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Marco Henseling • René Marić

Fußball

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Fußball

Das Trainerhandbuch von Spielverlagerung.de

VERLAG DIE WERKSTATT

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Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0222-8

Die Autoren:

Marco Henseling, Jahrgang 1988, stammt aus Mecklenburg-Vorpommern, studiert Jura in Greifswald und hat bereits umfangreiche Trainingsarbeit im Amateur- und Breitenfußball geleistet. Auf der Seite Spielverlagerung.de schreibt er zu Trainingstheorie.

René Marić, Jahrgang 1992, ist in Oberösterreich groß geworden und hat in Salzburg seinen Bachelor in Psychologie abgeschlossen. Er studiert nun im Master, ist Amateurtrainer und gehört zu den Taktiktheoretikern und Spielanalysten der Seite Spielverlagerung.de – deren Team in den vier Jahren ihres Bestehens u.a. schon mit dem ZDF, Thomas Tuchel und diversen Profivereinen zusammengearbeitet hat.

1.Methodische Grundlagen

13
Bis heute werden vielerorts taktische Inhalte hauptsächlich an der Taktiktafel besprochen, Techniken ohne Gegnerdruck eingeschliffen und konditionelle Elemente ohne Bezug zur jeweiligen Sportart trainiert. Jeder dieser drei Aspekte wird für sich und getrennt von den jeweils anderen beiden abgehandelt. Dabei zeigen jüngere Erkenntnisse in den Sportwissenschaften und die Erfolge Pep Guardiolas, Louis van Gaals und José Mourinhos, dass ein isoliertes Training von Technik, Taktik und Kondition überholt ist. Jede einzelne Situation nämlich, die im Laufe einer Partie entstehen kann, erfordert zur Lösung eine Entscheidung (taktischer Aspekt), eine daran anschließende motorische Fertigkeit (technischer Aspekt), deren Qualität von der Kondition abhängt (physischer Aspekt), die wiederum durch eine Emotion gesteuert wird (mentaler Aspekt).1 Diese Ganzheitlichkeit, nach der die einzelnen Aspekte von Taktik, Technik, Physis und sogar Psyche nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern vielmehr als untrennbare Einheit,2 muss in der Trainingspraxis Berücksichtigung finden.

14

Gleichzeitig sind auch der Reifegrad und das Leistungsniveau zu beachten, damit Komplexität und Schwierigkeitsgrad der Übungen angepasst werden können. Sollen Spieler beispielsweise neue Strategien oder taktische Elemente lernen, müssen diese anders trainiert werden als bei solchen Spielern, die diese Elemente bereits beherrschen. Kinder und Jugendliche sind kleiner und schwächer als Erwachsene und können schon allein deshalb nicht auf die gleiche Weise trainiert werden. Zudem macht das menschliche Gehirn im Laufe des Lebens ständig Veränderungen durch. Die Persönlichkeit ändert sich, Bewegungen werden erlernt und verfeinert, Erfahrungen gesammelt, und das Verständnis komplexer Zusammenhänge nimmt altersabhängig zu oder ab. Auf all diese Variablen muss unterschiedlich reagiert und die Methodik entsprechend angepasst werden. Im Folgenden werden dafür Möglichkeiten aufgezeigt.

1.1Vorüberlegungen

15
Die Erfordernisse zur Lösung einer Spielsituation ergeben sich primär aus der taktischen Perspektive. Der Athlet nimmt die Spielsituation wahr, verarbeitet die wahrgenommenen Informationen, sucht Lösungen, trifft eine Entscheidung und führt diese aus. Die Ausführung – der technische Aspekt – erzeugt eine neue Situation, und der Prozess beginnt von vorn.

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Abb. 1: Phasen taktischen Handelns (nach Bruckmann / Recktenwald 2010, S. 42)

Die Strukturen einer Spielsituation werden also durch die jeweilige Qualität der Entscheidung der Spieler und der darauffolgenden Ausführung durch sie beeinflusst. Die Qualitäten von Entscheidung und Ausführung hängen wiederum von mentalen und athletischen Voraussetzungen, wie der Beweglichkeit und Ausdauer, ab. Der Grad der Fitness bestimmt, wie lange, wie schnell und wie oft Entscheidungen getroffen und ausgeführt werden können. Dabei arbeiten Nerven- und Muskelsystem auf verschiedenen Ebenen des Spielers (Wahrnehmung, Verarbeitung, Entscheidung, Ausführung) zusammen. Setzt eine Ermüdung ein, nehmen all diese Systeme jeweils qualitativ ab, sodass letztlich die Leistung sinkt (Rn. 159). Somit sind Spielintelligenz, Technik und Kondition der Spieler maßgebliche Einflussfaktoren für die Situationsstrukturen und werden umgekehrt durch dieselben beeinflusst.

16

Betrachtet man ein Fußballspiel als ein System3 und die Spieler – ob allein, im Gruppen- oder Mannschaftsverbund – als dessen Teilsysteme, sind die Situationsstrukturen im Spiel das Ergebnis innerer synergistischer (sprich: sich im Zusammenspiel gegenseitig fördernder) Wechselwirkungen zwischen ebendiesen Teilsystemen. Die Situationsstrukturen im (dynamischen) System entstehen also durch Selbstorganisation.

Das ständige Zusammenwirken der Faktoren Zeit-, Raum- und Gegnerdruck und deren Wechselwirkung mit den Handlungen und Fähigkeiten der eigenen Mannschaft lassen eine unendliche Zahl an potenziellen Situationen entstehen. Diese Systemdynamik macht das Fußballspiel zu einer unvorhersehbaren Abfolge spontaner Konstellationen, in denen an jeden Spieler ganzheitliche Anforderungen gestellt werden. Aus dieser Betrachtung wird unsere Trainingsmethodik abgeleitet. Die technischen, taktischen, mentalen und konditionellen

Fähig- und Fertigkeiten sind im Rahmen der Systemdynamik ganzheitlich auszubilden. Die Spieler werden dafür mit vielfältigen Situationen konfrontiert, in denen sie sich – wie letztlich auch im Wettkampf – selbständig beziehungsweise selbstorganisiert zurechtfinden müssen.

Je besser die Spieler in der Lage sind, Situationen angemessen zu lösen, desto vorhersehbarer wird das Spiel für die eigene Mannschaft. Der Einfluss von Zufällen wird gesenkt und die Wahrscheinlichkeit der Kontrolle über das Spielgeschehen erhöht. Dies sind die Grundlagen für planbare Leistungen, die letztlich zum Erfolg führen. Das Ziel des Trainings ist es also, den Zufall so weit wie möglich auszuschließen, indem die Spieler lernen, situativ die richtige Lösung zu finden und diese anschließend möglichst fehlerfrei auszuführen. Sie sollen selbst in unvorhersehbaren und komplexen Situationen Ruhe und Übersicht behalten. Darüber hinaus müssen sie über 90 Minuten möglichst konstant ihre Leistung abrufen können.

1.2Lernprozesse

17
Der Übungsleiter kann den Lernprozess der Spieler an zwei Stellen steuern. Zum einen gibt er die Übungsformen vor, gestaltet und modifiziert diese und erzeugt so die Lernumgebung (Training), in der die Spieler selbstorganisiert Entscheidungen treffen müssen. Zum anderen kann er durch Instruktionen auf die Spieler einwirken, während diese die Übungsform umsetzen (Coaching). Er beeinflusst dann nicht mehr die Lernumgebung, sondern die Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse der Spieler.

Das Training beschreibt also die Verbesserung von technischen, taktischen, mentalen und konditionellen Fähigkeiten durch Übung. Coaching bedeutet, die Spieler in Form von Hilfestellungen verbal zu beeinflussen, ihnen Hinweise zu geben und ihnen (Suggestiv-)Fragen zu stellen.4 Der Übungsleiter kann sowohl durch Übungen als auch mittels Instruktionen Einfluss auf den Lernprozess der Spieler nehmen. Er ist damit zugleich Trainer und Coach. Der Lernprozess verläuft demnach entweder implizit (beim Training) oder explizit (beim Coaching).

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Abb. 2: Einflussmöglichkeiten des Übungsleiters (in Anlehnung an Newell / Ranganathan 2010)

1.2.1Implizites Lernen

18
Unter implizitem Lernen wird die unbewuss te oder spielerische Aneignung von Fertigkeiten und Wissen beim Ausüben einer Tätigkeit verstanden.5 Das Lernen findet dabei in Situationen statt, in denen die Strukturen einer komplexen Reizumgebung verarbeitet und aufgefasst werden, ohne dass dies vom Lernenden notwendigerweise bewusst wahrgenommen oder beabsichtigt wird.6 Das daraus resultierende Wissen ist schwer in Worten wiederzugeben.

19

Weil es angesichts der Systemdynamik zu einer unendlichen Zahl an potenziellen Situationen kommen kann (Rn. 15f.), ist es unmöglich, jede Eventualität im Voraus zu planen. Daher müssen im Training komplexe Zustände und Konstellationen geschaffen werden, die für die Spieler immer wieder neu zu lösen sind. Die Komplexität ergibt sich dabei aus der Anzahl aller denkbaren Entscheidungen. Je mehr Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, desto größer ist die unvorhersehbare Eigendynamik der Situation. Damit steigen die Anforderungen hinsichtlich Technik, Taktik und Kondition. Zusätzlich erhöht sich der Stressfaktor (Rn. 198ff.).

„Ein Trainer kann seinen Spielern sagen, dass sie kombinieren oder direkt spielen sollen, oder er kann Situationen schaffen, durch die sie dazu gezwungen werden.“

– Christoph Biermann (*1960), deutscher Sportjournalist und -autor

Werden beispielsweise in Spielformen Faktoren wie Zielsetzungen, Regeln, Ball- und Untergrundqualität, Mannschafts- und Feldgröße und / oder Begrenzung der Ballkontakte modifiziert oder variiert, beeinflusst der Übungsleiter die Lernumgebung und konfrontiert die Spieler mit immer neuen Aufgaben von unterschiedlicher Komplexität. So werden die Spieler Situationen ausgesetzt, die niemals gleich sind. Auf jede dieser Situationen müssen sie sich einstellen, Informationen verarbeiten, Lösungen entwickeln, Entscheidungen treffen und diese schließlich auch umsetzen. Dadurch wird den Spielern die Fähigkeit vermittelt, sich an neue Situationen schneller anzupassen.7 Das trifft auf taktische Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse (Rn. 41ff.) ebenso zu wie auf das Training der technischen Fertigkeiten (Rn. 50ff.). Sogar die konditionellen Anforderungen werden auf diese Weise beeinflusst. Modifiziert man auch nur einen Aspekt der Lernumgebung, wirkt sich das auf die jeweils anderen aus. Durch diese Nichtlinearität wird die Komplexität und somit auch der Informationsgehalt der Übung multiplikativ gesteigert.8

Zielsetzung / Aufgabe

Rahmenbedingungen

Spieler

  • individuelle Ballkontakte
  • Feldgröße
  • Anzahl der Mannschaften
  • Zeitlimits
  • Feldform
  • Anzahl der Spieler pro Mannschaft
  • Spiel auf Tore
  • Untergrundqualität
  • Über- / Unterzahlspiele
  • vorgegebene Anzahl Pässe
  • Ballqualität
  • neutraler Spieler
  • Trefferbedingungen

Abb. 3: Strukturmodifikationen der Lernumgebung

Anzahl der Ballkontakte

20
Durch die Begrenzung der Anzahl individueller Ballkontakte in den Spielformen werden beispielsweise die Spieler ohne Ball dazu angehalten, schneller Lösungen anzubieten, während der ballführende Spieler gezwungen wird, schneller Lösungen zu finden. Die Änderung der Anzahl an individuellen Ballkontakten beeinflusst demnach das Passspiel hinsichtlich Taktik (Anbieten zum Ball, Wahl einer Passoption), Kognition (Wahrnehmung von Passoptionen) und Technik (Ausführung des Passes). Sie beeinflusst sogar die Spielintensität (Rn. 187),9 weil sich schneller bewegt werden muss, um anspielbar zu sein. Damit wirkt sich die Einschränkung individueller Ballkontakte auch auf konditionelle Aspekte aus.

Zeitlimits

21
Zeitlimits für bestimmte Handlungen provozieren durch den daraus entstehenden Druck schnelle und (mental) geradlinige Lösungen. Gibt man etwa den sich gegenüberstehenden Trainingsmannschaften in einer Spielform vor, dass sie zehn Sekunden nach Ballgewinn zum Torabschluss kommen sollen, werden damit das schnelle Spiel in die Spitze sowie das schnelle Umschalten beider Teams forciert. Das konternde Team wird in Situationen „gezwungen“, in denen es vorwiegend vertikale Pässe nach vorne spielen muss. Solche Pässe ziehen regelmäßig eine schwierigere Ballverarbeitung und ein schlechteres Blickfeld des Ballempfängers nach sich (Rn. 266). Erforderlich ist zudem ein hohes Lauftempo, sodass auch die konditionellen Komponenten trainiert werden. Ein höheres Tempo führt ferner zu einer schwierigeren Ballbehandlung, was sich direkt auf die Technik auswirkt (Rn. 50ff.).

Umgekehrt kann für die ballverlierende Mannschaft die Regel gelten, den Ball nach drei bis fünf Sekunden wieder zurückzugewinnen (Gegenpressing, Rn. 90ff.). Gelingt ihr das, erhält sie einen Punkt. Gelingt es ihr nicht, soll sie sich nach hinten zum eigenen Tor orientieren. Auch die bloße Dauer einer Spielform hat Einfluss auf das Verhalten der Spieler. In kurzen Spielzeiten (zwei bis fünf Minuten) kann mehr Tempo gemacht werden, weil man nicht mit den Kräften haushalten muss. Gerät eine Mannschaft in einem solch kurzweiligen Spiel in Rückstand, bleibt ihr außerdem nicht viel Zeit, diesen Rückstand aufzuholen oder gar zu drehen. In längeren Spielformen müssen die Spieler ihre Kräfte hingegen einteilen. Sie müssen Tempo und Rhythmus variieren, um auch Erholungsphasen innerhalb des Spiels zu erzeugen (Rn. 39 und 192).

Feldergrößen

22
Mit zunehmender Spielfeldgröße (in Relation zur Spieleranzahl) steigt die Spielintensität,10 weil mehr gelaufen wird. Zwar sinkt dabei die Anzahl der Aktionen, allerdings steigt die Dauer derselben an. Je enger das Spielfeld ist, desto schneller hat die jeweils defensive Mannschaft Zugriff in Ballnähe. So kann etwa der Ball auf kleinen oder auch engen Feldern schneller unter Druck gesetzt werden. Um dies zu kompensieren, muss die ballbesitzende Mannschaft den Ball noch schneller (direkter) zirkulieren lassen. Denn je schneller der Ball in den eigenen Reihen zirkuliert wird und je geringer die individuelle Ballbesitzzeit ist, desto schwieriger ist es für den Gegner, den Ball zu erobern, weil er zwar den Ballführer anlaufen, aber nicht mehr stellen kann (Rn. 254f.). All dies hat eine Schulung der Technik zur Folge, weil die jeweiligen Anforderungen in engen Räumen größere Fehlerquellen mit sich bringen (Rn. 365ff.).

In größeren Räumen hingegen ist vor allem eine kluge Raumbewertung und -aufteilung von entscheidender Bedeutung, um in Ballnähe den Raum zu verengen; gleichzeitig darf aber andernorts kein nutzbarer Freiraum für den Gegner entstehen. Die ballbesitzende Mannschaft kann den Gegner durch ein weiträumiges Passspiel zu vielen Bewegungen zwingen und so ermüden. Die Feldgröße muss folgerichtig stets realistische Anforderungen an die Spieler stellen. Mit acht Spielern (vier pro Mannschaft) auf 100 Quadratmetern zu spielen, erlaubt keinerlei Spielfluss, weil das Feld schlichtweg viel zu eng ist. Mit der gleichen Spieleranzahl auf einer Platzhälfte (3.570 Quadratmeter) zu spielen, ist ebenso unrealistisch, weil die Akteure nach wenigen Minuten völlig ermüdet sind, ohne dass eine zufriedenstellende Zahl an Ballaktionen zustande kommt.

Feldformen

23
Auch die Feldformen können unterschiedlich gestaltet sein. Felder können breiter als lang sein (Rn. 383ff.) oder extrem eng, dafür aber sehr lang. Anstatt Spiele in rechteckigen Feldern abzuhalten, können sie auch im Mittelkreis durchgeführt werden. Selbst ellipsen- oder rautenförmige Felder sind möglich. Auf diese Weise werden die Raumwahrnehmung und die daraus resultierende -nutzung variiert. So nutzte etwa Thomas Tuchel in seiner ersten Vorbereitung mit dem BVB rautenförmige Spielfelder, um Vertikalpässe in den Außenzonen zu unterbinden. Legt man Tabuzonen innerhalb des Spielfeldes fest, können bestimmte taktische Verhaltensweisen erzwungen werden. Sollen die Spieler beispielsweise Angriffe über außen aufbauen, werden zentrale Zonen abgesteckt, die nicht bespielt werden dürfen. Um einen Flügelangriff für eine bestimmte Seite zu forcieren, empfiehlt sich die sogenannte „Banane“.11 Hierbei dürfen lediglich die Strafräume und eine der beiden äußeren Zonen bespielt werden. In Verbindung mit Zeitlimits können Konter über die Flügel trainiert werden.

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Abb. 4: Tabuzone Zentrum

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Abb. 5: Tabuzone „Banane“

Spielziele

24
Eine unterschiedliche Zielsetzung hinsichtlich Toren und festgelegten Spielrichtungen erzeugen eigene Spielformen. Spielformen, die ohne Tore und ohne eine feste Spielrichtung absolviert werden (Rn. 340 bis 343, 345), fördern kein angriffsorientiertes Spielen, sondern haben das ballsichernde Passspiel zum Gegenstand. Dabei gibt es kein Abseits. Dies ermöglicht es allen Spielern, sich frei im Raum zu bewegen.

Finden Spielformen zwar mit Toren, dafür aber ohne eine feste Spielrichtung (Rn. 346, 350, 351 und 378) statt, ist zunächst ein ballsicherndes Passspiel angebracht, um erfolgreiche Angriffshandlungen mittels ständiger Verlagerungen vorzubereiten. Wird der Ball verloren / erobert, müssen beide Teams schnell umschalten. In Spielformen mit fester Spielrichtung, aber ohne Tore (Rn. 344, 347 und 349) geht es um ein raumgewinnendes Spiel. Ziel solcher Spielformen ist der Ballvortrag an sich. Übungen, die sowohl eine feste Spielrichtung haben als auch mit Toren durchgeführt werden (Rn. 360 bis 377, 380 bis 385), stellen wettkampfnahe Spielformen unter Berücksichtigung der Abseitsregel dar und erfordern somit sämtliche technisch-taktischen Aspekte des Fußballs.

Spieleranzahl

25
Variationen der Anzahl der Mannschaften und der Anzahl der Spieler pro Mannschaft eröffnen zahlreiche taktische Möglichkeiten. So kann Einfluss auf die technisch- taktischen Anforderungen genommen werden. Bei mehr als zwei Mannschaften können sich situative „Allianzen“ zwischen den einzelnen Teams ergeben, sodass es dabei zu Über- / Unterzahlsituationen kommt (Rn. 342f.). Auch die Verwendung neutraler Spieler bei zwei ansonsten gleichstarken Mannschaften führt zu Über- / Unterzahlsituationen. Das sorgt unter anderem dafür, dass die verteidigende Mannschaft keine Manndeckung betreiben kann (Rn. 379ff.). Täte sie es trotzdem, wäre immer ein Angreifer frei. Stattdessen muss ball- und raumorientiert verteidigt werden, um trotz Unterzahl zumindest in Ballnähe Überzahl zu erzeugen.

26

Je weniger Spieler beteiligt sind, desto mehr Ballaktionen hat jeder Spieler. Um viele Dribbling- und Abschlussaktionen zu erzeugen, eignen sich Spielformen mit ein bis vier Spielern pro Mannschaft. In Spielformen mit acht oder mehr Spielern pro Mannschaft kommt es beispielsweise vermehrt zu Kopfbällen.12

Mit steigender Spieleranzahl können zunehmend variable Formationen und Staffelungen entstehen. Je nach Formation werden Passoptionen erzeugt, auf die situativ reagiert werden muss (Rn. 376). Je mehr Spieler beteiligt sind, desto zahlreicher sind die möglichen Handlungsoptionen, was die Komplexität der Übung erhöht (Rn. 353).

 

ohne Spielrichtung

mit Spielrichtung

ohne Tor

  • Ballorientierung
  • ballsicherndes Passspiel
  • raumgewinnendes Passspiel

mit Tor

  • ballsicherndes Passspiel
  • schnelles Umschalten
  • ständige Verlagerungen
  • wettkampfgemäße Anforderungen an sämtliche technisch-taktischen Aspekte

Abb. 6: Zielsetzungen in Spielformen

27

Grundsätzlich muss auch das Niveau der Spieler berücksichtigt werden, damit einerseits stets Spielfluss möglich ist und die Spieler andererseits nicht unterfordert werden. So werden sich kombinationsstarke Spieler in engen Räumen besser zurechtfinden als Spieler, die dahingehend (noch) Defizite haben. Je höher die technisch-taktischen Fähigkeiten der Spieler sind, desto engere Felder können gewählt werden. Auch die Einschränkung der individuellen Ballberührungen wird in Abhängigkeit des Spielerniveaus bestimmt. Novizen werden es beispielsweise kaum schaffen, den Ball direkt zu passen. Stattdessen brauchen sie Zeit, um das Spielgerät unter Kontrolle bringen zu können.

Zusammenfassung

28
Kombiniert man mehrere Vorgaben miteinander, entsteht ein hochkomplexes Spielreglement mit hohem Schwierigkeitsgrad, das auch die Konzentration der Akteure fordert und fördert und so nicht zuletzt Auswirkungen auf die mentalen Aspekte hat. Denn im Wettkampf gibt es die beschränkenden Vorgaben des Trainings ja nicht; der Spieler kann sich freier entfalten und wird unweigerlich merken, dass die Situationen im Spielverlauf zwar nicht weniger komplex, dafür aber leichter zu handhaben sind als im Training. Eine schnellere und bessere Wahrnehmung sowie Entscheidungsfindung und eine größere Resistenz gegen Stress sind die Folge (Rn. 145.).

29

Durch Variation von Spielerzahl und Feldgröße13, die Coachingintensität14 sowie die Begrenzung individueller Ballkontakte15 wird die Intensität in Spielformen beeinflusst. Damit können zusammen mit den technisch-taktischen Inhalten auch konditionelle Aspekte geschult werden (Rn. 187ff.). Folgerichtig können also schon durch einfache Strukturvariationen mehr Inhalte vermittelt werden, weil ständig neue Situationen entstehen.16 So wird in kürzerer Zeit mehr gelernt, als wenn die Spieler in isolierter und unspezifischer Form instruiert werden würden. Schließlich entsprechen diese nichtlinearen Zusammenhänge auch der Spielrealität, wo geringe Strukturänderungen ausreichen, um komplexe taktische Abläufe zu beeinflussen (Rn. 389f.).

1.2.2Explizites Lernen

30
Das explizite Lernen erfolgt durch die bewusste Aufnahme von Informationen, wobei Wissensinhalte und / oder Erinnerungen gespeichert werden. Dabei sind die Lernziele ausdrücklich festgelegt und werden in hochgradig spezialisierten Übungen geschult oder unter Verwendung visueller Hilfsmittel (wie Taktiktafel oder Video) gelehrt. Die Wissensvermittlung erfolgt regelmäßig fremdinstruiert. Das erworbene Wissen kann – etwa mittels Instruktionen – leicht verbalisiert werden.

Instruktionen sind Handlungsanweisungen und sollen die Aufmerksamkeit der Spieler zu Lehrzwecken auf die wichtigsten Aspekte der gegenwärtigen Aufgabe und Situation lenken. Dabei sollen die Lernziele offenbart werden, sodass der Lernende unter Anleitung systematisch Lösungen sucht, wenn er dazu allein nicht in der Lage ist. Insofern ist das explizite Lernen eine Ergänzung zu den impliziten Lernprozessen.

31

Das regulierende Eingreifen des Coaches mittels Instruktionen in die Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse beeinträchtigt die Wahrnehmungsebene und schränkt so den potenziellen Lösungsrahmen ein (Rn. 102 und 142). Dahingehend muss das Coaching vorsichtig eingesetzt werden (Rn. 73ff.). Fragen (Rn. 75f.) und Analogien (Rn. 77) bieten Alternativen zu Instruktionen. Zwar sollen auch sie die Aufmerksamkeit des Spielers lenken, diktieren aber weniger die Richtung. Stattdessen wird der Spieler zu selbständigem Denken angeregt. Er wird dabei nicht angeleitet, sondern begleitet, und muss letztlich die Lösung alleine finden.

1.2.3bottom-uptop-down

32
Die Wissensaneignung findet beim impliziten Lernen unbewusst durch (emotionale) Wahrnehmung statt. Darum verläuft dieser Prozess gegenüber dem expliziten Lernen schneller, und das erlangte Wissen ist weniger anfällig dafür, wieder vergessen zu werden.17 Weil beim expliziten Lehren abstrakt und episodisch geschult wird, kann das Wissen im Gegensatz zum impliziten Lernen nicht ganzheitlich, sondern nur isoliert und fragmentarisch vermittelt werden.

Da taktisches Verhalten „aus gespeicherten Erfahrungen und aus der aktuellen wahrgenommenen Situation“ entsteht, lässt sich schließen, dass zur Vermittlung taktischen Wissens sowohl implizite als auch explizite Lernprozesse geeignet sind.18 Allerdings entfalten sie ihre Wirksamkeit stets in Abhängigkeit von der Ausprägung des technisch- taktischen Leistungsniveaus der Spieler und der Komplexität der jeweiligen Trainingsaufgabe.19

33

Werden taktische Verhaltensweisen implizit vermittelt und in taktisches Wissen gewandelt, basiert diese Abfolge auf dem sogenannten bottom-up-Prozess. Hierbei wird das technisch-taktische „Wissen“ zuerst in spielnaher Form erlebt beziehungsweise erfahren. Man bekommt sofort ein Feedback, indem die ausgeführte Entscheidung erfolgreich endet oder eben nicht. Die positiven Erfahrungen werden beibehalten und die negativen korrigiert, bis sie funktionieren. Anschließend werden diese Erfahrungen in Regeln umgewandelt,20 welche in zukünftigen Situationen zu schnelleren Entscheidungen führen (Rn. 46ff.).

Eine zunächst theoretisch-verbale Schulung (etwa mittels Taktiktafel oder Videoanalyse), mit der den Spielern anhand von Wenn-dann-Regeln und Instruktionen (Rn. 70ff.) vorab deutlich gemacht wird, wie ihre Handlungen für bestimmte Situationen aussehen sollen, folgt dem expliziten top-down-Prozess.21 Bottom-up-Prozesse stellen also auf die Wahrnehmung der Lernsituation ab, während top-down-Prozesse die selbst- und fremdinstruierten Verhaltensziele und die gespeicherten Erfahrungen erfassen.22

 

Implizites Lernen

Explizites Lernen

Lernprozess

  • unbewusst
  • bewusst

Wahrnehmung

  • emotional
  • deklarativ

Steuerung

  • selbstorganisiert
  • fremdinstruiert

Aufwand

  • gering
  • hoch

Geschwindigkeit

  • schnell
  • langsam

Dauer

  • langanhaltend
  • wird leichter vergessen

Wissen

  • schwierig zu verbalisieren
  • leicht zu verbalisieren

Darstellung

  • ganzheitlich
  • isoliert

Abb. 7: Unterschiede des impliziten und expliziten Lernens (vgl. Sun / Mathews / Lane 2007)

34

Verschiedene Studien haben herausgestellt, dass sich der implizite bottom-up-Prozess insbesondere für Anfänger eignet, während der explizite top-down-Prozess eher bei Fortgeschrittenen zu Erfolg führt.23 Darüber hinaus weisen explizite Lerner in (hoch)komplexen Situationen stärkere Lerneffekte auf als implizite Lerner,24 während implizite Lerner dann besser lernen, wenn die Situation übersichtlich ist.25

Ein Erklärungsansatz für diese Ergebnisse ist, dass geringkomplexe Situationen besser bewältigt werden, wenn zwischen der wahrgenommenen Situation und dem gespeicherten (deklarativem) Wissen keine „unnötigen Verrechnungen“ stattfinden müssen. Ansonsten würde eine einfache Situation unnötig stark verkompliziert, wenn die Spieler ständig die Instruktionen ihres Trainers befolgen und gleichzeitig die Informationen aus der Umgebung zur Entscheidungsfindung bewerten müssten. Zudem könnte durch Instruktionen die Wahrnehmung derjenigen Spieler eingeschränkt werden, deren Spielerfahrung noch gering ist (Rn. 67 und 73f.), was insbesondere für Kinder gilt (Rn. 102ff.).26

Demgegenüber reicht die Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt bei höherer Situationskomplexität alleine nicht mehr aus, um adäquate Lösungen zu finden.27 Es bedarf dabei nunmehr auch der Verwendung von Instruktionen und Erinnerungen, die sich zuvor durch implizit erworbene Erfahrungen angeeignet werden müssen. Damit also explizite Lehrmodelle ihre Wirksamkeit entfalten können, müssen seitens der Spieler eine ausreichende Spielerfahrung und ein taktisches Grundverständnis vorhanden sein.

35

Im Ergebnis heißt das, dass implizite und explizite Prozesse derart zu verbinden sind, dass entsprechend des Niveaus der Spieler der größtmögliche Lernerfolg gewährleistet wird. Die Komplexität der Übungs- und Spielformen ist also je nach Niveau der Spieler und des Teams anzu passen. Dementsprechend gilt auch bei der Einführung neuer Strategien, dass zunächst der bottom-up-Prozess genutzt wird.28 Die Spieler sollen in Übungs- und Spielformen mit geringer Komplexität die technischen, taktischen, physischen und mentalen Besonderheiten der jeweiligen Strategie erfahren und verinnerlichen. Mit zunehmender Sicherheit und Erfahrung erhöhen sich Komplexität und Schwierigkeitsgrad, was zunehmend explizite Lehr- und Lernprozesse notwendig macht (sogenannte Dual-Prozesse).29

Anmerkungen:

1Delgado-Bordonau / Mendez-Villanueva 2012; vgl. auch Raab 2001, S. 8.

2van Gaal / Heukels 2010b, S. 32f.

3Damit sind keine Spielsysteme gemeint.

4Vgl. van Gaal / Heukels 2010b, S. 96.

5Näher dazu Lopes 2011, S. 8ff.

6Der „geheime Lehrplan“ Volker Finkes – in den Jahren 1991 bis 2007 Trainer des SC Freiburg – folgte ebenfalls den Prinzipien des impliziten Lernens. Dazu Biermann 2009, S. 145ff.

7Schöllhorn et al. 2004.

8Gil et al. 2014.

9Dellal et al. 2012.

10Rampini et al. 2007 (m.w.N.); Clemente / Martins / Mendes 2014 (m.w.N.).

11Barez 2013.

12Owen et al. 2011.

13Rampini et al. 2007 (m.w.N.); Clemente / Martins / Mendes 2014 (m.w.N.); Manolopoulos et al. 2012.

14Rampini et al. 2007.

15Dellal et al. 2012.

16Vgl. Passos / Araújo / Davids 2013.

17Vgl. Raab 2001, S. 144f. und S. 75f.

18Ebd., S. 31f.

19Tielemann 2008, S. 12 und S. 125.

20Sun 2007.

21Raab 2001, S. 10 (m.w.N.).

22Raab 2001, S. 33; Tielemann 2008, S. 12.

23Tielemann 2008; Raab 2001.

24Raab 2001, S. 163ff.

25Ebd., S. 137 und 143.

26Memmert / Furley 2007 (m.w.N.).

27Raab 2001, S. 164f.

28Ebd., S. 200.

29Vgl. ebd., S. 200f.