Wen wir lieben,

dem geben wir die Macht,

uns Leiden zu bereiten.

(Türkisches Sprichwort)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2., überarbeitete Auflage

Erstauflage 14.12.2014

Text © 2014, 2015 Kevin Bishop

Covergestaltung © 2015 Simon Löbert, http://sl-medien.com

Weitere Informationen unter

http://www.erwachsenwerden-anderssein.de

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt, www.bod.de

ISBN: 978-3-7392-6764-7

Kapitelübersicht

Alles auf Anfang

Misstrauisch blicke ich mich um und steige völlig übermüdet aus dem Auto. Jetzt erst einmal richtig strecken, mein Rücken tut vom langen Sitzen weh.

Aber was will man schon anders erwarten. Schließlich bin ich gerade mit Mutti und meinem kleinen Bruder im vollgepackten Trabi mit Anhänger die halbe Nacht durch die Gegend gefahren. Eine halbe Weltreise inklusive einer Kehrtwende über vier Spuren Autobahn, nachdem wir fast zwei Stunden in die falsche Richtung gefahren sind.

Aber Mutti wollte mir ja nicht glauben, dass die Orte auf den Straßenschildern nicht mit denen auf Vatis Zettel übereinstimmen. Also an einem Rastplatz rausfahren, in die Karte schauen und dann mit Vollgas einmal kehrt. Gut, dass nicht viele unterwegs waren.

Und das alles nur, um dieses schicke kleine Haus mit Doppelgarage und Garten in einer schmalen Seitenstraße des eigentlich idyllisch anmutenden Örtchens Kotzenhof zu erreichen. Wer zur Hölle gibt einem Ort nur einen solch seltsamen Namen?

Misstrauisch bin ich aber nicht nur deshalb. Das kann ich außerdem verdammt gut. Wenn es einen Wettbewerb in misstrauisch umherschauen gäbe, wäre ich sicherlich unter den Favoriten, wenn nicht sogar Erstplatzierter.

Obwohl unser alter Wohnort mit nur knapp 25 Häusern recht überschaubar ist, wirkt dieses Dorf trotz seiner mehreren Hundert Häuser durch seine verwinkelten Sträßchen sehr verschlafen. Auch das Haus ist kleiner als das, in dem ich bisher aufgewachsen bin. Doch nun haben wir nicht mehr nur eine Erdgeschosswohnung in einem Mehrfamilienhaus, sondern unser eigenes Haus.

Gespannt schaue ich die enge Straße hinunter und seufze kaum hörbar. Wer weiß, was dieser neue Ort für mich bereithält. Unser erster Umzug ist es jedenfalls nicht – aber vielleicht endlich der letzte.

„Kommt steigt aus, wir sind da!“

Vati ist bestimmt noch mit dem Lastwagen und den Möbeln unterwegs und wird sicherlich bald eintreffen. Dann würde es heißen: anpacken und ausladen helfen.

Hoffentlich dann etwas reibungsloser als beim Aufladen vor zwei Tagen. Muttis Ohrfeige kann ich immer noch deutlich in meinem Gesicht spüren.

Noch nie hat sie mich wirklich ernsthaft geschlagen. Doch vorgestern ist ihr die Hand ausgerutscht, weil ich ihr wohl tierisch auf die Nerven gegangen bin. Auch das kann ich ziemlich gut, wenn ich will.

Durch den Schlag bin ich ein ganzes Stück nach hinten getaumelt und mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gestoßen. Die blauen Flecke werde ich garantiert noch einige Tage sehen können.

Jetzt heißt es also, bloß nicht unnötig provozieren. Schließlich lagen im vergangenen Monat die Nerven bei uns allen oft genug blank. Den gesamten Lebensmittelpunkt innerhalb so kurzer Zeit aus der gewohnten Umgebung in ein absolut neues Umfeld zu verlagern ist aber auch nicht wirklich einfach.

Ich muss grinsen, wenn ich an die Gesichter meiner Mitschüler und Lehrer denke, als wir uns vor wenigen Tagen mitten während des üblichen Appells zum Schuljahresbeginn von der Mittelschule in Písek abgemeldet haben. Während sie sich alle schön brav mit Pionierhemd, schwarzen Hosen oder Röcken und Halstuch in Reih und Glied die Füße in den Bauch stehen durften, hatten wir kurze Hosen und T-Shirts an. Die haben vielleicht blöd aus der Wäsche geschaut. Nach dem Appell haben wir uns dann von unseren Lehrern und Mitschülern verabschiedet.

Endlich weg von dort, aber was würde die Zukunft für mich – für uns – bereithalten? Noch vor acht Wochen habe ich dort die siebte Klasse besucht, bevor wir die Sommerferien im fränkischen Lauf verbrachten.

Wir - das sind Vati, der eigentlich Dominik heißt, Stanka, meine Mutti, Tonda, mein jüngerer Bruder und natürlich ich – Marek Daniel. Daniel ist unser Familienname. Manchmal etwas lästig, einen Vornamen als Nachnamen zu haben. Aber auch manchmal lustig.

Der dreiwöchige Urlaub in Mittelfranken war echt schön, auch wenn sich meine Eltern nicht nur entspannen wollten. Sie haben sich – meist ohne uns Kinder – nach einem Haus und Arbeit umgesehen. Zu schlecht sind die Perspektiven in Semice und Umgebung, sagen sie.

Papa arbeitet schon seit gut zwei Jahren in Mittelfranken und kommt dann meist nur an den Wochenenden nach Hause. Mutti ist arbeitslos, seit die LPG zugemacht hat. Bislang hat sie noch nichts Neues.

Wenig später haben wir dann tatsächlich etwas gefunden, was auch meinem Bruder und mir gefallen hat. Vor allem die Aussicht auf ein eigenes Zimmer nach elf gemeinsamen Jahren überzeugte uns relativ schnell.

Naja, eigentlich mag ich ihn ja schon, auch oder obwohl er gerade einmal 18 Monate jünger ist als ich. Und das obwohl wir von Grund auf verschieden sind. Ich habe braune Haare und braune Augen, er ist blond und blauäugig. Während ich eher introvertiert und oft schüchtern bin, nimmt mein Bruder jedes Abenteuer mit, das die Umgebung für ihn bereithält. Wirklich jedes!

Nicht selten diskutierten wir – wenn auch meist nicht so ganz ernst gemeint - darüber, ob wir überhaupt miteinander verwandt sein können.

Vielleicht habe ich ihn ja auch deshalb mit einer Ohrfeige begrüßt, als wir Mutti und Tonda nach seiner Geburt aus dem Krankenhaus abholten. Mittlerweile bin ich meist der Unterlegene, wenn es um Schlägereien geht, sofern es überhaupt dazu kommt. Ich drücke mich meist erfolgreich um eine Prügelei mit ihm oder anderen.

Oft sitze ich nämlich über meinen Büchern, die ich mir für kleines Geld gekauft oder in der Bibliothek ausgeliehen habe. Egal ob Sachbücher, Science Fiction oder Fantasy, ich verschlinge alles, was zu haben ist. In ruhigen Momenten greife ich aber auch gern selbst zum Füller und schreibe Gedichte oder kleinere Geschichten. Ich kann dann immer prima abschalten und vergessen.

Vor allem im Deutschunterricht bei den Aufsätzen bin ich – sehr zum Unmut meiner Lehrerin – oft nicht zu bremsen. Während andere mit Mühe und Not die geforderten 300 Wörter zusammenschreiben, schreib ich meist das Drei- oder gar Vierfache der vorgegebenen Länge. Natürlich tue ich das nicht, um meine Lehrerin zu ärgern, sondern weil es einfach aus mir herausfließt. Ich bin allerdings auch meist einer der Letzten, die ihre Aufsätze abgeben. Vor allem, wenn wir sie zu Hause schreiben müssen. Termindruck mag ich. Macht irgendwie kreativer.

Mein Bruder Tonda hingegen ist ein Wildfang. Sportlich und scheinbar furchtlos klettert er auf hohe Bäume, streunt durch die nahen Wälder, baut Hütten und prügelt sich mit anderen – vor allem größeren - Jungen. Nicht selten kommt er dann mit kleineren Verletzungen nach Hause. Und ich muss ihm dann immer den Schulranzen hinterhertragen, weil er gerade wieder einem Kontrahenten hinterher sprintet. Erwischt er ihn, wird er meist mit zahlreichen Schlägen eingedeckt.

An unserer alten Schule besaß er zwei Hausaufgabenhefte – eines für die Hausaufgaben, das andere für die Einträge der Lehrer. Letzteres war voller.

Auch er freut sich nun über sein eigenes Zimmer. Schließlich haben wir uns lange genug einen kleinen Raum geteilt. Und wir bekommen sogar neue Möbel!

Ich sitze zwar gern drin, bin aber ebenfalls viel draußen unterwegs. Fahre dann allerdings oftmals allein mit meinem roten Rad umher. Meist lege ich mich dann auf eine Wiese, in die Weizenfelder am Ortsrand oder sitze in einer alten knorrigen Weide an der Panzerstraße, die an unserem Heimatort vorbeiführt, schau in den Himmel und träume vor mich hin. Dabei kann ich hervorragend in meine eigene Gedankenwelt abtauchen und alles andere um mich herum vergessen. Nicht selten bin ich deshalb über mehrere Stunden nicht aufzufinden. Zum Essen bin ich aber dennoch immer pünktlich.

Ich baue aber auch mit den anderen Kindern im Ort an gemeinsamen Hütten – sogar mit Tonda und dessen Freunden. Die Auswahl bei nur knapp 30 Familien ist allerdings auch nicht sonderlich groß. In den meist stundenlangen Spielen verlieren wir uns gemeinsam in unserer Fantasie. Oft gelingt es mir, die anderen mit meinen Geschichten mitzureißen oder wir spielen Filme nach.

Dann wird aus der Hütte aus Ästen und Zweigen schon mal ein doppelgeschossiges Wohnhaus, die Freunde sind Kaufleute, Abenteurer, Piraten – oder was auch immer gerade angesagt ist. Bei den Mädchen bin ich – vermutlich wegen meiner ruhigen Art – ziemlich beliebt. In den ersten vier Klassen hatte ich eigentlich immer eine Freundin oder manchmal sogar mehrere.

In meiner alten Klasse gehörte ich meist zu den besten Schülern, was allerdings nicht bei jedem auf Gegenliebe und Anerkennung stieß. Denn zum einen tue ich dafür kaum etwas und zum anderen vermische ich zu gern meine blühende Fantasie mit der Realität.

Wo piept es denn?

Nach einem Unfall im Sportunterricht vor knapp dreieinhalb Jahren konnte ich für ein paar Tage auf meinem rechten Ohr nichts hören. Ich war im Sportunterricht vom Barren gestürzt und ziemlich unglücklich gelandet. Ein paar Zentimeter weiter rechts und ich wäre nicht mehr auf der Matte gelandet, sondern auf dem blanken Boden.

Keine wirklich schöne Vorstellung!

Und plötzlich wurde ich von meinen Eltern mehr umsorgt. Sie lasen mir fast jeden Wunsch von den Augen ab. Auf einmal stand ich im Mittelpunkt - ich! Das muss man sich mal vorstellen! Ich, der sich selbst als das weniger geliebte Kind seiner Eltern fühlte, weil ich ihnen in wirklich absolut gar nichts nachschlug.

Ich war nämlich keine Sportskanone und auch nicht so handwerklich begabt wie mein jüngerer Bruder oder Vati. Was Vati hingegen anpackte, wurde zwangsläufig zum Erfolg. Auch das Spinnrad für das Theaterstück meiner Klasse in der fünften. Wir spielten damals Rumpelstilzchen vor unseren Eltern und auch auf dem Pausenhof vor der gesamten Schule. Als ich zuvor noch ein Stück auf meinem Tenorhorn vorspielen musste, habe ich mich ständig verspielt. Vor der ganzen Schule.

Oh, das war vielleicht peinlich.

Auf Bäume kletterte ich zwar auch ab und zu, aber bei manchen übermannte mich dann die Angst und ich wusste im ersten Moment nicht, wie ich wieder hinunter kommen sollte. Also blieb ich lieber am Boden. Im Gegensatz zu Tonda natürlich. Auch Mutti war in ihrer Jugendzeit eine erfolgreiche Sportlerin gewesen und arbeitete später als Leiterin einer Großküche.

Und so war doch klar, dass ich nach dem unfreiwilligen Absturz die neu gewonnene Aufmerksamkeit jeden dieser Momente genoss und nicht so schnell wieder aufgeben wollte. Obwohl ich bereits nach einigen Tagen wieder richtig hören konnte, setzte ich die Charade fort. Zu sehr hatte ich mich nach der Zuneigung gesehnt, die ich vermeintlich weniger bekam als Tonda.

Vati und Mutti stritten das natürlich immer ab, tun sie auch jetzt noch. Aber welche Eltern würden schon zugeben, dass sie eines ihrer Kinder lieber haben. Ich schätze mal, das käme schon etwas schräg.

Auch in der Schule spielte ich weiterhin den einseitig Tauben. Schnell begriffen die anderen Kinder, dass ich sie nicht hören konnte, wenn sie auf meiner rechten Seite über mich sprachen. Das nutzte mir immer dann, wenn meine Mitschüler über mich lästerten, was leider nicht selten vorkam. Bis dahin dachte ich eigentlich, ich sei beliebt. Nun hörte ich jedes Wort und wusste so, wie sie wirklich über mich dachten. Allerdings traute ich mich nicht, das Gehörte gegen die Mitschüler zu verwenden, da ich sonst auffliegen würde.

Schon oft hatten mich meine Klassenkameraden bloßgestellt oder bis aufs Blut gereizt. In der zweiten Klasse zum Beispiel: Damals hatte mir ein anderer Junge zwischen die Beine getreten und es tat höllisch weh. Als mich die Lehrerin vor allen Mitschülern fragte, warum ich weine, antwortete ich, dass er mir in meinen Pullermann – so nannten „ihn“ meine Eltern - getreten habe. Das gab ein riesiges Gelächter! Mehr als zwei Monate durfte ich mich danach so nennen lassen.

Deshalb zog ich mich meist zurück und fraß lieber alles in mich hinein. Jetzt aber nutzte ich das Gehörte hier und da für kleinere, unauffällige Sticheleien hinter dem Rücken der anderen aus. Wenn die gewusst hätten, dass ich sie hören kann, das hätte wohl ein schönes Theater gegeben.

Alle zwei Monate fuhren wir zur Untersuchung nach Strakonice. Weil der Ohrenarzt dort auch nach Monaten die Ursache nicht finden konnte, schickte er mich in die Universitätsklinik nach Pilsen. Dort gelang es schließlich der Oberärztin, mich hinters Licht zu führen. Der Ohrenarzt hatte bisher immer angekündigt, auf welches Ohr er die Töne schicken würde und ich konnte mich somit prima drauf einstellen, gar nichts zu hören. Kamen die Töne auf das rechte Ohr, hörte ich eben einfach nichts.

Kinderleicht war das!

Die Klinikärztin jedoch sendete die Töne abwechselnd erst auf jeweils ein Ohr, dann auf beide gleichzeitig. Das hatte mich dann echt verwirrt. Sie wurde schließlich dann doch skeptisch, weil ich einige Male signalisierte, dass ich gehört hätte, obwohl ich nichts hätte hören dürfen.

Irgendwann gelang es mir nicht mehr eindeutig herauszufinden, auf welchem Ohr ich denn nun tatsächlich gehört hatte. Als ich die schalldichte Kabine verließ, wusste ich sofort, dass ich ertappt worden war. Also plante ich zu fliehen – klappte ja in Abenteuerfilmen auch meistens. Gut, aus dem Fenster springen kam im vierten Stock nicht wirklich in Frage – also ab durch die Tür. Aber dort baute sich bereits eine bullige Krankenschwester auf und versperrte mir somit den Weg in die Freiheit.

Da war einfach kein Durchkommen!

Die Ärztin war natürlich nicht sonderlich begeistert, hielt mir einen ewig langen Vortrag über Vertrauen, Betrug und Missbrauch. Auch in den Gesichtern meiner Eltern konnte ich die Enttäuschung deutlich sehen. Schweigend fuhren wir wieder nach Hause. Ich fühlte mich so mies. Wusste nur nicht, ob wegen der Lüge oder weil ich erwischt worden war.

Das Verhältnis zu meinen Eltern – vor allem zu Vati – litt dadurch enorm, zumindest in meiner Wahrnehmung. Zugegeben das Verhältnis zu Vati war noch nie etwas, was man unbedingt als liebe- und verständnisvoll bezeichnen konnte. Jetzt hatte ich aber erst recht das Gefühl, dass Vati Tonda lieber hatte, als mich.

Aber daran war ich ja nicht ganz unbeteiligt und es war ja auch überhaupt nicht wahr.

In der Schule setzte ich die Charade noch einige Wochen fort, mein Gehör wurde dabei von Woche zu Woche besser – dank der tollen Behandlung in der Uniklinik. Naja, auf irgendeine Weise musste ich ja erklären, warum ich wieder hörte und nicht mehr zum Ohrenarzt musste.

Dem musste ich es auch noch erklären. Irgendwie tat er mir ja auch ein bisschen leid, dass ich ihn so lange erfolgreich angeschwindelt hatte. Aber eigentlich hätte er es ja auch merken müssen. Lange genug „behandelt“ hat er mich ja schließlich. Er hat eben nur nie die Ursache für die einseitige Taubheit gefunden.

Schnitzel schwimmen nicht

Knapp einen Monat nach meinem zwölften Geburtstag erwachte ich an einem Samstagmorgen mit starken Bauchschmerzen. Jede Bewegung schmerzte und so lag ich einfach nur zusammengekrümmt in meinem Bett und weigerte mich aufzustehen.

„Kommt frühstücken“, rief Mutti aus der Küche.

Doch ich hatte keinen Appetit – was an sich schon sehr ungewöhnlich war. Selbst der Besuch der Toilette hatte keine spürbare Besserung gebracht. Statt wie Tonda nach draußen zu gehen und zu spielen, lag ich auch gegen Mittag noch immer auf meinem Bett und klagte über Schmerzen im Unterleib.

Vati glaubte mir natürlich nicht.

„Du markierst doch nur – steh endlich auf und geh raus. Los, raus mit dir!“

Unter Schmerzen zog ich mich also um, aber rausgehen wollte ich nicht.

„Mutti, darf ich bitte drinnen bleiben? Mein Bauch tut so furchtbar weh!“

Mutti nickte nur stumm. Also vergrub ich mich wieder in meinem Zimmer und begann zu lesen. Vielleicht lenkte mich das ja etwas ab. Aber selbst sitzen tat weh, weshalb ich das Buch wieder zur Seite legte. Als ich auch das Mittagessen ausfallen lies – und das war für mich absolut ungewöhnlich - machte sich auch Mutti endlich ernsthafte Sorgen. Vati natürlich nicht.

Zwei Stunden später waren die Schmerzen noch immer nicht abgeflacht, also setzte sie mich ins Auto und fuhr zum Krankenhaus. Dort angekommen, mussten wir erstmal noch eine gefühlte Ewigkeit warten, bis der Arzt meinen Bauch abtastete. Vor lauter Nervosität waren die Schmerzen verschwunden. Ich wäre fast ausgeflippt.

Scheiße, waren seine Hände kalt – und rau!

„Ihr Sohn muss hier bleiben“, sagte er an Mutti gerichtet, „er muss noch heute Abend operiert werden.“

„Heute Abend?“

„Wir haben hier eine akute Blinddarmentzündung.“

Ich saß den Tränen nahe daneben, als sie über Notfall, Einlieferung, mindestens eine Woche Aufenthalt und solche Dinge sprachen. Aufschneiden?! Was soll das denn? Geht das nicht anders? Bauchschmerzen verschwindet!

Ich wollte mich nicht aufschnippeln lassen.

Denn das bedeutete auch wieder nähen und ich hasse Nadeln, vor allem, wenn sie in mich hineinstechen. Wie sechs Monate zuvor, als ich mir beim Schnitzen in den linken Zeigefinger schnitt und eine gehörige Sauerei im Treppenhaus veranstaltete. Mutti brachte mich damals zum Kinderarzt, der die Wunde mit etlichen Stichen nähte. Ich hatte dabei geplärrt wie ein kleines Kind.

Bin eben doch manchmal ein Sensibelchen.

„Das ist doch alles nicht so schlimm. Vor kurzem hatte wir einen Jungen hier, dessen Vorhaut wir nähen mussten, weil er sie sich im Reißverschluss eingeklemmt hatte“, versuchte mich die Schwester damals zu beruhigen.

Wirklich sehr beruhigend!

Und was bitte interessierte mich die Vorhaut eines anderen?! Zugegeben eine tolle Vorstellung war es echt nicht. Und mein Finger wurde gerade zum Nadelkissen! Jetzt sollte es mein Bauch werden.

Warum nur immer ich?

Während also Mutti nach Hause fuhr, um eilig ein paar Sachen zusammen zu packen, bezog ich mein Zimmer auf der Kinderstation. Direkt neben dem Fernsehzimmer – na toll! Noch am selben Abend wurde ich dann tatsächlich wie vom Arzt angekündigt operiert – wie sich herausstellen sollte, wohl gerade noch rechtzeitig, bevor es zu einem Durchbruch gekommen wäre. Der hätte dann unter Umständen zu Infektionen und wer weiß alles geführt.

Dass ich danach eine coole Narbe hätte, auf die jedes Mädel abfahren würde, war mir dabei völlig egal. Schließlich hatte ich schon drei andere Narben, die mich verunstalteten. Fand ich zumindest.

Ja gut, die über meinem rechten Auge sieht schon irgendwie cool und verwegen aus. Als hätte ich mich geprügelt. Dabei bin ich als dreijähriger Steppke im Kindergarten nur rücklings von der Bank gerutscht und – wie konnte es auch anders sein – mit dem Gesicht voran auf ihr aufgeschlagen. Schöne Sauerei sei das gewesen. Ich hätte gebrüllt wie am Spieß.

Bin eben doch nicht wie Tonda.

Die anderen zwei Narben verunstalteten meinen Bauch. Im Alter von neun Monaten und eineinhalb Jahren hatte ich mir auf jeder Seite einen Leistenbruch zugezogen, von dem nun eine Furche durch die sonst so glatte Haut meines Unterleibs erzählte.

Die Operation lief ziemlich gut und schon nach knapp drei Stunden lag ich wieder in meinem Zimmer. Ob die Ärzte selbst schon mal versucht haben, beim Einleiten einer Vollnarkose von zehn rückwärts zu zählen, während sie mit Flutlichtstrahlern ins Gesicht blenden und eine Maske auf das Gesicht pressen?

Ich hatte keine Vorstellung, wie lang zehn Tage im Krankenhaus dauern würden. In den ersten zwei Tagen nach der Operation gab es nichts zu essen. Ich hing ja eh an diesem komischen Tropfding, in dem angeblich ein Schnitzel schwimmen sollte. Obwohl ich mich echt anstrengte, konnte ich nur eine klare Flüssigkeit erkennen. Aber Schnitzel können ja schließlich auch nicht schwimmen. Olle Lügenbande! Danach gab es Grießbrei und Suppe – wenigstens etwas. Ich liebte Grießbrei. Als ich am dritten Tag noch immer nur im Bett rumlag, bekam ich einen Anpfiff der Krankenschwester.

„Raus aus dem Bett, du musst dich bewegen.“

Also quälte ich mich aus dem Bett und setzte mich an einen Minitisch auf einen Babystuhl – so wie die in einem Kindergarten. Hatte die nicht gemerkt, dass ich schon zwölf und schwer verwundet bin? Dass ich davon Schmerzen hatte, interessierte sie ebenfalls nicht.

Im Nebenzimmer liefen damals viele Filme mit Bud Spencer und Terence Hill. Ich liebe diese Filme und kenne fast alle auswendig. Vom Bett aus konnte ich sie nur hören, aber nicht sehen. Das Lachen tat mir trotzdem weh. Und ich musste dabei ziemlich oft lachen!

Erst ab dem sechsten Tag durfte ich endlich wieder feste Nahrung zu mir nehmen. Sie verlegten mich in ein anderes Zimmer, in dem noch acht weitere Jungen schliefen. Wie üblich tat ich mich schwer, Anschluss an die anderen Kinder auf der Station zu bekommen.

Die größte Anstrengung bestand jedoch darin, mir bei der gemeinsamen Morgentoilette nicht anmerken zu lassen, dass ich auf die Körper der anderen Jungen schielte. Man muss ja schließlich vergleichen, was die anderen da so zu bieten haben. Machen ja alle – oder zumindest viele – oder doch keiner – oder nur ich?

Meist lag ich deshalb allein im Zimmer und las. Meine Eltern kamen nur selten zu Besuch, mussten sie doch jeden Tag arbeiten. Vati kam gar nicht. Er müsste dann zugeben, dass er zu Unrecht an mir gezweifelt hatte.

Am vorletzten Tag wurden die Fäden gezogen. Ich glaube ja manchmal, dass unter den Ärzten und Schwestern auch welche sind, die anderen nur gern wehtun. Das Herausziehen der Fäden dauerte gefühlt Stunden und bereitete unbeschreibliche Schmerzen.

Nach meinem Krankenhausaufenthalt zog ich mich noch mehr zurück, vergrub mich in meinen Büchern und vertraute mich kaum noch jemandem an. Einen Vorteil hatte die Operation – ich war vorübergehend vom Sportunterricht befreit. Dumm nur, dass ausgerechnet in der Zeit viele Spiele auf dem Programm standen, die ich nun nicht mitmachen durfte.

Es dauerte mehrere Monate, bis die Narbe komplett verheilt war. Immer wieder brach sie auf und eiterte sogar. Der Kinderarzt überlegte sogar, mich noch einmal ins Krankenhaus zurück zu schicken. Zum Glück hörte es dann irgendwann auf. Im Sommer mit einem Verband auf dem Bauch herumzulaufen, wäre echt nicht schön gewesen.

Auch wenn ich mit Baden und Strand im Moment nicht mehr ganz so viel am Hut hatte.

Dies war nicht zuletzt den Veränderungen geschuldet, die ich an mir selbst wahrnahm. Nicht nur mein Körper veränderte sich. Alles wurde irgendwie größer und – igitt – haariger, sondern auch meine Gefühle und die kamen leider immer in den falschen Momenten.

Und sie wurden zunehmend verwirrender!

Nächtliche (Alb-)Träume

Während andere Jungen in meinem Alter nur noch über Mädchen reden oder sogar schon eine Freundin haben, kann ich den Mädchen einfach nichts abgewinnen. Ich habe zwar viele Freundinnen und komme mit Mädchen im Allgemeinen sehr gut aus. Aber Gefühle für sie wollen sich bei mir irgendwie nicht entwickeln.

Anders ist es bei den Jungen. Wie oft ertappe ich mich dabei, dass ich einem anderen Jungen nachsehe oder nachts von ihnen träume. Bei manchen Jungen verfalle ich sogar regelrecht in Tagträume, während ich mir vorstelle, wie sie sich wohl in ihren engen Jeans oder ohne T-Shirt anfühlen würden.

Hoffentlich beobachtet mich keiner, wenn ich ihnen im Sportunterricht, Freibad, Kino oder auch auf der Straße hinterher starre!

Denn das darf natürlich keiner wissen – nicht einmal meine Familie – vor allem nicht die! Vati hat mich doch sowieso schon nicht lieb.

Immerhin sabbere ich nicht.

Nachts liege ich meist in meinem Bett und träume von anderen Jungen, die ich kenne oder die ich zufällig auf der Straße gesehen habe. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre Gesichter und Körper deutlich vor mir sehen. Dann träume ich davon, dass wir befreundet sind und etwas miteinander unternehmen. Wir fahren gemeinsam umher, liegen auf der Wiese und schauen in den Himmel, wir lachen zusammen und erzählen uns Geschichten. Ich male mir aus, wie sie wohl unbekleidet aussehen könnten und wie es wäre, wenn sie – wenigstens nur einer von ihnen – ähnlich empfinden würden wie ich.

Das ist also mein kleines Geheimnis und oft schäme ich mich dafür, anders zu sein. Nicht selten schlafe ich deshalb leise weinend ein. Oft grüble ich darüber nach. Bin ich nicht so schon genug „anders“?! Bestimmt bin ich der einzige, der solche perversen Gedanken hat.

Warum fühlen sich meine Gefühle so falsch und gleichzeitig so richtig an? Warum sitze ich lieber über meinen Büchern, warum habe ich so eine sprudelnde Fantasie, warum bin ich in Musik sehr gut und in Sport eine Niete? Warum prügele ich mich nicht wie andere Jungen? Und warum träume ich nicht von Mädchen?!

Rote Grütze mit Vanillesoße

Nur einmal hatte ich mich ernsthaft geprügelt – auf einer Klassenfahrt ins Elbsandsteingebirge. Niemand hatte damit gerechnet, nicht einmal ich selbst. Radek, der andere Junge, hatte mich schon seit Tagen geärgert und wie üblich hatte ich damals auch alles in mich hineingefressen. Eigentlich müsste ich es ja von ihm gewohnt sein.

Nachts erzählten sich die anderen Jungen im Sechsbettzimmer Horrorgeschichten und zogen mir ständig die Bettdecke weg. Dabei wollte ich doch nur endlich schlafen. Ich bin nämlich immer mies gelaunt, wenn ich nicht ausreichend geschlafen habe. Sie machten sich noch mehr über mich lustig, weil ich mich darüber aufregte.

Allen voran Radek.

Schon seit der zweiten Klasse schien dieser es auf mich abgesehen zu haben. Damals hatte ich mich – die Geschichte mit dem Pullermann - vor der ganzen Klasse blamiert und gleichzeitig Radek einigen Ärger beschwert. Selbst jetzt war es mir noch peinlich!

Nach einer kilometerlangen Wanderung am nächsten Tag eskalierte die ganze Situation dann schließlich. Gemeinsam mit unseren Lehrern hatten wir knapp 20 Kilometer zurückgelegt. Wir waren dabei auch zu einem kleinen See gekommen, der uns als willkommene Abkühlung diente. Als ich meine Schuhe auszog, erschrak meine Klassenlehrerin: Meine Zehen bluteten.

Ich hatte nur sogenannte Essensgeldturnschuhe an, die mittlerweile eine Nummer zu klein waren. Sie hießen deshalb Essensgeldschuhe, weil sie genauso viel kosteten wie zwei Wochen Schulessen. Meine Lehrerin sah keine andere Wahl, als meine Schuhe an der Spitze aufzuschneiden. So hatten meine Zehen wieder Freiraum und ich konnte die Wanderung fortsetzen.

Sie kaufte mir später neue Schuhe.

Die Herberge lag in einem schönen Waldstück, weshalb wir Kinder jede freie Minute draußen verbrachten. Und so tobten wir auch trotz der langen Wanderung in kleinen Gruppen durch das Geäst und spielten lautstark Räuber und Gendarm.

Radek zog mich immer wieder auf.

„Du rennst ja wie ein Mädchen!“

„Schaut mal, der kleine Marek putzt sich schon wieder die Hosen ab. Darfst wohl nicht dreckig werden?“

Etliche Male schubste er mich, so dass ich kopfüber im nahen Gebüsch oder auf dem Boden landete.

Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus und stürmte laut schreiend auf Radek zu.

„Halt … endlich … dein fieses Maul, du … dummes langes Arschloch!“

Lang war er zwar – immerhin fast zwei Köpfe größer als ich - was Böseres fiel mir leider nicht ein. Erst einige Stunden später hatte ich tolle Beleidigungen parat.

Wie leider viel zu oft!

Mehrere Minuten schlug ich weinend und brüllend auf den völlig verdutzten Jungen ein. Es schien, als würde sich meine ganze angestaute Wut der letzten Schuljahre auf einmal an ihm entladen.

Irgendwie waren die umherstehenden Jungen und Mädchen meiner Klasse von meinem Ausbruch noch überraschter als ich, denn sie konnten mich nur mit großer Mühe von Radek herunterziehen.

Unsere Klassenlehrerin fand die Prügelei allerdings voll daneben. Konflikte müssten anders gelöst werden. Ein friedliebender Pionier benähme sich nicht so widerlich. Möchte nicht wissen, wie sie meine „perversen“ Träume von halbnackten Jungen gefunden hätte.