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SAMUEL LANGHORNE CLEMENS
wurde 1835 in Florida, Missouri geboren und wuchs dort bis zu seinem 18. Lebensjahr auf. Er arbeitete zunächst als Schriftsetzer, Schiffslotse und Goldgräber bis er unter dem Pseudonym MARK TWAIN seine schriftstellerische Karriere begann. Mit der 1865 entstandenen Geschichte The Celebrated Jumping Frog of Calaveras County geriet er zum ersten Mal in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, seine Werke über die Freunde Tom Sawyer und Huckleberry Finn machten ihn schließlich zu einem bekannten und erfolgreichen Autoren. Mark Twain starb 1910 als weltweit anerkannter und mit Preisen und Ehrentiteln versehener Autor. Kurz vor seinem Tod soll er gesagt haben: »Ich bin ein alter Mann und habe viel Schreckliches erlebt. Aber das meiste ist nie passiert.«

Zum Buch

In dieser Auswahl der besten Mark Twain Kurzgeschichten zeigt der Altmeister immer wieder, dass der Wilde Westen abseits aller Klischees auch eine sehr komische Seite hat. Twain, der als »Vater der amerikanischen Literatur« bezeichnet wird, erzählt hier über Greenhorns und Aufschneider, Leichenbestatter und Kannibalismus. Er erklärt, wie man eine Erkältung kuriert und warum Lügen eine Kunst ist und fällt in seinem berühmten Aufsatz ein vernichtendes Urteil über die ›furchtbare deutsche Sprache‹, die sich angeblich jeglichem gesunden Menschenverstand widersetzt. Mark Twain besitzt einen scharfen, intelligenten aber auch liebevollen Blick für die Eigentümlichkeiten seiner Mitmenschen. Sein trockener Humor und seine süffisante Sprache machen die Geschichten so zu dem was sie sind: komisch, kurzweilig, zeitlos.

Geht es nach William Faulkner, so ist Mark Twain »der erste wahre amerikanische Schriftsteller«. Und tatsächlich ist Mark Twain der erste, der die amerikanische Sprache in die Literatur überführt. In seiner Prosa gelingt es ihm, die englische Sprache von ihrem strengen Gerüst zu befreien und sie in eine unbefangene, flexible, eben amerikanische Sprache umzuwandeln. Sein knapper und präziser Erzählstil wird noch von Ernest Hemingway als großes Vorbild betrachtet. Darüber hinaus verfügt Mark Twain über eine scharfe Beobachtungsgabe, auf humoristische und teilweise scharfzüngige Weise enttarnt er die Verlogenheiten seiner Zeit und legt dabei den Finger immer wieder punktgenau in die Wunden der amerikanischen Gesellschaft. Er wird daher zu Recht als einer der einflussreichsten Schriftsteller Amerikas angesehen.

»Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.« Mark Twain

Mark Twain

Der gefeierte Springfrosch
von Calaveras County

Mark Twain

Der gefeierte Springfrosch
von Calaveras County

Übersetzung, Auswahl und Edition
Alexander Heine

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015

ISBN: 978-3-8438-0485-1

www.verlagshaus-roemerweg.de

» Zuerst schuf Gott die Idioten.
Das war zur Übung.
Dann schuf er die Verlags-Lektoren.«

Mark Twain

INHALT

DER GEFEIERTE SPRINGFROSCH VON CALAVERAS COUNTY

UNTERHALTUNG MIT EINEM LEICHENBESTATTER

DIE GEFÄHRLICHKEIT, IM BETT ZU LIEGEN

ÜBER DEN VERFALL DER KUNST DES LÜGENS

DIE 1 000 000-PFUND-BANKNOTE

DIE FURCHTBARE DEUTSCHE SPRACHE

WIE MAN EINE GESCHICHTE ERZÄHLT

DER GESTOHLENE WEISSE ELEFANT

DAS 30 000-$-VERMÄCHTNIS

WIE MAN EINE ERKÄLTUNG KURIERT

KANNIBALISMUS IN DER EISENBAHN

GELEHRSAME FABELN FÜR NACHDENKLICHE GEMÜTER

EDITORISCHE NOTIZ

DER GEFEIERTE SPRINGFROSCH VON
CALAVERAS COUNTY

Aufgrund des Wunsches eines Freundes, der mir aus dem Osten geschrieben hatte, wandte ich mich an den gutmütigen, schwatzhaften alten Simon Wheeler und erkundigte mich auftragsgemäß nach dem Freund meines Freundes, Leonidas W. Smiley; das Ergebnis möchte ich hier niederlegen. Ich habe einen geheimen Verdacht, daß Leonidas W. Smiley ein reiner Mythos ist; daß mein Freund eine solche Person nie kannte; und daß er lediglich davon ausging, daß, sollte ich den alten Wheeler dazu befragen, dieser an den berüchtigten Jim Smiley denken und sich in der Folge daran machen würde, mich mit einigen weitschweifigsten Erinnerungen zu Tode zu langweilen, die nicht nur langwierig und öde sondern auch völlig nutzlos für mich sein würden. Sollte das sein Plan gewesen sein, so hatte er Erfolg.

Ich fand Simon Wheeler in der heruntergekommenen Taverne der verfallenen Bergarbeitersiedlung Angel’s Camp gemütlich neben dem Ofen der Bar dösend vor, und mir fiel auf, daß er glatzköpfig und dick und seine ruhige Erscheinung von angenehmer Freundlichkeit und Einfachheit geprägt war. Er erhob sich und begrüßte mich. Ich erklärte ihm, daß ein Freund mich darum gebeten hatte, einige Ermittlungen bezüglich eines alten, schwer vermißten Freundes aus Kindheitstagen namens Leonidas W. Smiley anzustellen, mittlerweile bekannt als Reverend Leonidas W. Smiley, eines Priesters, von dem er gehört habe, daß er irgendwann im Angel’s Camp ansässig gewesen sei. Ich fügte hinzu, daß ich mich ihm, Mr. Wheeler, sollte er mir hierzu Auskunft geben können, ausgesprochen verpflichtet fühlen würde.

Simon Wheeler drängte mich in eine ruhige Ecke und versperrte mir mit seinem Stuhl den Fluchtweg, setzte sich und spulte den monotonen Monolog ab, der diesem Abschnitt folgt. Er lächelte kein einziges Mal, noch runzelte er die Stirn, seine Stimme blieb stets demselben freundlichen leisen Ton treu, den schon der erste Satz aufgewiesen hatte, und nicht einmal ließ er die geringste Spur von Begeisterung erkennen; doch die ganze nicht enden wollende Geschichte war durchsetzt mit einer beeindruckenden Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, die mir bewies, daß er an der Erzählung so gar nichts Lustiges oder Lächerliches finden konnte, daß er sie vielmehr als wirklich wichtiges Ereignis und die beiden Helden als Männer der transzendentalsten, genialsten Finesse betrachtete.

»Reverend Leonidas W. – hmmmm … Reverend Le … Moment, es gab da mal einen, der hieß aber Jim Smiley, das war im Winter ’49 – oder vielleicht auch im Frühjahr ’50 –, ich weiß es nicht mehr ganz genau, aber weshalb ich glaube, daß es irgendwann um diese Zeit herum gewesen sein muß, ist, weil ich mich deutlich erinnere, daß die große Rutsche noch nicht fertig war, als er das Camp erreichte; aber egal, er war jedenfalls der seltsamste Kerl, immer am Wetten, egal um was es ging, wenn er nur einen fand, der auf das Gegenteil wettete; und wenn er keinen fand, dann nahm er eben die Gegenposition ein. Wie es dem anderen paßte, so paßte es auch ihm – wenn er nur eine Wette abschließen konnte, dann war er schon zufrieden. Aber er hatte dennoch Glück, und zwar außergewöhnlich viel davon; er gewann fast immer. Er war stets bereit, ein Risiko einzugehen; es gab wohl nicht eine einzige Sache, auf die er nicht zu wetten gewillt war, und er schlug sich einfach auf die Seite, die der andere nicht haben wollte, wie ich schon sagte. Gab es zum Beispiel ein Pferderennen, dann war er am Ende entweder reich oder bankrott; bei jedem Hunderennen schloß er Wetten ab; selbst ein Katzenrennen hätte ihm gereicht; jedes Hühnerrennen kam ihm recht; ach was: Wenn zwei Vögel auf einem Zaun saßen, dann wettete er mit jedem, der sich darauf einließ, welcher der beiden zuerst losfliegen würde; bei unseren Camp-Zusammentreffen wettete er meist auf Parson Walker, den er als den geschicktesten Ermahner betrachtete, und das war er auch, ein guter Kerl. Wenn er einen Mistkäfer beim Krabbeln beobachtete, dann wettete er, wie lange es dauern würde, bis er sein Ziel erreiche, wo auch immer er gerade hinmarschierte, und wenn sich einer darauf einließ, dann wäre er dem Käfer bis nach Mexiko gefolgt, nur um herauszufinden, wo er hinwollte und wie lange er dazu brauchte. Viele der Jungs hier kannten Smiley und könnten dir von ihm erzählen. Na, ihm war es jedenfalls egal – er hätte auf alles mögliche gewettet, der verrückte Kerl. Parson Walkers Frau war mal sehr krank, und eine Weile lang schien es, als könnte man sie nicht mehr retten; aber eines Morgens kam er herein, und Smiley fragte ihn, wie es ihr gehe, und er gab zurück, daß es viel besser um sie stünde – dem Herrn sei Dank für seine grenzenlose Güte – und daß sie mit etwas Glück wahrscheinlich wieder ganz gesunden würde; und Smiley sagte ohne nachzudenken: »Na, ich wette 2 zu 1, daß sie’s nicht schafft.«

Smiley hatte ein altes Roß – die Jungs nannten sie die 15-Minuten-Mähre, aber das war nur Spaß, denn natürlich war sie viel schneller, weißt du –, und er gewann häufig Geld mit ihr, obwohl sie so langsam war und immer Asthma hatte oder schlechter Laune war, oder die Schwindsucht oder irgendsowas. Sie gaben ihr immer 200 oder 300 m Vorsprung; aber gegen Ende des Rennens wurde sie immer so aufgeregt und trotzig, daß sie wie von Furien gejagt scheute und zu rennen begann, und ihre Beine waren überall, meistens in der Luft und manchmal außerhalb des Zaunes, und sie wirbelte einen Mordsstaub auf und machte vor lauter Husten und Niesen und Schneuzen einen Heidenlärm – und jedesmal erreichte sie um Nasenlänge als Erste das Ziel, das war schon ganz erstaunlich.

Und er hatte auch diesen kleinen Bullterrier, der so aussah, als wäre er keinen Pfennig wert und würde allerhöchstens darauf lauern, etwas klauen zu können. Aber sobald man Geld auf ihn gewettet hatte, verwandelte er sich in einen anderen Hund; sein Unterkiefer stand hervor wie das Vorderdeck eines Dampfschiffs, und er bleckte seine Zähne wie Messer. Und wenn ein anderer Hund ihn angriff und am Kragen packte und biß und zwei- dreimal über die Schulter warf, dann tat Andrew Jackson – so hieß der Hund –, dann tat also Andrew Jackson immer so, als wäre ihm das nur zu recht, als hätte er gar nichts anderes erwartet, und die Wetten verdoppelten und verdoppelten sich, bis keiner mehr Geld zum Setzen hatte; und dann plötzlich packte er den anderen Hund an seinen Hinterbeinen und biß sich fest – er kaute nicht etwa dran herum, nein, er biß sich fest und blieb dran hängen, bis der andere Hund nicht mehr konnte, und das war’s! Andrew Jackson war immer der Sieger, bis er eines Tages auf einen Hund traf, der keine Hinterbeine hatte, weil die in eine Kreissäge geraten waren, und als die ganze Sache lange genug gelaufen war und keiner mehr Geld zum Wetten hatte und er seinen üblichen Klammerbiß anwenden wollte, da sah er gleich, daß man ihn übertölpelt hatte, und wie der andere Hund ihn sozusagen am Schlafittchen hatte, und er sah ziemlich überrascht aus und auch ein bißchen entmutigt und versuchte dann auch gar nicht mehr, den Kampf zu gewinnen, und so wurde er übel zugerichtet. Er sah Smiley traurig an, als sei sein Herz gebrochen, und es war alles sein Fehler, weil er ihn gegen einen Hund hatte antreten lassen, der keine Hinterbeine hatte, weshalb er seinen Biß nicht anwenden konnte, was doch schließlich sein wichtigster Trick war, um einen Kampf zu gewinnen, und dann humpelte er weg und legte sich hin und starb. Ja, das war schon ein guter Hund, der Andrew Jackson, und er wäre sicher berühmt geworden, wenn er nur lange genug gelebt hätte, denn er hatte Mut und war klug – ich weiß das, denn er hatte eigentlich keine Chance, und es ist nicht zu erklären, wie ein Hund so erbittert hätte kämpfen können, wenn er kein Talent gehabt hätte. Ach, mir wird immer ganz schwer ums Herz, wenn ich an den letzten Kampf denke und daran, wie er ausging.

Naja, der Smiley hatte jedenfalls Terrier und Kampfhähne und Kater und alle möglichen Viecher, was man sich nur vorstellen kann, und man konnte nichts finden, auf das er nicht wetten wollte. Eines Tages fing er einen Frosch und nahm ihn mit nach Hause und sagte, er würde ihn zähmen; und dann tat er drei Monate nichts anderes, als in seinem Hinterhof zu sitzen und den Frosch das Hüpfen zu lehren. Und du kannst deinen Kopf drauf wetten, daß ihm das auch gelang. Er schubste das Hinterteil des Frosches ein bißchen an, und im nächsten Moment flog der auch schon durch die Luft wie ein Ball – er machte einen Salto, manchmal auch zwei, wenn er guten Anlauf hatte, und dann landete er sicher auf allen Beinchen, genau wie ’ne Katze. Er brachte ihm das Fliegenfangen bei, und zwar so gut, daß der Frosch jede Fliege erwischte, die er sehen konnte. Smiley sagte, der Frosch wolle nichts als eine gute Ausbildung, und dann könne er fast alles erreichen – und ich glaube ihm. Na, ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie er Dan’l Webster – so hieß der Frosch – hier auf den Boden setzte und ihm zurief: »Fliegen, Dan’l, Fliegen!«, und der Frosch sprang schneller auf diese Theke hier als das Auge wahrnehmen konnte, und die Zunge schoß hervor, und er verschlang eine Fliege und hüpfte wieder auf den Boden, wie ein Lehmklumpen und kratzte seinen Kopf mit dem Hinterbein als wäre gar nix geschehn, als wisse er gar nicht, daß er etwas getan hatte, was kein anderer Frosch schaffen konnte. Ich hab’ niemals wieder einen so bescheidenen und netten Frosch kennengelernt, obwohl er doch so begabt war. Und wenn’s ums Weitspringen ging, dann konnte ihm keiner seiner Spezies das Wasser reichen. Das war nämlich seine Stärke, weißt du; und wenn’s um solche Wetten ging, dann setzte Smiley all sein Geld. Smiley war unglaublich stolz auf seinen Frosch, und das konnte er auch sein, denn selbst Männer, die schon überall gewesen und alles erlebt hatten, sagten immer, sie hätten noch nie im Leben einen solchen Wunderfrosch gesehen!

Smiley hielt das Tier in einem kleinen Korb, und manchmal trug er ihn darin in die Stadt, um dort seine Wetten abzuschließen. Eines Tages traf ihn einer der Neuen im Camp mit seiner Froschschachtel und sagte:

»Was hast du denn da in der Schachtel?«

Und Smiley tut ganz unbeteiligt und sagt: »Könnt ’n Papagei sein, oder ein Kanarienvogel, aber das ist es nicht – s’ist nur’n Frosch!«

Und der Kerl nimmt den Korb, sieht sich den Frosch von allen Seiten genau an und erwidert dann: »Hmm … Stimmt. Und wozu soll der gut sein?«

»Also«, sagt da Smiley locker und scheinbar gleichgültig, »der ist vor allem für eine Sache gut. Ich kann das beurteilen. Er ist ein besserer Springer als alle anderen Frösche in Calaveras County.«

Der andere nimmt die Schachtel wieder in die Hand, betrachtet sie gründlich, gibt sie dann Smiley zurück und sagt sehr nachdenklich: »Na, ich kann an dem Frosch nichts entdecken, was besser wäre als andere Frösche.«

»Das kannst du vielleicht wirklich nicht«, sagt da Smiley, »vielleicht verstehst du Frösche, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hast du schon Erfahrungen mit ihnen gesammelt, oder vielleicht biste nur ’n Amatur oder wie das heißt. Wie auch immer, ich hab’ jedenfalls meine Meinung, und ich wette vierzig Dollar, daß er besser springen kann als irgendein anderer Frosch in Calaveras County.«

Der andere denkt eine Zeitlang nach und sagt dann in so ’nem traurigen Ton: »Na, ich bin hier ja nur ein Fremder, und Frosch hab ich auch keinen; wenn ich einen hätte, dann würd’ ich wohl mit dir wetten.«

Darauf Smiley: »Das ist kein Problem – kein Problem, wenn du die Kiste mal eben hältst, dann geh ich los und hol dir einen Frosch.« Und so nimmt der Kerl also die Schachtel, legt seine vierzig Dollar auf die von Smiley, setzt sich hin und wartet.

So sitzt er also ’ne ganze Weile da und denkt so vor sich hin, und dann holt er den Frosch aus seiner Behausung, zwingt sein Maul auf und nimmt einen Teelöffel und stopft ihm Schrotkugeln in den Schlund, stopft ihn bis zum Rand voll damit und setzt ihn wieder auf den Boden. Smiley geht unterdessen in den nahen Sumpf, stochert ewig im Schlamm herum, bis er einen Frosch findet, fängt ihn und bringt ihn zu dem anderen und sagt:

»Wenn du bereit bist, dann setz ihn neben Dan’l, so daß seine Vorderfüße direkt neben Dan’ls stehen, und ich geb’ das Zeichen.« Dann sagt er: »Achtung – fertig – los!« Er und der andere Kerl stupsen die Hinterteile der beiden Frösche an, und der neue Frosch springt gleich munter los, aber Dan’l bewegt sich überhaupt nicht, zuckt nur mit den Schultern – ungefähr so – wie ein Franzose – aber es nutzte nix – er konnte sich nicht rühren: Er war so festgenagelt wie ’ne Kirche und saß fest, als hätte er Anker geworden. Smiley war ganz schön verwundert und wütend, aber er wußte natürlich auch nicht, was los war.

Der Kerl nimmt also das Geld und zieht seines Weges; und als er gerade aus der Tür geht, da zeigt er mit dem Daumen so über die Schulter zu Dan’l hin und sagt ganz langsam: »Na, ich weiß wirklich nicht, was an dem Frosch besser sein soll als an jedem anderen!«

Smiley stand da und kratzte sich den Schädel, kuckte lang auf Dan’l runter und sagte schließlich: »Ich frag mich wirklich, was in Dreiteufelsnamen mit dem Frosch los ist, vielleicht ist er krank, irgendwie sieht er doch sehr fett aus, oder?«

Und er nahm Dan’l am Nacken und schaute ihn an und sagte: »Na, ich will nicht mehr Smiley heißen, wenn der nicht mindestens fünf Pfund wiegt!« Und als er den Frosch umdreht, da spuckt der eine doppelte Handvoll von dem Zeug aus. Na, da wußte er natürlich, was passiert war, und er war furchtbar zornig – er setzte den Frosch auf den Boden und rannte dem anderen Kerl hinterher, aber er fand ihn nie. Und …«

[An dieser Stelle hörte Simon Wheeler, wie jemand im Hof seinen Namen rief und stand auf, um zu sehen, was der Rufer von ihm wollte.] Und wie er hinausging, drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Bleib’ da sitzen, Fremder, und keine Sorge – es dauert nur einen Moment.«

Erlauben Sie mir jedoch zu sagen, daß ich nicht mehr glaubte, durch die Fortführung der Erzählungen über den abenteuerlustigen Vagabunden Jim Smiley weitere Informationen über den Verbleib des Reverend Leonidas W. Smiley erhalten zu können, und so machte ich mich auf den Weg.

An der Tür traf ich den gesprächigen Wheeler, und er hinderte mich am Gehen und fing gleich wieder an:

»Na, der Smiley hatte auch ’ne einäugige Kuh, die hatte keinen Schwanz, nur so’n kleinen Stummel wie ’ne Banane, und …«

Da mir jedoch sowohl Zeit als auch Muße fehlten, hörte ich mir die Geschichte von der vom Schicksal gebeutelten Kuh nicht mehr an, sondern zog von dannen.

UNTERHALTUNG MIT EINEM
LEICHENBESTATTER

»Also diese Leiche«, sagte der Leichenbestatter, indem er die gefalteten Hände des Verstorbenen anerkennend tätschelte, »war ein wirklich guter Kerl – und zwar in jeder Hinsicht. Er war so offen, so bescheiden und einfach in seinen letzten Momenten. Seine Freunde wollten einen Metallsarg – mit nichts anderem wollten sie sich zufriedengeben. Ich konnte aber keinen kriegen, die Zeit war einfach zu knapp – das war klar zu sehen.

Die Leiche sagte also, macht nichts, bastle mir einfach eine Kiste zusammen, in der ich mich bequem ausstrecken kann, ihm war der Stil des Sarges nämlich ziemlich egal. Sagte, ihm sei Platz wichtiger als Stil, zumindest in seiner letzten Behausung.

Seine Freunde wollten auch ein silbernes Namensschild auf dem Sarg, auf dem stehen sollte, wer er war und wo er herkam. Also Ihnen muß ich ja wohl nicht sagen, daß ein so frivoles Ding in einer Kleinstadt wie der unseren nicht zu haben ist. Und was sagte da wohl unser Leichnam?

Der Leichnam sagte, weißle mein altes Kanu, und schreib die Adresse und das allgemeine Ziel mit einem in schwarze Farbe getauchten Pinsel und einer Schablone drauf, vielleicht noch mit einem Vers aus irgendeinem passenden Kirchenlied, und nagele das Ganze auf den Sarg, versehen mit der Aufschrift ›Gebühr zahlt Empfänger‹, und damit hat sich’s. Ihm machte das nicht mehr Sorgen als mir oder Ihnen – ganz im Gegenteil, er war so ruhig und vernünftig wie ein Leichenwagenpferd; meinte, da wo er hingehe, träfe es wahrscheinlich auf mehr Anerkennung, wenn man selbst ein pittoresker Charakter sei, als wenn man in einem übertriebenen Sarg mit einem polierten Türschild ankäme.

Wirklich ein wunderbarer Mann. Ich für meinen Teil habe lieber mit so einer Leiche zu tun, als mit all denen, die ich in den vergangenen sieben Jahren unter die Erde gebracht habe. Man hat einfach das Gefühl, daß wertgeschätzt wird, was man tut. Der Herr sei gepriesen – solange er begraben wurde, bevor er zu verwesen begann, war ihm alles recht; sagte, daß es seine Verwandten wohl gut mit ihm meinten, wirklich gut mit ihm meinten, aber diese ganzen Vorbereitungen würden den Ablauf ja doch nur verzögern, und er wollte nicht allzu lange herumliegen. So einen klaren Kopf haben Sie sicher noch nie gesehen – so ruhig und kühl. Ein ausgesprochen kluger Kerl, das war er. Ganz erstaunlich. Ein Riesenabstand von der einen Seite des Kopfes bis zur anderen. Immer und immer wieder tobte ein Gehirnfieber an einer Stelle seines Kopfes, und der Rest wußte gar nichts davon – war nicht mehr davon betroffen, als ein Injun-Aufstand in Arizona die Atlantikstaaten betrifft.

Nun, die Verwandten wollten ein großes Begräbnis mit allen Schikanen, aber der Leichnam sagte, das sei ihm einerlei – wollte keine Prozession – nein, ein Haufen Hinterbliebener sollte im Leichenwagen fahren, und er selbst wollte an einem Seil hinterdreingezogen werden. Er war wirklich der bescheidenste Tote, den ich je zu treffen das Vergnügen hatte. Eine schöngeistige, einfache Natur – das war er wirklich, darauf geb’ ich mein Wort. Er wollte die ganze Sache halt genau so, wie er sich das vorstellte, und es bereitete ihm Vergnügen, seine Pläne zu schmieden. Er bat mich, Maß zu nehmen und seine Anweisungen entgegenzunehmen; dann ließ er den Priester hinter einer langen Kiste mit einem Tischtuch darüber Aufstellung nehmen – die sollte den Sarg darstellen – und seine Beerdigungspredigt lesen, und dabei rief er an den guten Stellen immer: ›Zugabe, Zugabe!‹ und wies den Priester an, alle Lobhudeleien fallenzulassen; und dann ließ er den Chor herbeirufen, damit er die der Gelegenheit angemessenen Melodien heraussuchen konnte, und bestimmte, daß man ›Meine Biber haben Fieber‹ spielen sollte, weil er das Lied immer gern gehört hatte, wenn ihm schwer ums Herz war, und getragene Musik machte ihn sowieso nur traurig; und als sie das Lied dann mit Tränen in den Augen sangen (denn sie hatten ihn alle lieb) und seine Verwandten mit Trauer im Herzen um ihn herumstanden, da lag er nur so da, mit sich und der Welt zufrieden, klopfte im Takt und zeigte allen, wie sehr es ihm gefiel; und bald wurde er ganz aufgeregt und wollte mitsingen, denn er war auf seine Stimme zeitlebens ziemlich stolz gewesen; aber sobald er seinen Mund auftat und zu singen anhob, da verließ ihn der Atem.

Ich habe nie einen Mann gesehen, der so plötzlich verschied. Ach, es war schon ein großer Verlust – ein schlimmer Verlust für diese kleine Provinzstadt. Nanana, ich habe jetzt aber wirklich keine Zeit mehr, hier herumzuplappern – muß den Deckel aufnageln und ihn an seine letzte Ruhestätte bringen; und wenn Sie mir helfen wollen, dann schieben wir ihn mal eben in den Leichenwagen und machen uns auf den Weg. Seine Verwandten sind sicher schon da – machen sich rein gar nichts aus den Anordnungen des Verstorbenen, sobald der Betreffende tot ist; wenn’s nach mir geht, dann werden seine letzten Wünsche respektiert, und ich ziehe ihn hinter dem Leichenwagen her, sonst will ich verdammt sein. Meiner Meinung nach ist es wirklich keine großartige Mühe, zu tun, was ein Toter für sein Wohlergehen wünscht, und keiner hat ein Recht, ihn zu täuschen oder zu übervorteilen; und wenn mir eine Leiche vertraut, dann werde ich auch tun, was sie von mir verlangt, und sei es, daß der Leichnam möchte, daß ich ihn ausstopfe und gelb anmale und als Souvenir behalte – verstehen Sie?!« Er ließ seine Peitsche knallen und machte sich mit seiner uralten Ruine von Leichenwagen auf den Weg, und ich setzte meinen Spaziergang fort. Ich hatte eine wertvolle Lektion gelernt, nämlich daß eine gesunde Fröhlichkeit in jeder Branche möglich ist. Diese Lektion wird mir aller Wahrscheinlichkeit lange gute Dienste leisten, denn es wird viele Monate dauern, bis ich die Erinnerung an die Bemerkungen und Umstände vergessen werde, die sie begleiteten.

DIE GEFÄHRLICHKEIT,
IM
BETT ZU LIEGEN

Der Mann am Schalter sagte:

»Wollen Sie auch eine Unfallversicherung abschließen?«

»Nein«, sagte ich, nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Nein, ich glaube nicht; heute reise ich zwar den ganzen Tag im Zug. Aber morgen reise ich überhaupt nicht. Geben Sie mir ein Versicherungsbillet für morgen.«

Der Mann sah verstört aus. Er sagte:

»Aber es geht doch um eine Unfallversicherung, und wenn Sie mit dem Zug reisen …«

»Wenn ich mit dem Zug reise, dann brauche ich keine Versicherung. Wovor ich mich am meisten fürchte, ist zu Hause im Bett zu liegen.«

Ich hatte mich hinreichend mit der Thematik beschäftigt. Im Jahr zuvor hatte ich auf meinen Reisen über 30 000 km zurückgelegt, und zwar fast ausschließlich mit dem Zug; das Jahr zuvor waren es 40 000 km gewesen, die Hälfte davon auf dem Meer, die andere Hälfte per Eisenbahn; und wieder ein Jahr vorher hatte ich 16 000 km hinter mich gebracht, ausschließlich per Zug. Ich schätze, wenn ich all die kleineren Reisen mitberechne, dann muß ich während der drei genannten Jahre insgesamt beinahe 100 000 km zurückgelegt haben. Und nicht ein einziger Unfall.

Eine ganze Zeit lang sagte ich mir jeden Morgen: »Nun bin ich schon so lange davongekommen – die Wahrscheinlichkeit wird immer größer, daß es diesmal passiert. Ich werde lieber auf Nummer Sicher gehen und eine Versicherung abschließen.« Und jedesmal konnte ich mit Gewißheit davon ausgehen, daß nichts passierte und ich zu Bett ging, ohne ein Gelenk ausgerenkt oder einen Knochen gebrochen zu haben. Ich wurde dieser täglichen Mühsal müde und begann, Versicherungsbillets zu kaufen, die einen Monat lang gültig waren. Ich sagte mir: »Kein Mensch kann 50 Nieten in einem einzigen Losbündel haben!«

Aber ich hatte mich geirrt. Nie war ein Gewinn in meinen Losen. Ich las jeden Tag von Eisenbahnunglücken – die Presse war voll davon; aber irgendwie kam ich immer davon. Ich erkannte, daß ich eine ganze Menge Geld in der Unfallbranche angelegt, aber nie einen Profit gemacht hatte. Ich wurde langsam mißtrauisch, und ich machte mich auf die Suche nach jemandem, der diese Art von Lotterie gewonnen hatte. Ich fand genügend Leute, die Geld investiert hatten, aber nicht eine einzige Person, die jemals einen Unfall gehabt oder einen Cent daran verdient hatte. Ich hörte auf, Unfallversicherungsbillets zu kaufen und machte mir meinen eigenen Reim darauf. Das Resultat war erstaunlich. DIE GEFAHR LAG NICHT IM REISEN, SONDERN IM ZUHAUSEBLEIBEN.

Ich las Statistiken und war über alle Maßen erstaunt zu erfahren, daß trotz all der reißerischen Zeitungsschlagzeilen über Eisenbahnunglücke in den vergangenen 12 Monaten nicht einmal dreihundert Personen ihr Leben verloren hatten. Die Erie-Strecke war laut der Liste die mörderischste aller Trassen. 62 Menschen waren dort gestorben – oder waren es 26? Ich weiß es nicht mehr so genau, aber ich erinnere mich, daß auf dieser Strecke doppelt so viele Menschen ums Leben gekommen waren als auf irgendeiner anderen. Doch Tatsache war immerhin, daß die Erie-Strecke immens lang und mehr befahren war als irgendeine andere im ganzen Land; die doppelt so hohe Todesrate war also nicht sehr überraschend.

Weitere Recherchen ergaben, daß die Erie-Linie zwischen New York und Rochester in beiden Richtungen täglich acht Passagierzüge unterhielt, insgesamt also 16; und durchschnittlich wurden pro Tag 6000 Personen befördert. Über sechs Monate ergibt das etwa eine Million – die Gesamtbevölkerungszahl von New York City. Von dieser Million kommen auf der Erie-Strecke in genannten sechs Monaten etwa 13 bis 23 Menschen ums Leben; und in derselben Zeit sterben etwa 13 000 New Yorker in ihren Betten! Kalte Schauer liefen mir den Rücken hinunter, die Haare standen mir zu Berge. »Das ist ja furchtbar!« sagte ich. »Die eigentliche Gefahr ist nicht das Reisen mit der Eisenbahn, es sind vielmehr diese tödlichen Betten. Ich werde nie wieder in einem Bett schlafen!«

Meine Berechnungen hatten wesentlich weniger als die Hälfte der Erie-Strecke einbezogen. Es lag auf der Hand, daß auf der Gesamtstrecke täglich mindestens 11 000 oder 12 000 Menschen transportiert wurden. Auf vielen der vergleichsweise kurzen Strecken um Boston ist der Verkehr mindestens halb so stark; auf sehr vielen Strecken. Viele Strecken im Unionsgebiet werden für den Passagiertransport genutzt. Deshalb war es nur fair, davon auszugehen, daß täglich durchschnittlich 2500 Passagiere auf jeder der Strecken des Landes unterwegs waren. In unserem Land gibt es 846 Bahnstrecken, 846 × 2500 ergibt 2 115 000. Auf den Eisenbahnstrecken Amerikas reisen also jeden Tag über zwei Millionen Menschen; 650 Millionen pro Jahr (Sonntage nicht mitgerechnet). Das geschieht tatsächlich – gar keine Frage; wo sie jedoch das ganze Rohmaterial herbekommen, unterliegt eindeutig nicht den Gesetzen der Arithmetik; denn ich habe genaue Kalkulationen angestellt und herausgefunden, daß es so viele Menschen in den Vereinigten Staaten gar nicht gibt, es fehlen mindestens 610 Millionen. Wahrscheinlich werden dieselben Menschen mehrfach verwendet.

In New York leben achtmal so viele Einwohner wie in San Francisco; in letzterer Stadt sterben pro Woche 60 Menschen, in New York hingegen 500 – wenn sie Glück haben. Das ergibt 3120 Todesfälle pro Jahr in San Francisco, achtmal so viele in New York – sagen wir mal ca. 25 000 oder 26 000. Die gesundheitliche Situation ist in beiden Städten gleich. Es ist also davon auszugehen, daß dies für das ganze Land gilt, und folglich ergibt sich, daß 25 000 Menschen aus jeder Million pro Jahr das Zeitliche segnen. Das ist ein Vierzigstel unserer Gesamtbevölkerung. Von dieser Million werden 10 000 oder 12 000 erstochen, erschossen, ertränkt, gehenkt, vergiftet oder in ähnlich brutaler Weise getötet, sie verbrennen beispielsweise, weil ihre Gaslampe umfällt und den Reifrock in Flammen hüllt, werden in Kohlenminen verschüttet, fallen von Hausdächern, brechen durch den morschen Boden einer Kirche oder einer Bibliothek, schlucken Wunderheilmittel oder begehen Selbstmord. Die Erie-Bahnstrecke tötet 23–46 Menschen; die übrigen 845 Strecken töten jeweils etwa ⅓ eines Menschen; und der Rest der Million, d. h. die erschreckende Zahl von neunhundertsiebenundachtzigtausendundeinunddreißig Leichen, sterben auf natürliche Weise in ihren Betten!

Sie werden verstehen, daß ich das Risiko, in einem Bett zu schlafen, nicht mehr auf mich zu nehmen gewillt bin. Die Eisenbahn reicht mir völlig.

Und mein Rat an alle Menschen ist: Bleiben Sie nicht länger zu Hause als unbedingt nötig; aber wenn Sie eine Weile zu Hause bleiben müssen, dann kaufen Sie sich ein Bündel dieser Versicherungsbillets, und bleiben Sie nachts wach. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.

[Jetzt wird sicher klar, weshalb ich dem Billetverkäufer so geantwortet hatte, wie es am Anfang dieses Sketches beschrieben wird.]

Die Moral dieses Aufsatzes ist, daß gedankenlose Menschen sich mehr über die Eisenbahnverwaltung in den Vereinigten Staaten beschweren, als gerechtfertigt werden kann. Wenn wir in Betracht ziehen, daß jeden Tag und jede Nacht des Jahres ganze 14 000 Eisenbahnwaggons verschiedener Arten, beladen mit Leben und bewaffnet mit dem Tod, durch das Land donnern, dann wird klar, daß das eigentliche Wunder nicht darin liegt, daß 300 Menschen in 12 Monaten umkommen, sondern daß es nicht 300 × 300 sind!

ÜBER DEN VERFALL DER KUNST
DES
LÜGENS

ESSAY; ZUR DISKUSSION; VORGETRAGEN BEI EINEM TREFFEN DES HISTORICAL AND ANTIQUARIAN CLUB ZU HARTFORD UND EINGEREICHT FÜR DEN 30-DOLLAR-PREIS. NUN ZUM ERSTENMAL VERÖFFENTLICHT.*

Es ist zu beachten, daß ich nicht implizieren möchte, daß die Gewohnheit zu lügen in irgendeiner Form beeinträchtigt oder unterbrochen wurde – nein, denn die Lüge, als Tugend, als Prinzip, trägt die Zeichen der Ewigkeit; die Lüge, als Wiederherstellung, als Trost, als Zuflucht in Zeiten der Not, als vierte Grazie, als zehnte Muse, beste und zuverlässigste Freundin des Menschen, ist unsterblich und wird nicht von der Erde verschwinden, solange dieser Club besteht. Meine Beschwerde gilt lediglich dem Verfall der Kunst des Lügens. Kein Mann von höherem Gemüt, kein Mann von rechtem Empfinden kann über die plumpen und schlampigen Lügen der heutigen Zeit nachdenken, ohne ob der Prostitution dieser so noblen Kunst in Gram zu verfallen. In dieser illustren Gesellschaft gehe ich das Thema natürlich mit der angemessenen Bescheidenheit an; es ist ja beinahe so, als wolle eine alte Jungfer den Müttern Israels die Kinderpflege naheführen. Es obliegt mir nicht, Sie zu kritisieren, verehrte Herren, sind doch fast alle von Ihnen älter als ich selbst – und mir in dieser Sache sicher überlegen –, sollte ich also an der einen oder anderen Stelle den Eindruck erwecken, so geschieht dies in den meisten Fällen im Geiste der Bewunderung, nicht etwa um der krampfhaften Fehlersuche willen; denn hätte diese edelste aller Künste überall dieselbe Aufmerksamkeit, Förderung und gewissenhafte Pflege und Entwicklung erfahren wie in diesem Club, so müßte ich dieses Klagelied nicht anstimmen, noch eine einzige Träne vergießen. Ich sage das nicht, um Ihnen zu schmeicheln: Ich sage es im Geiste einer gerechtfertigten und bewundernden Anerkennung. [Es war mein Ansinnen gewesen, an dieser Stelle Namen zu nennen und spezifische Beispiele zu geben, aber die um mich herum zu 65 beobachtenden Anzeichen führten zu der Entscheidung, Bestimmtheiten zu vermeiden und mich an Allgemeines zu halten.]

Verständiges