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Christa Schwägerl

Allein

Tagebuch eines vernachlässigten Kindes

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Schwägerl, Christa: Allein. Tagebuch eines vernachlässigten Kindes, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

Originalausgabe

PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-113-6

ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-114-3

Print: ISBN: 978-3-86282-112-9

Lektorat: Franziska Scheerans, Sophia Schmidt, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv: © pterwort - Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Prolog

Lena

Intermezzo

Hannah

Epilog

Gedanken zum Buch

Die Autorin

Prolog

Mit zitternden Fingern war es schwierig, das Stäbchen in den Urinstrahl zu halten. Lena Maria packte den Schwangerschaftstest mit Daumen und Zeigefinger beider Hände und legte ihn auf dem Waschbecken ab. Sie starrte ihn an, als hielte sie ihn für ein gefährliches Reptil. Drei Minuten sollte sie warten und sie hatte sich geschworen, vor Ablauf der Frist nicht auf das kleine, runde Kontrollfenster zu sehen. Doch nun starrte sie bewegungslos bis in die Pupillen auf den Teststick.

Seit drei Tagen litt sie beim Gedanken an diesen Moment an Atemnot. Im Grunde war es ein schlechter Zeitpunkt, aber keine Katastrophe. Mama und Paps würden ihr helfen. Natürlich wären sie nicht begeistert. Aber sie würden ihr helfen, würden für sie da sein, wie sie es immer gewesen sind.

Immer.

Oder nicht?

Etwas rumorte in ihrem Gehirn, entwand sich immer wieder ihrem Zugriff. Ein bitterer Geschmack auf der Zunge ließ sie schlucken. Sie konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, bei der ihre Eltern eines ihrer fünf Kinder im Stich gelassen hätten.

Nie hatten sie den leisesten Unterschied zwischen ihren leiblichen Kindern und Lena Maria gemacht. Wieso hatte sie plötzlich das Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können, außer auf Kalle und sich selbst? Sie tastete nach dem abgegriffenen Stoffhasen, der über dem Waschbecken auf der Ablage saß und sie mit trüben Augen ansah, als wollte er ihr etwas sagen, sie an etwas erinnern.

Lena schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Was für irre Gedanken schwirrten durch ihr Gehirn? Ihre Hand strich über Kalles Hasenkopf. Aus einem unerfindlichen Grund hatte sie ihn nach dem Ausbleiben ihrer Regel aus dem Schrank gekramt und schleppte ihn seitdem mit sich, als wäre er der einzige, dem sie sich anvertrauen könnte.

Lena verglich die beiden Kontrollfenster und konnte keinen Unterschied feststellen. Falscher Alarm. Wahrscheinlich machte sie sich völlig umsonst verrückt. Sie setzte Kalle zurück an seinen Platz. Sie würde ihr Studium beenden, einen wunderbaren Mann kennenlernen und irgendwann Kinder bekommen. Lena Maria musterte sich im Spiegel. Nein, dachte sie plötzlich mit Bestimmtheit. Ich werde keine Kinder in die Welt setzen. Niemals. Noch nie hatte sie diesen Gedanken so konsequent zu Ende gedacht.

Wieder betrachtete sie den Teststab. Ein Kreis schimmerte dunkler als der andere. Lena Marias Herz klopfte, ihre Hände begannen erneut zu zittern und sie schalt sich einen Narren.

Hannah wird mir helfen. Ich kann das durchziehen. Mama wird mir beistehen und Oma wird den kleinen Wurm nicht mehr hergeben, sobald sie ihn erblickt hat.

Der Kreis färbte sich hellblau. Tränen liefen über Lena Marias Wangen und in dem Moment wusste sie, etwas Schreckliches wird passieren.

Oder war bereits passiert?

Das Kind wird sterben.

Welches Kind?

In ihrem Kopf drehte ein verrückt gewordenes Karussell immer wieder denselben Gedanken in rasender Geschwindigkeit, sodass sie ihn nicht richtig fassen konnte.

Es wird Schaden erleiden, dieses Kind, das Lena Maria mehr liebt, als irgendetwas sonst auf der Welt.

Liebte?

Lieben wird?

Weil Lena kein braves Mädchen ist. Es ist ihre Schuld. Ihre verdammte Schuld.

Der Kreis färbte sich tiefblau. Lena Maria erbrach sich in die Toilettenschüssel. Sie ging in die Knie und umklammerte das kalte Porzellan.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Ein Klopfen an die verschlossene Badezimmertür begleitete die besorgte Frage.

Vor Lenas geistigem Auge stiegen Bilder auf, die sie lange verdrängt hatte, angeführt von einem Kaleidoskop an Gefühlen. Einige warme, angenehme Empfindungen, überlagert von einem Wust düsterer, beängstigender Emotionen. Die Szenen in ihrem Kopf wurden immer bedrohlicher.

„Lena?!“, drängte die Stimme vor der Tür.

Nur mit Mühe löste Lena sich von dem Drama, das sich in ihren Gedanken abspielte. Nachdenklich betrachtete sie einen Moment das weiße Türblatt. Dann quälte sie sich auf die Beine, versuchte das leichte Flirren vor den Augen mit einer laschen Handbewegung wegzuwischen und streckte die Hand nach der Klinke aus.

„Lena, bist du da? Mach die Tür auf!“

Dieser Satz zerriss den Vorhang vor den letzten Szenen ihres Gedankentheaters. Mit rasenden Fingern drehte sie den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Sie starrte in das fürsorgliche Gesicht ihrer Schwester Hannah.

„Du hast es die ganze Zeit gewusst, oder?“ Lena schlug mit der flachen Hand gegen Hannahs Brust. „Warum habt ihr nie mit mir darüber gesprochen?“

Lena

Die Sonne scheint. Ich kann nicht mehr schlafen. Meine Beine hüpfen auf und ab und ich sehe den kleinen Staubteilchen zu, wie sie durch die Luft fliegen. Kalle liegt neben mir. Er möchte auch aufstehen. Mama mag das aber nicht. Sie sagt, ich soll warten, bis sie mich weckt.

Kalle meint, vielleicht ist Mama auch schon wieder weg. Ich erzähle ihm, dass Mama es mir sagt, wenn sie geht. Ich bin doch schon groß. Ich muss aufpassen, wenn sie nicht da ist. Kalle mag Mama nicht.

Einmal habe ich zu Mama gesagt: „Kalle kann dich nicht leiden!“

Da hat sie ihm einen Arm ausgerissen.

„Ich kann deinen Kalle auch nicht leiden“, hat sie gesagt, ganz böse war sie.

Seitdem sage ich nichts mehr, passe auf, dass sie ihn nicht sieht. Ich brauche Kalle doch. Wen soll ich denn fragen, wenn er nicht mehr da ist?

Früher habe ich manchmal Frau Mainka gefragt, aber das soll ich nicht mehr. Ich soll überhaupt nicht rausgehen, wenn Mama nicht da ist, sonst kommen böse Menschen in die Wohnung. Ich soll warten, bis Mama wiederkommt. Aber irgendjemanden muss ich fragen, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Natürlich ist mein Bruder Maxi da, aber er kann noch nicht richtig sprechen. Maxi ist noch klein. Ich bin groß.

Vielleicht ist Mama wirklich nicht mehr da. Ich werde nur mal kurz nachsehen. Kalle meint auch, ich solle das tun. Aber ihn werde ich hier lassen. Wenn Mama wütend wird, tut sie ihm vielleicht wieder etwas an. Ich steige aus dem Bett und verstecke Kalle unter der schmutzigen Wäsche. Da schaut Mama bestimmt nicht nach.

Ich schleiche an Maxis Bett vorbei. Er schläft noch, obwohl ihm die Sonne auf die Nase scheint. Im Flur steige ich über Mamas Rucksack. Die Tür zu ihrem Zimmer ist nicht ganz zu und ich drücke mein Gesicht durch den Spalt. Sie ist noch da. Mein Herz macht einen Sprung. Sie ist wirklich noch da. Das große, rote Simpsons-Shirt ist über den Po hochgerutscht und sie liegt auf dem Bauch quer über das Bett. Meine Mama.

Ich schiebe den Kopf noch ein klein wenig weiter nach vorn. Die Tür gibt nach und quietscht. Oje. Mama bewegt sich. Ich drehe mich um und will zurück in mein Zimmer flüchten. Da höre ich ihre heisere Stimme: „Lena Maria?“

Ich bleibe stehen.

„Lenchen, komm zu Mami!“

Ich bewege mich nicht. Gott sei Dank habe ich Kalle versteckt.

„Na komm, meine Süße.“

Vielleicht ist sie gut aufgelegt. Gestern, als sie nach Hause kam, war sie furchtbar müde. Sie legte sich sofort schlafen und meinte nur, ich solle Maxi ins Bett stecken. Morgen würde sie etwas zu essen kaufen. Bis dahin möchte sie nichts mehr von uns hören.

Langsam drehe ich mich um und gehe auf ihr Zimmer zu. Sie streckt sich und gähnt. Als ich in der Tür stehe, klopft sie auf ihre Bettdecke und lächelt. Ich nehme Anlauf, springe auf das Bett und kuschle mich an sie. Sie drückt mich ganz fest und zieht die Decke über uns. Es ist dunkel dort unten und sie fängt an mich zu kitzeln. Ich muss lachen und versuche sie auch zu kitzeln. Aber es gelingt mir nicht, weil ich meine Arme nicht ausstrecken kann. Ich lache, bis mir der Bauch weh tut. Dann drücke ich meine Nase an ihre Haut und rieche ihren Duft. Meine Mama.

Sie küsst mich und sagt: „Wir beide, Lena Maria. Du und ich. Wir beide gehören zusammen.“

„Und Maxi?“, frage ich.

Von Kalle sage ich lieber nichts.

„Und Maxi, natürlich. Wir gehören zusammen. Aber vor allem du und ich, Lenchen. Du bist meine Große. Maxi versteht ja noch nichts.“

Ich fühle mich, als könne ich fliegen. Meine Mama und ich, wir gehören zusammen. Ich habe es gewusst. Ich habe es Kalle ja gesagt, aber er wollte mir nicht glauben, der alte Miesepeter. Was weiß ein Hase schon von meiner Mama und mir?!

„Mama, spielen wir Füßchen?“, frage ich mutig.

„Ja, spielen wir Füßchen.“

Mama zieht die Bettdecke hoch und streckt die nackten Füße darunter hervor. Sie wackelt mit ihren Zehen und flötet: „Wo sind denn meine Freunde, die wilden Zehn?“

Mein Bauch wird ganz weit vor Freude und ich rutsche nach unten, damit auch meine Füße ins Freie gucken.

„Hier!“, rufe ich, „Hier sind die wilden Zehn. Was machen wir heute?“

Meine Zehen wackeln wie noch nie.

Wir spielen bis Maxi zu weinen beginnt.

„Lea“, schreit er.

Ich springe sofort aus dem Bett.

„Er ist gleich wieder ruhig, Mama“, rufe ich und laufe so schnell ich kann in unser Zimmer. Er steht in seinem Gitterbett.

„Matzi Pipi“, weint er, als er mich sieht.

„Ist ja gut, Maxi. Ich helfe dir.“

Ich lege die Arme um seine Brust und ziehe ihn über das Gitter. Beinahe falle ich mit ihm auf den Boden. Aber wir beide machen das oft. Im letzten Moment stelle ich ihn vor mir ab und wir halten uns aneinander fest. Wir gehen ins Badezimmer und ich helfe Maxi, die Hose herunter zu ziehen. Sonst macht er das schon allein, aber morgens muss es immer schnell gehen. Und er pinkelt auch gleich los.

„Mama ist immer noch da, Maxi.“

Er dreht sich zu mir um.

„Mama?“

Seine Augen werden groß.

Ich ziehe ihm die Hose hoch.

„Ja, Maxi, Mama ist da. Du musst dir nur die Hände waschen, dann gehen wir zu Mama ins Bett, ja? Möchtest du das?“

Er nickt glücklich. Aber zuerst muss er seine Hände waschen, da ist Mama ganz streng. Dann nehme ich ihn an der Hand und ziehe ihn in ihr Zimmer. Ich freue mich wahnsinnig darauf, mit Maxi und Mama im Bett zu kuscheln.

Aber das Bett ist leer. Mama ist aufgestanden. Maxi schaut die einsame, zerwühlte Bettdecke an.

„Mama?“

Ich schlucke den Knödel in meinem Hals runter und sage: „Vielleicht macht Mama Frühstück.“

Da hören wir das Radio aus der Küche. Wir laufen rüber und Mama tanzt. Sie hat immer noch ihr rotes Shirt an und tanzt zur Musik. Die Augen hat sie zu.

„Mama!“

Vor Staunen fällt Maxi auf sein Hinterteil und starrt sie mit offenem Mund an.

„Ist sie nicht schön?“, frage ich ihn.

Er nickt.

„Mama söhn.“

Da öffnet sie die Augen. Sie strahlt.

„Meine Süßen!“

Sie küsst mich auf die Stirn und hebt Maxi auf ihre Hüfte. Die beiden drehen sich im Kreis und Maxi quietscht vor Freude. Sprachlos sehe ich zu. Da nimmt Mama meine Hand und schwenkt mich rund herum, bis mir schwindelig ist. Sie fällt auf die Knie und legt die Arme um Maxi und mich. So stehen wir einen Augenblick lang eng umschlungen. Dann schnuppert sie und zieht die Nase in Falten.

„Ihr beide riecht ja nicht besonders frisch.“

Auweia. Ich hätte Maxi duschen sollen. Jetzt gibt es bestimmt Ärger. Ich sehe vorsichtig in Mamas Gesicht, aber sie schaut gar nicht böse. Sie springt auf und läuft aus dem Zimmer.

„Ich lasse Badewasser ein. Wir baden alle zusammen.“

Maxi plumpst wieder auf seinen Hintern.

„Matzi nit baden! Matzi will nit!“

Er schüttelt wild seinen Kopf. Manchmal ist Maxi wirklich dumm.

„Maxi, mit Mama baden ist doch ganz anders. Das ist nicht wie sonst. Mit Mama baden ist schön.“

Ich weiß das. Ich habe schon mal mit Mama gebadet. Irgendwann. Ich kann mich nicht genau erinnern. Aber ich weiß noch genau, wie schön es war.

„Komm, Maxi, mit Mama baden wird dir gefallen.“

Freiwillig kommt er nicht mit. Ich muss ihn auf die Füße ziehen und er sagt immer noch: „Matzi nit baden“

Aber er sagt es ganz leise.

„Das darfst du nicht sagen, sonst wird Mama böse.“

„Mama söhn.“

„Ja, Mama ist schön. Und mit Mama baden ist auch schön. Noch viel schöner.“

Ich ziehe ihn ins Badezimmer.

„Baden söhn?“

Halb ist er schon überzeugt.

Da steht Mama auch schon nackig im Bad. Sie kniet sich vor Maxi auf den Boden und zieht ihm den Schlafanzug über den Kopf.

„Ja, Maxi, baden ist sehr schön“, sagt sie.

Maxi kann sie nicht hören, weil der Schlafanzug über seinem Kopf festhängt. Die Arme baumeln nach unten und ich habe Angst, dass er keine Luft bekommt. Aber Mama zieht einfach weiter und Maxis rotes Gesicht kommt unter dem Stoff hervor.

Ich ziehe mich auch aus und Mama dreht den Wasserhahn zu. Sie steigt in die Wanne und ich schubse Maxi nach vorne, damit sie ihn über den Rand heben kann. Ich will auch ins Wasser steigen, aber Mama sagt, ich solle zuerst schauen, ob ich leere Shampoo-Flaschen finde. Natürlich finde ich welche. Auf dem Fensterbrett stehen jede Menge leerer Tuben und Flaschen. Ich werfe ihr ein paar zu und steige dann in die Wanne.

Wenn wir allein zu Hause sind, baden wir nicht. Einmal ist Maxi mit dem Kopf unter Wasser gekommen. Ich konnte ihn gerade noch hochziehen. Dabei wäre ich beinahe ausgerutscht. Maxi hatte schon Wasser geschluckt und grässlich gehustet. Seitdem baden wir nicht mehr. Ich spritze Maxi nur noch unter der Dusche ab. Das gefällt ihm gar nicht. Und manchmal läuft er mir weg.

Aber den vielen Schaum und das warme Wasser findet er herrlich. Er pustet in einen Schaumberg und bläst mir den weißen Schnee ins Gesicht. Ich fülle meine Shampoo-Flasche mit Wasser und spritze ihn damit voll. Er kreischt laut und Mama lacht. Sie füllt ebenfalls zwei Flaschen und drückt Maxi eine davon in die Hand.

Wir machen eine richtig schöne Wasserschlacht und haben jede Menge Spaß. Dreimal lassen wir warmes Wasser nach, ehe Maxi und ich aus der Wanne steigen und unsere verschrumpelten Hände begucken. Das sieht ganz schön gruselig aus, wie die Haut der alten Breml.

Als Mama mich trocken rubbelt, knurrt mein Magen. Sie gibt mir einen Kuss auf die Nase und sagt: „Ihr zieht euch jetzt schön an und ich hole inzwischen etwas Leckeres zum Frühstück.“

Aber ich will nicht, dass Mama geht.

„Ich habe keinen Hunger“, rufe ich und versuche Maxi zu übertönen, der schreit: „Matzi essen! Matzi Bood!“

Der dumme Kerl weiß ja nicht, was er anrichtet. Mama hört ihn natürlich.

„Siehst du, Lenchen, Maxi möchte Brot und das werde ich jetzt kaufen.“

Ich versuche sie festzuhalten.

„Wir haben doch noch Brot, Mama.“

„Ja, das ist so hart, damit kannst du jemanden erschlagen“, sagt Mama. „Zieht euch an. Ich bin gleich wieder da.“

Sie streift sich einen blauen Pulli über und verschwindet aus dem Badezimmer. Ich höre die Wohnungstür zufallen. Jetzt ist sie weg. Am liebsten würde ich Maxi eine kleben. Meine Augen werden nass. Ich laufe in unser Zimmer, ziehe mir einen Pulli und die grüne Jogginghose an, wühle Kalle unter der Wäsche hervor und verkrieche mich im Bett. Ich stecke den Kopf tief unter die Bettdecke und drücke ihn an mich. Bei Kalle macht es nichts, wenn ich weine. Er hält mich nicht für einen Schwächling. Ich kann die Tränen auch gar nicht aufhalten. Sie laufen einfach über meine Backen und ich fange zu schluchzen an.

Da zieht mir jemand die Decke weg.

„Lea?“

Maxi sieht mich erschrocken an.

„Lea daulig? Lum?“

„Weil Mama wieder weg ist.“

Ich brülle ihn an.

„Sie ist weg! Weg! Weg! Und du hast sie weggeschickt.“

Maxi verzieht sein Gesicht.

„Mami weg?“

Und dann fängt er an zu weinen und nach Mama zu rufen. Er kann nichts dafür. Er ist einfach noch zu klein. Ich ziehe ihn zu mir unter die Decke und halte ihn fest. Er duftet nach Badewasser und seine Haare sind noch feucht. Es hilft, sich an ihm festzuhalten. Er klammert sich auch an mich und langsam hören wir auf zu weinen. Ich steige aus dem Bett und ziehe ihn hinter mir her.

„Komm, wir suchen etwas zu essen.“

Als wir im Flur ankommen, öffnet sich die Wohnungstür und Mama spaziert herein. Ihre Wangen sind rot und sie schwenkt eine Tüte. Sie sieht Maxi an und lacht.

„Mein großer Junge hat sich wohl alleine angezogen?“

Sie deutet auf seine Hose, die er mit dem Hosenboden nach vorne trägt, und den Pulli, dessen Nähte man sehen kann. Sie stellt die Tüte auf den Boden und hilft Maxi seine Sachen richtig anzuziehen. Dann holt sie ein paar saubere Socken aus dem Kinderzimmer und streift sie ihm über die nackten Füße. Auch mir wirft sie ein Paar zu. Aber ich kann nur dastehen und zusehen. Mama ist wieder hier. Sie ist einfach zurückgekommen. Und sie hat Frühstück mitgebracht.

Dann macht sie Kakao und Marmeladenbrötchen. Maxi sitzt auf dem Kinderstuhl und schmiert sich bis an die Ohren voll mit Marmelade und Kakaopulver. Plötzlich spüre auch ich Hunger. Ich esse Brötchen und trinke Milch, bis ich fast platze. Mama verteilt Äpfel. Als mir der Apfelsaft über das Kinn läuft, geht es mir einfach nur gut.

Mama räumt den Tisch ab und sagt: „Ich werde jetzt aufräumen. Ihr müsst euch ein bisschen selbst beschäftigen.“

Maxi rutscht von seinem Stuhl und wackelt zum Fernseher, aber als er ihn einschalten will, hebt Mama ihn hoch und setzt ihn an den Tisch zurück.

„Nein, nicht fernsehen. Ich hole euch ein Malbuch und Stifte.“

Wir sitzen am Küchentisch und malen, bis Mama die Küche aufgeräumt und alle Regale ausgewischt hat. Zwischendurch lege ich den Stift weg, sehe nur zu, wie Mama durch die Wohnung geht und Sachen wegräumt.

Schließlich macht sie uns noch ein Wurstbrot, ehe sie Maxi ins Bett steckt, obwohl er etwas dagegen hat. Trotzdem schläft er bald ein. Ich folge ihr wie ein Schatten und beobachte sie beim Teekochen. Sie setzt sich mit der Tasse aufs Sofa und klopft auf die freie Sitzfläche. Ich klettere neben sie und kuschle mich an ihren Arm.

„Weißt du, Lenchen, wir müssen etwas ändern. Ich lasse euch viel zu oft allein.“

Ohne aufzusehen, nicke ich.

Sie drückt mich an sich und spricht weiter: „Ich habe euch furchtbar lieb. Aber manchmal wird es einfach zu viel für mich. Immer bleibt alles an mir hängen.“

Ich nicke heftiger. Das Gefühl kenne ich. Aber Mama scheint es nicht zu merken.

„Und es ist niemand da, mit dem ich reden kann. Du bist natürlich da, aber manchmal muss man auch mit einem Erwachsenen sprechen, weißt du?“

Ja, auch das kenne ich. Ich möchte auch manchmal mit einem Erwachsenen sprechen. Plötzlich schluchzt Mama, das macht mir Angst.

„Ich brauche jemanden, der mich lieb hat, verstehst du das?“

Ich drücke Mama ganz fest. „Aber ich hab’ dich doch lieb. Und Maxi hat dich auch lieb.“

Mama schluckt ihre Tränen hinunter.

„Ich weiß doch, mein Schatz. Aber ich meine jemanden, an dem ich mich festhalten kann. Jemanden, der mir hilft, mit dem ich wichtige Dinge besprechen kann. Jemanden wie Peter.“

Ich mag Peter nicht und Peter mag mich nicht. Und Maxi mag er auch nicht. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob er uns nicht mag. Ich glaube, er möchte, dass es uns nicht gibt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er Mama mag.

Mama lehnt sich zurück und zieht mich mit sich.

„Ich weiß, dass Peter manchmal ein bisschen komisch ist. Aber er liebt mich. Er wird sich auch noch an euch gewöhnen. Die Kinder seiner Schwester hat er sehr gern. Ich habe sie kennengelernt. Die haben es ganz gemütlich. So machen wir uns das auch. Wir räumen die Wohnung auf. Ich suche mir Arbeit, abends als Bedienung, wenn ihr schon im Bett seid. Wir schaffen das.“

Sie macht die Augen zu und legt den Arm um mich.

„Ich schaff’ das.“

Nach Maxis Mittagsschlaf gehen wir zusammen einkaufen. Mama holt den alten Buggy raus, schnallt Maxi fest und dann laufen wir los. Ich bin nicht oft auf der Straße. In der Stadt sind viele Menschen unterwegs und ich verliere Mama und Maxi fast aus den Augen, weil ich so viel gucken muss. Zuerst kaufen wir Kleidung für Maxi und mich. Ich bekomme eine Hose, zwei Shirts, Socken und Unterhosen. Und ich darf mir ein Spielzeug aussuchen. Ich stehe im Laden und weiß nicht, was ich nehmen soll. Es gibt so viele Sachen. Aber dann entscheide ich mich für ein Bilderbuch. Darin geht es um eine Familie: Vater, Mutter und zwei Kinder. Sie fahren zusammen in den Urlaub auf einen Bauernhof. Maxi bekommt ein Kuscheltier, einen kleinen Bären.

Wir kaufen etwas zu essen und viele Putzmittel. Bei einem Spielplatz setzt Mama uns ab. Sie stellt den Buggy neben eine Bank und öffnet Maxis Gurt. Dann geht sie in die Hocke und sagt: „Dort drüben suchen sie eine Bedienung. Ich frage mal nach, ob ich dort arbeiten kann. Aber ich kann euch natürlich nicht mitnehmen. Ihr spielt hier in der Zwischenzeit.“

Sie sieht mich streng an.

„Du passt auf Maxi auf. Ihr bleibt auf dem Spielplatz, geht nicht auf die Straße und klettert auch nicht da ganz oben rum. Ist das klar?“

Ich nicke und traue mich zu fragen: „Du kommst aber wieder zurück?“

Mama lacht.

„Natürlich komme ich zurück. Ich komme immer zurück. Es dauert auch nicht lange.“

Sie gibt jedem von uns eine Breze in die Hand und geht. Ich sehe ihr nach, wie sie die Straße überquert und hinter einer schwarzen Tür verschwindet.

Ich schaue Maxi an. Er hält mir seine Hand entgegen.

„Matzi Beze“, sagt er, beißt hinein und watschelt Richtung Rutschbahn. Auf dem Spielplatz gibt es eine große und eine kleine. Außerdem eine Schaukel, einen Sandkasten, ein Klettergerüst und ein paar Reittiere. Maxi steht vor der großen Rutsche und sieht einem Jungen zu, der gerade auf dem Bauch die Bahn heruntersaust und dabei schreit: „Das nächste Mal rutsche ich mit dem Kopf voraus, Mama!“

Seine Mutter hat ihn nicht allein gelassen. Sie steht neben der Rutschbahn und lacht.

Ich nehme Maxi bei der Hand und sage: „Die ist zu groß für dich, Maxi. Wir gehen zur Kleinen.“

Aber er windet seine Hand aus meiner, deutet auf den Jungen und fragt: „Bub?“

„Der Junge ist schon viel älter.“

Ich glaube, der Junge ist sogar älter als ich. Jedenfalls ist er ein ganzes Stück größer. Und obwohl seine Mutter „Vorsicht!“ ruft, legt er sich nun mit dem Kopf nach unten auf die Bahn und stößt sich ab. Ich zerre noch einmal an Maxis Pulli, aber er will hier einfach nicht weg. Jetzt wackelt er Richtung Leiter und versucht auf die erste Sprosse zu steigen. Aber die ist, Gott sei Dank, so weit oben, dass er sie nicht erreicht.

„Du bist zu klein, Maxi. Komm mit zur anderen Rutsche. Dort gibt es keine Leiter. Du musst nur den Hügel hinauf.“

„Matzi will!“, quengelt er, hängt sich an die erste Sprosse und lässt dabei die angebissene Breze fallen. Ich hebe sie wieder auf und putze ein bisschen dran herum.

„Aber die andere Rutschbahn ist viel lustiger. Sie sieht aus wie ein Elefant. Hast du das schon gesehen?“

Er lässt die Sprosse los und schaut mich an.

„Fant?“

Ich nicke.

„Ja, wir können auf einem Elefanten reiten. Los, Maxi! Ich bin Erste!“

Damit Maxi mich überholen kann, laufe ich nicht zu schnell los. Ich lasse ihn zuerst auf den Hügel klettern und steige dann hinterher. Es geht so langsam die Bahn hinab, dass ich anschieben muss. Aber Maxi macht es Spaß. Er läuft gleich wieder den Berg hinauf.

„Komm, Maxi, wir rutschen zusammen“, rufe ich und er quietscht vor Freude. Die Mutter des Jungen geht an uns vorbei und sagt: „Du bist aber eine wirklich nette Schwester.“

Sie schaut sich um und fragt: „Aber wo ist eigentlich eure Mama oder euer Papa? Seid ihr denn ganz allein hier?“

„Mama!“, schreit Maxi im selben Moment.

Mama kommt lachend über die Straße gelaufen. Maxi packt die Elefantenrutsche an einem Ohr und schreit: „Guck Mami, Fant!“

„Wir sind mit unserer Mama hier. Sehen Sie, da ist sie.“

Ich deute auf Mama, die viel jünger und hübscher ist als die Mutter des Jungen. Ganz rote Backen hat Mama. Sie schnappt sich Maxi und ruft: „Ich hab die Stelle. Ich habe sie. Morgen kann ich anfangen.“

Sie setzt Maxi auf ihre Hüfte und nimmt mich bei der Hand.

„Und jetzt rutschen wir die lange Bahn runter.“

An der Leiter lässt sie mich zuerst hinaufklettern und schiebt dann Maxi eine Stufe nach der anderen hoch, während sie langsam nachkommt. Am Ende der Leiter ist ein Absatz und ich sehe mir erst mal die Welt von oben an. Dann will ich mich hinsetzen, aber Mama ruft: „Warte, Lenchen, wir machen einen Zug.“

Sie setzt sich, klemmt sich Maxi zwischen die Beine und ich klettere noch weiter nach vorne. Wir sausen hinab. Mein Magen macht einen Satz nach oben, so schnell geht die Fahrt.

„Noch mal, Mama, bitte!“

Wir steigen noch dreimal die Leiter hoch und schlittern die Bahn hinunter. Dann laufe ich zu den Reittieren, setze mich auf einen Frosch, der beim Schaukeln wild nach vorn und hinten ausschlägt. Mama hält Maxi auf der Ente neben mir fest und lässt ihn leicht wippen.

Schließlich machen wir uns wieder auf den Weg und gehen nach Hause. Das Fenster neben unserer Eingangstür ist offen. Die alte Breml stützt sich auf ein Sofakissen und betrachtet uns neugierig. Mama zieht bei ihrem Anblick den Kopf ein, als würde sie schrumpfen.

„Ja, die kleine Sander. Sieht man dich auch mal wieder? Warst wohl ein paar Tage weg mit deinen Kindern?“

Das Gesicht der Breml verändert sich nie, wenn sie mit einem spricht. Nur der Mund klappt auf und zu. Die grauen Haare auf ihrem dicken Kopf sind kurz, wie bei einem Mann. Sie hat viel zu wenig Falten im Gesicht, weil sie so dick ist, jedenfalls oben rum. Ich sehe die alte Breml nämlich immer nur, wie sie aus dem Fenster guckt. Wahrscheinlich ist sie zu dick, um auf die Straße zu gehen.

„Nein, Frau Breml, wir waren krank. Wir konnten nicht raus.“ Mama stößt die Eingangstür auf und nickt mir ungeduldig zu. Ich starre immer noch die alte Breml an, die sich brennend für unsere Krankheit interessiert.

„Wohl eine Magen-Darm-Grippe. Soll ja umgehen. Hoffentlich haben es die Kleinen gut überstanden.“

Noch ehe sie uns genauer ansehen kann, greift Mama nach meiner Hand und zieht mich zur Tür. Sie muss sich dabei fast verbiegen, weil sie gleichzeitig Maxis Buggy festhält.

„Jaja, passt schon.“

Mama schiebt uns alle ins Treppenhaus.

„Warum waren wir krank?“, frage ich sie.

„Ach, Lenchen, manche Leute muss man sich einfach vom Leib halten. Die alte Breml ist auch so eine.“

Maxi rutscht aus dem Buggy, noch ehe Mama den Gurt richtig aufgemacht hat. Die schwere Einkaufstasche hängt am Wagen und der Buggy kippt nach hinten. Mama bückt sich und hebt ein paar Tomaten auf, die aus der Tasche gekullert sind. Ich helfe ihr. Eine Tomate verfolge ich bis unter die Briefkästen.

„Was für eine ist die alte Breml?“, frage ich, als ich die rote Frucht in die Tüte werfe.

Mama sieht mich an.

„Sie ist eine, die sich in die Angelegenheiten anderer Leute mischt, jede Mücke zu einem Elefanten macht und alles weitertratscht.“

Sie kratzt sich die Nase.

„Ich hätte ihr überhaupt nichts erzählen sollen. Jetzt plappert sie wahrscheinlich überall herum, dass ich euch nicht einmal anständiges Essen vorsetzen würde und ihr deswegen krank werdet.“

„Aber wir waren doch gar nicht krank, oder?“

Sicher bin ich mir nicht mehr.

„Ach, frag doch nicht so viel, Lenchen.“

Sie schnappt sich die vollen Plastiktüten und den zugeklappten Buggy.

„Hilf Maxi lieber die Treppe hoch.“

Das dauert, weil Maxi immer erst beide Beine auf eine Stufe setzt, ehe er mit einem Fuß auf die nächste steigt. Die ganze Zeit gehe ich vor ihm her und ziehe ihn an der Hand. Mama ist schon mit Tüten und Kinderwagen in unserer Wohnung verschwunden, noch bevor wir oben ankommen.

Ich helfe beim Einräumen der Einkäufe und Maxi holt unsere Geschenke heraus. Als alle Tüten ausgeleert sind, setze ich mich mit meinem Buch auf das Sofa, Maxi kuschelt sich mit seinem Bären an mich. Erwartungsvoll schaue ich Mama an: „Liest du uns vor?“

„Nicht jetzt, meine Schatz. Ich mache zuerst die Wäsche. Zeig’ doch Maxi schon mal dein Buch. Ich komme, sobald ich fertig bin.“

Also blättere ich eine Seite nach der anderen um und erkläre Maxi, was man auf den Bildern alles sehen kann. Vieles davon kenne ich selber nicht und Maxi wird ungeduldig.

„Mama tommen!“

„Ja, Maxi, Mama kommt ja gleich. Sie macht nur die Wäsche.“

Ich blättere weiter und halte ihm das nächste Bild unter die Nase.

„Mama tommen!“

Er schlägt mit seinem Bären nach mir. Ich will endlich in Ruhe die Geschichte anschauen, aber er lässt mich nicht. Er schlägt ständig auf das Buch oder auf mich ein.

„Lass mich in Ruhe!“

Ich schubse ihn weg.

„Mama tommen“, ruft er und schlägt wieder mit dem Bären auf meinen Kopf.

Ich stoße ihn vom Sofa.

„Dann geh’ doch zu Mama.“

Er fällt auf seinen Hintern und schaut mich verdutzt an. Dann heult er los. Aber ich habe die Nase voll. Mit dem Fuß schiebe ich ihn ein Stück weg von mir und fahre mit dem Finger über eine Zeile. Dort steht ein ‚L‘. Das kenne ich. Damit fängt mein Name an. Maxi steht auf und läuft brüllend aus dem Zimmer. Endlich ist Ruhe.

Es dauert nicht lange, da kommt Mama mit meinem Bruder auf dem Arm zurück.

„Was ist los, Lena Maria? Ich habe dich gebeten auf Maxi aufzupassen, damit ich die Wäsche machen kann.“

Ich blättere noch eine Seite um und sehe die beiden nicht an. „Aber er schreit.“

„Ich höre, dass er schreit. Außerdem sagt er, du hättest ihn geschlagen.“

Maxi, der Verräter, unterbricht sein Schluchzen und nickt.

„Lea haut.“

Ich sehe hoch.

„Das stimmt nicht. Er hat mich geschlagen.“

„Aber wieso brüllt dann Maxi und nicht du?“

Jetzt werde ich wütend.

„Weil ich keine Memme bin wie der da.“

Mama schüttelt den Kopf.

„Das soll ich dir glauben, dass er dich haut und dann schreiend zu mir läuft?“

Ja, Mama, das sollst du glauben. Es stimmt doch auch. Ich möchte jetzt endlich wissen, was in dem Buch steht. Hunger habe ich auch und irgendwie bin ich müde. Am liebsten würde ich Maxi jetzt wirklich verhauen. Der Tag war so schön und jetzt hat er alles kaputt gemacht.

„Maxi ist blöd.“

Mama baut sich direkt vor mir auf.

„So? Und deswegen hast du ihn wohl auch geschlagen, mein Fräulein? Ich habe um etwas Ruhe gebeten. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt. Hier sieht es aus wie im Schweinestall. Ich kann das nicht in Ordnung bringen, wenn du mir nicht hilfst.“

Am liebsten hätte ich jetzt auch angefangen zu weinen. Ich weiß ja, dass ich Mama helfen muss. Sie schafft es sonst nicht. Und ich habe Maxi ja auch lieb. Aber trotzdem ist er blöd und Mama ist auch blöd. Und ich will jetzt endlich wissen, was unter den Bildern steht. Ich halte Mama das Buch entgegen.

„Liest du mir vor?“

Mama hört sich furchtbar wütend an.

„Hörst du mir eigentlich zu? Ich möchte wissen, warum du Maxi geschlagen hast, statt dich um ihn zu kümmern.“

„Ich habe ihn nicht geschlagen. Ich habe ihn vom Sofa geschubst, weil er blöd ist. Biiiiitteee!“

Ich drücke das Bilderbuch gegen ihren Bauch. Ich muss wissen, was in der Geschichte passiert.

Langsam stellt Mama Maxi auf den Boden. Er hat aufgehört zu weinen, und sieht neugierig zu.

„So, Maxi ist also blöd. Und du hast ihn vom Sofa geschubst. Und jetzt möchtest du, dass ich dir etwas vorlese. Blöd nur, dass ich dir dein Geschenk jetzt wegnehme.“

Bevor ich es hinter meinem Rücken verstecken kann, reißt sie mir die Geschichte der ganz normalen Familie aus den Händen. Sie geht zum Schrank, legt das Bilderbuch dort ganz oben ab.

Ich fange zu schreien an.

„Gib mir mein Buch zurück. Mama, bitte, gib es mir!“

Aber Mama schüttelt den Kopf.

„Ich werde dir heute ganz bestimmt nichts mehr vorlesen. Das hast du nicht verdient. Wenn du brav bist, bekommst du es morgen zurück!“

Ich kann nicht bis morgen warten. Ich muss heute wissen, was unter den Bildern steht. Lauter Bilder von einer glücklichen Familie. Die streiten nicht, die hauen nicht und Mama und Papa sind immer da. Ich muss die Geschichte heute noch hören. Ich muss. Wer weiß, ob Mama morgen noch da ist? Dann werde ich nie wissen, was die vielen Buchstaben erzählen.

„Du musst mir vorlesen! Und du musst mir das Buch geben! Es ist meins!“

Ich spreche undeutlich, weil ich angefangen habe zu weinen.

„Ich muss gar nichts, Lena Maria! Und Geschenke bekommen nur brave Kinder. Du warst nicht brav, also nehme ich dir das Geschenk wieder weg.“

Das kann sie nicht. Das darf sie nicht. Das ist so ungerecht! Ich laufe an Maxi vorbei, der wie wild an seinem Daumen nuckelt, auf Mama zu und schlage auf sie ein. Ich haue ihr auf den Bauch, immer und immer wieder und dabei schreie ich: „Das ist mein Buch, gib es mir. Gib mir mein Buch zurück!“

Ich schreie ganz laut und weine dazu. Mama versucht, meine Hände festzuhalten.

„Du blöde Mama, gib mir …“

Weiter komme ich nicht, weil Mama mir eine scheuert. Meine Wange brennt und ich hasse sie. Weil sie meine Hände gepackt hat, trete ich sie mit den Füßen. Einen Augenblick hole ich Luft, ehe ich noch lauter schreie, da höre ich, dass auch Maxi wieder brüllt.

Mama packt mich an den Händen und schleift mich ins Kinderzimmer, obwohl ich mich dagegen wehre. Sie schubst mich zu Boden.

„Ab ins Bett mit dir! Ich möchte dich heute nicht mehr sehen.“

Ich will an ihr vorbei, um im Wohnzimmer mein Buch zu holen, aber sie reißt mich am Arm zurück.

Sehr leise und sehr böse sagt sie: „Ins Bett! Wenn ich dich heute noch einmal sehe, schlage ich dich windelweich.“

Ich bleibe stehen und die Tränen laufen über mein Gesicht. Ich sehe zu, wie Mama nach Maxi greifen will. Aber Maxi haut ihr auf die Hand.

„Mama böse!“

Er dreht sich um und läuft zu mir.

Einen Moment schaut Mama verblüfft. Dann nickt sie.

„Okay, dann geht ihr eben beide ohne Abendessen ins Bett.“ Sie wirft die Tür mit einem Knall zu und wir sind allein.

Maxi legt seine Arme um mich. Ich setze mich auf den Boden und ziehe ihn mit nach unten. Ich weine und er weint mit mir. Es tut so weh. Meine Wange brennt immer noch. Ich kann die einzelnen Finger spüren. Der Arm, an dem Mama mich gezogen hat, tut mir auch weh. Aber ganz schlimm weh tut, dass sie mich nicht mehr mag. Ich war doch brav. Ich wollte doch nur das Buch anschauen. Ich verstehe nicht, wieso ich jetzt hier im Zimmer sitze und ins Bett gehen muss. Ich darf mir nicht einmal etwas zu essen holen. Mein Magen knurrt. Als hätten wir es abgesprochen, unterbricht Maxi sein Heulen und nuschelt: „Matzi essen.“

„Nein, Maxi, wir bekommen heute nichts mehr. Komm mit.“

Wie ein Lämmchen folgt er mir zu meinem Bett. Überrascht bleibe ich stehen.

„Sieh mal, Maxi, ein neuer Bezug. Mama hat den Bezug gewechselt.“

„Fosch.“

Maxi zeigt auf eine Reihe kleiner Frösche, die über das Bett hüpfen.

Ich ziehe Maxi unter die neue Decke. Ohne uns auszuziehen, legen wir uns aneinander gekuschelt ins Bett und Maxi drückt seinen Bären an sich. Da fällt mir auf einmal mit einem Schreck ein, dass ich Kalle im Bett zurückgelassen hatte. Er ist weg! Nicht auch noch Kalle. Ich springe aus dem Bett und schaue mich um. Maxi ist aufgeschreckt und sieht aus, als ob er jeden Moment wieder anfangen würde zu weinen.

„Kalle“, schreie ich.

Ich laufe zur Tür. Wahrscheinlich hat sie ihn mitgenommen und in den Müll geworfen, weil er doch schon so alt ist. Ich muss ihn holen und wenn sie mich totschlägt. Ich habe die Hand schon an der Türklinke, als ich Maxi schreien höre: „Lea!“

Aber er kann mich nicht aufhalten. Ich drehe mich zu ihm, um ihm das zu sagen. Da streckt er eine Hand in die Luft. Kalles Ohren wackeln, als er mit ihm winkt. Mit dem anderen Arm hält er seinen Bären fest an sich gepresst.

Ganz schnell laufe ich zurück zum Bett. Ich springe hinein und lache, als ich Maxi den Hasen aus der Hand reiße. Die beiden Kuscheltiere in unserer Mitte, liegen wir eng zusammen und ich ziehe die Bettdecke über uns. Maxi steckt den Daumen in den Mund und es dauert nicht lange bis er eingeschlafen ist. Ich bin auch müde, aber schlafen kann ich nicht. Ich habe Angst.

Obwohl ich es so sehr wollte, habe ich es nicht geschafft, Mama nicht wütend zu machen. Vielleicht ist sie ja schon nicht mehr da? Vielleicht hat sie ihre Reisetasche gepackt und ist wieder weggegangen. Vielleicht ist sie diesmal tatsächlich weg, ohne sich zu verabschieden. Ohne zu sagen, dass ich auf Maxi aufpassen soll, weil ich schon so groß bin. Vielleicht hat sie gemerkt, dass ich nicht groß genug bin, um auf meinen Bruder aufzupassen, und kann mich jetzt nicht mehr leiden. Bestimmt kommt sie nie wieder zurück.