Buchinfo

Clara war noch nie verliebt und so soll es auch bleiben. Schließlich muss sie sich auf ihre Karriere als Pianistin konzentrieren. Auf Konzertreise im romantischen Venedig macht ihr Amor jedoch einen Strich durch die Rechnung. Und das gleich doppelt! Der reiche Conte Paolo liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sein bester Freund Daniele dagegen ist rau und undurchdringlich. Doch seine Warmherzigkeit lässt Claras Herz höher schlagen. Während Clara versucht, sich zwischen den beiden Männern zu entscheiden, wirft sie ein dunkles Familiengeheimnis plötzlich vollends aus der Bahn ...

Autorenvita

Autor

 

© privat

 

Siri Goldberg, geboren 1964, lebt als Klavierlehrerin und Autorin in Innsbruck. Sie liebt die Berge, Bücher und die Beach Boys.

 

 

 

 

 

Für Hans, der dieses Buch nie lesen wird.

Für meine Eltern, die es gern gelesen hätten.

 

 

 

 

 

»Ineffabile amore! Sovrano della natura! Sei un’amarezza di cui non vi é nulla di piú dolce, una dolcezza di cui non v’è nulla di più amaro (…)«

 

»Unerklärliche Liebe! Gott der Natur! Nichts ist süßer als ihre Bitternis, nichts ist bitterer als ihre Süße (…)«

 

Giacomo Casanova

IT

 

Begegnung

Das süße Lächeln starb dir im Gesicht,

Und meine Lippen zuckten wie im Fieber;

Doch schwiegen sie – auch grüßten wir uns nicht,

Wir sah’n uns an und gingen uns vorüber.

 

Theodor Storm

IT

 

Mozart war in ihrem Kopf.

Dum-dong-dum-ping-pliii-didldidim …

Das Klavierkonzert in C, das an diesem Tag auf dem Programm stand. Im Rhythmus der Anfangstakte folgte Clara einer Traube von rucksackbepackten Touristen, ließ sich in ihrem Sog aus dem Bahnhofsgebäude spülen, hopste die Stufen hinunter und sah sich um.

Venedig. Die letzte Station ihrer Italientournee.

Bisher war alles gut gegangen, ach was, molto bene war es gegangen, grandios, spitzenmäßig, besser als sie es sich in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Die Bologneser, die Römer, die Florentiner, die Neapolitaner, die Veroneser, sie hatten ihr zu Füßen gelegen und sie auf Händen getragen, sie hatten geklatscht, gejohlt, gepfiffen, sie nicht von der Bühne gelassen, bevor sie nicht mindestens drei Zugaben gespielt hatte. Würde sie auch das venezianische Publikum erobern, dem man nachsagte, schwierig zu sein? Verwöhnt, unterkühlt und ein bisschen hochnäsig. Wie eine Gräfin, die zu alt war, um Begeisterung zu empfinden, und zu vornehm, um mehr als ein Zucken ihrer Mundwinkel als Gefühlsausbruch zuzulassen.

Sie atmete tief durch. Die Luft schmeckte salziger als am Morgen in Verona. Ein bisschen modrig. Es roch nach feuchtem Mauerwerk und schimmeligem Holz. Der Himmel präsentierte sich in einem verwaschenen Blaugrau, in dem Wolkenfetzen schwammen, die sich am linken Rand ihres Gesichtsfelds zu kompakten Gebilden türmten. Doch genau in dem Moment, als ihr Blick über die Wolkentürme glitt, verschoben sie sich gegeneinander und gaben ein Bündel Sonnenstrahlen frei. Das Licht ließ das Wasser des Canal Grande aufleuchten wie einen Smaragd, und das Bild, das sich ihr bot, schien kontrastreicher zu werden. Als hätte jemand am Regler für die Tiefenschärfe gedreht.

Sie betrachtete die Fassaden der Häuser, die trotz ihrer Schlichtheit prachtvoll wirkten und trotz ihrer Pracht elegant. Und die eine hypnotische Wirkung auf die Neuankömmlinge auszuüben schienen, dass sie wie unter einem höheren Zwang Handys und Fotoapparate zückten und auf Auslöser drückten, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen. Auch Clara versuchte, die Schönheit der Szenerie einzufangen, über der ein Hauch von Melancholie waberte.

Auf einmal fühlte sie sich einsam: eine junge Pianistin, die acht Stunden täglich mit schwarz-weißen Tasten verbrachte und das Wort »Beziehung« nur vom Hörensagen kannte, ganz allein in der Stadt der Liebe und der Hochzeitsreisen! Sie seufzte. Zum Glück spukte immer noch die übermütige Musik in ihrem Kopf herum und vertrieb die traurigen Gespenster.

Padum-plum-ping-plum-pliii-didldidim …

Für Anfang April war es erstaunlich warm. Die schwere Luft legte sich wie ein feuchtes Tuch über ihre Haut und lockte Schweißtropfen aus den Poren. Clara schälte sich aus ihrer Jacke, verstaute sie im Koffer und schlenderte zur Haltestelle der Linienboote. Dort reihte sie sich in die Schlange ein, die vor dem Fahrkartenschalter stand. Das Pärchen vor ihr schien an den Lippen zusammengewachsen zu sein. Sie staunte, dass man sich so lange küssen konnte, ohne Luft zu holen oder krebsrot anzulaufen und andere Anzeichen von Erstickung zu zeigen. Sie musste sich zwingen, nicht auf die Uhr zu sehen. Ob die beiden für einen Rekord übten? Immer wenn die Schlange kürzer wurde, rückten sie um einen Schritt vor, ohne ihren Kuss zu unterbrechen. Erst als der Ticketverkäufer sie ansprach, lösten sie sich voneinander, widerwillig fast, und es gab Clara einen Stich, als sie den liebevollen Blick sah, den der junge Mann seiner Angebeteten zuwarf, während sie die Fahrscheine kaufte.

Sie musste an ihren ersten Kuss denken. Eins, zwei hatte Ioannis ihr die Zunge in den Mund gesteckt und ihr seinen Knoblauchatem eingeblasen. Seither rangierte Tzatziki auf Platz eins ihrer Liste der ekelerregenden Speisen. Sie schüttelte sich. Und männliche Studienkollegen konnten ihr seit dem Zungendesaster auch gestohlen bleiben, mochten sie noch so toll singen, Saxophon spielen oder komponieren.

Manchmal fragte sie sich, ob sie womöglich gar nicht auf Männer stand. Oder hatte sie bloß noch nicht den richtigen gefunden? Wie sollte ich auch?, dachte sie. Ich habe ja keine Zeit für Dates. Sie lächelte den Ticketverkäufer an, verlangte eine Einzelfahrkarte und bezahlte. Dann warf sie einen letzten Blick auf das verliebte Paar, wandte sich ab und beobachtete das Anlegemanöver des Vaporettos.

Beim Einsteigen rempelte sie ein Mann im Nadelstreifenanzug an. Er trug eine Aktentasche, sah aus wie ein Banker oder Anwalt und hatte es offensichtlich eilig. Als sie ihn überholen ließ, stieg er ihr auf die Zehen.

»Aua!«

Der Nadelgestreifte sagte keinen Ton, schenkte ihr nur einen vorwurfsvollen Blick aus zusammengekniffenen Augen, als wäre sie ihm über die Füße gelatscht, nicht umgekehrt. In jeder anderen italienischen Stadt hätte man sich wortreich bei ihr entschuldigt und sie zum Ausgleich mindestens zu einem Kaffee eingeladen. Waren die Venezianer unnahbar? Würden sie ihr Klavierspiel nicht mögen? Bekäme sie Buhrufe zu hören statt Applaus?

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Das Lampenfieber schlug zu und trieb kalten Schweiß auf ihre Stirn. Schon spürte sie den Aufprall fauler Tomaten im Gesicht und klammerte sich verzweifelt an die Reling.

Reiß dich zusammen. Du wirst genauso gut spielen wie gestern in Verona. Noch besser als vorgestern in Florenz.

Fliegende Tomaten in Konzertsälen gehörten ohnehin der Vergangenheit an. Vor hundert Jahren hatte es noch Prügeleien mit Verletzten und zertrümmertem Mobiliar gegeben, heutzutage benahm sich das Publikum beinahe langweilig korrekt. Im schlimmsten Fall würden die Zuhörer nur eine Zugabe erklatschen, nicht drei. Sie atmete ein paarmal tief ein und langsam durch die Nase aus.

Alles wird gut gehen. Mit den ersten Takten wirst du dein Publikum erobern, wirst es bis zum letzten Akkord nicht von der Leine lassen, dass die Leute sich am Ende die Hände wund klatschen müssen, ob sie wollen oder nicht. Morgen werden fulminante Kritiken über dich in der Zeitung stehen. Und Paps wird stolz auf dich sein.

Sie war so damit beschäftigt, an positive Dinge zu denken und die Angst in die hinterste Ecke ihrer Gehirnwindungen zu drängen, dass sie beinahe das Aussteigen verpasst hätte. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, las sie sich nochmals die Wegbeschreibung durch, die Dillinger ihr ausgedruckt hatte. Was die Organisation betraf, war ihr Agent eins a. Auch diesmal fand sie das Hotel, das praktischerweise ganz in der Nähe des Opernhauses lag, auf Anhieb. Sie schluckte, als sie die bröckelnde Fassade bemerkte, die Eingangstür, die schief in den Angeln hing und die zwei Sterne auf dem Hotellogo. Drei waren ausgemacht. Auch was seine Geldgier betraf, war Dillinger eins a. Wieder mal hatte der alte Knauser in Bezug auf ihre Unterkunft gespart, damit am Ende nur ja genug Gewinn für ihn herausspringen würde.

Was soll’s? Schließlich bist du nicht die Prinzessin auf der Erbse, sondern bloß eine Musikstudentin, wenn auch eine sehr hoffnungsvolle. In ein paar Jahren wäre sie vielleicht berühmt genug, um sich ein erstklassiges Etablissement zu leisten. So lange würde sie ohne Murren ihren Koffer selbst ins Zimmer schleppen, sich selbst das Konzertkleid aufbügeln und die Schuhe putzen.

Bis zur Generalprobe hatte sie noch genügend Zeit, um sich ein bisschen im Zentrum umzusehen. Also schlenderte sie zum Markusplatz. Aber die Touristen, die in Heerscharen über die Piazza herfielen und um jede Sehenswürdigkeit Trauben bildeten, schreckten sie ab. Sie lachten, kreischten, schrien in verschiedenen Sprachen, posierten, fotografierten und taten, als streuten sie Körner aus, was natürlich keine einzige Taube anlockte. Die Vögel waren nicht dumm und hatten sich längst an das Fütterungsverbot gewöhnt. Clara nahm sich vor, am nächsten Tag ganz früh hierherzukommen, bevor die Touris sich gegenseitig auf die Füße traten. Sie würde ein, zwei Tage in Venedig bleiben – ein kleiner Urlaub nach der dreiwöchigen Tournee, den sie sich verdient hatte. Würde sich den Markusdom ansehen und den Campanile besteigen, von dem man eine grandiose Aussicht haben sollte.

Um dem Trubel zu entkommen, wich sie in eine Seitengasse aus, folgte einem überdachten Schleichweg unter einem Haus hindurch, den die Venezianer sotoportego nannten, und bog in eine weitere Seitengasse ein. Sie entdeckte ein kleines Café, in dem nur einige ältere Männer an der Bar saßen, lauter Einheimische. Clara stellte sich dazu und gönnte sich ein tramezzino mit Thunfisch und Ei als spätes Mittagessen. Gesättigt machte sie sich dann auf den Weg zur Generalprobe. Doch sie fand weder zum Markusplatz zurück noch zum Opernhaus. Sie hatte sich verirrt und musste sich zum Teatro La Fenice durchfragen.

Lag es an ihrem Italienisch oder hatte sie nicht die richtigen Leute um Auskunft gebeten? Jedenfalls schickte man sie in die falsche Richtung und es dauerte einige Zeit, bis sie den Fehler registrierte. Eine bucklige Alte zeigte ihr schließlich gestenreich eine Abkürzung. Clara rannte einen stinkenden Seitenkanal entlang. Sie fürchtete, zu spät zu kommen, und steigerte ihr Tempo.

Ihr wurde warm.

Endlich gelangte sie zu einem Platz mit einem Café und einem klassizistischen Gebäude, das für ein Opernhaus beinahe zu schlicht wirkte. Zwischen den Säulen schimmerte etwas Goldenes hindurch. Der Phönix! Das wunderbare Fabeltier, dem das Opernhaus Fenice seinen Namen verdankte. Ein passender Name, fand Clara, denn wie man es den Phönixen nachsagte, war das teatro schon zweimal vom Feuer verschlungen worden und aus der Asche wiedererstanden. Ehrfürchtig huschte Clara unter dem Vogel hindurch.

Auf halbem Weg zum großen Saal stieß sie mit einem rotgesichtigen Mann zusammen. Er entpuppte sich als Signor Baldessarini, Sergio Baldessarini, der Dirigent des heutigen Konzerts. Seine Glatze glänzte mit seinen Lackschuhen um die Wette. Mit scheelem Blick deutete er auf seine Armbanduhr.

Clara erschrak. Mist! Sie hatte sich tatsächlich um eine Viertelstunde verspätet. »Bitte verzeihen Sie. Das ist mir sehr peinlich, aber die verwinkelten Gassen, die Seitenkanäle … Ich habe mich verlaufen.«

Plötzlich hatte sie die Stimme ihres Vaters im Ohr: »Sei bei Proben immer pünktlich. Damit zeigst du deinen Respekt vor den anderen Musikern und vor der Musik. Nachlässigkeit in diesen Dingen ist das beste Mittel, um ein ganzes Orchester gegen dich aufzubringen.« Sie schämte sich.

Baldessarini brummte etwas und schubste sie auf die Bühne. Sie begrüßte die Konzertmeisterin und entschuldigte sich in ihrem besten Italienisch für die Verspätung. Die Schöne lächelte blasiert, die Stimmung war eisig.

Mit einem mulmigen Gefühl setzte sich Clara an den Flügel und wollte den Dirigenten nach seinen Tempovorstellungen fragen, doch der würdigte sie keines Blickes. Er hatte schon den Einsatz gegeben. Die Streicher begannen mit dem Dum-dong-dum-ping-pliii-didldidim und nie, wirklich niemals, hatte sie den Anfang dieses großartigen Konzerts so schlapp und träge gehört. Verwässert. Farblos. Langweilig hoch fünf!

»Wenn du spürst, dass dir die Orchestermusiker nicht gewogen sind, dann kämpfe. Versuche, sie zu packen. Die Musik ist deine Waffe, also Augen zu und durch!«, hatte Paps ihr eingeschärft. Und seine Ratschläge waren Gold wert.

Clara atmete tief durch, krempelte ihre Ärmel hoch und beschloss, es dem uninspirierten Haufen zu zeigen. Gleich bei ihrem ersten Einsatz zog sie das Tempo etwas an. Den bösen Blick des Dirigenten nahm sie gern dafür in Kauf. Sie spielte, als ginge es um ihr Leben. Die Sechzehntelläufe perlten, die Triller klingelten, die Akkorde protzten, die Melodie leuchtete, als wäre im kleinen Finger ihrer Rechten die Gurgel der Callas versteckt. Noch ehe die Hälfte des ersten Satzes vorüber war, merkte sie, dass das Orchester allmählich mitzog. Die Hörner intonierten besser, die Flöten spielten weniger schrill, die Celli weniger behäbig.

Im zweiten Satz fraßen ihr die Musiker bereits aus der Hand. Die tiefen Streicher nahmen sich zurück, die Violinen trumpften mit einer warm schimmernden Kantilene auf, und als das Klavier darauf antwortete, schien sich das ganze Orchester in ein einziges Ohr zu verwandeln, das ihr zuhörte und einen kuscheligen Klangteppich legte, über dem sie sich entfalten konnte.

Im dritten Satz explodierte der Laden. Der Dirigent, dessen glänzende Glatze nun auch noch von einem Schweißfilm überzogen war, dirigierte mit einem Lächeln. Bei jedem Schlag seines Taktstocks spritzten Tröpfchen in alle Richtungen. Das Pizzicato der Streicher federte, dass es eine Freude war, Oboen und Fagotte antworteten näselnd, die Flöten spitz. Clara blieb nicht mehr viel anderes zu tun, als sich tragen zu lassen. So machte Klavierspielen Spaß!

Der Schlussakkord war noch nicht ganz verhallt, als Baldessarini seinen Taktstock fortwarf, sie vom Klavierhocker riss und in einer herzlichen Umarmung an seine nass geschwitzte Brust presste. Die schöne Konzertmeisterin lächelte immer noch blasiert, aber ihre Kollegen hatte Clara auf ihrer Seite.

 

Erleichtert kehrte sie in ihre Unterkunft zurück. Sie öffnete das Fenster, um die Geräusche des Wassers hereinzulassen, das schmatzend gegen das Fundament des Hotels rollte. Dann ließ sie sich aufs Bett fallen. Zwar war sie viel zu aufgeregt, um zu schlafen, aber vor einem Konzert konnte es nicht schaden, ein bisschen zur Ruhe zu kommen, sich zu sammeln und den Adrenalinpegel um einige Grade abzusenken. Kaum hatte sie es sich halbwegs gemütlich gemacht, als ihr Handy piepte. Unwillig richtete sie sich auf und angelte es vom Nachttisch. Dillinger. Was wollte denn der? Normalerweise ließ er sie an Konzerttagen in Ruhe.

Sie meldete sich mit einem gedehnten »Ja«, das ihren Ärger über die Störung ebenso wenig verbergen sollte wie die Enttäuschung über den fehlenden Stern des Hotels.

»Hallo, Clärchen, ist die Probe gut gelaufen?«

Hoppla. Niemand nannte sie Clärchen. Niemand außer Paps. Wenn Dillinger es tat, musste sie mit einem schwerwiegenden Problem rechnen. Hatte der Konzertveranstalter in letzter Minute abgesagt? War ein Feuer ausgebrochen, seit sie die Fenice verlassen hatte?

»Tut mir leid, dass ich so kurz vor dem Konzert störe, aber ich muss dir etwas sagen.«

»Nur zu, Richard.«

»Dein Vater …«

Paps. Etwas ist mit Paps. Clara presste das Handy fester ans Ohr. »Was ist passiert?«

»Er ist leider krank geworden.«

»Was fehlt ihm? Ist es schlimm? Kann ich mit ihm sprechen?«

»Das geht nicht, er liegt im Krankenhaus. Ein kleiner Schwächeanfall. Sein Herz, glaube ich. Bitte, mach dir jetzt keine Sorgen. Die kriegen das schon wieder hin.«

»Was heißt das? Er hat doch nicht etwa einen Infarkt?« Ihr eigenes Herz schlug dreimal so schnell, als müsste es für das schwächelnde Herz ihres Vaters mitklopfen. »Ich komme sofort nach Hause. Sag bitte das Konzert ab und such mir die nächste Zugverbindung heraus. Oder einen Flug.«

»Clara, jetzt beruhige dich und hör mir zu.« Dillinger hatte endlich seinen gewohnten Tonfall wiedergefunden. Von wegen »Clärchen«! »Es ist nichts Schlimmes. Ich habe dich nur angerufen, damit du gleich nach dem Konzert nach Hause kommst, nicht erst übermorgen. Den Zug um fünf nach neun schaffst du bestimmt. Dann bist du um vier Uhr früh in Salzburg, kannst dich noch ein wenig hinlegen und anschließend deinen Vater im Krankenhaus besuchen.«

»Aber …« Was hieß da »nicht schlimm«? Paps war dreiundachtzig. Bisher war er zwar immer gesund gewesen, gesund und erstaunlich fit. Dennoch musste man in seinem Alter mit allem rechnen.

»Kein Aber. Denk daran, was dir dein Vater über Professionalität gesagt hat. Nie und nimmer darfst du ein Konzert absagen, es sei denn, du bist selbst so krank, dass du dich nicht mehr auf die Bühne schleppen kannst.«

Dillinger hatte recht. Genau das hatte Paps ihr immer eingeschärft. Musiker mussten hart im Nehmen sein. Wehwehchen, Kummer, Sorgen, all das mussten sie Abend für Abend wegschieben, wenn sie vor ihr Publikum traten. Disziplin war gefragt. Disziplin und Professionalität.

»Dein Vater wäre so enttäuscht, wenn du seinetwegen nicht spielen würdest. Im Gran Teatro La Fenice noch dazu! So eine Chance bekommt nicht jeder, der erst am Anfang seiner Karriere steht.«

»Aber Richard, es geht hier nicht um mich, sondern um …« Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis sie abbrach. Dass es um Paps ging, hatte sie sagen wollen. Nicht um irgendeinen Menschen, sondern um ihren geliebten Vater, um den großen Leo Prachensky, Maestro Prachensky, einen der besten Dirigenten Europas, ach was, der Welt.

»Mach ihn stolz, mein Kind. Dann wird er umso schneller gesund werden«, sagte Dillinger.

»Kann ich ihn wenigstens anrufen?«

»Nein, das würde ihn nur unnötig aufregen. Außerdem weißt du genau, dass er dir dasselbe sagen würde.«

Sie wusste es. Und wie sie es wusste! Also behielt sie ihre Einwände für sich und beendete das Gespräch.

Aber als sie später in der Garderobe des teatro in ihr Konzertkleid schlüpfte, zitterten ihre Finger so sehr, dass sie den Reißverschluss nicht schließen konnte und eine Oboistin um Hilfe bitten musste. Hoffentlich würde das Konzert pünktlich beginnen, hoffentlich würde sie sich gleich danach loseisen können, ohne großes Verbeugungsspektakel und ohne Zugaben. Hoffentlich würde sie den Zug erwischen. Und hoffentlich – das war das größte Hoffentlich von allen – ging es Paps in diesem Augenblick schon besser und sein Herz schlug stark und regelmäßig. Stark und regelmäßig, stark und regelmäßig, sagte sie sich vor wie ein Mantra.

Es schien, als wäre ihr das Schicksal gnädig. Die dunkelgrünen, mit Goldblumen bestickten Samtvorhänge öffneten sich Punkt acht Uhr. Baldessarini nahm die Steppenskizze von Borodin flotter, als Clara diese sinfonische Dichtung je gehört hatte. Keine sechs Minuten brauchte er dafür, das musste Weltrekord sein. Ihr war es recht. Mit großen Schritten betrat sie die Bühne. Sie taumelte einen Moment und hätte beinahe den Notenständer eines Bratschisten umgerannt.

Reiß dich zusammen, Clara. Alles ist gut.

Vor Aufregung hatte sie das Atmen vergessen und holte es rasch nach. Ein. Aus. Verbeugen, setzen, Ärmel hochkrempeln, Zopf zurückwerfen. Schon ging es los. Das Klavierkonzert spulte sich ab, als hätte jemand eine CD eingelegt. Sie bewegte ihre Finger, ohne darüber nachzudenken, wie ein Automat. Sie hätte nicht sagen können, ob sie den Mozart gut oder miserabel, langweilig oder temperamentvoll ablieferte, Hauptsache, sie lieferte ihn ab. Augen zu und durch. Ich muss meinen Zug erwischen. Die beiden Sätze fuhren in ihrem Gehirn Karussell.

Natürlich passierten einige dumme Patzer, wie immer, wenn sie unkonzentriert war. Sie reagierte instinktiv, schummelte sich durch und erntete ein, zwei verwunderte Blicke von Baldessarini.

Endlich das Finale, die letzten Takte, die Schlussakkorde. Wie eine Feder schnellte sie vom Klavierhocker hoch, ließ sich umarmen, ließ sich mit Baldessarinis Schweiß beträufeln, schüttelte die Hand der Konzertmeisterin, verbeugte sich.

Dann huschte sie hinaus, zur Garderobe. Doch Baldessarini eilte ihr nach und erwischte sie am Schlafittchen.

»Ein Triumph!«, schrie er ihr ins Ohr und vergoss noch mehr Schweiß. »Signorina Prachensky, hinaus mit Ihnen!«

Sie versuchte, sich unter seinem Griff herauszuwinden, doch der war eisern.

»Das Publikum liegt Ihnen zu Füßen. Besser gesagt, es bringt Ihnen Standing Ovations dar.« Endlich ließ er sie los, nur um ihre Hand zu küssen. »Gehen Sie schnell hinaus, bevor die Leute die Einrichtung zertrümmern.«

Sie wollte ihm erklären, dass sie es furchtbar eilig hatte, aber er hörte nicht zu, sondern schob sie mit sanfter Gewalt auf die Bühne. Und wirklich, das Publikum tobte. Unmöglich konnte sie so gut gespielt haben, sie hatte doch keine Sekunde an Mozart gedacht. Immer nur an Paps.

Sie verbeugte sich, einmal, zweimal, setzte sich nochmals an den Flügel und spielte eine der kürzesten und unspektakulärsten Zugaben, die ihr einfiel: Das erste Stück aus den Kinderszenen von Robert Schumann. Trotz des leisen Schlusses klatschten sich die Leute die Finger wund. Sie kamen Clara vor wie ein Rudel Hyänen. Beim Lachen fletschten sie ihre spitzen Zähne, sie waren gierig, sie hatten Blut geleckt und wollten mehr. Immer wollten sie mehr.

Doch sie bekamen es nicht. Clara klappte den Klavierdeckel zu und floh. Diesmal gelang es ihr, an Baldessarini vorbeizuschlüpfen, den zwei Herren in ein Gespräch verwickelt hatten. Überglücklich erreichte sie die Garderobe, zog sich so schnell wie möglich um und stopfte das Konzertkleid in den Koffer. Zehn nach halb neun. In fünfundzwanzig Minuten konnte sie es bis zum Bahnhof schaffen. Entschlossen spurtete sie los. Durch den Korridor, wieder an Baldessarini vorbei. Noch immer sprach er mit den beiden Herren und drehte ihr den Rücken zu. Auf leisen Sohlen stahl sie sich fort. Geschafft! Sie atmete auf.

Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Einer seiner Gesprächspartner, ein elegant gekleideter junger Mann, erreichte Clara mit zwei Schritten und stellte sich ihr in den Weg.

»Fraulein Prachensky, eine Augeblick, per favore!«

Anstatt einfach weiterzugehen, erstarrte sie vor Schreck. In gebrochenem Deutsch erklärte er ihr, dass dies das wunderbarste Konzert seines bisherigen Lebens gewesen sei. Engelhafte Musik, von einem engelsgleichen Wesen gespielt. Er verbeugte sich elegant und lächelte. Mit seinem rotblonden Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel, seinem Zahnpastawerbunglächeln, dem Schalk in den blitzblauen Augen, sah er vollkommen unitalienisch aus, eher wie ein amerikanischer Schauspieler. Sie ertappte sich dabei, ihn ausgesprochen attraktiv zu finden, und ärgerte sich.

Die Zeit war knapp. Sie musste sich losreißen, den Zug erwischen.

Höflich entschuldigte sie sich in italienischer Sprache und erklärte, dass sie leider in Eile sei. Schon wollte sie weitergehen, doch dieser unverschämte Kerl war Absagen offensichtlich nicht gewohnt. Er hielt sie am Arm fest und sülzte los. Wie wunderbar sie spiele, wie begabt sie sei und wie schön dazu. Er würde sterben, wenn er sie als Dank für den einzigartigen Kunstgenuss nicht zum Essen einladen dürfe.

Jetzt wurde sie wütend. Was erlaubte sich der Typ eigentlich! Sie riss sich los und schmetterte ihm an den Kopf, dass sie nichts mehr verabscheute als aufdringliche Männer, die das Wort »Nein« nicht verstanden.

Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Aber, Signorina, das können Sie mir nicht antun!«

Sein Begleiter, ein schlaksiger junger Mann mit kaffeebraunen Augen, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, redete beruhigend auf ihn ein und lenkte ihn ab. Na endlich!

Clara drehte sich um und verließ wutschnaubend das Opernhaus. Lief – so schnell es mit dem Gepäck möglich war – bis zum Canal Grande. Musste einige Minuten auf ein Wassertaxi warten. Das Taxi kam und raste Richtung Bahnhof, dass Clara sich festhalten musste, um nicht vom Sitz zu fallen.

Sie zahlte, sprang an Land, überquerte die Fondamenta di Santa Lucia und rumpelte mit dem Koffer über die Stufen ins Bahnhofsgebäude.

Der Zug stand schon da, abfahrtbereit. Sie spurtete los, hörte den Pfiff des Schaffners, rannte schneller. Der Zug fuhr an, als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Schwer atmend blieb sie stehen. Mit tränenblinden Augen starrte sie den Rücklichtern nach.

IT

 

So hatte Daniele seinen Freund noch nie erlebt! So perplex und enttäuscht, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte.

Mit offenem Mund sah Paolo dem blonden Wesen hinterher, das wie eine Dampfwolke aus dem Theater gezischt war. Er glich einem begossenen Pudel, obwohl sein Haar strohtrocken war. »Aber sie kann doch nicht … kann mich doch nicht einfach … nicht einfach so stehen lassen! Mich, den …«

»Den tollsten Hecht, den das venezianische Kanalwasser zu bieten hat? Den reichen und vornehmen Conte Minotti, den feurigsten Liebhaber seit Casanova?« Daniele grinste. »Wenn sie das geahnt hätte, wäre sie garantiert nicht mehr von deiner Seite gewichen. Aber du hast dich ja nicht vorgestellt.«

Die spöttischen Worte prallten an Paolo ab. Er starrte noch immer die Tür an, die sich längst wieder hinter der Pianistin geschlossen hatte. Mit glasigen Augen starrte er und schwieg.

Daniele schüttelte ihn. »Na komm, geh’n wir, alter Knabe. Trinken wir auf die Frauen, diese seltsamen und unergründlichen Geschöpfe.« Es dauerte noch eine Weile, bis er es schaffte, Paolo vom Ort seiner Niederlage loszueisen. Schließlich packte er ihn bei den Schultern und schob ihn hinaus.

»Hast du ihre Augen gesehen? Dieses Grün wie … wie …«

»Ein fauchendes Grün, würde ich sagen, wie bei einer Wildkatze, die die Maus in den falschen Hals gekriegt hat.«

»Wie zwei mandelförmige Smaragde. Die schönsten Smaragde, die ich je gesehen habe!«

Nun gut. Mit Klunkern aller Art kannte Paolo sich aus, das musste man ihm lassen.

»Und ihr Haar, wie Gold. Weißes Gold bis zum Po, bis zu diesem entzückenden, diesem winzigen …« Seine Hände formten ein Gebilde, das bestenfalls eine Orange sein konnte, aber kein Po.

»Das Geheimnis ihrer Haarfarbe heißt vermutlich Wasserstoffperoxid. Ziemlich giftig, das Zeug.«

Paolo seufzte und schüttelte den Kopf, während Daniele die nächsten beiden freien Stühle des Antico Caffè Martini ansteuerte. »Außerdem hat der strenge Zopf etwas Lehrerinnenhaftes.« Er bestellte ein Bier für sich und einen Sprizz für Paolo, der die Frage der Kellnerin nicht gehört hatte, weil er immer noch in anderen Sphären schwebte.

»Und diese Hände! Diese fragilen Finger! So zart, so himmlisch, wie die Musik, die sie den Tasten damit entlockt hat.«

Daniele verdrehte die Augen. »Von wegen zart! Sie hat kräftigere Hände als wir beide zusammen. Erschreckend kräftige Hände. Und so groß, dass sie damit locker deinen Hals umspannen und dich erwürgen könnte.«

»Sie ist ein Engel! Ein Engel!«, rief Paolo so laut, dass die Kellnerin, die die Getränke brachte, es auf sich bezog und ihm zuzwinkerte. »Und wie ein Engel schwebte sie von dannen …«

»Dass sie dich vorher angekeift hat, war allerdings weniger engelhaft, findest du nicht? Eher ein bisschen hexenmäßig.« Wobei sie wirklich fantastisch gespielt hatte, das musste man ihr lassen.

»Ich muss sie wiedersehen!« Die ausladende Geste, mit der Paolo seine Botschaft begleitete, traf Danieles Bierglas. Es kippte, tanzte einen Sekundenbruchteil unschlüssig in der Luft, stürzte dann zu Boden und zerschellte. Das Bier ergoss sich auf Danieles weiße Jeans. Die einzige vorzeigbare Hose, die er besaß und die er extra für diesen Anlass angezogen hatte. Schließlich wurde er nicht jeden Abend zu einem Konzert ins Opernhaus eingeladen.

Paolo war das Unglück entgangen, so sehr musste die blonde Pianistin aus Salzburg ihn verzaubert haben. Er überlegte laut, wie er es anstellen könnte, sie zu einem Date zu überreden.

Daniele entschuldigte sich inzwischen bei der Kellnerin, bestellte ein zweites Bier und ließ sich einen Salzstreuer geben. Salz half bei Rotweinflecken, warum nicht auch bei Bier? »Du willst sie also unbedingt wiedersehen? Das ist ganz einfach. Du fährst nach Salzburg, findest heraus, wo sie wohnt, stellst dich unter ihr Fenster und singst ihr eine unserer schönen canzoni veneziane vor. Mit all deiner Inbrunst.« Paolo konnte zwar nicht singen, verfügte aber über eine laute Stimme. Und Inbrunst besaß er ohnehin im Übermaß.

»Das ist es! Das ist die Idee!«

»Wirklich? Das würdest du tun?« Daniele lachte. Dann biss er sich auf die Lippen. Sollte sein Freund, der Frauen so regelmäßig wechselte wie seine Unterwäsche, sich tatsächlich mit Haut und Haaren verliebt haben? Ernsthaft verliebt?

»Ich werde es umgekehrt machen. Sie soll für mich spielen.« Ehe Daniele fragen konnte, wie er das anstellen wollte, holte Paolo wieder aus und riss diesmal sein eigenes Glas in den Abgrund.

»Nein!«, rief die Kellnerin. »Ist das ein neuer Sport? Oder machen Sie es, damit ich öfter an Ihren Tisch komme?« Sie zwinkerte kokett.

Zum ersten Mal schien Paolo sie wahrzunehmen. Er sprang auf und entschuldigte sich. Sie verdrehte die Augen und holte Besen und Kehrichtschaufel. Paolo nahm ihr beides aus der Hand. Er fegte die Scherben selbst zusammen.

»Wenn Sie mich sehen wollen, könnten Sie das nämlich auch einfacher haben.« Sie drückte ihre Brust heraus und lächelte ihn an.

Ziemlich frivol, fand Daniele. Galant küsste Paolo ihr die Hand. Er murmelte eine weitere Entschuldigung. Sie trug die Scherben weg und servierte einen neuen Sprizz.

»Bitte nichts mehr umwerfen, Signore. Sonst muss ich Überstunden machen und kann nicht pünktlich um Mitternacht hier rausspazieren.«

Paolo versprach hoch und heilig, seine Hände im Zaum zu halten und schenkte ihr ein breites Lächeln.

»Nicht gerade dezent, ihr Hinweis, wann sie Feierabend hat«, murmelte Daniele, als die Kellnerin gegangen war.

»Dezent ist sie nicht, die Kleine, aber hübsch. Durchaus eine Sünde wert!«

»Jetzt hör aber auf! Du pfeifst angeblich aus dem letzten Loch vor lauter Liebeskummer, du faselst dir den Mund fusslig, wirfst zwei Gläser um, schüttest Bier auf meine Hose, schwärmst von deinem Engel, dass jeder Groschenromanautor vor Neid erblassen müsste – und dann …« Er schnaubte. »… dann flirtest du auf die Schnelle mit der Kellnerin? Einfach so?«

Paolo hob die Brauen. »Gönnst du es mir etwa nicht? Nach der fatalen Niederlage, die ich vorhin erlitten habe?«

»Ich kenne niemanden, der so sprunghaft ist wie du.«

»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, mein Freund.«

»Das Sprichwort, das zu dieser Situation passt, heißt wohl eher: besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« Daniele nahm einen großen Schluck Bier. »Dabei habe ich einen Augenblick wirklich gedacht, dass du dich in diese seltsame Pianistin verguckt hast.«

Paolo legte seine Hände auf Danieles Arme. »Verguckt ist das falsche Wort.« Seine Augen verdunkelten sich. »Ich habe mich bis über beide Ohren verliebt.« Schon wurde sein Blick wieder glasig, und er begann erneut mit seiner Schwärmerei. »Clara«, sagte er mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem er unlängst das köstliche Tiramisu von Giovanna gelöffelt hatte. »Schon ihr Name ist reinste Musik. Clara, das Licht in der Dunkelheit, der leuchtende Stern!« Er hob den Kopf, als könnte er sie am Himmel entdecken. Dann sah er Daniele an. »Sie ist die Frau meines Lebens. Ich werde sie heiraten.«

Daniele lachte. Als er die Feierlichkeit im Blick seines Freundes entdeckte, hielt er inne. Es war Paolo tatsächlich ernst. »Du bist ja vollkommen verrückt! Eine Frau, die du nur einmal gesehen hast? Die nicht mal mit dir sprechen wollte?«

»Noch nie war ich mir einer Sache so sicher. Ich habe die zukünftige Contessa Minotti gefunden.«

»Leider weiß sie noch nichts von ihrem Glück. Und deshalb machst du mal eben der Kellnerin schöne Augen. Als Überbrückung quasi. Man gönnt sich ja sonst nichts.« Daniele schüttelte erbost den Kopf. Paolo war ein herzensguter Mensch, aber sein zwanghaftes Herumgeflirte ging ihm auf den Keks.

»Mamma mia, du hoffnungsloser Spaßverderber. Du bist ja nur neidisch, weil du immer noch deiner Sofia nachtrauerst.« Er nippte an seinem Aperitif. »Diesem berechnenden kleinen Luder.«

Daniele spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Ich wüsste nicht, was deine Affären mit Sofia zu tun haben sollten.« Die Stichelei tat weh. Tat weh, weil ein wahrer Kern darin steckte. Vor einem halben Jahr hatte Sofia ihn verlassen. Trotzdem beherrschte sie nach wie vor sein Denken. Und war das etwa ein Wunder? Neun Jahre lang hatten sie einander täglich gesehen, hatten alles miteinander geteilt, Strafen, Belohnungen, Pausenbrote, Hausaufgaben, den ersten Kuss, die ersten ungeschickten Berührungen, den ersten scheuen Sex. Das konnte er nicht einfach wegwischen. Und abschalten konnte er seine Empfindungen auch nicht. Natürlich liebte er Sofia noch immer, wenn das Gefühl auch allmählich vergilbte wie eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie.

»Du bleibst ihr treu, obwohl sie dich betrogen hat! Ach was, geopfert hat sie dich, ihren unrealistischen Karrierewünschen geopfert.«

Was sollte Daniele darauf sagen? Es stimmte schon, im vergangenen Jahr hatte Sofia sich verändert. Sie hatte in einem Werbespot für Haarshampoo mitgewirkt und dieser im Grunde lächerliche Erfolg war ihr zu Kopf gestiegen. Im Herbst hatte sie ihren sicheren Sekretärinnenjob an den Nagel gehängt und war nach Bologna gegangen, auf die Schauspielschule. Mit diesem Kerl! Einem Regisseur, der sie nur ausnutzte. Und obwohl Daniele bitter enttäuscht war, dass sie so leichtfertig mit ihm Schluss gemacht hatte, wartete er insgeheim noch immer darauf, dass sie ihren Fehler einsehen und zu ihm zurückkommen würde.

»Du würdest sie wahrscheinlich mit offenen Armen empfangen, wenn sie angekrochen käme. Stimmt’s?«

»Das verstehst du nicht. Weil dir Beständigkeit und Treue nichts bedeuten.«

»Falsch. Die Beständigkeit unserer Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Und als Freund rate ich dir, dich endlich nach einem anderen Mädel umzusehen.« Paolo boxte ihm spielerisch gegen die Schulter. »Warum triffst eigentlich du dich nicht mit der Kellnerin? Offensichtlich ist sie auf der Suche. Großzügig, wie ich bin, würde ich sie dir natürlich überlassen.«

»Nein, danke, zu gütig von dir. Aber sie ist nicht mein Typ. Zudem hat sie dich angeschmachtet, dich allein.«

»Na gut, dann werde ich mein Schicksal wohl annehmen müssen.« Er fasste sich theatralisch an die Brust. »Aber zuerst musst du mir helfen, einen Brief an den Engel zu schreiben. In ihrer Muttersprache. Bitte, amigo, verschwende ein wenig von deinen Sprachkenntnissen und deiner eleganten Formulierungskunst an mich.«

Daniele musterte seinen Freund und runzelte die Stirn. Paolo war unmöglich. Das ganze Gegenteil von ihm. Vermutlich mochte er ihn gerade deshalb so gern. Und wenn man sein breites Grinsen sah, konnte man ihm sowieso nicht böse sein. »Na gut«, sagte er schließlich. »Ich mach’s. Aber ich prophezeie dir, dass es nicht klappen wird. Dein Engel ist nämlich arrogant und unnahbar. Du wirst wieder einen Korb bekommen.«

Paolos Augen blitzten auf. »Die Frau, die den Verführungskünsten des Conte Minotti dauerhaft widerstehen kann, muss erst geboren werden. Wollen wir wetten, dass ich es schaffe, sie in meinen Palazzo zu locken?«

Daniele nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie. »Du verlierst. Diesmal verlierst du.«

Wenn er sich nicht sehr täuschte, war Clara Prachensky eine tolle Musikerin auf dem Sprung zur großen Karriere. Eine ernsthafte, zielstrebige Person, die in ihre eigene Welt eingesponnen war. Mit den Tussis, die Paolo normalerweise abschleppte und die sich von seinem Reichtum und dem Adelstitel blenden ließen, hatte sie nichts gemeinsam. Und obwohl Daniele seinem Freund jeden Erfolg gönnte, egal, ob es sich um Frauen oder um Geschäfte handelte, dachte er, dass ihm eine Schlappe vielleicht ganz guttun würde. Denn Paolo musste endlich lernen, dass er nicht jedes Spielzeug haben konnte, nur weil er genug Geld besaß, um es zu kaufen.

IT

 

Es war neun Uhr zehn, als Clara in Salzburg aus dem Railjet sprang und ihren Koffer auf den Bahnsteig wuchtete. Dieser verdammte Mistzug hatte über eine Stunde Verspätung angehäuft. Wegen einer Betriebsstörung. Und sie hatte sich so gefreut, dass der Venezia-Vienna-Express, den sie haarscharf versäumt hatte, nicht der letzte Zug von Venedig nach Salzburg gewesen war.

Noch in der Nacht hatte sie mit Dillinger telefoniert. Er war kurz angebunden gewesen, beruhigte sie aber, was den Zustand ihres Vaters betraf, ohne ins Detail zu gehen. Außerdem versprach er, sie vom Bahnhof abzuholen. Clara wollte im Krankenhaus anrufen und sich nach Paps erkundigen, ließ es aber bleiben. Die hatten bestimmt etwas Besseres zu tun, als aufgeregte Angehörige zu beschwichtigen. Und Paps schlief vielleicht gerade und brauchte seine Ruhe. Am frühen Morgen rief sie zu Hause an, in der Hoffnung, dass Amelie rangehen und ihr Näheres berichten würde. Aber entweder war ihre ehemalige Kinderfrau bei Paps im Krankenhaus, oder sie war ausgeflogen, um Besorgungen zu machen. Jedenfalls klingelte es ins Leere und nach dem fünften erfolglosen Versuch hatte Clara aufgegeben.

Sie zog ihren Koffer den Bahnsteig entlang. In der Nähe des Ausgangs entdeckte sie Dillingers runden Kopf, der die übrigen Reisenden überragte und von der obligaten Wollmütze gekrönt war. Er winkte ihr und fuhr sich danach ein paarmal durch den Bart, als müsste er Essensreste beseitigen. Ihre Augen suchten sein Lächeln. Niemand verstand es, strahlender zu lächeln als Dillinger, besonders wenn er ein neues Engagement verbuchen oder einen fetten Gewinn einstreichen konnte. Doch Dillinger lächelte nicht. Seine Mundwinkel samt Schnauzer zeigten um fünfundvierzig Grad abwärts, was ihm das Aussehen eines depressiven Walrosses verlieh.

»Was ist mit Paps? Wie geht es ihm?«, fragte Clara atemlos.

»Hallo, Clärchen! Endlich bist du wieder da. Ich fahre dich gleich nach Hause.«

»Ich würde lieber zuerst ins Krankenhaus fahren.«

Dillinger brummte etwas Unverständliches und drückte sie so fest, dass sie kaum Luft bekam. Als sie sich aus seinen Armen wand, entdeckte sie ein feuchtes Glitzern in seinen Augenwinkeln.

Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Sie hätte schwören mögen, dass ihr Agent ein Herz aus Stein besaß und sich keine Träne je in seine Augenwinkel verirrt hatte.

»Was ist los?«

»Es tut mir so leid, Kindchen. So verdammt leid.« Ungeschickt strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Wer hätte das ahnen können? Sicher, Leo war nicht mehr der Jüngste. Aber dass er so schnell …«

Die Welt um Clara schien plötzlich einzufrieren. Sie nahm nichts mehr wahr, nicht das hektische Gerenne der Reisenden, nicht ihren Lärm. Sie sah nur noch Dillingers rundes Gesicht. Seine großen Augen, die hinter den Brillengläsern verschwammen, den traurigen Walrossschnurrbart.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein.« Das dritte Nein schrie sie, dann drosch sie mit den Fäusten auf die Brust des Walrosses ein. Sie schlug Dillinger mit der ganzen Kraft ihrer Pianistinnenhände, er wehrte sich nicht, sie brüllte ihm ihre Wut ins Gesicht, ihre Enttäuschung und die Angst vor dem, was passiert war und was sie noch nicht annähernd begriff.

Dann drehte sie sich um und rannte los. Sie ließ Dillinger stehen, sie ließ ihren Koffer stehen und rannte in den Salzburger Regen hinaus, in Richtung Innenstadt, am Mirabellgarten vorbei, über den Makart-Steg, durch die Altstadt, bis sie vor Seitenstechen nicht mehr konnte und einige Augenblicke stehen bleiben und in den Schmerz hineinatmen musste. Dass sie dabei klatschnass wurde, bemerkte sie gar nicht. Schon lief sie weiter, langsamer jetzt, aber ohne Unterbrechung.

Erst als sie die Einfahrt der Villa Prachensky erreichte, hielt sie inne. Wie sehr hatte sie sich jedes Mal gefreut, wenn sie heimgekommen war und ihr die blauen Fensterläden durch das Laub der Platane entgegengeblinzelt hatten. Diesmal blinzelten sie nicht, sie starrten steingrau durch die Lücken der Baumkrone und den Vorhang aus Regenschnüren.

Mit klopfendem Herzen steckte Clara den Schlüssel ins Schloss. Doch bevor sie ihn umdrehen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Amelie zog sie ins Haus und schloss sie in die Arme.

Einen winzigen Moment lang hatte Clara gehofft, dass es nicht stimmte. Dass sie Dillinger falsch verstanden hatte und doch noch alles gut werden würde. Aber Amelies Gesichtsausdruck und die Art, wie sie die Arme um Clara geworfen hatte, sprachen Bände.

Tränen flossen, Bäche von Tränen, die nicht mehr aufhören wollten. Amelie weinte mit ihr. Dann machte sie sich los, nahm Clara an der Hand, ging mit ihr ins Bad. Sie half ihr, die nassen Kleider auszuziehen und in die Wanne zu steigen, in die sie warmes Wasser einließ, versetzt mit einem Schuss Lavendelöl. Sie verschwand und kam wenig später mit einem Becher heißer Schokolade zurück. Clara wollte nicht trinken. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was passiert war. Doch Amelie war unerbittlich. Sie hatte schon immer gewusst, wie man verstockte Kindermünder dazu brachte, sich zu öffnen, ein kleines bisschen nur. Als der erste Schluck Claras Kehle passierte, fühlte sie sich tatsächlich etwas besser. Der Weinkrampf löste sich. Schluck für Schluck trank sie den Kakao aus.

Während das warme Lavendelbad seine beruhigende Wirkung entfaltete, kämmte Amelie Claras Haar, wie sie es immer getan hatte, um Clara zu trösten, die ganze Kindheit hindurch.

»Wie ist er gestorben?«

»Friedlich. Ich war bei ihm und habe seine Hand gehalten.« Sanft ließ Amelie die Bürste durch Claras Mähne gleiten. »Er hat nicht gelitten. Sein Herz ist einfach immer schwächer geworden, bis es aufgehört hat zu schlagen. Dein Paps ist friedlich weggedämmert.«