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Maria – Tessa – Marek. Ein unschlagbares Team. Verbunden durch Freundschaft und Liebe. Maria, die wirbelige, impulsive Halbgriechin. Tessa, die Stille, Introvertierte. Und Marek, der Einzelgänger, der sich den beiden Mädchen anschließt und das Trio komplett macht.

Dann passiert etwas. Etwas, das das zerbrechliche Gefüge ins Wanken bringt, das Vertrauen erschüttert. Tessa versucht herauszufinden, was genau vorgefallen ist. Doch traut sie sich, die alles entscheidende Frage zu stellen?

Von Freundschaft, Liebe und dem ganzen Leben

Christiane Radeke

© Hausstein/Focontor

Christiane Radeke wurde 1966 in Berlin-Charlottenburg geboren und wuchs dort auf. Sie studierte Lateinamerikanistik und Medienwissenschaften und arbeitete als Ausstatterin im Theater, später für Filmfirmen und Festivals. Bis heute ist sie als Publizistin, Dialogbuchautorin und im Bereich Jugendschutz fürs Fernsehen tätig. Geschrieben hat sie eigentlich schon immer, ob Tagebuch oder kurze Geschichten. 2007 begann sie mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbuchtexten. Sie besuchte Kurse zum Kreativen Schreiben, über Dramaturgie und Synchronbuchschreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin-Friedrichshain.

www.christianeradeke.de

Kettcar »48 Stunden«

CHRISTIANE RADEKE – Herz Schlag Zeit – Thienemann

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

4. Januar

Maria, wo bist du? Wann bist du endlich on? Schreib mir. Bald. Jetzt. Sofort. Sonst hasse ich dich »für immer und einen Tag«. Weißt du noch? Uääähhh! Ich vermisse dich jetzt schon! T.

TAGEBUCH

4. Januar

So lange nicht Tagebuch geschrieben. Heute muss ich schreiben. Ich muss. Maria ist gestern abgereist. Nach Athen. Ich fühle mich wie in einem Traum. Einem Albtraum. Immer wieder denke ich: Jetzt bin ich endlich aufgewacht. Aber dann stelle ich fest, dass es gar nicht stimmt. Dass der Traum weitergeht. Ich immer noch in ihm feststecke. Wie ein zäher Brei ist der Traum um mich, ich komme nicht raus.

Genau so fühle ich mich. Ich will aufwachen, aber es geht nicht. Ich schaffe es einfach nicht. Das macht mir Angst. Ein Leben ohne Maria kann ich mir nicht vorstellen. Heute Nachmittag war ich im Café Bogarts, wollte mich ablenken. Justus, Biene, Luka, Sina. Alle waren da. Ich hab versucht lustig zu sein, aber plötzlich habe ich mich mit den anderen ganz allein gefühlt. Wie unter einer Glasglocke. Ich strecke die Hand aus und stoße an Glas. Ich bin nicht lange geblieben. Auf einmal wollte ich ganz schnell nach Hause. Kopfhörer drauf und wegfliegen.

Immer wieder muss ich an diesen Moment denken. Ich versuche, das Bild aus meinem Kopf zu kriegen. Maria zwischen ihren Eltern geht durch diese Tür. Ich frage mich, ob ihr auch so nach Heulen ist. Und ich habe Angst, dass sie sich nicht noch einmal umdreht. Aber dann dreht sie sich um. Sie weint nicht, sie lächelt. Sie winkt. Sie wirft mir eine Kusshand zu. Dann wird sie von dieser Scheißtür verschluckt, die automatisch hinter ihr zugeht. Ich bleibe allein. Wie ferngesteuert fahre ich mit der S-Bahn nach Hause. Um mich herum nur Zombies. Berlinfratzen im Winter. Jetzt ist es schon elf Uhr nachts. Kann nicht schlafen. Fenster ist offen. Draußen ist es kalt und Eisregen, aber ich brauche Luft. Will nicht ersticken in meinem kleinen Zimmer. Ich hoffe, Mama kommt nicht rein und kriegt ihren Sorgenflash und heult mir die Ohren voll. Morgen in Ethik werde ich mich ausschlafen. Schule ohne Maria. Muss schon wieder heulen. Alles dunkel heute Nacht. In mir drinnen. Schwarzes Loch. Da falle ich rein und verliere mich.

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

5. Januar

Ich hasse dich!!! T.

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

6. Januar

Seid ihr abgestürzt? Ich schreib dir nicht mehr.

TAGEBUCH

7. Januar

Maria hat sich seit drei Tagen nicht gemeldet. Nichts. Kein Lebenszeichen. Ich werde noch verrückt. Die Tage sind grau wie Blei. Friere innen und außen. Laufe durch die Gegend, ohne zu wissen, wo ich bin, die Kapuze vom Parka tief im Gesicht. Bin die letzte Überlebende. Die Klimakatastrophe hat alle verglüht. Jetzt ist die Eiszeit gekommen. Ich gehe durch die ausgestorbenen Straßen. Es ist kalt, kalt, kalt. Ich bin allein. Denke an M. und alles tut mir weh. Denke an Maria und es wird noch schlimmer. Wohin mit so viel Liebe? Keiner will sie haben. Scheiße. Mama klopft an, muss Schluss machen.

September – Zwei Jahre zuvor

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Maria in unsere Klasse gekommen ist.

Es ist ein warmer Tag im September. Gerade als ich mal wieder denke, ich sterbe vor Langeweile, klopft es an der Tür. Der Rektor kommt in den Klassenraum, seine Hand liegt auf der Schulter eines blonden Mädchens. Ich weiß noch, die Sonne kommt genau in diesem Moment hinter den Wolken hervor. Das Mädchen steht da vorne in dem Sonnenstrahl wie im Scheinwerferlicht. Unter der blauen Wollmütze hängen die langen gewellten Haare heraus, als wären sie aus Gold. Ich denke: merkwürdig, eine Wollmütze im Sommer. Wir alle starren das Mädchen an. Marek in der ersten Reihe sitzt aufrecht, als hätte er einen Stock am Rücken. Die Neue lächelt überlegen mit geschlossenen Lippen. Sie gefällt mir sofort. Der Rektor tuschelt kurz mit Frau Unverzagt, unserer Klassenlehrerin. Dann hüstelt Frau Unverzagt, hebt die Hand in Richtung der Fremden und verkündet: »Das ist Maria Papandropoulos. Sie gehört ab heute zu unserer Klassengemeinschaft.« Die Lehrerin lässt ihre Aussage wirkungsvoll im Raum stehen und genießt das allgemeine Schweigen und Staunen. Dann wendet sie sich feierlich der Fremden zu. Es ist so still im Raum, als sei das Ende von allem gekommen.

»Maria, setz dich bitte da hinten an den Tisch neben Tessa Stein.«

Maria setzt sich neben mich, wir sehen uns neugierig an. Ich grinse verlegen. Sie lächelt zurück, die Lippen immer noch geschlossen. Dann öffnet die Fremde den Mund und flüstert: »Hallo, Tessastein!«

Mein Herz macht einen Sprung. Ich falle durch Luft und Wolken. Es ist ein gutes Gefühl. Ich bin 16 Jahre alt. Etwas Neues beginnt. Wir sehen uns nicht mehr an und auf meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das dort wie eingemeißelt stehen bleibt. Ich versuche, meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu kriegen. Dann schaue ich aus dem Fenster in einen strahlenden Septemberhimmel.

E-Mail

Von: Maria Papandropoulos

An: Tessa Stein

8. Januar

Tessatessatessa, ich habe gehofft, du bist on. Aber heute ist Freitag, du bist natürlich nicht da. Gemein, gemein und ich bin nicht dabei. Was ist los mit dir? Warum bist du sauer? Ich bin im Land der Griechen, da dauert alles etwas länger, zum Beispiel ein kleiner Internetanschluss. Hier ist totale Krisenstimmung. Heute im Café kann ich endlich ins Internet und finde deine Drohmails! Tessitess. Athen ist groß und laut und stinkt. Berlin ist ein Dorf dagegen, das kannst du mir glauben. Ich vermisse Berlin. Wehe, du suchst dir eine Neue. Ich bringe dich um. Was machen die anderen? Erzähl mir alles! Love U Ich.

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

9. Januar

Ich hab schon gedacht, das Schlimmste ist passiert und du meldest dich nie wieder. Kennst mich ja. Muss schon wieder heulen. Aus Glück. So schön, deine Worte zu lesen. Wann kommst du wieder? Wie soll ich überleben? Ohne dich? T.

E-Mail

Von: Maria Papandropoulos

An: Tessa Stein

10. Januar

Tessi, du … Hör mal auf mit der Mirgeht’s-am-schlimmsten-von-allen-Nummer. Was glaubst du, wie es mir geht? Hier ist alles fremd. Meine »Heimat«. Darf ich mal lachen? Will zurück nach Berlin! Erzähl mir, was du machst. Alles! Ich brauche Berlinbilder fürs Kopfkino. Am Wochenende waren wir in Lubza am Meer. Es war schon ein bisschen warm und die Sonne am blauen Himmel. Die Männer hier scannen mich alle ab. Nur weil ich blonde Haare habe und helle Augen. Voll anstrengend. Die glauben mir nicht, dass ich Griechin bin. Bin ich ja auch nicht. Ich sitze am Strand, der Sand ist so weiß wie Schnee auf einem Berg. Vor mir das Meer mit hohen Winterwellen. Das Meer hier ist echt unglaublich blau. So blau wie du an unserem letzten Abend (haha). Ich wäre jetzt gerne mit dir im D-Klub (so uncool so cool!). Ich hasse Internetcafés. Vergiss mich nicht, Heulschlampe. Erzähl mir alles!!! Puh, so viel habe ich noch nie geschrieben. Seems that I miss you. Ich, die einzig Wahre, Uncoole.

TAGEBUCH

11. Januar

Maria hat endlich gemailt. Sie vermisst mich! Ich bin so froh. Heute früh scheint die Sonne zum Fenster rein. Erstarrung fällt von mir ab. Nachher noch im Bogarts verabredet. Ist aber so leer da ohne Maria. Da kann es noch so voll sein.

Ich denke auch viel an M., aber es tut weh. Ich sehe seine Gestalt, die großen Kopfhörer und den wippenden Gang. So ist er immer über den Schulhof gelaufen. Ganz für sich. Weit weg von allen. Ich kenne das Gefühl. M. ist nie mehr on. Beim Handy die Ansage: Vorübergehend nicht zu erreichen. Er ist weg. Wie ausgelöscht.

Ich finde ihn nirgendwo. Vor Kurzem habe ich bei ihm zu Hause angerufen, aber als sich die Mutter gemeldet hat, habe ich schnell aufgelegt. Die ist bestimmt immer noch böse auf uns. So gut würde ich auch gerne mal verdrängen können. Dabei hat sie die ganze Scheiße doch zugelassen. Alles so verlogen. Diese Welt. Trotzdem Schuldgefühle. Wer die Augen verschließt, wird nie die Wahrheit sehen. Wenigstens Sonne heute. Ich vermisse Maria und M. immer noch, immer wieder.

E-Mail

Von: Maria Papandropoulos

An: Tessa Stein

11. Januar

He du! Wo bist du? Ich bin durch den Regen in diesen Laden gelaufen, nur um keine Mail von dir zu haben. Und ich weiß immer noch nicht, was du am Wochenende gemacht hast! Du warst bestimmt im D. oder sonst wo und ich sitze hier mit doofen Griechen und habe niemanden. Wenigstens meine Cousine ist ganz in Ordnung. Sie ist sehr schön, hat lange rote Haare. Spielt in einer Telenovela mit. Vielleicht kann sie mir einen Statistenjob verschaffen. Hey, dann spare ich Geld und komme zu dir! Vielleicht schon Ostern. Schreib mir, Schnecke. Erzähl mir endlich was. Ich bin echt sauer. Love, Ich

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

12. Januar

Ich soll dir alles schreiben? Bist du dir sicher? Gestern war ich ehrlich gesagt ganz schön durch. Im Café Bogarts. Fragt mich Biene: »Was macht eigentlich euer Schatten?« Ich mich blöd gestellt: »Wer soll denn das sein?« Da sagt Biene: »Na, unser Egoshooter.« Mit so einem Tonfall, du weißt genau, wen ich meine. »Mann, der hat einen Namen«, sage ich und lass sie stehen. »Komm mal klar«, ruft sie mir hinterher. Bitch. Und du willst das wirklich alles lesen? Ich soll dir alles erzählen? Wie ich im Bogarts sitze und mich allein fühle. Klar, da sind wieder alle. Aber du bist nicht da, und Marek auch nicht. Und wir wissen nicht, wo er ist. Ich sitze da allein mit meinen Gedanken.

Es ist laut, Musik, alle quatschen, haben Spaß. Nur ich nicht. Ich sehe zu. Die anderen gehen mir aus dem Weg, aber vielleicht stimmt das nicht und ich bilde mir das nur ein. Ich hab einfach keine Lust zu reden.

Glaubst du, ich mache hier weiter wie bisher und habe einfach Spaß? Glaubst du wirklich, das geht ohne dich? Ich weiß überhaupt nicht, wie das geht. Und dann komme ich um zwölf nach Hause und da steht Mama im Flur und fängt an zu stressen, weil es so spät ist. Dass ich nicht so lange wegbleiben soll wegen Schule. Dass ich mich doch nicht so gehen lassen soll. An meine Zukunft denken soll. Weil ich doch angeblich so klug bin. Und sie das nicht erträgt, dass ich mich so wegwerfe. Mann, die hat keine Ahnung! Ich habe sie einfach angeschrien, sie soll mich in Ruhe lassen. Bin in mein Zimmer, die Kopfhörer drauf und Musik an, bis mir die Gedanken aus dem Kopf geplatzt sind. Tut mir leid. Nicht sehr lustig alles. Das hast du davon. Du wolltest, dass ich alles erzähle. Willst du das echt alles lesen? Gib mir ’ne ehrliche Antwort. Und hör auf, mir das mit der roten Cousine zu schreiben, das will ich gar nicht wissen.

Tessa

Winterwellen! Gutes Wort!

TAGEBUCH

12. Januar

Gerade ganz viel an Maria geschrieben. Chaos im Kopf. Warum bin ich so wütend? Will Musik hören und fühlen, mehr nicht. Will an Maria denken und mehr nicht. Aber dann ist da so ein Chaos in mir, Gefühle, Gedanken, alles durcheinander, und ich sehe nicht mehr klar. Gestern im Bogarts war ich echt sauer auf Biene. Manchmal weiß ich gar nicht, warum ich mit der befreundet bin. Nachdem sie von M. gesprochen hat wie von einem Psycho, wollte ich einfach nur noch allein sein. Draußen durch die Glasscheibe sehe ich Justus und Sina, die Atemwolken verzerren ihre Gesichter, sie rauchen und lachen, reiben sich die Hände, gucken zu mir und dann wieder weg. Ich habe das Gefühl, alle reden über mich. Ich sitze da drinnen und will eigentlich gar nicht mehr da sein. Warte, dass irgendein Schalter im Gehirn endlich umgelegt wird und mich wegbringt von allem. Also bin ich nach Hause. Und dann macht Mama so einen Stress. Kriegt die eigentlich gar nichts mit? Die war gerade zwei Tage nett zu mir, nachdem Maria weg war. Wollte, dass ich darüber rede mit ihr. Nein danke. Und jetzt tut sie so, als wäre alles normal. Ist es aber nicht. Nichts ist mehr, wie es mal war.

E-Mail

Von: Maria Papandropoulos

An: Tessa Stein

14. Januar

Hey, du, ja!! Du sollst mir das alles erzählen. Alles, was Berlin ist, will ich hören. Ab nächster Woche gehe ich in die deutsche Schule hier. Wieder ein Neustart. Meine Cousine hat mir gestern den Producer von ihrem Sender vorgestellt. Der wollte gleich mit mir was trinken gehen. Sind die hier immer so schnell? Er meinte, ich sehe älter aus als 18. Von der roten Cousine schreibe ich dir doch, du weißt doch ganz genau: Es gibt nur eine und die bist du. Hey, freu dich doch, du bist doch in Berlin. Ich bin diejenige, die gehen musste. Irgendwann komm ich zurück. Bleib mir treu bis dahin, du weißt, was ich meine. Es gibt nur uns zwei. Maria

September – Zwei Jahre zuvor

Maria sitzt seit zwei Wochen neben mir. Ich bin aufgeregt. Jeden Morgen freue ich mich auf die Schule. Das ist ein völlig neues Gefühl. Morgens stehe ich vor dem Schrank und weiß nicht, was ich anziehen soll. Es ist warm, es ist noch Sommer. Ich zerre die abgeschnittene Jeans aus dem unteren Fach, ziehe ein schwarzes T-Shirt über den Kopf. Nicht sehr originell. Aber so fühle ich mich wie Tessa. Maria hat ein geblümtes Sommerkleid und Turnschuhe an. Sie sieht aus wie aus einer Zeitschrift. Sie ist schön. Ich sehe sie an und kann mich nicht sattsehen. Ich glaube, fast alle Jungs aus der Klasse sind in sie verknallt. Ich bewache sie eifersüchtig, aber unauffällig. Ich bin froh, dass sie sich mit mir abgibt. Offensichtlich mag sie mich sogar. Mich, die kleine schwarze Tessa, die keiner wahrnimmt.

Einen Tag vorher habe ich sie mit ins Jugendzentrum JUZ genommen. Es hat ihr gefallen. Aber nach einiger Zeit bemerkt sie: »Ganz schön viel Gemüse hier!« Ich verstehe nicht, was sie meint. Sie lacht mich aus. »Na, das sagt man doch, wenn die Leute jung sind!«

»Es heißt ›junges Gemüse‹ und außerdem sagen das nur Omas«, erwidere ich. Aber von diesem Tag an sagen wir immer Gemüse.

Draußen in der Raucherecke haben wir uns alles erzählt. Ihr griechischer Vater ist ein bekannter Theaterregisseur, die deutsche Mutter Malerin. Geschwister hat sie keine, wie ich. Sie ist in London, Athen und Düsseldorf aufgewachsen. Ich stelle mir ihr Zuhause schillernd und aufregend vor. Eine fremde Welt voller Wissen, Intelligenz, Kultur, schöner gebildeter Menschen, berauschender Theaterpremieren und Feste. Sie lacht über meine Naivität.

»Glaub mir, meine Eltern können auch ganz schön spießig sein. Und mein Vater macht mich wahnsinnig mit seiner Eifersucht. Seine größte Angst ist, dass ich mir hier einen deutschen Mann suche. Ich soll schön brav einen Griechen heiraten und kleine Griechen in die Welt setzen.« Maria lacht und blitzt mich an.

»Und, suchst du denn einen?« Was für eine blöde Frage. Aber jetzt ist sie raus. Mein Lachen hört sich falsch an. Aber Maria grinst freundlich.

»Ach nö«, sagt sie. »Der Mann muss erst noch erfunden werden. Außerdem habe ich ja dich.«

Sie lacht, als wäre das ein Witz. Trotzdem freue ich mich über ihre Worte. Wir kennen uns erst so kurz. Und sie will meine Freundin sein. Dieses unglaubliche Wesen von einem anderen Stern will meine Freundin sein. Ich freue mich abgrundtief, lache die Verlegenheit weg.

»Und was machen deine Eltern?«, will Maria jetzt wissen.

Das ist nicht gerade mein Lieblingsthema. Vater unbekannt, Mutter Sekretärin in einem Altenheim. Das ist so uncool. Genau das sage ich Maria.

»Hey mach dir nichts draus! Das Uncoole ist cool!« Maria lächelt mich mit geschlossenen Lippen an. Ich weiß nicht, was sie meint.

Heute auf dem Schulhof in der großen Pause suche ich Maria. Unser Schulgebäude sieht aus wie vor hundert Jahren. Als würden hier noch Kinder in Matrosenanzügen rumhüpfen. Rotbraune Backsteine, hohe Mauern mit länglichen Fenstern, die einen wie unzählige Augen vorwurfsvoll anstarren. Der Schulhof ist von einem hohen Zaun umgeben wie ein Gefängnishof, weil er direkt an die S-Bahngleise der Ringbahn grenzt. Ich finde Maria bei der Steinskulptur vor dem Essensraum. Sie kneift die Augen konzentriert zusammen. Als sie mich sieht, liest sie die Inschrift unter dem Affen vor, der sich den Mund zuhält.

»Wer den Mund hält, dem sind die Hände gebunden.«

Maria blinzelt nachdenklich in die Sonne. Sie überrascht mich immer wieder. Manchmal macht sie sich über alles lustig. Dann ist sie plötzlich ernsthaft und nimmt Sachen wahr, über die ich noch nie nachgedacht habe. Sachen, die sonst keiner wahrnimmt. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sehe durch sie die Welt mit neuen Augen.

Ich stehe neben ihr. Wir sagen nichts. Das Schweigen steht wie eine Wand zwischen uns. Ich werde nervös. Hoffentlich ist ihr nicht langweilig mit mir. Also frage ich, weil mir nichts Besseres einfällt: »Und, was meinst du, stimmt das?« Und komme mir im selben Moment total blöd vor. Aber Maria lächelt mich an, als hätte sie nur auf die Frage gewartet. Sie zieht an einer langen Haarsträhne und lässt die Locken zurückschnellen. Ihre Worte klingen feierlich: »Ich finde es gut. Wer immer den Mund hält, wehrt sich nicht. Das ist nichts für mich. Das ist so normal.«

Ich lache mit ihr, erleichtert, dass sie meine Frage nicht dumm fand.

Plötzlich steht Marek neben uns. Mir ist aufgefallen, dass er sich oft in Marias Nähe aufhält. So wie ich. Er taucht aus dem Nichts auf, wie ein Schatten heftet er sich an ihre Fersen. Und damit auch an meine. Er ist immer schweigsam, umwölkt von seiner Dunkelheit, die ihn wie Nebel umgibt. Marek hat die großen Kopfhörer auf die Schulter geschoben und starrt konzentriert auf den Affen, der sich die Ohren zuhält. Dann sagt er leise und eigenartig betont: »Wer zuhören kann, erspart sich viele Worte.« Er sieht uns nicht an, sondern lässt die Augen nervös über den Schulhof wandern. Die Sonne strahlt vom Himmel. Weiße Wölkchen ziehen in einer perfekten Formation über das Blau. Eine S-Bahn rattert vorbei. Maria lacht unvermittelt auf. »Das sagt der Richtige! Unser Freak! Du sparst dir auch viele Worte!«

Aber sie drückt dabei Marek freundlich den Arm. Ich beobachte diese kleine, vertraute Berührung. Marek freut sich. Über sein Gesicht breitet sich ein verschämtes Lächeln aus. Marek sieht Maria nicht an. Aber Maria starrt Marek jetzt ganz offen ins Gesicht. Als könnte sie darin lesen. In diesem Gesicht, das immer noch wie angeknipst von einem leicht debilen Lächeln erhellt wird.

»Du bist echt seltsam«, sagt sie geradeheraus.

»Ja«, antwortet der.

Marek freut sich immer noch. Verstehe einer die Welt. Ganz kurz, ganz schüchtern, sieht er Maria an. Sie lächelt zurück. Ich stehe daneben und komme mir überflüssig vor. Ich brenne lichterloh. Eifersüchtig wie ein kleines Kind denke ich: He, das ist meine Freundin. Ich habe das drängende Gefühl, ich müsste irgendetwas unternehmen. Also lese ich die Inschrift unter dem dritten Affen vor: »Wer die Augen verschließt, wird nie die Wahrheit sehen!«

Und Maria antwortet wie aus der Pistole geschossen: »Dinge wahrzunehmen ist der Keim der Intelligenz.«

Sie kann die dämlichen Sprüche schon auswendig. Wir lachen. Es hat funktioniert. Marias Aufmerksamkeit ist wieder bei mir.

Marek wirkt enttäuscht.

»Was für ein Bullshit«, murmelt er.

»Wie wahr, wie wahr!« Maria legt den Kopf schräg und zieht an ihren Locken.

Dann nimmt sie meine Hand und zieht mich hinter sich her. Ich drehe mich noch einmal nach Marek um. Er steht da, alleine, verlassen, an der albernen Steinskulptur mit den vier Affen, mitten auf dem Schulhof. Er setzt sich den Kopfhörer auf. Er drückt auf das kleine Gerät, das an seiner Jacke klemmt. Seine Augen, zwei dunkle Löcher, blicken für eine Nanosekunde in meine Augen. Sein Blick versetzt mir einen Stich. Ich bin verwirrt. Ein Gefühl, als würde ich fallen. Aber ich bin glücklich. Maria zieht mich mit sich. Ich habe gewonnen, denke ich froh. Sie ist hier, bei mir, sie ist meine Freundin. Ich fühle mich stark und frei. Ich bin ihre Freundin.

Aber später denke ich an Marek und kann die Gefühle nicht verstehen, die sich in mir auf einmal wie ein Unwetter zusammenbrauen. Marek ist zwar seltsam. Aber er ist es auf eine anziehende Art. Er ist interessant. Und er ist schön. Auf seine sonderbare Marek-Art ist er schön wie ein Mädchen, mit seinen dunklen Augen und den hellen, fransigen Haaren. Er wird nie laut. Er macht sich nie über andere lustig. Er gibt sich nie mit den anderen Jungs ab. Er ist eigenartig. Er ist der Klassenfreak. Ein Außenseiter. In der 7. Klasse war ich total in ihn verliebt, so kindlich, voller Sehnsucht, heimlich. Aber er war unerreichbar und seltsam noch dazu. Die anderen in der Klasse haben diese Geschichten über ihn erzählt, besonders Justus. Er wäre spielsüchtig, würde Möbel zerschlagen, aggressiv, seine Mutter wäre mit ihm total überfordert. Dann habe ich ihn aus meinen Träumen verjagt. Jetzt ist er wieder da. Aber er hat nur Augen für Maria. Das macht mich wahnsinnig. Aber ich kann die Gefühle nicht einordnen. Ich weiß nicht, warum.

E-Mail

Von: Maria Papandropoulos

An: Tessa Stein

17. Januar

He du … wann bist du endlich on? Sagte ich es schon? Ich hasse das alles hier. Schreib mir. Ich

CHAT

17. Januar

Tessa: Maria!!!

Maria: Tessitessa, endlich. Was geht?

Tessa: Du bist da!

Maria: Bin in dem Café. Voller Gemüse.

Tessa: Typen, die dich scannen?

Maria: Stöhn. Und du?

Tessa: Schule ist Horror ohne dich.

Maria: Wer sitzt neben dir?

Tessa: Biene. …

Maria: Aha.

Tessa: Die bitch.

Maria: Biene ist o.k.

Tessa: No. Wann kommst du?

Maria: Tessastein, hör auf.

Tessa: Wie jetzt?

Maria: Du bist noch da. Ich musste weg.

Tessa: Musstest du???

Maria: Hör auf. It sucks.

Tessa: Life sucks.

Maria: Bin jetzt in der deutschen Schule.

Tessa: Und?

Maria: Ganz cool.

Tessa: So uncool, dass es cool ist?

Maria: Nee, das ist Berlin. Wo warst du am Wochenende?

Tessa: K A.

Maria: Vermisst du mich?

Tessa: Ich sterbe.

Maria: Nicht doch.

Tessa: …(heul)

Maria: Ich hasse alles hier.

Tessa: Warum bist du weg? Ich hab so viele Fragen.

Maria: Cousine und Fernsehmann kommen. Bald wieder?

Tessa: Hey, geh nicht! Ich will dich was fragen.

Maria: Vergiss mich nicht. Du weißt: Das Wahrnehmen und der Keim … LOVE

Tessa: Hey! Geht’s noch?

Maria: …

Tessa: Maria?

TAGEBUCH

21. Januar

Heute Nacht von M. geträumt. Er sieht im Traum ganz anders aus. Hat lange lockige Haare wie Maria. Aber er war es. Er war so schön wie immer. Er war in einem dunklen See, das Wasser war schwarz und dickflüssig. Wie heißer Teer. Nur sein Oberkörper hat aus dem Wasser geguckt. Er hat eine Hand nach mir ausgestreckt. Ich war glücklich. Ich fühle seine Haut, die ist ganz dünn und zart. Dünn vor allem. Wie Pergament. Ich denke im Traum: Ob ich wohl durch diese dünne Haut in seine Seele schauen kann? Ich wache auf und muss weinen. Aber ich bin glücklich. Alles ist warm in mir. Die Welt ist voller Sonne. Ich ziehe den Vorhang auf und will nicht mehr, will nicht mehr alles nur dunkel sehen. Ich will Sonne in meinem Herzen haben. Ich will nicht mehr immer traurig sein. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Denke immerzu an den Traum von M. und an das Gefühl. Ich versuche, sein Gesicht wieder zu sehen. Aber es verschwimmt. Ich sehe ihn nicht mehr!

Ich nehme das Passfoto, das wir zu dritt gemacht haben. An diesem Abend … Obwohl er lacht, sieht er verloren aus. Wo ist er gerade? Und ich kann mit niemandem darüber reden. Es ist seltsam. Seit ich Maria die Sache mit Biene erzählt habe, ist es irgendwie anders. Also mein Gefühl für sie. Weil ich ihn erwähnt habe? Sie hat nie darauf geantwortet. Sie will immer noch nicht darüber reden. Wir haben so lange nicht darüber geredet. Wir haben eigentlich noch nie darüber geredet, also nicht richtig. Warum eigentlich nicht? Maria ist jetzt seit über zwei Wochen weg. Erst war ich nur traurig, so bodenlos traurig. Ich habe gedacht, ich werde nie wieder das Licht sehen ohne sie. So habe ich mich gefühlt die ersten Tage. Aber jetzt denke ich oft an M. Und ich denke an Maria und dann wundere ich mich, dass da nicht nur gute Gefühle sind.

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

23. Januar

Hey, Maria, wo bist du? Schon wieder ein Samstag ohne dich. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sina hat gefragt, ob ich später mitkomme, in einen Klub auf der Revaler. Ich habe keine Lust. Will nicht auf Reise gehen und Sonntag ewig nicht zurückkommen. Seit du weg bist, denke ich viel an früher, also an die ganze Zeit, die wir zusammen hatten. Es war nur ein Jahr und drei Monate, aber es kommt mir vor wie mein ganzes Leben. Wie in einem Film sehe ich Bilder von Sachen, die wir zusammen gemacht haben. Melde dich! T.

E-Mail

Von: Tessa Stein

An: Maria Papandropoulos

24. Januar

Schon wieder keine Maria. Gestern Abend bin ich zu Hause geblieben. Hab mit Mama eine DVD geguckt. Es war irgendwie komisch, Mama hat sich total gefreut. Es war ein richtig schöner Abend. Wir haben wie früher Pizza gegessen und Mezzo Mix getrunken. Und wir haben einen Film geguckt, nach dem ich benannt bin! Ehrlich, ich wusste das gar nicht. Jetzt rate mal, wie der Film heißt. Überraschung: Tess! Die Schauspielerin, die die Tess spielt, ist so schön gewesen. So schön werde ich nie sein. Es war ein sehr trauriger Film, weil sie ein schlimmes, armes Leben hat und einen ganz gemeinen Mann, den sie am Ende umbringt, weil es keinen Ausweg gibt. Und dann wird sie gehängt. Ich habe geheult, und Mama auch, und dann mussten wir darüber lachen. Ich habe sie gefragt, warum sie mich nach so einem traurigen Leben benannt hat. Und sie hat gesagt, sie war sich sicher, ich würde so schön werden wie die Tess. Und das wäre ich ja wohl auch geworden. Und dass sie den Namen so besonders fand. Ich fand das sehr nett von Mama und habe mir vorgenommen, nicht mehr so gemein zu ihr zu sein. So ist das, du hast gesagt, ich soll dir alles schreiben. So aufregend ist mein Leben. Haha. Und du? Ich darf nicht daran denken, dass du mit irgendwelchen Fernsehtpyen rummachst. Melde dich endlich. Ich weiß nicht, mit wem ich reden soll. Tess, die Schöne ;)

Oktober – Zwei Jahre zuvor

Wir haben uns daran gewöhnt, dass Marek oft in unserer Nähe ist. Er stört uns nicht. Im Gegenteil, seit dem Moment auf dem Schulhof und dem Blick freue ich mich eigentlich immer, wenn ich ihn sehe. Ich muss damit leben, dass er Maria anhimmelt. Aber ich verstehe ihn. Es ist auch etwas, das uns verbindet. Als wäre da ein geheimes, unsichtbares Band zwischen uns. Nur wir beide wissen, dass es da ist. Es ist Samstag und wir treffen uns vormittags auf dem Helmi. Obwohl die ersten Blätter schon bunt werden, ist es warm. Spätsommer. Der Platz ist voller Leute.

Ich erinnere mich an den Helmholtzplatz meiner Kindheit. Früher waren auf dem Platz nur Alkis, Punks und Penner. Wenn man sich getraut hat, auf dem Platz zu spielen, war man mutig. Jetzt rennen hier haufenweise diese Coffee-to-go-Schlampen herum, oder wie Maria sagt, »CTG-Schlampen«, die ihre Kinder mit zwei Jahren zum Französisch und Ausdruckstanz schicken. Ich habe Maria beigebracht, dieses Prenzlauer Berg zu verachten. Wir wohnen im Norden, da rockt der Bezirk. Da verlaufen sich keine Touristen hin. Da gibt es Kneipen wie Arnes Stübchen, die alle Zeiten überdauert haben, warum auch immer. Sonst gibt es nicht viel, riegelweise Wohnhäuser, irgendwie alle gleich. Aber ich mag es. Hier wohnen meine Leute. Und wenn man will, ist man in zwei Minuten mitten im Leben.

Maria wohnt mit ihren Eltern in einer Dachwohnung in Pankow. Ich war einmal da und hab mich völlig fehl am Platz gefühlt. Aber Marias Zimmer ist echt toll, man sieht über die Dächer von Berlin und direkt in den Himmel. Meistens hängen wir bei mir ab. Ich wohne in der Kanzowstraße, nur ein paar Minuten von der Schule entfernt.

Heute ist es ziemlich voll auf dem Platz. Alle genießen noch mal das schöne Wetter, bevor sie sich im langen, hässlichen Winter in ihren Löchern verkriechen. Wir hocken auf der Tischtennisplatte in der Sonne und überlegen, was wir machen können. Vor uns kreischen zwei kleine Kinder um die Wette. Sie streiten sich um ein Laufrad aus Holz. Maria fängt an, über die Kinder herzuziehen. Ich finde eher die ganzen Mütter schlimm, die gestylt auf dem Spielplatz stehen und ihren Kindern sagen, wie Spielen geht. Ihnen ständig vorgeben, was sie tun oder lassen sollen. So war das früher doch nicht. Ich war alleine auf dem Spielplatz und hab gemacht, was ich wollte. Mir war als Kind gar nicht klar, wie großartig das war. Jedenfalls macht sich Maria über die Kinder lustig.

»Guck dir die kleinen nervtötenden Vollpfosten an, die versauen dir dein Leben«, sagt sie und es hört sich überraschend bösartig an.

Ich fand noch nie irgendwas daneben, was Maria gesagt hat. Aber das finde ich ziemlich eigenartig. Wie kann man Kinder hassen? Die können doch nichts dafür, was ihre Eltern mit ihnen machen. Außerdem ist es doch gar nicht so lange her, da war Maria selbst noch ein Kind. Das sage ich ihr und sie lacht mich aus.

»Na und? Gerade deshalb will ich nichts mehr damit zu tun haben. Als Kind wirst du doch immer eingetütet. Keiner fragt dich nach deiner Meinung.«

Ich bin überrascht über die Wut in ihrer Stimme. So kenne ich Maria gar nicht. Gleichzeitig muss ich über die Formulierung »eingetütet« grinsen. Maria hat eine Vorliebe für seltsame Wörter. Sie sammelt sie regelrecht.

»Wenn die Schule endlich vorbei ist, mache ich, was ich will«, kündigt Maria an. »Ich schaffe mir einen Hund an oder zwei, aber niemals Kinder.«

Eigentlich fand ich Menschen immer komisch, die Hunde lieber mögen als Kinder. In Berlin gibt es viele davon. Wie oft hatte ich als Kind genau auf diesem Platz Angst vor den vielen Hunden, die manchmal hinter uns Kindern hergejagt sind. Ich interessiere mich nicht besonders für Kinder. Wer weiß, ob ich welche haben werde. Aber ich finde Leute komisch, die was gegen Kinder haben. Da stimmt doch was nicht. Ich bin seltsam berührt, weil Maria offensichtlich dazugehört.

Dann sagt Marek etwas, das mir durch und durch geht. Er sagt es ganz ruhig, in seiner sanften Art mit der tiefen Stimme: »Ich finde Kinder gut. Die sind wenigstens echt.«

»Ja, sehr echt«, kontert Maria ironisch. »Die verkaufen ihre Seele für Süßigkeiten.«

Aber Marek fährt unbeirrt fort: »Wenn meine Cousine mit ihren Kindern kommt, spiele ich immer mit denen. Das ist schön. Dann muss ich das Gerede von meiner Familie nicht hören. Die reden immer das Gleiche, immer das Gleiche. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie oft die den gleichen Mist erzählen. Die Kinder nicht. Die sehen die Welt ständig mit neuen Augen. Na ja …« Marek schweigt plötzlich verlegen. Es ist selten, dass er etwas sagt, vor allem erzählt er fast nie von sich. Er taut langsam auf. Wir schweigen einträchtig. Maria nimmt Mareks Hand. Sie verschränkt ihre Finger in seinen. Das brennt wie Feuer in mir.

»Du bist halt ein guter Mensch«. Maria blinzelt ihn an. »Im Gegensatz zu mir.«

Marek reagiert nicht darauf. Er blickt auf die beiden Hände und die verschränkten Finger, als würde die eine Hand nicht zu ihm gehören. Ich suche seinen Blick, aber er schaut nicht hoch. Immer nur auf die beiden Hände. Als würde ihn das erschrecken.

Später sind wir im Mauerpark gelandet und ich habe das Gespräch vergessen. Bei den Treppen haben wir die anderen getroffen, Bier getrunken und was geraucht. Der Abend war warm wie im Sommer und wir waren lange draußen. Irgendjemand hat ein Lagerfeuer gemacht. Marek ist früh gegangen. Beim Abschied fühle ich einen ziehenden Schmerz im Magen. Warum sieht er mich nie an? Warum kann er nicht …

Aber dann vertreibe ich die Gedanken. Vergesse ihn, weil Maria da ist und sie mir jetzt ganz alleine gehört. Wir haben auf den Treppen getanzt, irgendein Typ hatte Musik dabei und wir haben getanzt. Maria hat mich im Arm gehalten. Wir tanzen durch die Stadt, der Himmel fällt runter, überall sind Stimmen und Leute und Lichter. Später waren wir in irgendeinem Klub, ich hab vergessen, in welchem. Wir haben getanzt, bis wir nicht mehr konnten, ich erinnere mich nicht mehr an alles. Der Rest verschwimmt in einem Meer aus Gefühlen und Glück.