant für Sie arbeiten«, beeilte ich mich zu versichern, »der Roman war nur so eine Idee … Und wie Sie selbst wissen, könnte ich dank meiner langen Erfahrung als Polizeiberichterstatter der Stadt …«

»So einen wie Sie kann ich in der Tat hier in Salzburg gut gebrauchen«, sagte Stiller etwas versöhnlicher, »besonders jetzt, da ich, frisch aus Wien, gleich mit einem solchen Fall konfrontiert werde. Ich habe jedoch die Befürchtung, dass Ihre neuen schriftstellerischen Ambitionen auf Kosten Ihrer Qualität als zuverlässige Quelle gehen könnten …«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass Sie nicht mehr richtig bei der Sache sind, wenn Sie ständig überlegen müssen, wie Sie den Fall literarisch verwerten können.«

»Ganz im Gegenteil: Gerade aus der literarischen Perspektive kann man einen anderen, neuen Blick auf den Fall werfen und ungeahnte Verbindungen ans Licht bringen, die vielleicht sogar zu dessen Lösung führen könnten – ganz abgesehen davon, dass ich aufgrund meines Romanvorhabens nie in Versuchung geraten werde, meiner Zeitung Informationen zuzuspielen …«

Stiller kratzte sich kurz den leicht ergrauten Stoppelbart. »Meinetwegen können Sie machen, was Sie wollen, soweit Sie wie früher nützliche Informationen liefern, und natürlich nichts in die Zeitung durchsickert«, sagte er schließlich. »Sie gehen aber ein großes Risiko ein. Solche Fälle finden meistens, wie Sie selbst wissen sollten, eine relativ rasche, ganz unspektakuläre Erklärung, was der Spannung eines Romans nicht unbedingt förderlich ist. Ich mag mich nicht wiederholen, aber das ist nun mal kein Krimi, mein lieber Herr Schriftsteller, sondern die bittere Wirklichkeit, und ich glaube nicht, dass sie eine fruchtbare Inspirationsquelle für literarische Ergüsse sein kann. – Und jetzt her mit den Namen!«

7

Ich begann weit ausholend zu berichten, wie dem Chorleiter Samuel Libeskind als Erstem aufgefallen sei, dass mit Isaac Löwenstein etwas nicht gestimmt habe. Bereits am Anfang des Dies Irae – der Herr Chefinspektor habe zu diesem Zeitpunkt immer noch neben mir auf der letzten Kirchenbank des Mittelschiffes dem Schlaf des Gerechten gehuldigt – habe Libeskind mit besorgtem Blick wiederholt auf den Dirigenten geschaut. Zwar könnte seine Aufmerksamkeit auch durch Löwensteins ungewöhnlich eigenwillige Orchesterleitung erregt worden sein, die möglicherweise angefangen hatte, von der Generalprobe stark abzuweichen. Kurz vor Löwensteins Zusammenbruch sei Libeskind aber aufgestanden und, mit seinem Chorpart in der Hand, von seiner Nische auf der linken Seite her in Richtung des Kapellmeisters gelaufen, quasi als ob er dessen Tod vorausgesehen, ja, fast könnte man sagen, erwartet hätte. Nebenbei bemerkt, fügte ich im Flüsterton hinzu und legte dabei eine Hand vor den Mund, um sicherzugehen, dass meine Lippen nicht von Außenstehenden abgelesen werden konnten, sei Libeskind ursprünglich nur Posaunist bei den Salzburger Philharmonikern gewesen und erst vor kurzem von Löwenstein selbst zum Chorleiter ernannt worden. Stiller legte ebenfalls seine Hand vor den Mund und flüsterte noch leiser zurück: »Es ist nicht so, dass Sie ihn mir verdächtiger machen, indem Sie plötzlich die Stimme senken, und auch für die Leser Ihres hypothetischen Romans wird seine Figur dadurch nicht unbedingt interessanter …« »Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Herr Chefinspektor«, erwiderte ich erbost und setzte meine Schilderung der Ereignisse in möglichst neutralem Ton fort. Nachdem der Leiter der Salzburger Philharmoniker plötzlich nach hinten zusammengesackt sei, habe Libeskind sich ihm genähert und versucht, ihn von dem auf ihn gefallenen schweren Notenständer zu befreien, wohl um Erste Hilfe leisten zu können – Letzteres hatte ich nicht genau sehen, sondern nur mutmaßen können, da sich inzwischen viele Zuschauer vor der Altarbalustrade um den Toten versammelt und mir die Sicht versperrt hatten. Als wir durch die Menge hindurch den Tatort erreicht hätten, sei Libeskind aber nicht mehr da gewesen, sondern an seiner Stelle habe neben dem regungslos liegenden Dirigenten nur die Sopranistin Cecilia Vinci gekniet. Erst einige Zeit später sei der Chorleiter von der Tür der Sakristei neben dem Maria-Säul-Altar wieder aufgetaucht und habe sich klammheimlich dem Halbkreis der Chor- und Orchestermitglieder angeschlossen, gerade als dort die Sopranistin aufgenommen wurde – der Herr Chefinspektor werde sich gewiss erinnern, wie er selbst die völlig aufgelöste Sängerin am Arm genommen und von der Leiche des Dirigenten weggeführt habe …

»Und der zweite Verdächtige?«, unterbrach mich Stiller etwas barsch.

Während der Herr Chefinspektor Cecilia Vinci zurück in den Halbkreis der Musiker begleitet habe, fuhr ich fort, hätte ich im Augenwinkel gesehen, wie in der Kanzel über dem Übergang zum rechten Seitenschiff ein zweiter, weit prominenterer Zuschauer seinen Platz verlassen habe – ihn brauchte ich jedoch nicht weiter zu erwähnen, sein Fehlen werde sicherlich auch dem Chefinspektor nicht entgangen sein …

»Doch, doch! Erzählen Sie ruhig weiter«, forderte mich Stiller ungeduldig auf.

»Ach, Sie wissen schon, wer …«, versuchte ich auszuweichen. Eine plötzliche Furcht hatte mich erfasst.

»Wollen Sie wieder als Informant arbeiten oder wegen Behinderung der Justiz angeklagt werden?«, reagierte Stiller unwirsch. Als er aber merkte, dass meine Angst doch stärker als seine Drohung war, zeigte er sich zuvorkommender. »Sie haben nichts zu befürchten«, versicherte er mir. »Selbstverständlich werde ich die Quellen meiner Informationen wie immer streng geheim halten – als Journalist wissen Sie selbst, wie wichtig das ist …«

Ich schaute mich vorsichtig um. »Manche Namen sollte man lieber nie erfahren …«, flüsterte ich ihm verstohlen zu.

»Jetzt tun Sie nicht so geheimnisvoll«, forderte er in energischem Ton. »Wenn es Ihnen hilft, denken Sie an Ihren Roman«, fügte er mit einem leisen Lächeln hinzu. »Jeder Krimi braucht eine Lösung: Wenn Sie mir nicht helfen, den Fall zu klären, werden Sie also auch Ihren Roman nicht schreiben können.« Dann beugte er sich zu mir und wies mit dem Zeigefinger auf sein rechtes Ohr. »Und sollte die ganze Zögerlichkeit wieder nur ein erzählerischer Trick sein, um die Spannung aufrechtzuerhalten, dann reicht es, wenn Sie den Namen hier hineinflüstern: Niemand wird ihn erfahren, nicht einmal der Leser Ihres Romans …«

Jetzt hatte er mich auf eine Idee gebracht, wie ich den bereits etwas schlaff gewordenen Bogen der Story wieder spannen konnte. Ich überwand meine Angst, näherte mich und flüsterte ihm den fürchterlichen Namen ins Ohr. Seine Miene – so meinte ich zumindest in meinem schriftstellerischen Drang – versteinerte. Doch er kam überraschend schnell wieder zu sich. »Und jetzt versuchen wir, die Geschichte in Gang zu halten«, sagte er bestimmt und wies mit einer ausholenden Geste auf das Publikum. »Ich würde zum Beispiel mit einer möglichst breiten Befragung der Zuhörer anfangen …« »Wo?«, fragte ich perplex. »Hier in der Kirche, wo sonst? Ein geeigneter Platz wird sich schon finden, der Raum ist groß genug.«

8

In der überfüllten Kirche einen angemessenen Ort für die Befragung zu finden schien nicht so leicht zu sein, wie es sich Stiller wohl vorgestellt hatte. Alle Bänke im Mittelschiff waren dicht mit Konzertbesuchern besetzt, die Seitenschiffe und -kapellen von stehenden Zuhörern. Die Mariazellerkapelle an der rechten Seite des Querhauses war geschlossen. Alter Kapitelsaal und Veitskapelle waren wegen Restaurierungsarbeiten nicht zugänglich. Die Sakristei hinter der linken Seitenwand des Querhauses mit dem Maria-Säul-Altar stand ebenso nicht zur Verfügung, da dort Chor- und Orchestermitglieder zusammen mit den Solisten warteten. Der Altarraum vor der Balustrade war gänzlich von der Spurensicherung eingenommen, das Orgelgehäuse sowie der Oratoriumserker und die Kanzel im Hauptschiff vor der Vierung zu eng und zu umständlich zu erreichen, ganz abgesehen davon, dass jedes Wort zumindest von der Orgelempore und der Kanzel durch den Nachhall in der Kirche mitgehört werden konnte. Ein Umzug ins benachbarte Kloster oder in den Peterskeller wäre mit noch mehr Umständen verbunden gewesen, da jeder potenzielle Zeuge aus der Kirche geführt werden müsste.