Helmut Eller

Der Klassenlehrer an der

Waldorfschule

Einführung in ein Berufsbild

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Cover

Titel

Zum Geleit

Vorwort

1. Zur Einführung. Der Beginn der Schulzeit

Der Beginn eines gegenseitigen Vertrauens

Der erste Elternabend

Die Einschulungsfeier

Die erste Schulstunde – «Ihr seid gekommen, weil ihr lernen wollt.»

2. Hauptunterricht und Epochenprinzip

Epochenunterricht als Langzeitpädagogik

Der Hauptunterricht – innerer Atem und künstlerische Unterrichtsführung

Der rhythmische Teil

Der Wiederholungsteil

Der Hauptteil

Der schriftliche Teil

Der Erzählteil

Märchen erzählen im ersten Schuljahr?

Fachunterricht, Übstunden und Förderunterricht

3. Das erste Schuljahr

Die ersten Epochen

Formenzeichnen

Ein Blick in die erste Schreibepoche

Die Kinder werden an das erste Rechnen herangeführt

Zusammenfassung

Die vielfältigen Aufgaben des Klassenlehrers im ersten Schuljahr

Der Klassenlehrer zugleich Mallehrer?

«Sinnige Geschichten» – die weite Welt wird zur Heimat

«Moralische Geschichten» – eine gute Übung für alle

Das Spielturnen

Der Jahreszeitentisch

Die Gestaltung der Adventszeit

Neue Ansätze zur Unterrichtsgestaltung: das «mobile Klassenzimmer»

Zum Ausklang des ersten Schuljahres

Den Eltern ein Textzeugnis – den Kindern einen Zeugnisspruch

Mit den Eltern beendet man das Schuljahr zuerst

Die letzten Schultage mit den Erstklässlern

4. Eltern und Lehrer arbeiten zusammen. Wenn Probleme auftreten …

Wie lässt sich die Elternschaft stärker in das Leben der Klasse einbeziehen?

Das Klassenspiel – eine besondere Gelegenheit zur Gemeinschaftsbildung

Zur Klassengröße an Waldorfschulen

Wenn sich die ersten Schwierigkeiten mit Kindern einstellen

Und wenn trotz allem Konflikte auftreten? Mögliche Unzufriedenheiten und Probleme

Wenn stille Wünsche nicht erfüllt werden

Wenn Unzufriedenheiten auftreten, über die man nicht sprechen möchte

Wenn sich das Kind zu Hause beschwert

Wenn Unzufriedenheiten bezüglich der Unterrichtsführung auftreten

Wenn ein Kind mit seinem Lehrer nicht zurechtkommt

5. Das zweite Schuljahr

Das Wiedersehen am ersten Schultag

Aus dem Epochenunterricht

Das Formenzeichnen

Fabeln und Legenden – humorvoll und besinnlich

Der Schreibunterricht

Das Lesen üben – gemeinsam im ersten Lesebuch

Der Übergang zur Schreibschrift – die Buchstaben geben sich die Hand

Gute Grundlagen schaffen im Rechnen

Der rhythmische Teil in den weiteren Schuljahren

6. Innere Anforderungen an den Klassenlehrer. Die Zusammenarbeit im Kollegium

Was bedeutet es, eine «Autorität» zu sein?

Lernen, vom Leben zu lernen

Ein Lernender bleiben

Vertiefung in die anthroposophische Menschenkunde

Auf die Gesinnung kommt es an

Ein umfassendes Bild von den Kindern gewinnen

Die Klassenkonferenz – ein gemeinsames Bild entsteht

Konferenzarbeit in der Waldorfschule

7. Das dritte Schuljahr

Die Kinder kommen an den «Rubikon»

Erzählstoff: Aus dem Alten Testament

Epochen des dritten Schuljahres

Die Feldbauepoche: «Vom Korn zum Brot»

Die «Handwerker- und Hausbauepoche»: Meisterhände bei der Arbeit

Sachrechnen: Erziehen zur Lebenstüchtigkeit

Ein neuer Schritt im Deutschunterricht

Die erste Sprachlehre

Deutsche Schreibschrift und Frakturschrift

Die Bedeutung der eigenen Sprache

Die Monatsfeiern

8. Das vierte Schuljahr

Eine innere Umbruchssituation

Erzählstoff: Germanische Mythologie und Stabreime aus der Edda

Epochen des vierten Schuljahres

Menschen- und Tierkunde. Von der Aufrechten und der Aufgabe unserer Hände

«Heimatkunde» als seelischer Atemprozess

Geschichte: der Verlauf der Zeit im Raum

Wie es in den anderen Epochen weitergeht

Zwischenbilanz am Ende des vierten Schuljahres

9. Der Klassenlehrer und seine Vorbereitung

Das neue Schuljahr

Die neue Woche und die neue Epoche

Die tägliche Vorbereitung

Die tägliche Nachbereitung

Die abendliche Vorbereitung

10. Das fünfte Schuljahr

Der Eintritt in die Mittelstufe

Die neuen Epochen – ein Blick nach innen und nach außen

Der Sprung in die Geschichte der alten Kulturen

Eintauchen in die griechische Mythologie

Pflanzenkunde – in der Natur waltende Weisheit

Weitere Epochen

Die erste Klassenreise

11. Das sechste Schuljahr

Innere und äußere Umbrüche im zwölften Lebensjahr

Die neuen Epochen – Blicke in die Außenwelt

Aus der ersten Physikepoche

Erlebnisse in der ersten Gesteinskunde

Geometrie – von nun an mit Zirkel und Lineal

Was es laut Lehrplan zu bedenken gilt

12. Das siebte Schuljahr

Innere und äußere Situation der Schüler

Die neuen Epochen – das Weltbild vervollständigen

Aus der ersten Chemieepoche

Einiges zur Ernährungs- und Gesundheitslehre

Erzählstoff Völkerkunde: heute wichtiger denn je

Neue Akzente in den übrigen Epochen

13. Das achte Schuljahr

Acht Jahre lang denselben Lehrer?

Die innere Situation der Jugendlichen

Die Anatomieepoche

Die Temperamente in der Stilkunde des Deutschunterrichts

Darstellung der Temperamente im Unterricht

Erste Zusammenschau der Phänomene und weiterführende Aspekte

Stilkunde und Temperamente

Die Wirkung der Temperamente aufeinander

Wie es in den anderen Epochen weitergeht

Der Abschluss der gemeinsamen Zeit von Schülern und Klassenlehrer

Das Abschlussspiel

Jahresarbeiten

Der Abschied von der Klassenlehrerzeit

Ein Freijahr für den Klassenlehrer?

Ausklang

Anhang: Die Morgensprüche zu Beginn des Hauptunterrichts

Der Morgenspruch für das erste bis vierte Schuljahr

Der Morgenspruch für das fünfte bis zwölfte Schuljahr

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Weitere Titel

Über den Autor

Impressum

Fußnote

Zum Geleit

Seit nunmehr fast hundert Jahren arbeitet die Waldorfschule. Sie kennt als eine besondere Einrichtung den Tatbestand, dass ein Lehrer über mehrere Jahre hinweg die Kinder in einer Klasse führt und dabei in allen wichtigen Fächern unterrichtet. Der Unterricht geschieht in Form des Epochenunterrichts. Jeden Morgen tritt dabei der Lehrer vor die Klasse und unterrichtet ein Stoffgebiet durch mehrere Wochen hindurch. Wer diese Unterrichtsform nicht kennt, für den stellen sich leicht einige prinzipielle Fragen: Wie kann das denn gehen? Ist der Lehrer nicht schlechthin überfordert, wenn er Jahr für Jahr neue Fächer zu unterrichten hat? Und wie ist das in Bezug auf die sozialen Beziehungen in der Klasse? Entstehen da nicht zu große Bindungen und Abhängigkeiten, die die Selbstständigkeit des Schülers zu beeinträchtigen vermögen? Kurzum: es gibt an dieses Muster des Klassenlehrers zahlreiche Fragen.

Weil diese Fragen real bestehen, hat unser verstorbener Kollege von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Georg Kniebe, bei dem langjährigen, erfahrenen Klassenlehrer Helmut Eller angefragt, ob er nicht eine solche Darstellung als Erfahrungsbericht geben könnte. So ist schließlich eine Schrift entstanden, die den ganzen Reichtum dieser neuen Form der Lehrerexistenz ausleuchtet und beschreibt, und zwar in einer sehr gefälligen, leicht lesbaren und sehr anschaulichen Weise. Es ist dem Autor besonders zu danken, dass er keineswegs nur die sympathischen, sondern auch die schwierigen Aufgaben des Lehrers behandelt. Selbst die heute offenkundig notwendigen Konflikte – zwischen Schülern und Lehrer und zwischen Lehrer und Eltern – werden nicht ausgespart und ehrlich dargestellt. Zentral erscheint dabei, wie wichtig die Arbeit des Lehrers an sich selbst ist; auch darüber gibt es manches Bedeutsame mitzuteilen. Und wie nebenbei erfährt man sowohl über die Unterrichtsorganisation als auch über den Aufbau und die Lehrinhalte der Klassen eins bis acht Instruktives, sodass sich ein inhaltsgesättigtes Bild ergibt, das nicht nur für Eltern, sondern auch für sich orientierende Lehrer hilfreich sein kann.

Für diese gelungene Arbeit haben wir Helmut Eller, der aus der Perspektive des Ruhestandes zurückschaut und die Erfahrungen der Reifung des Alters unterzogen hat, herzlich zu danken.

Stefan Leber

Vorwort

Die Anregung, ein Buch über Aufgaben und Arbeitsweise des Klassenlehrers zu schreiben, ging von der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen aus. Georg Kniebe bat mich im Frühjahr 1996, dieses Thema zu bearbeiten.

Das Buch in der nun vorliegenden Form wendet sich vor allem an Eltern, die ihr Kind in einer Waldorfschule eingeschult haben und einen Überblick über das vielfältige Arbeitsgebiet des Klassenlehrers gewinnen möchten. Es will seine Leser informieren und in die Unterrichtsarbeit einstimmen. Zugleich kann es als ein Begleiter für die ersten acht Schuljahre aufgefasst werden. Während dieser Jahre unterrichtet, führt und betreut ein Klassenlehrer in der Waldorfschule «seine» Klasse und wächst in dieser Zeit innerlich stark mit den Kindern und deren Eltern zusammen. Diese gemeinsam erlebbaren Klassenstufen – mit den jeweils neuen Unterrichtsepochen, Aufgaben und den ständigen Veränderungen der Kinder – habe ich so geschildert, dass sich der Leser möglichst in die einzelnen Situationen hineinfühlen und sich schließlich ein eigenes «Bild» vom Klassenlehrer und seiner Unterrichtstätigkeit machen kann. Da jede Klassenstufe mit ihren jeweiligen Schwerpunkten – vom ersten Elternabend vor Schulbeginn an bis hin zum Abschluss des achten Schuljahres – in sich abgeschlossen dargestellt wird, erscheint es mir denkbar, dass diese Ausführungen auch zu Beginn jedes neuen Schuljahres für Eltern eine Orientierungshilfe sein können.

Ich habe die Schilderungen bewusst einfach und anschaulich gehalten. Wenn sie auch keine Einführung in die Waldorfpädagogik und ihre Hintergründe darstellen, bin ich doch auch gesondert auf grundlegende Aspekte der Klassenlehrertätigkeit, auf zentrale Elemente des Waldorfunterrichts eingegangen und habe hierzu im Rahmen des Möglichen einige Gesichtspunkte angegeben. Für viele Leser mag diese Schrift also auch eine Einführung in die Pädagogik der Unter- und Mittelstufe an Waldorfschulen sein. Wer mehr darüber wissen möchte, aus welchen Motiven heraus ein bestimmter Stoff auf einer bestimmten Klassenstufe durchgenommen wird, sei auf die angegebene weiterführende Literatur verwiesen.

Obwohl meine Ausführungen keine kritische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik beinhalten, hoffe ich doch, dass sich auch dem kritischen Leser manche Frage zufriedenstellend beantwortet, wenn er sich in das hier entworfene «Bild» vertieft. Meinen Ausführungen wird man entnehmen können, wie bedeutsam eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern ist. Mitunter gilt es auch, Klippen zu umschiffen und mit auftretenden Schwierigkeiten fertig zu werden. Diesem so wichtigen Thema ist daher ein ganzes Kapitel gewidmet, denn die Früchte eines guten gegenseitigen Verstehens werden die Kinder ernten.

Beim Schreiben des Buches hatte ich außer den Eltern auch Seminaristen und junge Lehrer vor Augen, die sich bei der Vorbereitung auf die nächste Klassenstufe einen Überblick verschaffen möchten und nach Anregungen suchen. Ihnen will ich durch meine Ausführungen vor allem Mut für ihre verantwortungsvolle Aufgabe machen. Vielleicht wird auch der eine oder andere erfahrene Klassenlehrer beim Lesen einen neuen Denkanstoß bekommen, da er sicherlich manche Themen bisher ganz anders behandelt hat.

Wenn ich einiges aus dem Unterricht freudig, enthusiastisch erzähle, könnte beim Leser vielleicht der Eindruck entstehen, dass «man es so macht» und es sich dabei um «Rezepte» handele. Das ist weder so gemeint noch beabsichtigt, und es wird hoffentlich nicht vorkommen, dass Eltern im Falle einer Unzufriedenheit mit dem Buch in der Hand zum Klassenlehrer ihres Kindes gehen, um ihm vorzuwerfen, er habe etwas ganz anders gemacht, als es dort beschrieben ist. Ja, es ist sogar wichtig, dass jeder Klassenlehrer die hier dargestellten Dinge für seine Kinder auf seine Weise, ganz aus seiner Persönlichkeit heraus, gestaltet und dementsprechend abändert. Ein anderer erfahrener Lehrer würde an vielen Stellen ganz andere Beispiele, vielleicht viel schönere, zu erzählen haben. Wie oft habe ich staunen müssen, wenn bei Fortbildungstagungen Kollegen von ihrer Arbeit berichteten! Die eigene schöpferische Tätigkeit des Lehrers soll also durch meine Darstellungen keinesfalls untergraben, vielmehr soll sie angeregt werden. Im Stillen habe ich die Hoffnung, dass meine Ausführungen zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen können.

Die 2. Auflage von 2007 wurde um einige mir notwendig erscheinende Kapitel erweitert. Zum einen war es mir ein Bedürfnis, für das sechste Schuljahr einiges Wesentliche zu ergänzen, zum anderen war in der ersten Ausgabe der sogenannte rhythmische Teil zu sehr auf die Arbeit in den ersten beiden Schuljahren beschränkt, sodass diese wichtige Thematik einer erheblichen Erweiterung bedurfte. Angehende Lehrer finden darin vielerlei Anregungen, wie man diesen Teil des Unterrichts auf unterschiedlichste Weise gestalten kann. Auch schien mir notwendig zu sein, auf die in den letzten Jahren von einigen Kollegen mit großem Elan entwickelten Unterrichtsformen einzugehen, die eine Fülle von Bewegungselementen beinhalten und sich dadurch bis in eine gänzlich andere Gestaltung des Klassenraums auswirken («mobiles Klassenzimmer»). Bei der jetzigen 3. Auflage wurde versucht, im Anmerkungs- und Literaturteil auch die inzwischen erschienene Literatur zu berücksichtigen.

Abschließend möchte ich mich bei einigen Persönlichkeiten, ohne deren besondere Hilfe das Buch nicht zustande gekommen wäre, sehr herzlich bedanken. Georg Kniebe überreichte mir während der letzten Tage seines Erdenlebens das Manuskript mit den Anregungen für ein Inhaltsverzeichnis. Herr Hans-Joachim Mattke hat mir wesentliche Anleitungen für ein eigenes Überarbeiten meines Manuskripts gegeben, dann auch viel Zeit investiert, um die erste Fassung zu redigieren und zu kürzen. Frau Ruth Bronsema hat als Sekretärin der Landesarbeitsgemeinschaft aller Hamburger Waldorfschulen und zugleich sehr erfahrene Waldorfmutter das Manuskript kritisch gesichtet und noch einmal umfassend überarbeitet. Schließlich danke ich Herrn Martin Lintz vom Verlag Freies Geistesleben für wichtige Gespräche und für die sorgfältige Betreuung des Buches.

Helmut Eller

1. Zur Einführung. Der Beginn der Schulzeit

In der Waldorfschule kommt dem Klassenlehrer eine zentrale Rolle zu – er unterrichtet in der Regel seine Schüler acht Jahre lang, von der 1. bis zur 8. Klasse, in verschiedensten Fächern. Täglich gibt er den sogenannten Hauptunterricht in Epochen von jeweils drei oder vier Wochen, angefangen von den grundlegenden Fächern der unteren Klassen, Rechnen, Schreiben und Lesen, bis hin zu speziellen Themen der Biologie, Physik, Chemie, Geschichte oder Geografie, die den Bedürfnissen und dem Entwicklungsstand von Dreizehn- bis Vierzehnjährigen entsprechen. So sieht sich der Klassenlehrer im Laufe dieser Jahre auch vor die Aufgabe gestellt, immer mehr Inhalte von Fächern zu vermitteln, die er nicht studiert hat oder mit denen er bisher vielleicht weniger vertraut war. Das bedeutet, dass er sich in immer neue Themengebiete einzuarbeiten hat.

Gleichzeitig begleitet er durch seine achtjährige Tätigkeit die ihm anvertrauten Kinder in einem entscheidenden Abschnitt ihrer Entwicklung, von der Kindheit bis in die Pubertät. Er wird so für sie zu einem wichtigen Betreuer.

Damit ist aber sein Arbeitsfeld noch nicht vollständig umrissen. Zu seinen Aufgaben gehört unter anderen auch, einen engen Kontakt zu den Müttern und Vätern seiner Schüler herzustellen; nur im ständigen Austausch mit den Eltern kann er das Kind angemessen fördern. Die sogenannte Elternarbeit ist daher ein wesentliches Element in der Tätigkeit des Klassenlehrers.*

Weitere Anforderungen und Aufgaben, auf die wir im Folgenden zu sprechen kommen werden, seien hier nur am Rande erwähnt: die Teilnahme an den wöchentlich stattfindenden Konferenzen (eine Notwendigkeit, die sich aus der demokratischen, nicht hierarchisch gegliederten Struktur der Schule und des Kollegiums ergibt), das Unterrichten in relativ großen Klassen (was gerade in letzter Zeit nicht mehr für alle Waldorfschulen zutrifft, aber immer noch häufig der Fall ist) oder die Erfordernis, sich ständig weiterzubilden und Neues dazuzulernen.

Deshalb wird sich jeder, der sich mit dieser Pädagogik bewusst auseinandersetzen möchte, fragen: Wie kann ein Klassenlehrer eine solche Aufgabe denn bewältigen? Kann er all diese Anforderungen überhaupt erfüllen?

Diese umfassende Frage steht immer im Hintergrund der folgenden Darstellungen. Entsprechend umfangreich wird auch die Antwort sein. Sie kann sich dem Leser eigentlich nur schrittweise, im Gang durch die einzelnen Klassenstufen mit ihren wichtigsten Unterrichtsinhalten, ergeben.

Konkret knüpfen sich daran aber weitere Fragen an, denen wir im Folgenden nachgehen werden:

Welche Aufgaben kommen in den einzelnen Schuljahren auf den Klassenlehrer zu? Wie verändern sich die Kinder während der acht Jahre, und wie kann man sich darauf einstellen? Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Klassenlehrer? Wie kann man als Klassenlehrer ein Lernender bleiben, auch nach vielen Jahren des Unterrichtens?

Der Beginn eines gegenseitigen Vertrauens

Eltern haben sich dafür entschieden, ihr Kind in die Waldorfschule zu schicken. Sie konnten sich vorher über das Besondere dieser Schulform orientieren, haben Vorträge oder einführende Veranstaltungen besucht, auch einiges gelesen und haben nun eine Vorstellung, was sie und ihr Kind erwartet.1 Sie setzen zunächst Vertrauen in diese Schulform. Dennoch bleibt ihnen die Frage, wie der Klassenlehrer ihres Kindes all das in die Tat umsetzen kann, was sie von der Waldorfschule erhoffen.

Zunächst beschäftigt sie vor allem, wie der Klassenlehrer mit der Klasse und dem eigenen Kind zurechtkommen wird, ob sie mit ihm zusammenarbeiten können und wie sich das Vertrauen, das sie in ihn gesetzt haben, schrittweise begründen und vertiefen lässt, wird doch für das Wohl des eigenen Kindes viel davon abhängen, wie man sich als Mutter oder als Vater zu ihm stellen kann. So warten alle gespannt auf die erste Begegnung mit «ihrem» Klassenlehrer.

An den meisten Schulen lernen die Klassenlehrer ihre neuen Eltern erst am Elternabend kurz vor Schulbeginn kennen. Lampenfieber, Spannung und Aufregung herrschen auf beiden Seiten. Jeder weiß und fühlt, dass vom ersten Eindruck bereits viel abhängen wird.

Die Eltern bewegt schon lange vor dem ersten Elternabend nicht nur die Frage, wer und wie die Lehrkraft ist, der sie für acht Jahre ihr Kind anvertrauen, sondern auch die folgenden: Wer sind die anderen Eltern, denen sie an diesem Abend zum ersten Mal begegnen? Wie werden sich deren Kinder in der Schule verhalten? Wird eine gute Klassengemeinschaft entstehen, in der das eigene Kind sich aufgehoben fühlen kann? Wird «unser» Lehrer auch mit den Eigenarten meines Kindes fertig?

Nun, der Abend wird einige Klarheit darüber bringen, was sie an Ungewissheiten seit längerem in sich tragen, was sie unter Umständen mit anderen Eltern, die sie schon kennen, bereits erörtert haben. Vielleicht schwelt auch bei einigen Müttern oder Vätern die bange Frage im Hintergrund, was denn zu tun sei, falls ihnen die Lehrkraft in keiner Weise zusagt.

Wie aber mag es dem Klassenlehrer vor diesem so bedeutenden Abend ergehen? Bei aller Vorfreude auf die erste Begegnung mischen sich bei ihm doch auch Erwartung und Spannung sowie Unsicherheit herein, selbst wenn er bereits eine Klasse oder mehrere geführt hat. Auch er stellt sich Fragen: Wer und wie sind die neuen Eltern? Vertrauen sie mir ihr Kind gern an, oder werden sich bei einigen während der heutigen Begegnung leise Zweifel einschleichen? Wie wird die Zusammenarbeit werden? Wie werden die Eltern auf kleine Ungeschicklichkeiten, die – vor allem bei dem noch Unerfahrenen – auftreten, reagieren? Werden auch solche Eltern, die bereits Kinder in höheren Klassen und folglich schon etliche Elternabende miterlebt haben, den Anfänger akzeptieren, oder werden sie ihn immer mit dem «alten Hasen» vergleichen und zu viel von ihm erwarten?

Klar wird durch das Gesagte: Allen Beteiligten ist von vornherein bewusst, dass viel von dieser ersten Begegnung abhängt und es darum geht, die künftige Zusammenarbeit sorgfältig einzufädeln.

Der erste Elternabend

Ist die Aufnahme der neuen Erstklässler weitgehend abgeschlossen, finden sicherlich in allen Schulen mehrere Einführungsabende, mancherorts auch regelmäßig wiederkehrende «Elternseminare» statt. In vielen Fällen wird der neue Klassenlehrer aber nicht dabeisein können. Als Beispiel einer ersten Begegnung sei daher dargestellt, wie in der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt ein erster Elternabend im Allgemeinen gestaltet wird.

Der große Augenblick ist gekommen, und alle haben Platz genommen. Ein Kollege der Schulleitungskonferenz tritt vor die Eltern, um sie im Namen der Schule zu begrüßen und ihnen den Klassenlehrer bzw. die Klassenlehrerin ihrer Kinder vorzustellen.

Alle Anwesenden verfolgen gespannt, was diese Persönlichkeit aus ihrem Leben berichtet, wo und wie sie sich auf diese Aufgabe vorbereiten konnte, woher sie kommt und was ihre Ziele sind. So können sie sich ein erstes Bild machen: «Das also ist er (bzw. sie)» Manchem mag in diesem Augenblick der Gedanke kommen: Wenn auf beiden Seiten guter Wille lebt, müsste künftig eigentlich alles gut gehen.

Der weitere Ablauf des Abends ist ganz in die Hände des Klassenlehrers gelegt, und er wird unter anderem vom Ablauf des ersten Schultages und der ersten Epoche berichten, die das spezifische Waldorffach «Formenzeichnen» beinhaltet. Schließlich gibt es manches Organisatorische zu erörtern, auch allerlei Fragen zu beantworten, und während man sich auf die gemeinsame Arbeit und die Arbeit mit den Kindern konzentriert, wird alle anfängliche Aufregung bald vergessen sein.

Nach der Verabschiedung sieht man hier und da noch eine Zeit lang kleine Grüppchen beisammen stehen, munter plaudernd, herzlich lachend oder in ernste Gespräche vertieft. Nun kann sich echte Vorfreude auf den ersten Schultag einstellen.

Für den Klassenlehrer wird es nach einem solchen Abend eine besondere Freude sein, wenn er beim Betrachten der Anwesenheitsliste feststellen kann, dass alle Elternhäuser vertreten waren. Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn jemand fehlen und die ersten gemeinsamen Erlebnisse versäumen müsste.

Die Einschulungsfeier

Wie die Arbeit in den gemeinsamen Jahren von Kindern und Lehrer verlaufen wird, hängt bereits davon ab, wie der Klassenlehrer den Beginn der Schulzeit vorbereitet – wie er zum Beispiel für seine Schüler den Schulanfang gestaltet. Er muss sich überlegen, wie er sie empfangen und begrüßen will, was er ihnen sagen möchte, wie er sie schrittweise in die große Schulgemeinschaft einzuführen gedenkt. Gründlich vorbereitet erwartet er daher die Einschulungsfeier für seine Erstklässler.

Die Einschulungsfeier ist ein bedeutsamer, aufregender Tag, nicht nur für die Kinder selbst! Wollen doch vielerorts außer den Eltern auch viele Verwandte miterleben, wie ihr Enkel, ihre Nichte oder ihr Patenkind vom Klassenlehrer und der Schulgemeinschaft aufgenommen wird. Aufregung herrscht natürlich auch in den Klassen, bei Eltern und Lehrern, nicht zuletzt aber bei dem, der an diesem Tag zum ersten Mal «seine» Kinder zusammenführen und sie von nun an täglich begleiten und unterrichten wird. Für manchen Teilnehmer wird diese Feier schließlich eine Gelegenheit bieten, den Klassenlehrer als Pädagogen kennenzulernen und das Vertrauen in ihn zu festigen.

Jede Schule hat ihre eigene Art, diese Feier zu gestalten. Als ein Beispiel unter vielen Möglichkeiten sei gestattet, auch eine Einschulungsfeier der Schule in Hamburg-Bergstedt, wo ich fünfundzwanzig Jahr lang als Klassenlehrer tätig war, zu schildern.

Die Eltern mit ihrem Schulanfänger, begleitet von etlichen Verwandten, nehmen als Erste vorn in der geräumigen Aula Platz und warten darauf, dass sich Klasse für Klasse hinter ihnen versammelt. Nach einer Eröffnungsmusik des Schul- oder eines Klassenorchesters heißt ein Lehrer die neuen Eltern mit ihrem Kind im Kreis der Schulgemeinschaft willkommen, formuliert einige wesentliche Gedanken und bittet dann den Klassenlehrer auf die Bühne.

Nach seiner kurzen Begrüßung wartet die gesamte Schule mit Spannung darauf, welche Geschichte dieser Lehrer «seinen» Kindern erzählen wird. Fast immer ist es ein Märchen, das ihnen in diesem Schuljahr zu einem Leitmotiv werden kann. Solche Anfangsmotive wurden bei Abschlussfeiern der 12. Klassen von den Schulabgängern manchmal aufgegriffen. Schüler äußerten ihr Erstaunen darüber, wie treffend ihr Klassenlehrer damals das jeweilige Motiv für sie ausgewählt hatte.

Noch ist der Klassenlehrer allein auf der Bühne, und mancher wird mitfühlen, wie schwer es für ihn sein mag, vor all den Menschen so persönlich zu seinen Schülern zu sprechen. Hat er bereits eine Klasse geführt, sind auch seine ehemaligen Schüler im Raum und hören gespannt, aber auch – dem Alter entsprechend – kritisch zu. So bedeutet die ganze Feier eine gewisse Prüfung für ihn. Es ist erstaunlich, wie aufmerksam selbst die älteren Schüler an einem solchen Tag einer Märchenerzählung folgen. Man könnte eine Stecknadel fallen hören!

Die 4. Klassen haben kleine, farbenfrohe Schultüten gebastelt, die vom Klassenlehrer inzwischen mit allerlei «Wegzehrung» gefüllt worden sind: mit Obst, Nüssen, Rosinen, manchmal einem Brotknust (symbolische Bedeutung: Stärkendes, Erfrischendes, aber auch Dinge zum Knacken und mühsamen Kauen – dem Weg durch die Schulzeit entsprechend). Diese «Schultüten» wurden mit den Namen der neuen Kinder versehen und befinden sich nun in einem großen Waschkorb auf der Bühne. Der Klassenlehrer greift hinein, nimmt irgendeine Tüte heraus (so umgeht man die alphabetische Reihenfolge) und liest den Namen vor.

Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie unterschiedlich sich die Kleinen von ihren Eltern lösen, nach vorn auf die Bühne stapfen, die Hand zum Gruß reichen und die Schultüte entgegennehmen – je nach Temperament: Bei einem Kind erlebt man ein wackeres, zielgerichtetes Drauflosstürmen, sogleich nach der Hand, dann nach der Tüte greifend; bei anderen gewahrt man ein gemächliches, friedliches Schlendern und ruhiges Begrüßen; oder man erlebt ein heiteres, vergnügtes Dahineilen, den Eltern von der Bühne aus zuwinkend; wieder andere stehen zaghaft auf und wenden sich noch einmal den Eltern zu, um dann besonnenen Schrittes nach vorn zu gehen. Welch bedeutsamer Augenblick für Lehrer und Kind ist doch diese erste Begrüßung vor der Schulgemeinschaft!

Bald sitzen alle Kinder vorn auf langen Bänken dicht beisammen, und alle Anwesenden können es deutlich sehen: Das ist die neue erste Klasse. In diesem Augenblick spürt man als Klassenlehrer oft ein tiefes Glücksgefühl: Die gemeinsame Arbeit kann beginnen! Jedem Kind wird von Schülern einer höheren Klasse (mitunter sind es die ehemaligen Schüler des Klassenlehrers) eine große, leuchtende Blume überreicht. Manchmal werden auch kleine Geschenke ausgeteilt, die sich die Zweit- oder Drittklässler ausgedacht haben.

Schließlich ist Zeit zum Aufbruch. Im Gänsemarsch zieht der Klassenlehrer mit seiner Schar durch die Aula, während ihnen die Schulgemeinschaft das folgende Schullied singend mit auf den Weg gibt:

Ich bin die Mutter Sonne

und trage die Erde bei Nacht,

die Erde bei Tage.

Ich halte sie fest und strahle sie an,

dass alles auf ihr wachsen kann.

Stein und Blume, Mensch und Tier:

Alles empfängt sein Licht von mir.

Tu auf dein Herz wie ein Becherlein,

denn ich will leuchten auch dort hinein.

Tu auf dein Herzlein, liebes Kind,

dass wir ein Licht zusammen sind.

Verstohlen suchen die Blicke einiger Schulanfänger – je nach Temperament –, ihre Eltern in der Menge ausfindig zu machen, dann führt sie der Weg mitten in das Schulleben hinein.

Die Eltern werden nun von der Schule zu einem Frühstück eingeladen, wobei sie Gelegenheit haben, auch einige Fachlehrer kennenzulernen. Es wird einige Zeit vergehen, bis die Kleinen ihre erste Schulstunde in Ruhe und ohne Klingelzeichen absolviert haben.

Mitunter ist es für Eltern nicht einfach, ihr Kind in diesen neuen Lebensabschnitt zu entlassen, werden sie doch in Kauf nehmen müssen, dass es seinen Klassenlehrer mehr und mehr lieben und sich ihm ganz anvertrauen will, um gut lernen zu können. So ist dieser Tag zugleich ein Wendepunkt, der große Freude, für einige Mütter oder Väter aber auch etwas Abschiedsschmerz beinhaltet. Seinem Kind zuliebe kann man diesen Schmerz aber hoffentlich schnell überwinden.

Die erste Schulstunde – «Ihr seid gekommen, weil ihr lernen wollt.»

Auf die erste Schulstunde hat sich der Klassenlehrer schon lange vorbereitet. Auch feine Nuancen hat er sich überlegt, denn wie der Faden eingefädelt wird, so wird er später laufen. So weiß der Lehrer in der Regel vorher, wo und wie er die Kinder am ersten Tag zu ihren Plätzen führt und wie er sie dann als ganze Klasse begrüßen wird. Vielleicht spricht er ihnen auch schon einmal den Morgenspruch vor, der in Zukunft dann täglich den Anfang des Hauptunterrichts bilden wird.2

Den Verlauf dieser ersten Schulstunde hat Rudolf Steiner 1919 seinen ersten Lehrern skizzenhaft vorgetragen, und er dient heute noch weltweit den Klassenlehrern an Waldorfschulen als Anregung.3 Im Grunde geht es darum, in diesem bedeutsamen Augenblick seine Schüler darauf aufmerksam zu machen, weshalb sie in die Schule kommen. «Ihr seid gekommen, weil ihr lernen wollt!» – das ist das eigentliche, verborgene Motiv, das in den Kindern lebt.

Mit dieser Tatsache muss der Klassenlehrer sich vorher selbst innerlich durchdringen, um den Kindern aus Überzeugung sagen zu können, dass in ihren Seelen der Wille zum Lernen lebt. Auch die nötige Achtung vor dem, was «die Großen» schon können, klingt in dieser Stunde an, indem der Lehrer die Erstklässler darauf aufmerksam macht, was sie in der Schule lernen dürfen. Er wird dabei im Allgemeinen nicht sagen, dass sie hier «schreiben lernen», denn einige würden dann leise – oder laut – denken: «Das kann ich. Ich kenne schon alle Buchstaben.» Besser ist es, der Anregung Rudolf Steiners folgend, sie zum Beispiel darauf aufmerksam zu machen, dass die Erwachsenen sich gegenseitig Briefe schreiben und dass sie das eines Tages ebenfalls können werden (ein sozialer Aspekt). Auf ähnliche Weise wird das weitere Gespräch mit den Kindern verlaufen.

Ein Höhepunkt dieser ersten Schulstunde ist gekommen, wenn der Klassenlehrer nach entsprechender Vorbereitung alle Kinder einzeln an die Tafel bittet, um sie eigenhändig eine gerade und eine krumme Linie anzeichnen zu lassen. Er hat ihnen soeben mit entsprechenden Erläuterungen diese beiden Linien groß an der Tafel vorgezeichnet, hat die Kinder ihre Hände anschauen lassen und ihnen dabei gesagt, dass diese in der Schule besonders geschickt zum Arbeiten werden sollen. Von Anfang an steht im Unterricht der Waldorfschule der tätige Mensch im Mittelpunkt! Für den Lehrer ergibt sich beim Nachvorn-Kommen, beim Auswählen der farbigen Kreide und Anzeichnen die Möglichkeit, die Kinder einzeln zu erleben und diese ersten Eindrücke liebevoll zu bewahren, bis sie sich zu einem inneren Bild, das er sich langsam von jedem Kind machen wird, zusammenschließen.

Gegen Ende dieser ersten Schulstunde erzählt der Klassenlehrer gegebenenfalls die in der Aula unterbrochene «Geschichte» zu Ende oder beschließt den Unterricht mit einer anderen kurzen Erzählung. Nach einer gemeinsamen Verabschiedung wird er es sich nicht entgehen lassen, jedem Kind die Hand zu geben und ihm in die Augen zu schauen – wie er es fortan täglich tun wird.

Vor der Tür warten inzwischen voller Spannung die Eltern, und viele lassen sich von ihrem Kind an der Tafel zeigen, welche «Gerade» oder «Krumme» von ihm gezeichnet wurde. Freilich möchten die Eltern auch so manches im Bild festhalten, und so wird oftmals dieser erste Morgen damit enden, dass die Eltern die Kinderschar mit ihrem Lehrer fotografieren.

2. Hauptunterricht und Epochenprinzip

Epochenunterricht als Langzeitpädagogik

Der morgendliche Unterricht an der Waldorfschule gliedert sich für die Klassen 1 bis 12 in die beiden Teile «Hauptunterricht» und «Fachunterricht». Dabei bildet der Hauptunterricht mit einer Länge von etwa 105 Minuten, also in der Regel von 8 bis 9 Uhr 45 (an einigen Schulen ist der Hauptunterricht etwas kürzer, an anderen sogar etwas länger), einen Schwerpunkt. Eine Reihe von Fächern, wie Deutsch, Rechnen und Mathematik, Formenzeichnen und Geometrie, Sachkunde, Geografie, Geschichte, Biologie, Physik, Chemie u. a., werden in dieser Zeit unterrichtet. Die Arbeit in diesen Fächern findet in einzelnen Epochen statt, die im Allgemeinen drei bis vier Wochen, in den unteren Klassen unter Umständen auch länger, dauern. Eine intensive Beschäftigung mit einem bestimmten Thema über einen längeren Zeitraum hinweg ist dadurch möglich. Eine solche Konzentration hat sich bewährt. Das jeweilige Thema bildet einen Schwerpunkt für den gesamten Vormittag und kann tags darauf zur gewohnten Stunde aufgegriffen, vertieft und weitergeführt werden. Die Schüler gewöhnen sich rasch an diesen Rhythmus.

Dass das Prinzip des Epochenunterrichts eine wesentliche Bedeutung für die Art des Lernens hat und auch elementare physiologische Grundlagen berücksichtigt, hat Wolfgang Schad klar herausgearbeitet. Er schreibt dazu unter anderem:

«Wer nur etwas Erfahrung in geistig schöpferischer Tätigkeit hat, wird bemerkt haben, dass man sich mit einem lebendigen Inhalt nicht nur zwei, drei auseinandergerissene Tage in der Woche beschäftigen kann, und das über beliebig lange Zeit, sondern über einige Wochen hin die Konzentration darauf sucht. Der epochale Unterricht regt den Schüler an, geistige Arbeit nach den Gesetzen geistiger Arbeit zu tun. Dazu gehört, dass das Erarbeitete danach ins Langzeitgedächtnis zurücksinken darf, denn es ist ein physiologischer und psychologischer Unsinn, vom Schüler wie auch von irgendeinem Menschen zu verlangen, alles, was er weiß, jederzeit im Bewusstsein reproduzieren zu können. Aktives Lernen und aktives Vergessen auf Zeit im obigen Sinne gehören zur geistigen Hygiene. … Der Epochenunterricht ermöglicht, dass der Schüler die Unterrichtsinhalte tiefer in seine Organisation als nur ins Tagesbewusstsein aufnimmt … und sie so für das Leben behält. … Erst durch den Hauptunterricht betreibt die Waldorfschule Langzeitpädagogik und lässt nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernen.»4

Im Epochenheft, das die Schüler in jeder Epoche anlegen, wird von ihnen das Erarbeitete in Form von Texten und eigenen Zeichnungen festgehalten, während manches von dem im künstlerisch gestalteten Unterrichtsprozess Erlernten «vergessen» wird (auch im Sinne von «essen und verdauen»), sich aber während der folgenden Zeit in neue Fähigkeiten verwandelt. Zu Beginn der nächsten gleichlautenden Epoche bedarf es künstlerischen Geschicks, um das, was länger ruhte, aufzuwecken und wieder zutage zu fördern.

Für den Klassenlehrer hat das Epochenprinzip aber eine weitere wesentliche Bedeutung: Er braucht sich während drei bis vier Wochen nur jeweils auf ein Fach zu konzentrieren, kann sich also intensiv mit einem Thema beschäftigen. Das ist, wie wir noch sehen werden, eine unschätzbare Hilfe, um die Fülle des Stoffes und der Themen bewältigen zu können.

Der Hauptunterricht – innerer Atem und künstlerische Unterrichtsführung

Die Frage, wie die Kinder den «so langen» Hauptunterricht von etwa 105 Minuten ohne Pause durchstehen können, steht in engem Zusammenhang mit einer guten Gliederung des Unterrichts. Ein sinnvoller Stundenaufbau ist erforderlich, der den Kindern gemäß ist und zum täglichen Rhythmus, zur guten Gewohnheit werden kann. Der Klassenlehrer muss daher besonders darauf achten, dass der Hauptunterricht inneren Atem hat und eine künstlerische Unterrichtsführung ermöglicht.

Allem Rhythmischen wird in der Waldorfschule eine besondere Bedeutung beigemessen. Ein bildhafter Vergleich möge das grundsätzlich verdeutlichen. Wie in jedem Menschen Puls und Atem in einem gewissen Rhythmus zueinander schwingen und die beiden entsprechenden Rhythmusorgane – Herz und Lunge – dabei nicht ermüden, strebt man an, auch «Atem im Unterricht» entstehen zu lassen. Ein unterrichtliches «Ein- und Ausatmen» bedeutet dann beispielsweise einen rhythmischen Wechsel von Spannung und Entspannung, von Arbeit mit dem Kopf und Arbeit mit den Gliedmaßen, von Arbeit mit der Klasse und Arbeit mit dem einzelnen Schüler. Ein solch selbst geschaffener Rhythmus stärkt einerseits die Lebenskräfte der Kinder, erleichtert andererseits dem Lehrer die Arbeit, was für die Bewältigung seiner Aufgabe nicht unerheblich ist.

Schon am zweiten Schultag spielt eine solche Gliederung des Unterrichts eine wesentliche Rolle. Es soll daher an dieser Stelle ein Überblick gegeben werden, wie in der Unter- und Mittelstufe an Waldorfschulen der Hauptunterricht in der Regel strukturiert ist. Im Allgemeinen baut ihn ein Klassenlehrer so auf, dass sich fünf verschiedene Teile unterscheiden lassen:

  1. rhythmischer Teil
  2. Wiederholungsteil
  3. Hauptteil
  4. schriftlicher Teil
  5. Erzählteil

Der rhythmische Teil

Der bereits erwähnte «Morgenspruch» bildet den Anfang des rhythmischen Teils. Dabei wird vom ersten bis zum vierten Schuljahr ein anderer Spruch gesprochen als vom fünften bis zum zwölften Schuljahr. (Die Texte sind im Kapitel «Anhang: Die Morgensprüche zu Beginn des Hauptunterrichts» wiedergegeben.) Im weiteren Verlauf singen oder rezitieren die Kinder, sprechen kleine Reime, machen Klatsch- oder Zahlübungen, schreiten im Reigen, spielen später auch während dieser Zeit Flöte.