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Hermann Schmidt

Fabian Boll

Das Herz von St. Pauli

Eine Biografie

verlag die werkstatt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2012 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-89533-910-3

„Some people think football is a matter of life and death. I don’t like that attitude. I can assure them it is much more than that.“

Bill Shankly, schottischer Nationalspieler, Trainer FC Liverpool 1959 – 1974

Zum Autor

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Hermann Schmidt lebt seit 1991 in Hamburg und war dort lange Zeit Geschäftsführer eines großen Zeitschriftenverlags, zugleich Vorstandsmitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger. Im Verlag Die Werkstatt sind bereits drei sehr erfolgreiche Bücher von ihm über den FC St. Pauli erschienen.

Das Buch entstand unter Mitwirkung von Fabian Boll.

Für Gespräche, Informationen und Unterstützung danke ich: Alexandra Boll, Gerlind und Thomas Boll, Sebastian Boll, Patrik Borger, Hauke Brückner, Luise Damm, Christopher Dobirr, Ralph Gunesch, Jens Johannisson, Thomas Meggle, Deniz Naki, Matthias Neumann, Bastian Pöhls, Helmut Schulte, Dr. Bernd Georg Spies, Dr. Gernot Stenger, André Trulsen, Bastian Zengerling.

Inhalt

Warum ich ein Buch über Fabian Boll geschrieben habe

Kapitel 1

Gastspiel in Paderborn

Kapitel 2

Von Bad Bramstedt ans Millerntor

Kapitel 3

Eine Kindheit in Holstein

Kapitel 4

DIE CLIQUE VOM BOLZPLATZ

Kapitel 5

VON BAD BRAMSTEDT ÜBER ITZEHOE NACH ST. ELLINGEN UND ZURÜCK

Kapitel 6

SCHULZEIT UND DAUER-KARTE AM MILLERNTOR

Kapitel 7

AUSBILDUNG UND BERUF

Kapitel 8

BEIM 1. SC NORDERSTEDT

Kapitel 9

VOM FAN ZUM STAMMSPIELER DER PROFIS AM MILLERNTOR

Kapitel 10

FABIAN BOLL – EIN MANN FÜR ALLE FÄLLE

Kapitel 11

„WIR SIND POKAL“

Kapitel 12

NIE MEHR DRITTE LIGA!

Kapitel 13

WEGGEFÄHRTEN UND FREUNDE

Kapitel 14

„WIR SIND ZWEITKLASSIG“

Kapitel 15

NEUES SPIEL, NEUES GLÜCK

Kapitel 16

EIN TRAUM WIRD WAHR

Kapitel 17

ALS SECHSER IN DER ERSTEN LIGA

Kapitel 18

RÜCKRUNDE UND ABSTURZ

Kapitel 19

NACH DEM ABSTIEG

Kapitel 20

Alles auf Anfang

Kapitel 21

DIE ENTSCHEIDUNG IM AUFSTIEGSKAMPF

Kapitel 22

IRRUNGEN UND WIRRUNGEN AM MILLERNTOR

Kapitel 23

FABIAN BOLL – DAS HERZ VON ST. PAULI

Der Spieler Fabian Boll

Mein Fotoalbum

Für meine besten Spieler der Welt

Benny Adrion, FC St. Pauli; Gabriel Batistuta, AC Florenz; Franz Beckenbauer, FC Bayern München; George Best, Manchester United; Fabian Boll, FC St. Pauli; Patrik Borger, FC St. Pauli; Uli Borowka, Werder Bremen; Paul Breitner, FC Bayern München; Hauke Brückner, FC St. Pauli; Rudi Brunnenmeier, TSV 1860 München; Florian Bruns, FC St. Pauli; Johan Cruyff, Ajax Amsterdam/FC Barcelona; Bernd Cullmann, 1. FC Köln; Kenny Dalglish, Celtic Glasgow/FC Liverpool; Helmut Dersch, SV Eckelshausen; Horst Eckel, 1. FC Kaiserslautern; Marcel Eger, FC St. Pauli; Lothar Emmerich, Borussia Dortmund; Stephan Engels, 1. FC Köln; Fritz Ewert, 1. FC Köln; Wolfgang Fahrian, TSG Ulm 46; Luís Figo, Sporting Lissabon/FC Barcelona; Hermann Fischbach, SV Eckelshausen; Heinz Flohe, 1. FC Köln; Walter Frosch, FC St. Pauli; Garrincha, Botafogo; Gilmar, FC Santos; Jürgen Grabowski, Eintracht Frankfurt; Harry Gregg, Manchester United; Gilbert Gress, VfB Stuttgart; Ralph Gunesch, FC St. Pauli; Thomas Häßler, 1. FC Köln; Jimmy Hartwig, Kickers Offenbach; Siggi Held, Kickers Offenbach/Borussia Dortmund; Simon Henzler, FC St. Pauli/Holstein Kiel; Fritz Herkenrath, Rot-Weiss Essen; Heinz Hermann, Neuchâtel Xamax; Thomas Hitzlsperger, VfB Stuttgart; Uli Hoeneß, FC Bayern München; Steffen Hofmann, SK Rapid Wien; Heinz Hornig, 1. FC Köln; Volker Ippig, FC St. Pauli; Lew Jaschin, Dynamo Moskau; Philipp Jung, Spvg. Niedereisenhausen; Peter Kaack, Eintracht Braunschweig/VfR Neumünster; Jürgen Klinsmann, VfB Stuttgart; Berti Kraus, Kickers Offenbach; Rainer Künkel, FC Bayern München; Hennes Küppers, 1860 München; Heinrich Kwiatkowski, Borussia Dortmund; Philipp Lahm, FC Bayern München; Florian Lechner, FC St. Pauli; Manfred und Siegfried Lenz, SV Eckelshausen; Cristiano Lucarelli, AS Livorno; Reinhard Libuda, Schalke 04; Pierre Littbarski, 1. FC Köln; Johannes Löhr, 1. FC Köln; Diego Maradona, SSC Neapel; Michél Mazingu-Dinzey, FC St. Pauli; Thomas Meggle, FC St. Pauli; Luigi Meroni, AC Turin; Lionel Messi, FC Barcelona; Gordon Milne, FC Liverpool; Bernd Mohrherr, SV Eckelshausen; Bobby Moore, West Ham United; Christian Müller, 1. FC Köln; Dieter Müller, 1. FC Köln/Kickers Offenbach; Gerd Müller, FC Bayern München; Deniz Naki, FC St. Pauli; Konrad Naumann, FSV Cappel; Hermann Nuber, Kickers Offenbach; Wolfgang Overath, 1. FC Köln; Pelé, FC Santos; Benedikt Pliquett, FC St. Pauli; Lukas Podolski, 1. FC Köln; Toni Polster, 1. FC Köln; Ingo Porges, FC St. Pauli; Helmut Rahn, Rot-Weiss Essen/Meidericher SV; Marcel Rath, FC St. Pauli; Cristiano Ronaldo, Nacional Funchal/Real Madrid; Calle Rothenbach, FC St. Pauli; Bernd Rupp, FC Burgsolms/Borussia Mönchengladbach; Morike Sako, FC St. Pauli; Hans Schäfer, 1. FC Köln; Aki Schmidt, Borussia Dortmund; Hermann Schüssler, SV Eckelshausen; Anton Schumacher, 1. FC Köln; Bernd Schuster, FC Barcelona; Katsche Schwarzenbeck, FC Bayern München; Uwe Seeler, HSV; Heinz Soldan, SV Eckelshausen; Milutin Šoškić, 1. FC Köln; Holger Stanislawski, FC St. Pauli; Horst Szymaniak, CC Catania; Karl-Heinz Thielen, 1. FC Köln; Klaus Thomforde, FC St. Pauli; Hans Tilkowski, Westfalia Herne/Borussia Dortmund; Filip Trojan, FC St. Pauli; André Trulsen, FC St. Pauli; Toni Turek, Fortuna Düsseldorf; Rudi Völler, FC Hanau 93/Kickers Offenbach; Fritz Walter, 1. FC Kaiserslautern; Wolfgang Weber, 1. FC Köln; Jürgen Werner, HSV; Leo Wilden, 1. FC Köln; Ron Yeats, FC Liverpool; Klaus Zaczyk, KSC/HSV; Carlos Zambrano, FC St. Pauli, Jochem Ziegert, Tennis Borussia, Hertha BSC; Dino Zoff, Juventus Turin.

Vorwort

Warum ich ein Buch über Fabian Boll geschrieben habe

Fabian Boll habe ich zum ersten Mal vor vielen Jahren im Edmund-Plambeck-Stadion in Norderstedt spielen sehen. Er war ein auffälliger Spieler, Schaltstation im Mittelfeld, Freistoßschütze und Dauerläufer. Neben seiner spielerischen Klasse in der Oberliga fiel er durch eine im Fußballsport eher unübliche Gelassenheit in allen Situationen auf. Der junge Mann war kein Heißsporn. Fabian Boll ging fair mit seinen Gegenspielern um, obgleich er in jeder Situation alles gab. Er sprach nicht viel, und theatralische Gesten waren ihm offensichtlich ganz und gar fremd. Sein bescheidenes, ja zurückhaltendes Auftreten setzte sich bei seinen Einsätzen in der Amateurmannschaft des FC St. Pauli fort. Er war in meinen Augen schon damals ein perfekter Spieler und vorbildlicher Sportler.

Näher kennengelernt habe ich Fabian dann im Dezember 2007 bei einer Veranstaltung in einem Szene-Kino im Schanzenviertel, wo ich aus meinem ersten Buch über den FC St. Pauli „Zauber am Millerntor“ las und Fabian Boll gemeinsam mit dem damaligen Torhüter Timo Reus (jetzt Torwarttrainer VfR Aalen) als Zuhörer im Publikum saß. Nach und nach wurde eine Freundschaft aus dieser ersten Begegnung. Fabian kam mit seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau Alexandra zu meinem runden Geburtstag. Ich war anschließend beim Polterabend der beiden. Wir schrieben uns regelmäßig SMS und telefonierten häufiger miteinander. Fabian war ein aufmerksamer Leser meiner Bücher.

Ich ging schon damals regelmäßig zum Training an die Kollaustraße und beobachtete das Geschehen am Rande des Platzes. Fabian war immer einer der fleißigsten bei den Übungen und ging in den Trainingsspielchen stets voll zur Sache. Er war für mich einer der Spieler, auf den ich meine Hoffnungen für den FC St. Pauli und seinen Wiederaufstieg setzte. Wenn das Training zu Ende war und die Spieler vom Platz gingen, vergaß er nie, mich zu begrüßen. Immer fand er ein freundliches Wort. Zusammen mit Thomas Meggle, Florian Lechner, Marcel Eger, Bene Pliquett, Florian Bruns und Carsten Rothenbach gehörte Fabian Boll zu den Spielern, die anders waren als die meisten anderen Fußballprofis. Diese Gruppe von Spielern des FC St. Pauli vermittelte ihren Zuschauern und Fans das Gefühl, ein Teil des Vereins zu sein. Und das konnten sie wahrscheinlich vor allem deshalb, weil ihnen der FC St. Pauli selbst Heimat war.

Das Buch über Fabian Boll habe ich geschrieben, weil ich ihn bewundere und verehre. Er hat über viele Jahre sein ganzes Streben immer auf den Fußball ausgerichtet. In all den Jahren, in denen ich mich für Fußball interessiere, habe ich wohl keinen Spieler persönlich kennengelernt, der so diszipliniert alle anderen Interessen dem geliebten Fußballsport unterordnet. Und nebenbei zeichnen ihn Tugenden aus, die ihn zu einem ganz besonderen Menschen machen. Fabian Boll ist ein lebensfroher, positiv denkender und sehr humorvoller Mann, der seine Natürlichkeit im harten Profigeschäft nicht verloren hat, der herzerfrischend ehrlich und direkt ist und einer, auf den man sich verlassen kann. Nicht nur auf dem Platz.

Wie aus dem kleinen Fabian Boll einer der besten Fußballer in Norddeutschland wurde und wie er sich zu einem verantwortungsbewussten Menschen entwickelt hat, das möchte ich in diesem Buch beschreiben.

Hermann Schmidt

Kapitel 1

Gastspiel in Paderborn

Der Tag, an dem ich mich entschied, ein Buch über Fabian Boll zu schreiben, war ein Freitag, und dank des Bezahlsenders Sky ein Spieltag für den FC St. Pauli. Es war der 2. Dezember 2011. Morgens las ich die Sportseiten der Hamburger Tageszeitungen, um mich auf das Spiel in Paderborn vorzubereiten. Meinen Sohn Henning holte ich um 13:30 Uhr in Hamburg von der Schule ab, wir düsten durch den Tunnel und dann die A7 hinunter.

Ich war schon fast überall in Deutschland, um Fußballspiele zu besuchen. In Paderborn war ich allerdings noch nie. Von dieser Stadt wusste ich lediglich, dass es politisch und kirchlich rabenschwarz ist und dass Paddy Borger hier einmal ein saublödes Malheur passiert ist, wovon später noch die Rede sein wird. Das Mädchen aus unserem Dorf, von dem ich den ersten Kuss bekam, ist noch während der Grundschulzeit mit seinen Eltern in die Stadt der Katholiken gezogen und hatte dort den Beruf der Friseurin erlernt. Was aus der wohl geworden ist?

Bei der Vorbereitung auf meine Reise in die Fußballprovinz erfuhr ich im Internet: Paderborn konnte vor gut 1.000 Jahren von den im Reich marodierenden Ungarn nicht eingenommen werden, hatte kurze Zeit später über 300 Bierbrauer unter seinen Einwohnern und war nach der Reformation lange Zeit evangelisch. Dann haben es sich die Katholiken wieder unter den Nagel gerissen.

Wenn wir in Paderborn drei Punkte holen würden, könnten wir vielleicht wieder aufsteigen. Ich überlegte, ob ich Fabian Boll eine SMS schicken sollte, so wie wir es vor einigen Jahren immer praktizierten. Damals hatte ich mich mit meinen Ergebnistipps mehr als einmal als Prophet erwiesen. Irgendwann, als meine Siegprognosen nicht mehr stimmten, stellten wir das Ritual ein. Bei hundert Auswärtsspielen, die ich während dieser Zeit als Fan gesehen habe, durfte ich lediglich einen einzigen Sieg miterleben. Ich hätte Fabian Boll vor dem Spiel in Paderborn schreiben können, dass er heute noch mehr laufen und kämpfen müsse, als er das ohnehin schon tut, und dass er allen sagen soll, dass ich mal wieder auswärts dabei bin, nach langer Krankheit, die nun fast überwunden scheint. Dann würden sie wie die Löwen kämpfen, weil sie wüssten: Hermann ist da, es sieht heute schlecht aus für den FC St. Pauli. Wir müssen alles geben, um am Ende nicht wieder mit leeren Händen dazustehen. Aber ich unterließ es, mich bei Fabian zu melden. Ich wollte niemanden unnötig aufregen oder verunsichern. Dieser Aberglaube ist ohnehin völlig absurd.

Aber viele Fußballer sind abergläubisch, und ich selbst gehörte von Kindesbeinen an zu denjenigen, die bestimmte Rituale pflegten, um eine Niederlage zu vermeiden. Ich trug morgens vor den Spielen immer Klamotten, die ich an Spieltagen getragen hatte, an denen wir nicht verloren hatten. Als ich noch in Schüler- und Jugendmannschaften spielte, hörte ich mir samstags immer die gleichen Rundfunksendungen vor dem Spiel an. Ich hatte immer ein sauberes Taschentuch in der Turnhose und lief stets als letzter Spieler meiner Mannschaft ein. Ich dachte, das bringt Glück. Und zur Sicherheit betete ich jeden Freitagabend für einen Sieg meiner Mannschaft, für einen Sieg der ersten Mannschaft des SV Eckelshausen und für einen Sieg des 1. FC Köln.

Leider hatte ich mir unmittelbar vor der Auswärtsfahrt nach Paderborn auch noch eine Grippe mit einem saumäßigen Husten eingefangen, was die Auswärtsfahrt nicht gerade erträglicher machte. Auf der A2 wurde der Verkehr schließlich immer dichter, trotzdem standen wir um Schlag vier auf dem Parkplatz am Stadion. In der Ferne kam der Mannschaftsbus des FC St. Pauli an. Mir wurde ganz warm ums Herz: unsere Mannschaft! Ob die Spieler auch so aufgeregt waren wie ich? Ob Deniz Naki von Beginn an spielen würde? Ich hatte Fabian Boll kürzlich einmal gefragt, ob er sich nicht ein wenig um diesen kleinen Hitzkopf kümmern könne. Wahrscheinlich dachte Fabian Boll, dass ich ein bisschen „gaga“ bin und mich um Sachen kümmere, die mich einen feuchten Kehricht angingen.

Henning und ich aßen eine Currywurst, und statt eines ohnehin alkoholfreien Biers pfiff ich mir das Antibiotikum gegen die Grippe ein. Wegen der Idee mit dem Buch beschloss ich, Fabian Boll heute einmal ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Und als ob der Mann, der beim FC St. Pauli die 17 trägt, das gewusst hätte: Dieses für den Verlauf des Weltfußballs eher unbedeutende Match in der westfälischen Provinz würde Fabian Boll nämlich zu einem seiner ganz großen Tage machen. Wir würden den besten Fabian Boll aller Zeiten zu sehen bekommen!

Die Mannschaftsaufstellung der Boys in Brown nahm ich erstaunt, ja ungläubig zur Kenntnis. Wieso ließ André Schubert Deniz Naki erneut auf der Bank? Trotz der schwachen Leistung einiger seiner Mannschaftskameraden im Spiel gegen Dynamo Dresden?! Beim Warmmachen sah ich schon, dass Deniz angefressen war. Wenn der Junge sauer war, spielte er den Clown, obwohl ihm wahrscheinlich eher zum Weinen als zum Lachen zumute war. Im Spiel mit seinen Kameraden gab er zunächst eine erstklassige Breakdance-Einlage. Ich ahnte, dass das den preußischen Fußballpuristen auf der Bank des FC St. Pauli nicht entgangen war und sie es nicht gut finden würden. Naki, der Mann, auf den ich alles gesetzt hatte, kasperte auch noch auf dem Platz herum, als alle anderen Spieler schon längst wieder in der Kabine verschwunden waren, um sich fürs Einlaufen bereit zu machen. Er war so, wie ich wahrscheinlich im Alter von 15 Jahren gewesen war.

Mir ging es nicht so gut. Ich fror, obwohl es nicht wirklich kalt war. In den ersten 25 Minuten des Aufstiegskampfs gegen den SC Paderborn entpuppten sich die Gastgeber als abgeklärtes Team, das einen kontrollierten Ball spielte, auf Torsicherung bedacht war und geschickt in wenigen unkomplizierten Zügen überfallartig sein Spiel in die gegnerische Hälfte verlagerte. Die Spieler des FC St. Pauli schoben, wie so oft, im Kurzpassspiel den Ball so lange hin und zurück, bis der Gegner ihn ergatterte, dann ging es ratzfatz in Richtung Tschauner. Erst nach einer knappen halben Stunde kamen wir besser ins Spiel. Die Paderborner waren uns bis zu diesem Zeitpunkt absolut überlegen gewesen. So kam zumindest ein wenig Hoffnung in unserer Kurve auf. Aber Dennis Daube und die meisten seiner Kollegen wirkten wie abwesend. Sie gingen nicht konsequent in die Zweikämpfe. Sebastian Schachten schien völlig überfordert, Saglik hatte eine einzige gute Szene in 45 Minuten. In der letzten Minute der ersten Halbzeit drosch Jan-Philipp Kalla den Ball völlig unbedrängt und unkontrolliert von der 16-Meter-Linie halbhoch zu einem Gegenspieler. Der passte im Gegenzug über Kalla hinweg auf den rechten Flügelmann der Paderborner, von dort flog der Ball in den Strafraum und Proschwitz hämmerte den Ball zum 1:0 für den SCP ins Tor. Pünktlich wie die Maurer hatten wir uns einmal mehr in der letzten Minute einer Halbzeit einen einschenken lassen. Solche Abwehrfehler werden in jeder Kreisklasse bestraft.

Bald nach Beginn der zweiten Halbzeit tauschte Trainer Schubert aus. Er brachte endlich Deniz Naki für Fin Bartels. Daube und Kalla ließ er weiterspielen. Wusste der Trainer nicht, dass Bartels auch Außenverteidiger spielen kann? Später kam Ebbers für den enttäuschenden Saglik, und (endlich wieder einmal) wurde Rouwen Hennings für Schachten eingewechselt. Dass wir trotz der „Ausfälle“ immer noch im Spiel waren, verdankten wir heute den Abwehrspielern Markus Thorandt, Ralle Gunesch und Patrick Funk, die unser Team einigermaßen zusammenhielten und den ambitionierten Paderbornern Widerstand leisteten.

Über allem aber stand an diesem Tag die heroische Leistung von Fabian Boll. Es sah so aus, als vereinige er die Hälfte aller Ballkontakte der Braun-Weißen ausschließlich auf sich. Die 17 war überall und zeigte Präsenz auf jede erdenkliche fußballerische Weise: klärend, wegspitzelnd, zulangend, drängelnd, schlagend, köpfend, laufend, ackernd, fordernd, absichernd, kämpfend. Fabian Boll, den ich einmal ganz genau beobachten wollte, machte eines seiner ganz, ganz großen Spiele. Unmittelbar, bevor er seine Leistung krönen sollte, sagte ich zu meinem Sohn Henning: „Fabian Boll spielt hier und heute in einer ganz anderen Liga als all unsere anderen Spieler. Er ist überragend.“

In den letzten fünf Minuten dieses schwachen Spiels unserer Mannschaft in Paderborn riss uns ein Mann ganz allein aus der Misere und bewahrte den Klub vor einer verdienten Niederlage: Fabian Boll, der auch dank der Hilfe und des Einsatzes von Deniz Naki, Ralle Gunesch, Markus Thorandt und Patrick Funk seinen Siegeswillen auf dem Platz umsetzen konnte. Sein Kampf und sein mitreißender Mut ließen in allerletzter Sekunde das „Wunder von Paderborn“ geschehen. Er holte auf den letzten Drücker und mit unbändigem Willen fünf Meter vor der Außenlinie einen Freistoß für uns heraus. Dennis Daube flankte den Ball scharf in den Fünfmeterraum, und Boll köpfte den Ball mit letzter Kraft zum Ausgleich ins Tor. Es war nicht das erste Mal, dass Fabian Boll eine derart unvergleichliche Leistung vollbrachte. Aber sicher war das Match in Paderborn eines der besten Spiele seiner bisherigen Laufbahn. Dieses Spiel, sein Spiel, seinen bedingungslosen Kampf werde ich so schnell nicht vergessen. Die regionalen und überregionalen Zeitungen, die Fußballmagazine und Online-Dienste kommentierten das überragende Spiel von Fabian Boll entsprechend.

Fabian Boll hatte am 2. Dezember 2011 in Paderborn gezeigt, dass er auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist. In den Reihen des FC St. Pauli hatte es seit Jahr und Tag kaum einen vergleichbar vorbildlichen und charakterstarken Spieler gegeben. Der Tabellenplatz nach der Hinrunde der Saison 2011/12 war in weiten Teilen vor allem Ausdruck der Leistung des Spielers Fabian Boll. Seit ich ihn zum ersten Mal im Edmund-Plambeck-Stadion in Norderstedt spielen gesehen hatte, waren nun mehr als zehn Jahre vergangen. Die abgeklärte, souveräne Spielweise hat er in all den Jahren beibehalten und mehr und mehr perfektioniert. Dass er aber allen anderen voran und ganz allein ein Spiel dreht, dass er mit aller Kraft und einem schier unglaublichen Durchsetzungsvermögen alles aus sich herausholt, beim FC St. Pauli, das machte Fabian Boll zum überragenden Fußballer der letzten Jahre.

Interview

Fabian Boll über seine Heimat in Norddeutschland

Fabian, du wurdest in Bad Segeberg, mitten in Holstein geboren. Wie wichtig ist dir deine Heimat?

Fabian Boll: Selbstverständlich liebe ich meine Heimat. Ich bin zwar in Bad Segeberg geboren worden, aber natürlich fühle ich mich als Bad Bramstedter. Da bin ich aufgewachsen und da ist meine Heimat. Ich habe in Bad Bramstedt meine Kindheit und Jugend verbracht, und wie die meisten meiner Landsleute würde ich mich eher als einen bodenständigen Typen bezeichnen.

Was unterscheidet die Holsteiner und die Norddeutschen deiner Meinung nach von Menschen in anderen Teilen Deutschlands?

FABIAN BOLL: Die Holsteiner sind zunächst eher verschlossen. Sie neigen nicht zu schnellen Freundschaften, wie das den Rheinländern oft nachgesagt wird. Aber wenn die Norddeutschen eine Freundschaft schließen, dann ist das für immer. Hier wird nicht viel gesabbelt. Im Winter siehst du manche Nachbarn wochenlang nicht, weil sie nicht aus ihren Häusern kommen. Und sich dann vorm Fernseher verkriechen. Im Frühjahr, bei den ersten Sonnenstrahlen, kommen sie alle heraus aus ihren Höhlen. Die Holsteiner machen nicht viel Gedöns um eine Sache. Das gilt im Fußball und im richtigen Leben. Wir sind eher karg, vor allem wortkarg.

Gilt das auch auf dem Platz?

FABIAN BOLL: Auch auf dem Spielfeld wird im Norden eher nicht so viel gesprochen. Ich war früher zurückhaltend auf dem Platz und habe nicht herumgeschrien. Das ist den Norddeutschen und damit auch mir wahrscheinlich angeboren. Heute, nachdem ich ein bisschen rumgekommen bin in Deutschland und im Fußball, hat die Kommunikation der Spieler untereinander eine viel größere Bedeutung als früher. Und ich muss aufgrund meiner Rolle in der Mannschaft mit den Mitspielern reden.

Fährst du noch oft nach Bad Bramstedt zu deinen Eltern und Freunden?

FABIAN BOLL: Leider viel zu selten. Ich bin beruflich stark eingespannt. Natürlich bin ich gerne daheim in Bad Bramstedt und ganz besonders gerne bei meinen Eltern in der Schillerstraße. Mein älterer Bruder Sebastian und ich hatten eine schöne Kindheit. Wir sind sehr behütet aufgewachsen.

Wie spielte sich euer Familienleben in deiner Kindheit ab?

FABIAN BOLL: Das lief bei den Eltern eher so in der klassischen Rollenverteilung, nachdem wir Kinder geboren waren. Große Gesten und unablässiges Betüddeln sind zwar nicht unbedingt charakteristisch im Zusammenleben einer norddeutschen Familie, aber irgendwie war das schon eine Art Nest daheim bei uns. Heile Welt im positiven Sinn. Wir konnten uns in der Familie immer aufeinander verlassen. Mein Vater war mein Vorbild, und meine Mutter backt die beste Quarktorte der Welt.

Und dann zogst du deine Kreise auf den holsteinischen Fußballplätzen?

FABIAN BOLL: Zunächst einmal kannte ich in Bad Bramstedt jeden Baum und jeden Strauch. Heute hat sich vieles verändert. Es ist überall gebaut worden. Manche Plätze in der Stadt sind gar nicht wiederzuerkennen. Aber ich kenne in der näheren Umgebung zwischen Itzehoe, Neumünster, Bad Oldesloe, Bad Segeberg, Norderstedt, Hamburg und Pinneberg wahrscheinlich jeden Fußballplatz in Holstein, weil ich überall schon einmal gespielt habe. Auch diese Sportplätze sind für mich so etwas wie Heimat. Fast jedes Fußballfeld ist für mich mit Erinnerungen an bestimmte Spiele verbunden. Ich finde es eher schade, wenn ich sehe, wie die alten Sportplätze, auf denen ich gespielt habe, nicht mehr existieren. So geht es mir auch mit unserem alten Bolzplatz in der Bad Bramstedter Holsatenallee, neben der BMX-Bahn, wo mittlerweile eine Neubausiedlung entstanden ist. Auf dem Bolzplatz an der Holsatenalle/Ecke Stormarnring gab es nur einen Nachteil: Mitten drauf stand ein Baum. Die Tore waren aus drei Holzlatten zusammengenagelt. Deshalb sind wir manchmal mit dem Rad ins zwei Kilometer entfernte Hitzhusen gefahren. Da gab es einen Bolzplatz mit Aluminiumtoren und Netzen. Später haben wir dort die Sommerabschlussfeste mit meinen Jugendmannschaften der Bramstedter TS gefeiert.

Sicher kennst du in Holstein noch viele Akteure aus deiner Zeit im Jugendfußball. Und viele kennen dich …

FABIAN BOLL: Ja, viele sprechen mich an, wenn ich mal daheim bin. Schließlich hab ich da ja mehr als ein Jahrzehnt gekickt. Auch Menschen, die mich nur aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennen. Gelegentlich kommt es vor, dass Jungs aus der Nachbarschaft bei meinen Eltern klingeln und fragen, ob ich zu Hause wäre und ob ich nicht Zeit hätte, ein bisschen Fußball mit ihnen zu spielen. Außerdem treffe ich bei Test- und Freundschaftsspielen vor der Saison, wenn wir über die Dörfer tingeln, immer mal wieder Spieler, mit denen oder gegen die ich früher mal als Amateur gespielt habe. Das ist dann wie eine kleine Zeitreise.

Was verbindest du mit dem Begriff „Heimat“?

FABIAN BOLL: Heimat ist für mich „Sich-aufgehoben-Fühlen“. Daheim bin ich da, wo ich vertraut mit anderen bin. Ich finde es gut, dass meine Landsleute meist unkompliziert und geradlinig sind. Wenn ich daheim bin, geht es mir gut. Ich habe lange Zeit Schwierigkeiten damit gehabt, mich an Neues, an Veränderungen zu gewöhnen.

Und was ist mit der Heimat Millerntor?

FABIAN BOLL: Das Millerntor gehört zu meiner Heimat, seit ich Fan des FC St. Pauli bin. Doch das ist eine andere Geschichte, über die wir noch reden sollten.

Kapitel 2

Von Bad Bramstedt ans Millerntor

Wer die A7 von Hamburg aus nach Norden fährt, kommt nach einer halben Stunde an der Autobahnausfahrt Bad Bramstedt vorbei. Der Tourist reist weiter durch die schier endlose norddeutsche Tiefebene, kein Wald, keine Hügel, alles flach, manchmal Bäume und Sträucher, eine karge Landschaft, die fast verlassen wirkt. In den Wiesen und hinter den Feldern ducken sich Höfe im fahlen Licht der Sonne, die hier oft genug nicht ihren stärksten Tag hat.

„North to Alaska!“, wie es Johnny Horton besingt, so könnte der Reisende sich unterwegs wähnen, denn gleich hinter Bad Bramstedt beginnen für alle Bewohner der südlichen Bundesländer bereits die Polargebiete. Nur der Kurgast, den das Rheuma plagt, oder der einheimische Holsteiner, eine ganz besondere Spezies des nordischen Menschen, biegen hier rechts von der Autobahn ab. Hier und da am Rande der Straße, auf dem Weg in die Heimat des Fabian Boll, lichter Wald, dann immer geradeaus nach Westen, und alsbald passiert man das Ortsschild des holsteinischen Kurstädtchens Bad Bramstedt, das inmitten von Feldern und Auen am historischen Ochsenweg, einer alten Handelsstraße, liegt.

Bis zum Bau der A7 im Jahr 1972 war die Bundesstraße 4 die wichtigste Verbindung zwischen Hamburg und Kiel – im Sommer der Zubringer für viele Ost- und Nordseebäder in Schleswig-Holstein. Damals wie heute lebte Bad Bramstedt von Touristen, vom Kurbetrieb und vom Durchgangsverkehr. Den größten Anteil der Stadtverordneten in der Kommune stellt die CDU, gefolgt von SPD, FDP und Grünen, ganz so, wie das seit eh und je im beschaulichen, konservativ geprägten Holstein der Fall war. Die holsteinische Kleinstadt liegt am westlichen Rand der norddeutschen Marschlandschaft, genau dort, wo im Zusammenfluss von Osterau und Hudau die Bramau entsteht. In einer knappen Stunde ist man mit dem Auto in der nahen Großstadt Hamburg, und doch wirkt der Ort im Herzen von Schleswig-Holstein wie ein Relikt aus einer beschaulicheren Zeit.

In langen, meist nasskalten Wintern trotzen die Häuser dem immerwährenden Wind und Regen, der meist von Nordwesten kommt. Nur wenn die schönste Jahreszeit, der Frühling, die norddeutschen Menschen aus den Häusern gelockt hat, könnte man sich vorstellen, hier für immer daheim zu sein. Und wenn der Sommer nicht, wie in manchem norddeutschen Jahr, einfach ausbleibt, brütet die Sommerhitze über den Straßen und Dächern der Stadt. Dann gehen Kinder und Jugendliche von morgens bis abends in die Schwimmbäder, die den Charme der sechziger Jahre haben und den gemalten Bildern auf den ersten Seiten einer Schulfibel ähneln. Die Erwachsenen grillen in den Vorgärten, sobald die ersten warmen Sonnenstrahlen den kurzen Sommer ankündigen, und vor den Cafés und im Biergarten des Hotels am Marktplatz sitzen die Pärchen und genießen die wenigen warmen Abende so, als lebe man irgendwo im Süden der Republik.

In Bad Bramstedt ist die Welt noch in Ordnung. Meistens jedenfalls. Bad Bramstedt ist die nördlichste „Roland“-Stadt in Deutschland. Der als Denkmal aufgestellte, etwas traurig dreinschauende Krieger trägt im blau unterlegten Stadtwappen goldene Schuhe und in der rechten Hand ein aufgerichtetes Schwert. Dieser wackere Kämpfer könnte als Symbol genauso gut für einen anderen großen und weit jüngeren Sohn der Stadt stehen, der hier aufgewachsen ist und der es in den letzten Jahren zu Ruhm und Ansehen für sich selbst und damit auch für seine Heimatstadt Bad Bramstedt gebracht hat.

Fabian Boll ist neben dem Abenteurer, Segler und Polarforscher Arved Fuchs, der 1953 in Bad Bramstedt zur Welt kam, der derzeit populärste Prominente aus der holsteinischen Kurstadt und wahrscheinlich einer der besten Fußballer, die im „schönsten Bundesland der Welt“ geboren wurden. Fabian Boll weist allerdings darauf hin, dass auch der Modedesigner Karl Lagerfeld in Bad Bramstedt zur Schule gegangen sei.

In Schleswig-Holstein waren und sind begnadete Fußballer eher eine Ausnahme. Gute Handballer, die gab es im nördlichsten Bundesland schon immer wie Sand am Meer. Gerade mal eine einzige Elf ließe sich dagegen aus schleswig-holsteinischen Fußballspielern bilden, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts den Sprung in die A-Nationalmannschaft geschafft haben. Vom Kieler Nationaltorhüter Andy Köpke, vom aus Lübeck kommenden Peter Nogly und dem vom Heider SV stammenden Mittelläufer Willi Gerdau, dessen beste Zeit die fünfziger Jahre waren, einmal abgesehen, gehören alle diese Spieler in die Ära des ersten Drittels im vorigen Jahrhundert: Das war die große Zeit der berühmten Kieler „Störche“. Mit Ausnahme von Willi Gerdau haben alle schleswig-holsteinischen Nationalspieler bei Holstein Kiel gespielt. In den Jahren 1910 und 1930 wurden die Störche deutscher Vizemeister, im Jahr 1912 gar Deutscher Meister. August und Adsch Werner, Oskar Ritter, Walter Krause, Hans Reese, Karl Schulz, Franz Esser, Willi Fick, Johannes Ludwig, Werner Widmayer: Namen, die kaum noch jemand kennt.

Sicher: Es gab auch noch Peter Kaack, einen bärenstarken Defensivspieler vom VfR Neumünster, der zur Braunschweiger Eintracht ging, 299 Bundesligaspiele absolvierte und vielen Fußballspezialisten früherer Jahre wegen mehrerer unglücklicher, aber spektakulärer Eigentore in Erinnerung geblieben ist. Peter Kaack war dennoch ein Klassemann. Die großen, überregional bekannten Fußballvereine der fünfziger und sechziger Jahre im schleswig-holsteinischen Fußball sind rasch aufgezählt: Neben Holstein Kiel, dem Heider SV, Phönix Lübeck, VfB Lübeck, Itzehoer SV und VfR Neumünster dominierten vor allem die großen Hamburger Klubs HSV, FC St. Pauli, Altona 93 und Bergedorf 85 das Geschehen im norddeutschen Oberliga-Fußball.

In Schleswig-Holstein, dem bevorzugten Ferienland der deutschen Urlauber jener Jahre, regierte nicht zu allen Jahreszeiten König Fußball. Für viele Sportbegeisterte stand und steht der Handball gleichberechtigt in seiner Bedeutung neben dem Fußball. Auch die Fußballer der Bramstedter Turnerschaft von 1861 (Bramstedter TS) führten ein vergleichsweise beschauliches Vereinsleben in der Kleinstadt am Ochsenweg, und in manchen Jahren standen sie sogar im Schatten der leistungsstarken Handballer. In diesem Verein aber, in der Fußball-Jugendabteilung der Bramstedter TS, begann ab Mitte der achtziger Jahre ein Junge mit dem Fußballspielen, der noch von sich und seiner Stadt reden machen würde. Wer dann – Jahre später – in der Saison 2001/02 die Spiele des 1. SC Norderstedt (seit 2003 Eintracht Norderstedt) verfolgte, dem konnte ein hoch aufgeschossener Mittelfeldspieler in der Plambeck-Elf nicht entgehen. Die Nummer 10 des Klubs war die spielbestimmende Figur der Elf aus der südholsteinischen Hamburger Vor- und Schlafstadt Norderstedt, die in den siebziger Jahren aus mehreren Großgemeinden und Dörfern gebildet worden war. Damals eilte der SC Norderstedt von Sieg zu Sieg. Gegner wie der VfL Pinneberg, Altenholz, Husum oder auch die führenden Hamburger Amateurmannschaften in der Oberliga Nord mussten manche Packung im Edmund-Plambeck-Stadion quittieren. Die Nummer 10, „der Lange“ in den Reihen der Norderstedter, beherrschte das gesamte Spielfeld. Er blockte den Spielaufbau der Gegner, erstickte Angriffe der Gästemannschaften im Keim, baute das eigene Spiel auf, schoss aus allen Lagen und Entfernungen und traf mit seinen hammerartigen Granaten immer wieder einmal ins gegnerische Gehäuse.

Dieser Spieler des 1. SC Norderstedt hieß Fabian Boll.

Die wenigen Zuschauer, die die Heimspiele des 1. SC Norderstedt besuchten, kannten meist auch den Namen des groß gewachsenen Regisseurs. Viel mehr wusste man über den Zehner allerdings nicht, es sei denn, man war Insider oder Mitglied beim SC Norderstedt. Seine bescheidene Art und sein fairer Auftritt machten ihn jedoch sympathisch. Spektakulär wirkte aber vor allem seine sportliche Leistung, die Art und Weise, in der er das Spiel immer wieder dynamisch nach vorne trieb, wie er seine Mitspieler motivierte und in entscheidenden Situationen die Übersicht behielt. Ganz klar: Der Junge war auch strategisch begabt. Es war nicht zu übersehen, dass ihm als Fußballer noch wunderbare Jahre bevorstanden. Dass dieser Mann einmal einer der besten Fußballspieler in Hamburg sein würde, dass er zum Taktgeber und Herzstück einer Bundesligaelf avancieren könnte und dass er nach und nach die Herzen nicht nur der norddeutschen Fußballfans im Sturm erobern würde, ahnten die meisten Zuschauer dennoch nicht. Fabian Boll bekennt heute lächelnd, dass auch er selbst zu jener Zeit nie einen Gedanken daran verschwendet habe, einmal als Fußballer über die norddeutsche Region hinaus bekannt zu werden. Kein Zweifel, er war ein Denker und Lenker auf dem Rasen, ein Mann, der die eigenen Reihen ordnete und immer hellwach und kampfbereit war. Was aber darüber hinaus noch in diesem jungen Mann steckte, und was er durch nicht nachlassenden Willen aus sich herausholen würde, das sollten die norddeutschen Fans und viele Liebhaber des Fußballs in ganz Deutschland erst im Laufe der kommenden Jahre miterleben dürfen.

Interview

Fabian Boll über die Kindheit

Wir haben über deine norddeutsche Heimat gesprochen. Das, was Heimat einem Menschen im späteren Leben bedeutet, wird in der Kindheit geprägt. Deshalb komme ich noch einmal auf deine Kindheit zurück. Du sagst, dass es eine sehr schöne, fast konfliktfreie Zeit gewesen sei.

FABIAN BOLL: Mein Bruder Sebastian und ich sind auf der Sonnenseite des Lebens groß geworden. Es gab kaum Konflikte in unserer Umgebung, weder in der Familie noch in der näheren oder weiteren Verwandtschaft und eigentlich auch nicht in Bad Bramstedt. Zumindest haben wir nicht viel davon mitbekommen, wenn etwas war. Meine Eltern haben sich nie gestritten. Soweit ich mich erinnern kann, ist mein Vater ein einziges Mal etwas lauter geworden. Unmittelbar danach hat er sich mit einem riesengroßen Blumenstrauß bei meiner Mutter entschuldigt. So etwas prägt …

Wie spielte sich der Alltag für dich und deinen Bruder ab?

FABIAN BOLL: Na, so wie überall. Nichts Besonderes. Nicht jeden Tag ein Highlight. Nachdem ich eingeschult war: Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, ein bisschen gemeinsames Fernsehen und bei Sebastian und mir in jeder freien Minute Fußball oder irgendwas anderes mit Bällen. Die üblichen großen Feste im Jahreslauf – Ostern, Weihnachten, Geburtstage, Hochzeiten oder Konfirmationen – wurden gemeinsam in der Familie begangen. Das waren dann die Höhepunkte. Ansonsten spielten Sebastian und ich immer im gleichen, engen Freundeskreis. Wir wohnten alle in einem Umkreis von rund 300 Metern und sahen uns fast jeden Tag.

Hast du dich gut mit deinem älteren Bruder verstanden oder gab es auch mal Streit?

FABIAN BOLL: Streit selten. Ich habe in den frühen Jahren der Kindheit natürlich vor allem mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Sebastian gespielt. Sein Spitzname „Seele“ kommt nicht von ungefähr. Er ist nämlich eine Seele von Mensch. Auf mich hat er immer Rücksicht genommen und mich, als ich noch klein war, überall mit hingeschleppt. Wir haben oft mit Playmobil und Lego gespielt, vor allem ich. Wir hatten da so einen Miniatur-Western-Saloon. Da fanden dann immer Schießereien statt, und ich war der Sheriff. Es gab Banküberfälle und Prügeleien im Saloon. Ich nahm die Leute dann fest.

Und wie war das mit dem Fußball?

FABIAN BOLL: Wir waren fast immer auf dem Bolzplatz, bei Wind und Wetter. Fast genauso häufig spielten wir mit Tipp-Kick ganze Turniere aus. Manchmal ließ „Seele“ mich gewinnen. Ich verlor nicht gern. Da konnten auch schon mal beim „Mensch ärgere dich nicht“ sämtliche Spielfiguren samt Brett vom Tisch fliegen. Im Fernsehen haben wir uns vor allem Sportsendungen angeguckt. Die „Sportschau“, die Fußball-Bundesliga und Europacup-Spiele waren Pflicht. Wir hockten dann alle zusammen vor der Glotze. Mein Bruder mochte die Bayern am liebsten, mein Vater Borussia Mönchengladbach. Ich tendierte zunächst auch zu den Bayern, war dann kurzfristig HSV-Fan, fand aber schon als kleiner Junge immer auch den FC St. Pauli interessant.

Wann fing deine außerordentliche Leidenschaft für den Fußball an?

FABIAN BOLL: Ich habe schon als Kleinkind gegen alles getreten, was sich bewegt. Jeder Ball war mein Ball, ob Tennisball, Handball, Faustball, Fußball. Ich war verrückt nach Fußball, von Anfang an. Schon bevor ich später in die Schule kam, sind wir nach dem Frühstück zu einem unserer beiden Bolzplätze gegangen. Wir holten die anderen Jungs ab. Am Bolzplatz war immer was los, wenn es nicht gerade aus Eimern schüttete. Wenn die Mannschaften durch „Piss-Pott“ zusammengestellt wurden, war ich immer einer der ersten, die ausgewählt wurden, obwohl die meisten Jungen älter als ich waren. Ich konnte von Beginn an mit links und rechts schießen, wobei mein rechter Fuß etwas stärker war. Ich habe als Junge nie wirklich selbst systematisch trainiert, sondern eher spielerisch gelernt. Wenn ich mal Langeweile hatte, hab ich mir einen Ball geschnappt und bin auf den Garagenplatz gegangen. Sehr zum Leidwesen des Nachbarn habe ich dann immer wieder gegen das blecherne Tor geschossen. Mit rechts und links. Das war ganz schön laut. Manchmal musste auch der Gartenzaun vom Nachbargrundstück herhalten. Leider hatte dieser Zaun einen Stacheldraht am oberen Ende der Latten, und so hab ich dann mehrmals einen Ball zerschossen.

War dein Bruder Sebastian damals genauso talentiert wie du?

FABIAN BOLL: Auch „Seele“ hatte Talent. Allerdings vor allem im Tor. Als erwachsener Spieler hat er dann auch in der Verbandsliga als Torhüter gespielt. Vielleicht war er nicht ganz so ehrgeizig wie ich. Als Kinder spielten wir auf dem Bolzplatz meistens acht gegen acht oder zehn gegen zehn. Die beiden Mannschaften mussten immer die gleiche Anzahl an Spielern haben. Einmal kam ich zu spät zum Spiel. Da ist Sebastian für mich rausgegangen, damit ich mitspielen konnte. So war der Sebastian eben.

Kapitel 3

Eine Kindheit in Holstein

Im Jahr 1979 veröffentlicht die australische Band AC/DC das Album „Highway to Hell“, Mutter Teresa erhält den Friedensnobelpreis, und Franz Josef Strauß wird zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU gewählt. Am 16. Juni haben der Stummfilmstar Stan Laurel, der Schlagersänger Klaus Lage, der BVB-Meistertrainer Jürgen Klopp und der Autor der „Love Story“, Erich Segal, Geburtstag. In Irland ist der 16. Juni ein Feiertag, der sogenannte Bloomsday, und der Bloomsday ist in Irland mindestens gleichbedeutend mit dem St. Patrick’s Day. Im Roman „Ulysses“ von James Joyce wird der Ablauf des 16. Juni 1904 im Leben der Hauptfigur Leopold Bloom minutiös beschrieben. Der 16. Juni ist damit auch der einzige Feiertag weltweit, der einem Roman gewidmet ist. Die Dubliner nehmen an diesem Tag ein Bad am Sandycove, sie essen ein Gorgonzola-Brot in Davy Byrne’s Pub und trinken dazu ein Glas Burgunder. Gegen Abend gehen sie zum Strand von Sandymount, um sich dort „unanständigen Dingen hinzugeben“, wie es in einschlägigen Veröffentlichungen beschrieben ist.

Im beschaulichen Holstein, dem südlichen Teil des Bundeslandes zwischen den Meeren, geht es etwas gemächlicher zu als im fernen Dublin. Der 16. Juni 1979 ist der Geburtstag von Fabian Boll. Am Samstag, dem 16. Juni 1979 um 18:01 Uhr, pünktlich zur ARD-„Sportschau“, wird Fabian im Krankenhaus der Karl-May-Festspielstadt Bad Segeberg als zweites Kind der Familie Thomas und Gerlind Boll geboren. Gerlind Boll, Tochter eines Kripobeamten aus Lübeck mit sächsischen Vorfahren, ist gebürtig aus Bad Segeberg. Sie hat ihren Mann Thomas, einen Bundesgrenzschutzbeamten, auf einer Geburtstagsparty in Itzehoe kennengelernt. Das erste Kind der Bolls, Sebastian, war 1977 zur Welt gekommen.

Die Familie des Vaters Thomas Boll ist seit Urzeiten in Schleswig-Holstein beheimatet. Fabians und Sebastians Großvater Theodor Boll arbeitete einst als Geschäftsführer auf der damaligen „Peterswerft“ in Wewelsfleth. Seit Generationen waren die Bolls in jenem schönen Ort in den Elbmarschen ansässig, in dem der Nobelpreisträger Günter Grass in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts seinen weltberühmten Roman „Der Butt“ geschrieben hat. Über lange Zeit, so erinnert sich Fabian Boll an die Kindheit, traf sich der gesamte Clan der Bolls einmal im Jahr traditionell über ein gesamtes Wochenende von Freitag bis Sonntag in Wewelsfleth: Großeltern, Eltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Es wurden Nachtwanderungen unternommen, man ging zusammen zum Friedhof. Oma und die Mütter kochten für alle, und bei schönem Wetter wurde gegrillt. An sonnigen Tagen fuhr man gemeinsam zum Elbdeich, um die vorbeifahrenden Schiffe zu beobachten.